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Full text of "Der leidende Christus Ein Passionsbuch"

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he } - 2 


Rn. 


2 


Der leidende Chriſtus. 


Friedrich Wiſheſm Rrummacher, 


Doctor der Theologie und Philoſophie, und Hof⸗Prediger Sr. Majeftät des Koͤniges 
zu Potsdam. 





Bielefeld. 
Derlag von Velhagen und Klafing. 
1854. 


Mh SIE 


a. 


—AL 


Ihro Majeſtät, 
der Allerdurchlanchtigſten Königin 
Efisabelh Louise von Preussen 


tiefiter Ehrfurcht und Unterthänigteit 


gewidmet. 


Allerdurchlauchtigfte, Srofmägtigte Königin! 
Allerguädigke Königiu und Herrin! 


Euer Majeftät haben mir huldreichſt zu geſtatten geruht, 
diefes ernfte Buch mit Allerhöchitdero Königlichen Namen zu 
ſchmücken. Nimmer hätte id) mir diefe Gnade zu erbitten ge- 
wagt, wenn mic) nicht die heilverfündende Thatſache dazu er» 
muthigt hätte, daß Euer Majeftät auf der Höhe des ruhmge- 
frönten Herrfcherthrond der Hohenzollern nicht allein des Kreu- 
zes Jeſu Chrifti Sich nicht fchämen, fondern felbft göttlich 
erfehen und berufen wurden, zur Wiedererhöhung dieſes ein- 
zigen Nettungszeichens der Zeit durch das milde Licht 
Allerhöchftdero eigenen Glaubensvorganges weſentlich mitzuwir⸗ 


fen. 


Allerdurchlauchtigfte, Grofmägtigte Königin! 
Allerguädigfte Königin und Herrin! 


Euer Majeſtaͤt haben mir huldreichſt zu geſtatten geruht, 
dieſes ernſte Buch mit Allerhöchſtdero Königlichem Namen zu 
ſchmücken. Nimmer hätte ich mir dieſe Gnade zu erbitten ge— 
wagt, wenn mich nicht die heilverfündende Thatſache dazu er⸗ 
muthigt hätte, daß Euer Majeftät auf der Höhe des ruhmge 
frönten Herrfcherthrong der Hohenzollern nicht allein des Kreu- 
zes Jeſu Chrifti Sich nicht fehämen, fondern felbft göttlich 
erfehen und berufen wurden, zur Miedererhöhung diefed ein- 
zigen Rettungszeihens der Zeit durch das milde Licht 
Allerhöchitdero eigenen Glaubensvorganges weſentlich mitzuwir⸗ 


ken. 


Als, der Legende nah, die b. Veronika einft dem goͤti⸗ 
lichen Dulder auf feiner Marterftraße mit zarter Hand den blu⸗ 
tigen Schweiß vom Angefichte trodnete, ließ Diefer der frommen 
Magd zum Dank für folchen Dienft der Liebe fein Bildnig in 
ihrem Tüchlein zurüde. In veränderter Folge und evangelifch 
verflärter Geftalt erneuert fich diefe holde Scene fort und fort. 
Der Herr malt den Empfänglichen mit den glühenden Yarben 
des Geiftes fein dorngefröntes Bild ind Herz, und nun heben 
fie in heiliger Xiebe an, Ihm in den geringften feiner Brüder 
den Angſt- und Sorgenfchweig von der Stirn zu trocknen. — 
Die manchmal hörte ich in Hütten der Armuth mit der Beto- 





nung fröhlicher Zuverfiht jagen: „Wenn von feiner Seite her 
und Hülfe mehr erfcheinen will, dann bleibt und die Hofburgd« 
pforte der lieben Königin noch offen.’ — Köftliher Vor- - 
zug, bon demjenigen, eine Königskrone von Gott zu Lehen zu 
tragen, kaum überftrahlt, über den Thränennächten der Bedräng- 
ten als tröftender Stern zu glänzen, und der Leidenden letzte, 
aber zuverläffige menfchliche Zuflucht zu fen! — Daß Euer 
Königlihe Majeftät, von den zahlreichen Schöpfungen Aller- 
höchftdero Tandesmütterlich fürforgender Barmherzigkeit ald von 
unvergänglichen, weil in Gott gegründeten, Denkmalen umblüht, 
noch lange, lange zur Seite des gerechteften und leutfeligften der 


Könige, gefegnet von Alt und Jung, jenes heiligen und holden 
Derufes einer Friedensfürftin auf Erden marten mögen, 
das wird nicht aufhören, mit Millionen treuer Unterthanen 


heiß zu erflehen, der in tieffter Ehrfurcht erſtirbt als 


Euer Königlichen Majeftät 


allerunterthänigfter, treugehorfamfter 


% W. Srummader. 


Potsdam, im Februar 1854. 


Vorwort. 


Ich weiß, wie Großes ich unternahm, als ich mir die Entzif⸗ 
ferung der tiefften aller gefchichtlichen Geheimfchriften zur Aufgabe 
ftellte; hoffe jedoch, nicht ohne allen innern Beruf diefem Deu- 
tungswerke mich unterzogen zu haben. Wenigſtens bin id) mir 
bewußt, daß mir das Gebet um die Erleuchtung von Oben bei 
meinen Meditationen fletd zur Seite ging, und gebe mich der 
Zuverfiht hin, daß die geneigten Leſer nicht alle Spuren einer 
erfolgten Erhörung vermiffen werden. — 

Einen Theil meiner Seele lege ich nieder in dieſes Buch; 
ja, ich gebe darin das Mark meines innerften Glaubenslebeng, 
und enthülle die letzten Grundfeften all’ meines Troſtes, und 
meiner ganzen Hoffnung. Sch bin aber gewiß, daß Niemand, 
der zu gründlicher Selbft- und Gottes=- Erfenntniß gelangte, 
eine durchhaltende Beruhigung finden wird, es fei denn, daß 
er mit mir den Anker feines Glaubens in die blutgenetten That- 
fachen ſenke, welche die Paffionsgefchichte an und vorüberführt. 
Aus diefem Grunde fchmeichle ich mir mit dem Gedanken, daß 
id) der mühjeligen und beladenen Herzen recht vielen mit diefem 
Buche willlommene LXootfendienfte thun, und ihnen über der Ha- 
fenbucht, die fie, bewußt oder unbewußt, in Sturm und Nebel 
ſuchen, die Leuchtthurmsflamme anzünden werde. 


vi Vorwort. 


Ich wage es aber, auch Solche um ihr Geleit auf meinen 
Betrachtungsgängen anzugehen, die, entfernter vom Ziele, noch 
mit dem prinzipiellen Zweifel zu ringen haben, ob man's im 
Evangelio überhaupt mit einem von Gott gelegten Grunde 
des Glaubens und der Hoffnung zu thun habe. Ich halte 
nemlich dafür, daß ed eine fchlagendere und gewaltigere Apo— 
logie des biblifchen Chriftenthums nicht gebe, als die Lei— 
densgeſchichte unſres Herrn mit der Lebensfriſche ihrer in- 
dividuellen, lauter Wirklichkeit und Wahrheit athinenden Züge, 
und mit ihren in fo unzweideutiger Weife einen göttlichen 
Heilsplan wiederfpiegelnden, und nur in einem ſolchen zu 
ihrer Löſung gelangenden Näthfeln. Wie fie der wahre „Mi- 
krokosmus“, die Welt in Kleinen, ift, indem in ihr faſt alle 
erdenkbaren Charaktere, geiftigen Standpunkte und gemüthlichen 
Zuftände der Menjchheit bis zu den feiniten Schattirungen hinab 
zur Offenbarung kommen; fo ftellt fie ung zugleih, in fnapp- 
ſtem Rahmen, von dem unmittelbaren Lenken, Yügen und Re— 
gieren des perfönlichen Gottes auf Erden ein thatſächliches 
Bild vor Augen, an welchem Alles, was an pantheiftifche, 
oder gar atheijtifche Anfchauungen ftreift, wie die Melle am 
Meeresfeld in Schaum und Dunft zerfahren muß. Ueberdies 
deckt fie ung in demfelben Augenblide, in dem fie in die ge— 
heimnißvolle Werkitatt, wo das göttliche Heilmittel für unfer 
Sefchlecht bereitet wird, und einführt, das ganze unermeßliche 
Heer der verzweifelt böfen Schäden auf, an denen wir ohne die 
Dagzwiſchenkunft der erlöfenden Gnade umerrettbar dem ewigen 
Zode entgegenfiehen würden, und erhebt fomit, während fie 
und von dem Werdeprozeß der Erlöfung felbft die 
Schleier Lüftet, zugleich in unwiderfprechlichfter Weife unfre Er- 
löſungsbedürftigkeit über allen Zweifel 

Möge mir's gelungen fein, in den vorliegenden Betrachtungen 
wenigitend die Wege und Stege anzudeuten, die zu den uner- 


Vorwort. vn 


ſchöpflichen geiſtlichen Fundgruben der Paſſionsgeſchichte leiten! 
Die unverkümmerte, bibliſche Wahrheit, wie ich fie zu verkündigen 
glaube, findet wohl immer noch eine Statt auf Erden. In erfreu- 
fichfter Weife habe ich bisher dies felbit erfahren dürfen. ‘Meine 
Schriften — Tediglih Gott zum Preife, und meinen Sinnee- 
genoffen zur Freude fei ed bemerkt! — wurden, theilweife 
wenigſtens, bereitö in ſechs, mie ich höre, in fieben Sprachen 
überfeßt: in's Englifche, Franzöfiiche, Holländifche, Schwediſche, 
Ruſſiſche, und mie mir verfichert wird, was ich aber nicht 
verbürgen fann, auch in's Dänifche; und mein „Elias“ fieht 
mich fogar im hinefifchen Sprachgewande an. Was aber 
höher anzufchlagen ift, als dies, ift die tröftliche Kunde, die 
mir bi in die neuefte Zeit hinein in unzähligen Briefen von 
fem und nah über die mannigfaltigen Segnungen zugeht, 
die der Herr in großer, unverdienter Gnade an meine Zeugniffe 
gefnüpft hat, und fortdauernd knüpft. Daß Er in herablaf- 
fender Leutfeligkeit auch zu diefem, meinem jüngften Büchlein, 
fi befennen wolle, ift um fo mehr meines Herzens Wunſch 
und inbrünftiges Flehen zu Ihm, da daffelbe um den Grund» 
pfeiler der ganzen Kirche, um das Kreuz ale um feinen 
Mittelpunkt fich bewegt. 

Die Bertheilung der Betrachtungen diefee Buche in „VBor- 
hof", „Heiliges“ und „Allerheiligſtes“ will Tediglich 
den Fortſchritt des blutigen Verfühnungewerfes von feinem 
Beginn bie zu feiner fchlieglichen Vollendung, keines weges 
aber ein geringered oder größeree Gewicht der betrachteten 
Scenen bezeichnen. In letzterm Falle würde ich natürlich der 
Einfegung ded heiligen Abendmahls niht im „Vor— 
hof“, jonden im „Allerheiligften“ die ihr gebührende 
Stelle angewiefen haben. In dem Plane diefes Buches aber 
fallt fie mit in die Klaffe der TIhatfachen, welche einleitend dem 
hohenpriefterlichen Werke des Mittlers unmittelbar vorangingen, 


vn Borwort. 


Ich ſchließe diefen kurzen Vorbericht mit einem Menfchen- 
wort, und einem Wort des heiligen Geiftes. Das 


erftere lautet: 
„Wie durch Gewöhnung lernt das Aug’ im Dunkeln fehn, 
Sp lernt man Dunkles, durch Vertiefen drein, verftehn. 


Des Geiſtes Augen gehn dir auf, und wunderbar, 
Was undurhdringlich fchien, feheint dir nun völlig klar!“ 


Das andre: 
„Das Wort vom Kreuz ift eine Thorheit denen, die verloren 
werden ; uns aber, die wir felig werden, ift es eine Kraft Gottes!“ 


Potsdam, den 30. Januar 1854. 


Der Derfafler. 


Inhalt. 


Der Vorhof. 


I. Die Ankündigung.......... 


II. Die eherne Schlange . 
II. Der Hohepriefter 


IV. Die Salbng . . . en 
V. Der Einzug in Jernſalem en 


VL Die Fußwaſchung 
VIL Das Oſtermahl .. 
VM. Die Abendmahlsſtiftung 
IX. Die Einſetzungsworte 
X. Die Abendmahlsichren 
XI Das Abendmahl 
XIL Herr, bin ich's? 
XI. Judas Iſcharioth 
XV. Dar Weheruf.. .. 
XV. Der Gang zum Delberg 
XVL Das Nachtgeſpraͤch. 


Das Heilige. 

XVII. Gethſemane. — Kampf und Sieg .. 
XVMI. Gethſemane. — Bedeutung und Frucht 
XL. Der Ueberfall en 

X. Der Judaskuß 

XXI. Schwert und Kelch 

XXIL Gabe und Opfer 
XXI. Ghriftus vor Hannas . 
ZXIV. Der Gerichtöprogeß 


XV. Petri Bl nn 


XXVI. Das große BelenntmıiB . . 2 2 2 0. 
XXVII. Betri Thränen 


XXVIII. 


XXIX. Chriſtus vor dem Synedrium . 


Inhalt, 


Weiſſage uns, Chriſte! 


XXX. Des Verraͤthers Ente . 
XXXL GChriftus vor Pilatus . 


ZXXII. 
XXXIII. 
AXXV. 

XZXXV. 
XXXVI. 

XXXVII. 
XXXVIII. 


XXXIX. 


XL. 


Die Anflagen 

Chriſtus ein König 
Was ift Wahrheit? 
Das Gotteslamm 
Chriſtus vor Herodes . 
Pilatus unfer Anwalt 
Das große Bild 
Barabbas . . 

Die Geißelung 


XLI. Ecce homo! . 


LVIU. 


. Die Kreuzigung . 
. Die Kleidertheilung 
. Die Veberfchrift . 
» Vater, vergib! 

. Der Shädr . . . . 
. Das Vermächtnig der Siehe . 
. Eli, Eli, lama afabthani! 
. Mich vürftet ! 

. Es ift vollbracht! . 
. Vater, in Deine Hände! . 

. Die Todesfeier . 
LVII. 


. Der Schluß des Brogeffes 
. Die Marterftraße 

. Simon von Kyrene 

. Die Töchter Jeruſalems 


Dad Ani 


Der Langenftih . 
Das Begräbniß . 


Der Vorhof. 





L 
Die Ankündigung. 





Die Paffionsgefchichte rollt ihre blutigen Geheimniffe und erſchuͤt⸗ 
ternden Opferfcenen vor uns auf. Das Lamm, das der Welt Sünde 
trägt, fehreitet, einem vorweltlichen Friedensrathe unterthänig, zum 
Brandopferaltare des richterlichen Gottes. Bande, Geißel, Kreuz und 
Domenfrone daͤmmern herzbewegend in unfern Gefichtöfreis herein, 
Die „fieben Worte“ hallen von ferne zu uns herüber: Klänge der 
Zodtenglode für das Reich der Hölle; Signale der Freiheit und der 
Freude für die fündige Menfchheit! — 

„Zeuch deine Schuhe von deinen Füßen“, hieß es nach 
2Mof. 3, 5 aus jenem brennenden Bufch heraus zu Mofe, „denn 
der Drt, da du fteheft, ift heilig Landi" — Mit verftärktem 
Nachdruck tönt jener Zuruf auch zu uns und zwar von Dort herüber, 
wo das finnvolle Vorbud jener Erfcheinung Jehovas in der lodernden 
Flamme, feine gegenbildliche Erfüllung findet, — D welche Wunder, 
denen wir uns betrachtend nahen! Das Schauerlichfte, was die Welt 
gefehen, wird zum Mutterfchooße, aus dem inmitten der Todeswelt ein 
neues Paradies des Friedens. uns erblüht! — Aus der unerhörteften 
Niederlage fehen wir den glorreichſten Triumph erwachjen. Dem 
furchtbarften aller Tode entkeimt ein unvergängliches göttliches Leben! 

Andacht, Demuth und Kindesglaube, ihr holden Fackeltraͤger aus 
der Höhe, gebt und das Geleite, und Thränen Petri und Magdalenens 
ihr, werdet und zu unfrer Augenfalbe! — Du aber, der die Schlüffel 
Davids trägt, entfiegle uns felbft die Pforten zum Heiligthume Deis 
ner Baffion, und entziffere uns in den blutigen Hieroglyphen Deiner 
Schmerzen das Geheimniß unferer ewigen Erlöfung. — 


4 Der Borbof. 
$uca 18, 31—34. 


Gr nahm aber zu fih die Zwölfe, und fprad zu ihnen: Sehet, wir gehen hinauf 


gen Terufalem, und es wird Alles vollendet werben, dad gefchrieben ift durch bie 
Bropheten von des Menſchen Sohn. Denn er wird überantwortet werben den Hei- 
ben; und wird verfpottet und gefchmähet und verfpeiet werden; und fie werben ihn 
geißeln und tödten; und am dritten Tage wird er wieder auferftehen. Sie aber ver- 
nahmen deren feined, und die Rede war ihnen verborgen, und wußten nicht, was das 
gefagt war. — 


Der Herr verfährt in unferm Texte nach feinem Wort: „Ein Knecht 
weiß nicht, was fein Herr:thut; euch aber habe ich Freunde genannt; 
denn Alles, was ich habe von meinem Vater gehört, thue ich euch Fund.“ 
— Er enthüllt den Seinen in Ankündigung feiner bevorftehenden Lei⸗ 
den den letzten und höchften Zweck feiner göttlichen Sendung. — Diefe 
Ankindigung tft der ernfteften Betrachtung werth, weil fie zuerft des 
Herrn verborgenftes Innere uns erfchließt; fodann das Ge⸗ 
heimniß Seiner Baffion unferm Berftändniß nahe bringt; 
und endlich prophetifch unfre eigne Zukunft uns entfchleiert, 
Laßt le aus diefem dreifachen Geſichtspunkte uns näher anfchauen. 
Der Geift des Herrn aber ſchwebe über unferer Betrachtung! 


1. 
ı Der Herr ninimt feine zwölf Vertrauten bei Seite. Wichtige ‘Dinge 
bat er ihnen zu 'eröffnen. Sind fie doch berufen, fünftig die Gründe 
feiner Kirche zu legen, und darum darf es namentlich ihnen an ums 
faffender Belanntfchaft mit dem Rathſchluſſe Gottes zur Erlöfung der 
Welt nicht gebrechen. — Sie merken's bald, was er beabfichtigt, und 
bangen niit fleigender Spannung an feinen Lippen. Freilich rechnen 
fie auf eine Siegesbotſchaft, und erwarten die Mittheilung, daß die 
triumphirende Entfaltung Seines Reiches vor der Thüre fe. — Aber 
welche KRurzfichtigkeit und Einfalt Dies! — O, der Niefenkluft, die im⸗ 
mer noch zwifchen ihren Gedanken und den Gedanken Gottes in der 
Mitte Liegt! Als ob die Wiederhringung der verloren Menfchheit auf 
fo ebenem Wege zu bewerfftelligen gewefen wärel Als ob die Sünde 
in dem Verhältniſſe zwifchen Gott und den Menfchen nur eine vorüber: 
gehende Störung gebradht, und nicht vielmehr einen Riß verurfacht 
hätte, der eben fo wenig durch eine willfürliche Gnadenerflärung aus der 
Höhe, als durch ein Sündenbekenntniß Seitens der Gefallenen zu hei- 
len war! — Der Herr öffnet den Mund, und es erfolgt — Dürfen 
die Jünger ihren Ohren trauen? — eine beſtimmte und ungweideutige 


— ⸗ 


Die Anfünbigung. 5 


Ankindigung feiner nahen Paſſion, aber allerdings auch ſeines Sies 
ges darnach. „Sehet*, fprüht er, „wir gehen hinauf gen 
Serufalem, und es wird Alles vollendet werden“, und wie 
es weiter heißt. Hört aus diefen Worten zuerft den Klang freudigfter 
Entfäloffenheit heraus. Sein Herz, von der Liebe gedrungen, iſt feit 
und unverrüdt auf die Kreuzesftraße gerichtet. Ihr erinnert euch 
ja noch, mit welchem Mark ımd Bein: durchfchneidenden Ernfte Er 
einft jenen Rathfehlag feines Simon, daß er fein felber fchonen ımd 
nicht nad) Serufalem gehen möchte, von fich wies. „Weiche hinter 
mich, Du Satan“, Iautete feine Entgegnung, „du bift mir ärgers 
lih; denn du meineft nicht, was göttlih, fondern was 
menſchlich iſt“. So ausgemacht war e8 Ihm, es fei die Marter, 
ber er entgegen gehe, nicht etwa mur ein Ausfluß menfchlicher Bos⸗ 
heit, fondern zugleich der ausdrücdliche Wille und Rathſchluß Sets 
nes himmliſchen Vaters, daß Er in dem abmahnenden Jünger 
nichts Anderes, als ein freilih unbewußtes Werkzeug des Verſu⸗ 
chers aus der Hölle erkennen konnte. Kein Zufpruch der. Zärtlichkeit 
hemmt Ihn mehr in feinem Gange; feine Drohung des Hafjes fchreckt 
Ihn mehr zurüd. Schon ift der Blutrath zu Jeruſalem insgeheim 
verfanmelt, und fehmiedet den Plan des Verrathes und des Morde, 
Aber Jeſu Lofung bleibt: „Sehet, wir gehen hinauf!” — Und 
brandete ein rothes Meer zu feinen Füßen, und harreten hundert Tode 
fein, ftatt eines: in Seinem Herzen verlautet nur ein Klang: „Wir 
gehn hinauf!“ Es ift ja feines Vaters Weifung, und die Straße zum 
großen, heißerfehnten Ziele der Welterlöfung! — O diefe Hingebung 
des LUinvergleichlichen aus der Höhe! Diefer Gehorfam, und diefe Sins 
Derliebe, „ftärker, denn der Tod, und fefter, denn die Hölle!’ —-' Wie 
ſchon der bloße Anblick fo hehrer fittlicher Erfheinung, wie bie 
Des „Menfhenfohnes“, überwältigt und zum Entzücken fortreißt, 
zumal in einer Zeit, da, wie in der gegenwärtigen, alles wahrhaft Ebik 
und fittlich Große zu Grabe zu gehen, und die Menfchlyett, des goͤtt⸗ 
lichen Salzes entleert, mehr und mehr zu einem Leichnam zu werden 
Drobt, der nur noch vom Gewürm der gemeinſten Regungen fleiſchlicher 
Selbftfucht und des gottentfremdetften Materialismns‘ bewegt: wird! 
Wie theuer muß uns Chriſtus ſchon fein als das lebendige Urbild 
wahrer Menfchen-Beftimmung, und das untrügliche ſittliche Richt⸗ 
zeichen für das in fo namenlofes Irrſal verfchlagene Geſchlecht unſers 
Jahrhunderts! Schon in diefer Eigenfchaft eines geifttgen Polarſterns 


6 Der Vorhoſ. 


in der materialiſtiſchen Weltverfinfterung umfrer Zage follte Jeſus den 
Mittelpunkt unfrer höchiten Intereſſen bilden, und Sein Name als 
Mahnruf an unfre himmlifche Berufung Tag und Rat in unferm Her 
zen nicht mehr verklingen. Aber freilich tönt er auch wie Pofaunens 
gefchmetter des Gerichts über der verlommenen Welt; denn wer müßte 
fich nicht geftehen, daß wir Alle wie Er unfer Wefen treiben, Die 
Sünde haffen, Gotte leben, umd die Brüder lieben follten; — und ach! 
wo find fie, die diefer Anforderung auch einigermaßen. nur entfprächen? 
— So fchreitet Er ſchon jeßt, ehe Sein großer Zag hereinbracdh, vers 
mittelft des Eindruds, den ſchon feine ſtumme Erfcheinung hervorruft, 
als Richter durch die Menfchenwelt hindurch, und verurtheilt diefelbe, 
wie das Vollkommene das Verfümmerte, wie das Ideal das verfehlte 
Afterbild verurtheilt. — Aus dieſem Grunde aber muß Er den 
Gottlofen ja zumider fein; denn das Zerrbild verlangt feinen Spies 
gel, fondern weicht ihm aus, oder wirft eine Dede Darüber, wo es ihm 
nicht entgehen kann. Heil uns aber, daß Jeſus als eine Sonne an un 
ſerm Himmel ftrahlt, die feine Verhüllung duldet, fondern durd) alle 
Boltenfchleier immer wieder fiegreich durchbricht, und die da ewig Zeug- 
niß gibt, daß ſchoͤn und liebenswürdig nur Die Wahrheit, das Leben 
in Gott, und der Wandel nad Gottes Gebot; widerlidh aber 
und unter allen Umftänden verwerflich die Lüge fei, und Die Gottents 
fremdung, und das Leben nach dem Zleifch, mit einem Wort: Die 
Sünde 

„Sehet, wir gehen hinauf nad Jerufalem, und es wird 
Alles vollendet werden, das gefchrieben ift Durch Die Pros 
pheten von des Menihen Sohn!” — So der Herr. Hier wird 
euch Fund, was auf Seinem Pafflonsgange Sein Stab und Steden war. 
Gr fand ihn in dem „feften, prophetifchen Wort”, in welchem er von 
Sich und dem Rathſchluß Gottes über Ihn gefchrieben las. Bedarf 
denn Jemand unter euch noch einer enticheidenden Autorität für Die 
göttliche Eingebung der heiligen Schrift, fo beut fie fich hier ihm 
dar. Chriſtus, der König der Wahrheit, erkennt in der Schrift 
nichts Geringeres, als die untrügliche Urkunde der Offenbarungen feines 
binmmlifchen Vaters; Er trägt fie auf feinem Herzen Tag und Nacht; 
nad ihren Ausfprüchen entfcheidet Er als nach dem Kanon, der allem 
Hader ein Ende mache, Die Lebensfragen der Menfchheit, und wohin fie 
ihn weifet, dahin lenkt Ex feine Schritte. Sie ift ifm der unfehlbare 
Leitſtern feines Lebens. Ob Die Stimme des ewigen Vaters unmittelbar 


— 


Die Ankündigung. T 


vom Himmel falle, oder ans den Buchſtaben diefer ehriwürdigen Perga⸗ 
mentrolle zu ihm herübertöne, das gilt ihm gleich. Hier wiegt fie ihm fo 
ſchwer wie Dort, und vor Tüttel und Jota neigt er ehrfurchtsvoll ſein 
Saupt. So geht er einen feften, gewiffen Bang, und die allaugenblick⸗ 
liche Erfahrung befiegelt's ihm, daß er wahrhaftig einem Worte Gots 
te8 folge. Es wird Alles zu Weſen und That, wie es das Wort gefagt. 
Der unſcheinbarſte Zug zieht Zleifch und Blut an, und wird zu Leben. 
Mein Gott, welche Berblendung wird dazu erfordert, um zu verfennen, 
daß alle Weiffagung der Schrift entweder fchon buchftäblich fich verwirk⸗ 
ficht Hat, oder in umabläffiger Verwirklichung begriffen tft! Wie viel 
muthwillige Selbſtverſtockung gehört dazu, um überfehen zu fönnen, daß 
die wuthichnaubenden Widerfacher des biblifchen Wortes, wie fie heut zu 
Zage uns umtoben, e8 ſelbſt mit ehernen Briffeln in das Buch der Ges 
fchichte fehreiben müflen, daß die heilige Schrift aus dem Geifte des All, 
wiffenden geflofien fei, indem diefelbe ja aud) von ihnen gezeugt, und 
ſowol ihren zeitweiligen Zriumpb, wie ihr „Ende mit Schreden 
darnach“, ausdrüdlich geweiffagt hat. Als ein „Darnach“ ftand im 
Buche der Weiſſagung aud) einmal die Sindfluth verzeichnet, und das 
Gericht über Sodom und Gomorrha, und der Sturz Zerufalems, und 
wie die Zerſtreuung Iſraels, fo der Untergang des vierten, d. t. des 
römifchen WVeltreichs, und was Alles mehr noch; — umd es hat feine 
diefer Kataftrophen auf ihre Erfüllung warten laffen; e8 tft Alles zu feiner 
Zeit gekommen. Gewaltige Beitätigungsfiegel hangen an diefem Budhe, 
und längft hat die Weltgefchichte dem Bibelworte ſtillſchweigend das 
Zugeftändnig machen müffen, daß fie in ihrem Entwidlungsgange von 
Schritt zu Schritt nichts Anderes fei, als eine Umſetzung der in jenem 
porgezeichneten Grimdriffe in Thatfachen und in Leben. — 
„Freilich“, höre ich fagen, „müßte das ja wol die Knie zur Wege⸗ 
fahrt ſtaͤhlen, wo man, wie Ehriftus, feinen Lebensgang nicht allein im 
Allgemeinen göttlich überwacht und geordnet wüßte,. fondern denfelben 
fogar im Lichte einer untrüglichen Gottesoffenbarung von Stufe zu Stufe 
bis zum glorreichen Ziele überbliden könnte!” — Nun, in der That bift 
auch Du in Diefem Falle, wenn du anders aufrichtig gläubig dem Herrn 
dich hingegeben haft. Kann ed dann auch für dich eine Lage geben, in 
der Dich das Wort mit feinem Rath im Stiche Tiefe? Steht dann nit 
auch von Dir gefchrieben, „der Herr werde dir's an keinem Guten man⸗ 
geln laſſen?“ „Durch viele Trübfal zwar werdeft du zum Himmelreich 
eingeln;“ aber „wen bu durchs Waſſer gehen werdefi, würden Dich Die 


8 . der Borheſ. 


Ströme nicht erfäufen, und wenn du durch's Feuer, die Flammen dich 
nicht anzünden: denn der Herr fei bei Dir?” Nicht werde es zwar 
fehlen, daß man dich um des Namens Ehriftt willen „fchmähen und 
verfolgen werde”, aber e8 werde dir, dem treulich Aushaltenden, „reich 
fi) vergolten“ werden; „das Licht Dir immer wieder aufgehn nad) der 
Nacht”, nach dem Schmerz immer wieder die Freude deiner Schwelle 
nahen; und „Niemand werde dich aus deines Herm Händen reißen;“ 
vielmehr werdeft du fchließlih, nachdem du „einen guten Kampf ges 
kaͤmpft“, die „Krone der Gerechtigkeit” empfahen, „den Tod nicht fehen, 
fondern vom Tode zum Leben hindurchdringen und ewig triumphiren.“ 
Steht nicht alles Diefes, und noch ein taufendfältig Mehreres, auch 
von dir gefchrieben, und ift nicht fomit auch Dir deine Straße ges 
wiefen und prophetifch vorgezeichnet? Darfft alfo nicht much du in 
deinem Sinn ımd Maaße mit dem Herrn fagen: „Siehe, wir gehen 
hinauf nach Serufalem, und es wird Alles vollendet werden, Das ges 
fhrieben fteht Durch den Grkffel Gottes von mir, dem armen Sünder, 
der aber nicht fein eigen, ſondern Chriſti Jeſu ift und bleiben 
will?" O, gewiß darfft Du dies. — Wie denn, daß bet ſolchem Be 
wußtſein nicht eine hohe Marſch⸗ und Pügerluft uns erfaffen, und uns 
nicht zu Muthe werden follte, als fchmetterte eine himmliſche Fanfare 
vor uns her auf unferm Lebenswege? — Brüder, nur feftiglich denn 
bem Worte vertraut, und in feinem Lichte die fteile Bahn hinan⸗ 
gezogen! Nach des Wortes Weifungen, unbelümmert um der Welt 
Getobe, mit feftem, ficherem Tritte vorwärts! Nicht eine Handbreit 
gewichen von der vorgefhriebenen Straße! Wer und anders weifen 
wollte, den treffe auch von unferer Lippe das Donnerwort: „Weiche 
binter mich, Satan; denn du meineft nicht, was göttlich, fondern was 
menfchlich iftl*_ Go wird der Allmächtige uns freundlich fen. So 
tragen wir der Kleinode höchftes, den Frieden Gottes, in unferer 
Draft; und alle Tage werden uns, gleich himmlifchen Kichtern, buch⸗ 
räbfiche Erfüllungen des Wortes auf die Straße fallen, das wir zu 
unſern Kompaß und zur Leuchte anfer Füße uns erlaſen. — 


— gen Jerufalem ſtrebt der er. Zu welchem Ende, habt ihr 
eits vernommen. Leiden und ſterben will er. O, es muß mit 
—* Paſſion eine große und tiefe Bewandtniß haben. Sie erſcheint 
als ein unbedingt nothwendiges Moment des Werks, zu deſſen Boll 
führung er aus bes Baters Schooß zur Erde herniederkam. War fie 


Die Ankündigung. 9 


ein ſolches nicht, fo war es, gelindeſt geurtheilt, gottwerfucherifch 
vom Herm, daß er fich derfelben entgegenftürzte, nachdem er fein Lehr⸗ 
amt in Zerufalem vollendet hatte; ja, fo ftellte der Ewigwaltende 
in der Höhe Seine Gerechtigkeit gegründeter Läfterung- blos, indem 
Er einen Heiligen, der Sein Gebot erfüllte, in himmelfchreiendem 
Biderfpruch mit Seiner eigenen Reichsordnung dem graufigen Gefchide 
eines Sottlofen und Verworfenen preisgab. — Aber Der in der 
Höhe wohnt, hatte viel eher ſchon in Seinem Rathfchluffe das Kreuz, 
die Geißel und die Dornenkrone im Grundriß fertig, als die Belials⸗ 
totten auf der Erde daran dachten, an diefe Marterinftrumente ihre 
Hand zu legen; und alle Seine Propheten fahen fich, wie fie auch 
dawider fich freuben mochten, vom Geifte genöthigt, dieſe graufen 
Eimbleme überall mit dem hehren Meffiasbilde, das fie zeichneten, zu 
vermeben. So konnte der Herr mit tiefer Wahrheit fagen: „ES wird 
Alles vollendet werden, Das gefchrieben ift Durch Die Pros 
pheten von des Menfhen Sohn: denn er wird Den Heiden 
überantwortet, verfpottet, gefhmäht, verfpeit, gegeißelt 
und getödtet werden.” — Mit folhen Ingredienzien gefüllt, 
tauchte im Spiegel der Weiſſagung fchon das Bild des Kelches 
auf, den freilich der Satan, aber in Gemäßheit eined ewigen Ra⸗ 
thes, dem Sohne des Allerhöchften reichen ſollte. Und glaubt nur, 
diefer Rath) ging weit, weit über alles das hinaus, was Märtyrers 
thum genannt wird, oder gar Züchtigung, Läuterung und Prüfung 
beißet. Es bedurfte der Makellofe und Gerechte für feine Perſon 
der Züchtigung nicht; und war etwa auch Ihm eine Läuterung heils 
fam, fo durfte dieſelbe wenigftens nicht, follte nicht ein verdimfelnder 
Niefenfchatten über Gottes Gerechtigkeit ſich lagern, in der Form einer 
fo ausgefuhhten Infamie, einer fo unerhörten Schmach und Ernies 
drigung, einer fo beifpiellos graufamen Marter über den einzig Hei⸗ 
ligen auf. Erden kommen, wie Er fie erduldet hat. Nein, die Paſſion 
miers Herm bat eine unendlich tiefere Bedeutung, und es bedarf nur 
eines flüchtigen Blickes in unfern Tert hinein, um dieſelbe auch hier 
ſchon deutlich zu erkennen, Beachtet, was der Evangelift über die Art 
ud Weife und berichtet, wie die Zwölfe die Eröffnung ihres Meifters 
entgegennahmen. „Sie aber”, meldet er, „vernahmen deren 
feins, und die Rede war ihnen verborgen, und fie wußten 
nicht, was das gefagt war.” In dreifacher Form bezeichnet Lucas 
das Richtverftehen der Apoftel, Wie auffallend Dies! Wem drängt 


10 Der Vorheſ. 


fih hier nicht die Frage auf, was es denn geweſen fei, das fie „wicht 
verfianden“? Daß der Meifter fagte, er würde zu Serufalem leiden 
und fterben, das konnten fie unmöglic) überhören. Daß er mit feinem 
Tode Ewa die Wahrheit feiner Lehre werde befiegeln wollen, war ein 
Gedanke, der doch auch all zu nahe lag. ‘Dennoch verfichert Lucas: 
„Sie vernahmen deren keins, und wußten nicht, was das gefagt 
war.” Liegt's nicht auf der Hand, daß des Evangeliiten Meinung 
dahin geht, daß, wer nur das Geſchichtliche der Leiden Ehrifti 
fenne, und Chrifti Paffton nur als Maͤrtyrerthum, von der Blutzen⸗ 
genſchaft anderer Heiligen wefentlid, nicht umterfchieden, faflen wolle, 
von den Leiden Chriſti, d. i. von deren wahrer Bedeutung noch nichts 
verftehe? — Ganz unverkennbar haben wir hier eine Hindeutung auf 
einen unendlich tiefern Grund des tragifchen Lebensausganges unfers 
Meifters vor uns, 

Wo aber liegt derfelbet — Hört es! — Es fingt Einer in ge 

heimnißvollen Lauten: 
„Mehr, als vernichten, bünfet Ihm verföhnen, 
Mehr, als erichaffen, düntet Ihm erlöfen. 
Zermalmen konnte Er den Baum der Sünden ; 
Doch Ihm gefid, Sein Haus darauf zu gründen.“ 

„Was ift das?" höre ich ſagen. „Das Mingt ja wie Sibyllen⸗ 
ſpruchl“ — Es mag wohl fein; aber es ruht tiefe Wahrheit in Diefem 
dunkeln Worte, — „Wie aber?" — „Zermalmen konnte Er den 
Baum der Sünden?!" — — Mit einem Schlage konnte Er's. Er 
brauchte nur das verfommene Gefchlecht, in welchem die Sünde wurs 
zelte, durch ein allmächtiges „Seid geweſen!“ wieder zu vernichten, 
und Er war am Ziele. Aber leben follten wir, nicht fterben; 
und fo hat Er nicht allein unfre Sünde zur Folie ſich erforen, über 
welcher der volle Glanz aller Seiner Tugenden, Seiner Liebe aber 
zumeift, herrlicher, als felbft im Werke der Schöpfung fidh entfalte, 
fondern er hat diefelbe gar Dazu fich dienen laſſen, daß er durch Hin⸗ 
opferung Seines Sohnes für fie eine Anftalt des Heils gründete, in 
der wir nun zu einer noch viel höheren Stufe der Herrlichkeit und 
Gottverwandtheit gelangen können, als wir fie in unferm Urahn einft 
befaßen, oder als wir fie erreicht haben würden, wenn wir nicht ges 
fallen, fjondern in der Probe beftanden wären. Unſer Fall fhuf Raum 
Ihm und Gelegenheit, thatfächlich darzutbun, daß Er nicht blos im 
Zermalmen der Sünde Seine Gerechtigkeit erweiſen, fondern 


Die Autknbigung. 11 


auch im Erlaſſen und Vergeben der Sünde unbeſchadet Seiner 
Gerechtigkeit Seine Barmherzigkeit verherrlichen könne. Bir 
fündigten, und waren dem Fluche verfallen. Da wurde das Wort, 
das bei Gott, und felbft Gott war, Fleifh. Der ewige Sohn ward 
imfer Bruder, nahm im Wege einer geheimnißvollen Zurechnung unfte 
Sünde auf fi, zahlte der Majeſtät des unverbrüchlichen Geſetzes 
unfre Schuld, deckte mit feiner Gerechtigkeit unfre Blöße, ftellte ung 
als feine Vertretenen dem Vater unfträflich und wohlgefüllig dar, weckte 
ein Jauchzen der Engel über unfere Erhöhung, erhub uns zur Ges 
meinſchaft feiner eigenen Schäße, Seligkeiten, Rechte, bauete ung Fries 
Dengzelte am Throne Gottes, und knüpfte und an fih mit Banden 
einer ewiger- im Thaue heiliger Dankesthränen fich badenden Liebe. — 
Dies ift das „Haus“, das Gott in Ehrifto auf „den Baum der 
Sünden” gegründet hat; und von dem die Apoftel damals noch nicht 
die entferntefte Ahnung hatten, Nachmals erkannten fie diefe Heils⸗ 
und Friedensgründung, und wie waren fie feitdem fo felig in dem 
tündlich großen Geheimniß!“ 
3 
Doch bliden wir noch einmal auf die Ankündigung in unferm Texte 
zurück. Wer erfennt nicht mit mir darin zugleich ein prophetifches 
Simbild für uns, eine Entfchleierung unferer eigenen Zukunft? 
Nichts hindert uns heute, das „Sehet, wir gehen hinauf gen 
Jerufalem,” und zwar in gleichem Doppelfinn, in welchem unbes 
zweifelt auch der Herr es ausfprach, zu dem unfrigen zu machen. 
greilich war, was dem Heiland zunächft vor Augen fehwebte, das ir⸗ 
diſche Jeruſalem, wo die Macht des Böfen damals ihren Zentrab 
und Thronfig hatte, und eben über ihrem fchauerlichen Mordplan brüs 
tete., Aber er ging nad dieſem Serufalem zugleih im Hoffnungs⸗ 
blide auf ein anderes, deſſen biutgeneßte Gründe er eben legen 
wollte Wir dürfen auch heute wieder mit ihm fagen: „Es wird 
Alles vollendet werden, was gefchrieben fteht Durch Die 
Propheten von des Menfhen Sohn: Er wird überantwors 
tet werden den Heiden, und wird verfpottet, gefhmähet, 
verfpeiet werden; und fie werden ihn geißeln, ja, (in einem 
gewiffen Sinne) tödten,” Nicht minder jedoch find wir auch berech⸗ 
tigt, hinzuzufügen: „Am dritten Tage aber wird er wieder 
auferſtehen.“ Eine neue Paſſionszeit fteht Ihm, fteht feiner Kirche 
auf Erden bevor, Ya, mehr, als dem Anfange nach, iſt fie bereits 


12 Der Vorhof. 
hereingebrochen. Schaut nur feharf, und es wird euch nicht entgehen 


fönnen, wider wen feiner innerften Tendenz nad) der Krieg unferer 
Tage entbrannt if. Auf die Vertilgung Chrifti und feines Reiches 
iſtss abgefehben. Schon haben fie Ihn aus Millionen Herzen weg» 
gefchafft; hinweg aus Taufenden von Häufern, und hin und wieder auch 
aus dem Staate weg, der. grundfäglich Fein chriſtlicher mehr 
fein fol. Sie hoffen Ihn auch wegzubringen aus dem: Unterricht 
unferer Jugend, was in nur zu weiten Kreifen fchon gelungen iſt; 
aus dem Bekenntniß der Kirche gar; und fo endlich felbft aus. Der 
Erimmerung der Völker, aus dem Gedächtmiß der gefammten Menfch 
heit. Und fie operiren mit ihren auf die Vertilgung des Glaubens am 
Ehriftum und Defien Evangelium berechneten Unternehmumgen ganz 
richtig umd ihrem Plan entfprechend, wenn nemlich Diefer darauf are 
gelegt ift, die fittlihe Weltordnung zu flürzen, das heilige Inſtitut der 
Familie aufzulöfen, die Schranken des Eigenthums zu entfernen, 
und jede Pietät, jede Ehrfurcht vor Obrigkeit ımd Gefeß zu unter 
graben. Denn dieſes Alles wurzelt im Chriſtenthum, und wird von 
demfelben allein getragen. — Wie falfhe Rechnung machen fie fih 
aber, die nach folcher Zerftörung fich ein irdiſch Himmelreich verfpre- 
then. Sie felbft, welche diefes Himmelreich uns bauen wollen, ſpie⸗ 
geln in ihren Perfonen ſchon genugfam die unheimliche Geftalt uns 
ab, in welcher jenes Reich erfcheinen würde. Was eintreten wird, 
wenn jene Brut ihre Operationen gelingen fieht, will ich euch fagen: 
Zuerft ein gefellfchaftliches Chaos, ein Untergang alles fittlih Edlen 
und Großen; eine Barbaret und Zuchtlofigfeit, wie fie die Welt noch 
nicht gefehen; eine Noth, allgemeiner und größer, als jede frühere; 
ja eine Hölle auf Erden; dann aber Verzweiflung, Hülfefchret, wie 
Schrei einer verfinkenden Welt; ftürmifches Fragen und Forfchen 
nach Heilmitteln für die ungeheuren Schäden der Menfchheit; aber in 
Folge deſſen num Die entfeßliche Entdedung, daß alle menfchlichen 
Mittel erfchöpft und verbraucht find, und daß die Hoffnung, e8 werde 
das Gute von felbft ſchon aus dem Menfchengefchlechte erwachfen, 
wenn demfelben nur Raum gewährt würde, der allergrund» und boden, 
Iofefte Wahn war, der je ein verbranntes Hirn beherrſchte. — Die 
Probe, daß nur da, wo das Chriftenthum Herberge findet, Heil und 
Segen fprießen, ift ſchon taufendfältig gemacht worden, Es fcheint 
mit der Zeit nun au zue Gegenprobe in dem thatfächlichen Er⸗ 
weife kommen zu follen, daß man dem- Evangelium den Scheidebrief 


— 


Die. Ankündigung. 13; 


nicht geben Tönne, ohne Dadurch zugleich einer Sündfluth allen ers 
denkbaren Unheild und Verderbens die Bahn zu brechen. — Nachdem 
die Welt auch diefen gallen-bittern Kelch bis auf die Hefen geleert 
haben wird, dürfte eine Umkehr in Maffe zum Panier des Kreuzes 
zu erwarten flehen. Ja, noch einmal wird Gott fein Haus auf den 
„Baum der Sünden” gründen, und zwar fo, daß der Unglanbe, 
für immer gewigigt, deſſen Grundveften hinfort nicht mehr erfchüttern 
wird. — 

Wir ziehen alſo „nah Serufalem“, im böfen wie im guten 
Sinne. — Ehriftus wird leiden in feiner Kirche, und gefreuzigt wers 
den; aber „auch wieder auferfiehen am dritten Tage” — 
Nach den Faſten kommt uns ein Oftern. — In dem Schifflein 
diefer gewiflen Zuverficht feuern wir getroft über das fturmbewegte 
Meer der Gegenwart dahin. — Und erlebten wir auch das Oſtern 
des großen Endfleges Chrifti hienieden nicht, num, dann ſtimmen wir 
droben in das „Nun find die Reiche dieſer Welt unfres 
Gottes und feines Ehriftus worden“ ein. Wir wiflen, wer - 
uns, die wir glauben, mit feinem Blute erfauft und dort die Stätte 
uns bereitet hat, und fingen fröhlich mit einem unfrer deutfchen Kirs 
henfänger dem Herrn Jeſu zu: 

Große Menge wird dir Gott 

Zırr Verehrung ſchenken, 

Dafür, daß du dich mit Spott 

Für ums laffen fränfen. 

Hilf, Herr, daß wir mehr und mehr 
Auf dich fehn und hören, 

Und mit Luft, zu deiner Chr’, 
Unfern Glauben mehren! Amen. 


— ——— 


14 - ver Bochoſ. 


TI. 
Die eherne Schlange. 





„Wozu die Brüde breiter als der Fluß? 
Sieh, was dir Hilft, ift nah!” — — 

Ein Dichter fingt's. Man follte meinen, e8 habe das apoftoltfche 
Wort Nömer 10, 6—8 ihm vorgefhwebt: „Aber Die Gerechtig⸗ 
‘ Teit aus dem Glauben fpricht alfo: Sprich nicht in Deinem 
Herzen: Wer will hinauf gen Himmel fahren? Das ift fo 
viel, als Ehriftum herabholen. Oder wer will hinab in 
die Ziefe fahren? Das heißt: Ehriftum von den Todten 
holen. Aber was fagt fie? Das Wort ift dir nahe, in 
deinem Munde und in deinem Herzen. Es ift das Wort 
vom Glauben, das wir predigen.” — Des Suchens und Ja⸗ 
gens nach durchhaltender innerer Befriedigung ift in der Welt nicht 
Maaß noch Ziel. Man fhöpft alle Brunnen nad) ihr aus; man ent- 
faltet nach ihr alle Segel des Gedankens. Hier ſchwebt man, Das 
erfehnte Kleinod zu entdecken, auf den Iuftigen Leiterfproffen der Phis 
Iofophie; aber je höher man ſich verfteigt, deflo.mehr tritt das Ges 
fuchte zurüd in blaue duft'ge Kernen. Dort meint man, mit glüdlicherm 
Erfolge den Flügeln der Phantafie ſich anvertrauen zu können; aber 
gemalte Quellen find nicht geeignet, den Durft zu Iöfchen, und Die 
Dichtung fenkt, ihrer Ohnmacht inne werdend, vor dem Ernft des Lebens 
ihr zauberifches Rofenfcepter. Und nicht minder erfolglos wird geftrebt, 
wo man an Moſis Hand im Wege des Gefehes das Banaan des 
Friedens zu erreichen hofft: denn nicht Mofes ift’s, fondern Joſua, 
der in das gelobte Land geleitet; oder wo man mit Saul die unheim- 
fihe Straße gen Endor einfchlägt, um den Orakeln und Sibyliens 
fprüchen einer verfchleierten Natur das Geheimniß der wahren Herzens⸗ 
beglückung abzulauſchen. Ach, das Geheimniß liegt fo nahe und der 
Weg zum Helle ift fo kurz. Wir werden heute das eine wie den 
anderen fich vor uns entfchleiern fehn, und ohne Zweifel reichen Anlaß 
finden, eine lange an allerlei geiftlihe Brücenbauten vergendete Zeit 
und Mühe als eine verlorne fehmerzlich zu beflagen, 


Die eherne Schlange. 15 


Ishannes 3, 14. 15. 


„Und wie Mofes in ber Wäfte eine Schlange erhöhet hat, alſo muß bed Men⸗ 
ſchen Sohn erhöhet werben; auf „daß Alle, die an ihn glanben, nicht verloren werben, 
fondern das ewige Leben haben. * 


Der Baum des Lebens, von welchem das Menſchenherz fich wahre 
Befriedigung und Beglädung bricht, grünt nicht da noch dort, fondern 
einzig auf dem heiligen blutgenetzten Boden, über welchem wie feier 
ficher Glockenkllang das Wort ſchwebt: „Siehe, das tft Gottes Lamm, 
das der Welt Sünde trägt!” Möchten wir deß Alle recht lebendig 
inne werden, und hier die unvergleichliche Kunſt erlernen, die nirgends 
anders zu erlernen ift: Ruhe zu haben inmitten der Unruhe, und Lieder 
des Friedens zu fingen inmitten des Kampfes! 

In dem verlefenen Textesworte predigt der Herr uns felbft von feiner 
beuorftehenden Paſſion, und reicht uns zugleih — Danf, Dank ihm 
für dieſen unſchätzbaren Dienft! — den Schlüffel zum innerftien Ges 
heimniß feiner Marter dar. Er befähtgt uns mit jenem reichen und 
tiefen Ausſpruch, über ein Doppeltes vollftändig in's Klare zu fommen: 
über die wahre Bedeutung feiner Leiden zuerft, und dann über 
die Bedingungen, anweldhe die Theilnahme an den Früchten 
derfelben gefnüpft if. Möge denn Allen, die deß noch bebürftig 
find, über diefe beiden hochwichtigen Momente in bleibender Weiſe 
heute das Licht aufgehn, auf daß fie hinfort nicht denen mehr beiges 
hören, die da „immerdar lernen und nimmer zur Erkenntniß der Wahrs 
beit gelangen;“ fondern denen ſich zugefellen, die feiten Grund des 
Glaubens fanden, ımd befähigt wurden, im Worte wie auf dem Wege 
Gottes „gewiffe und fichere Sqhritte⸗ zu thun! — 


In dem belannten Gefpräche Des Herm mit Nikodemus begegnet 
uns Das heutige Zertwort. Ihr kennt den heilöbegierigen Schriftges 
lehrten, der zwar, aus Furcht vor den Juden, mit feinem Bekenntniß 
zu Jeſu das Tageslicht noch ſcheute, aber darum doch von dem, in 
welchem er Größeres, als einen „Rabbi von Nazareth” ahnete, nicht 
ferne bleiben konnte, und die fchweigende Nacht zu feinen heimlichen 
Befuchen wählte. Nikodemus, ein redlicher nad) Wahrheit umd Fries 
den dürftender Mann, hatte die erftere nur gefunden als eine Fadel, 
bie feine Sünde und das drohende Gericht ihm beleuchtete; den 


Frieden aber, je eifriger er auf dem Wege der Geſetzeswerle ihm nach⸗ 


16 Der Borhol. 


gejagt, nur um fo ferner vor ſich entweichen fehn, und flatt feiner nur 
die Unruhe erhafcht, in der hienieden fehon der „Wurm“ fich bei uns 
meldet, der „nicht fterben” wird, Sept hofft er bei Zefu die uns 
fehlbare Weifung und den erwünfchten Rath zu finden. Aber welche 
feltfamen Dinge dringen hier zu feinem Ohr! In dem Wege, hört 
er, den die Vernunft empfehle, gelange der Menfch, der nun einmal 
fleifchlich fei, nimmermehr zum Ziel. Der Grundfag: „Halte Gottes 
Gebote, fo wirft du felig!” helfe ihm eben fo wenig von der Stelle, 
Des Menfchen Erlöfung fei durch Tauter Wunder bedingt. Er bedürfe 
einer Wiedergeburt durch Gottes Geift, und dieſe habe wieder etwas 
ebenfo Wunderbares und Geheimnißvolles zu ihrem Grunde. Worin 
dies Letztere beftehe, bejagt der Herr in unferm Texte. Er führt den 
Scriftgelehrten in's alte Zeftament zurüd. Cr redet dem Gefehess 
fundigen von Mofe. Er weifet dem Meifter in Ifrael zu feiner Be 
fhämung nad, wie er den Weg zur Wiedervereinigung mü Gott ſchon 
aus den Andeutungen kennen gelernt haben follte, die in der Thorn, 
in den mofaifchen Büchern reichlich zu finden feien, und hebt dann eine 
diefer Andeutungen ausdrüdlich und zugleich mit der liebevollen Abftcht 
hervor, dem Nikodemus fchon jeßt wider die ihm möglicher Weife aus 
des Herm bevorftehender Marter erwachjende Verſuchung zum Irre⸗ 
werden an Seiner Perſon und Sache die Rüftung anzulegen. j 
Der Herr erinnert den Nifodemus an das eherne Schlangenbild 
in der Wüfte. Ihr wißt, welche Bewandtniß es mit dieſem Bilde hatte, 
Die vierzig Jahre der Wandrung neigten ſich zum Ende, Sfrael ftand 
an der Grenze des gelobten Landes, Da vertritt ihm der Gananiter 
Fürſt Arad mit einem fehlagfertigen Heer den Weg. Es kommt zum 
Kampf. Die Sfraeliten werden gedrängt, und verlieren mehrere Ges 
fangene. Jetzt, wie in ähnlichen Fällen immer, denkt das Volk an 
Zufluchtnahme zu Gott. ZThränen der Buße fließen; fromme Gelübde 
und ängſtliche Hülferufe werden laut. Jehovah hört, und Arad wird 
überwunden. Wie e8 nun aber nicht alfodald in das Land, wo Mich 
und Honig fleußt, hineingeht, finkt das Volk in feine alte Berdroffens 
heit zurüd, und die ſchon taufendmal gehörte Stimme des Unmuths 
und des Murrend wider Moſes und Gott den Herrn felbft verlautet 
aufs Neue Da kann es nicht anders fein, der Herr muß abermals 
das Zeughaus feines Zornes aufthun; denn nimmer durfte das Bolt 
vergeffen, daß Jehovah ein heiliger Gott fei, der ſich nicht fpotten 
laffe, und vor welchem, wer böfe fei, „nicht bleibe.” An Authen feiner 


Die cherne Schlange. 17 


ſtrafenden Gerechtigkeit gebrichts ihm nicht. Diesmal find es „fertige 
oder Seraphfchlangen, eine Natternart mit brennenden, Tod bringendem 
Biß, der nicht felten in jener Wüfte vorkam, aber diesmal, durch einen 
Wink des Allmächtigen aus allen ihren Schlupfwinteln heraufbefchworen, 
ploͤtzlich in fo nie gefehener Menge das Lager Iſraels angriff. Grauens 
haftes Gericht! Entjeliche Verwirrung an allen Orten und Enden! 
Gellendes Nothgefchrei ertönt von Zelt zu Zelt, Verzweifelnde Männer, 
bänderingende Weiber, wimmernde Kinder flürzen hervor aus ihren 
Hütten. Unzähligen hängt die giftige Brut ſchon an den biutenden 
Gliedern. Andern zudt fie blisfchnell und unentfliehbar auf der Ferſe 
nad. Da nun wieder allgemeines Tautes Schuldbelenntniß, Angftruf 
um Barmberzigleit und Gnade, Zufluchtnahme zu Mofes, und flehent- 
fiches Gefchrei: „Bitte Du den Herm für ums, daß er die Schlangen 
von uns nehme, und und errette!” — Und Mofes, wie immer, tritt 
vermittelnd ein, erjcheint betend vor dem Angefichte Jehovas, ſchreit: 
„Herr, ſchone, ſchone!“ und empfängt von dem Gotte der Erbarmung, 
der abermals Gnade vor Recht ergehen läßt, die bekannte, zwar felt- 
fame, aber überaus bedeutungsvolle Weiſung. Er foll aus Erz das 
Bild einer Seraphfchlange fertigen, daffelbe an die Stange eines Feld⸗ 
paniers befeftigen, dieſe im Lager aufrichten, und dann dem Volke in 
Jehovas Namen fund thun, daß, wer gebiffen fet, und dieſes Bild 
anfehe, nicht fterben, fondern genefen und leben folle Und Mofes 
thut, wie ihm der Herr geboten. , Da hängt denn das kupferne Schlans 
gengebilde inmitten des Lagers. An einem Kreuze ſchwebt's; denn 
dies war die Geftalt der Panierftange, von der, einem Querftabe ans 
geheftet, die Flagge ſenkrecht herabhing. Und die Berwundeten flrömen 
berzu, ein Seglicher mit feinen Lieben; die Väter mit ihren Knaben 
und Maͤgdlein an der Hand, die Mütter ihre zudenden Säuglinge auf 
deu Armen. Und wer da glaubt, und in diefem Glauben zu dem 
Bilde aufſchaut, der ift genefen; und die Kindlein werden heil durch 
den Glauben ihrer Eltern. Wer aber etwa zweifelnd dem Gedanken’ 
bei ſich Raum gibt: „Wie doch ſolch kupfern Bildniß Hülfe und Hei⸗ 
tung ſchaffen möge?” der fällt als Opfer feiner Verſtandeskritik, und 
gelangt in's gelobte Land nicht mit hinein. | 
hr. merkt, Geliebte, daß wir uns hier im Bereiche göttlicher Vor⸗ 
bilder und Typen befinden, und daß bier gefchteht, was Spr. Salomo 8 
die ewige Weisheit von ſich ausfagt: „Ich fpielete auf dem Erdboden, 
und meine Luft ift bei den Menfchenkindern!” Ihr merkt, Daß, wenn 
2 


18 | Der Berhef. 


trgenbwo ein Geheinmiß verborgen Itege, es hier fein müfle; und auf 
was für ein Geheimniß das ganze Bildwerk hinüberdeute, wicht wahr, 
auch ohne das enträthfeinde Schlüffelhwort des Herm in unferm Texte 
würdet ihe auch Dies geahnet haben? Diefes Wort aber zerftreut auch 
das letzte Dunkel, das etwa noch darüber ſchweben könnte. Ob das 
damalige Ifrael ſchon das Bild in feiner ganzen weiflagenden Tiefe 
zu erfaffen fähig war, fteht freilich dahin. Die Erleuchteteren des 
Volkes konnten allerdings von diefer Tiefe etwas almen, da fie in ihren 
Dpfergebräuchen, in denen ja auch ein finnbildlich mit den Sünden 
des Volkes beladenes und fo zur Sünde gemachtes Thier ald Res 
timgsmittel auftrat, eine Ueberleitung zum Berftändniß jenes Bildes 
fanden. Wir faffen des Bildes Sinn, und ſtutzen nicht mehr, wie 
Ritodemus geftubt haben mag, wenn wir den Herm fagen hören: 
„Gleich wie Mofes in der Wüfte die Schlange,” (Die, nicht 
eine) „erhöhte, alfo muß des Menfhen Sohn erhöhetwerden, 
auf Daß Alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, 
fondern das ewige Leben haben.” Als Bergleihungspuntte 
ergeben fich, wie handgreiflih zu Zage Itegt, folgende: Die Iſraeli⸗ 
ten in der von Rattern durchzifchten und mit Angft und Sammer er 
füllten Wüſte repräfentiren das Menfchengefchlecht in Ddiefer Welt. 
Canaan, an defien Grenzen fie Iagern, bildet die Heimath der Seligen 
jenfeits des Todesthaled ab, Der Schlangenbiß, der die Wuͤſtenwan⸗ 
derer in &efahr bringt, diesfeits des gelobten Landes zu fterben, und 
des letztern für immer verluftig zu gehen, bedeutet den Sündenfludg, 
der und den Frieden raubt und den Himmel uns verfchließt. Die Erhoͤ⸗ 
hung der ehernen Schlange zielt, wie der Herr felbft bezeugt, auf die 
Erhöhung Ehrifti. Zrat jene in Folge eines göttlichen Rathes ein, 
fo diefe ebenfalls. War jene ein Anfgehenttwerden an ein Kreuz, fo 
diefe nicht minder. War die erftere zugleich eine Erhöhung im Sinne 
der Berberrlichung: denn das eherne Bid wurde das Heil⸗ und 
Rettimgsmittel des Volles; fo gilt daS auch von diefer: denn Ehriftus 
vollendete fich erft am Kreuze zum Heiland der Belt. „Aber“, fagt 
ihr, „Die Schlange felbft konnte doch nicht ein Bild des Herrn Chriſti 
fein?!” — Sie war e8 ebenfowol, wie das Hinauffehen zu ders 
felben ein BÜd des Glaubens an Diefen, wie die durch den Ans 
blick der Schlange bewirkte Heilung ein Bild der durch den Glauben 
an Ihn zu erlangenden Gnade, - und endlich wie der durch das Schlan⸗ 
genbild für Ifmel wieder ermöglichte Einzug in's gelobte Land, ein - 


⸗ 
Die eherne Schlange. 15 


Bild der durch Ehriftum für uns Sünder wieder möglich gewordenen 
Aufnahme in das Land Der Herrlichkeit if. „Aber Chriftus amd 
ein Schlangenbild! — Wo ift hier Aehnlichkeit? Wo hier Bezie⸗ 
bung? — Gibt e8 Paradoreres und Ungereimteres, als diefe Zufams 
menftellung?!” — Dem Anfcheine nach allerdings nicht. Aber diefer 
Schein bat nur darin feinen Grund, daß es aud ein größeres Ges 
heimniß nicht gibt, als das hier angebeutete, — „Aber Ehriftus”, 
wendet ihr ein, „tft ja der Heilige, und die Schlange mit ihrem @ift 
ein Bild der Sünder!” — Wohl wahr, Geltebte; aber bedenkt zu⸗ 
pörderft, Daß Ehriftus hier nicht einer natürlichen Schlange, fordern 
nur einem ehernen Abbilde derfelben, welches das Gift der wirklichen 
nicht theilt, verglichen wird. — „Aber auch ein Schlangen bild“, ents 
gegnet ihr, „bleibt ein Symbol der Sünde,” — Ganz wahr, Geliebte; 
aber habt ihr nie gelefen: „Gott bat den, der von keiner Sünde wußte 
für uns zur Sünde gemacht?“ Nie gelefen: „Gott warf alle 
unfre Sünden auf ihn“? Nie gelefen: „Chriſtus hat unfre Sünde 
an feinem Leibe Hinaufgetragen auf das Holz;” und wiederum: „Er 
bat uns erlöfet vom Aluche des Geſetzes, da er ward ein Fluch für 
und; denn es fteht gefchrieben: Berflucht tft, wer am Holze hängt?” 
— Gedenkt Doch nur an diefe Sprüche, und an fo manche andere die ſen 
ähnliche, und ihr werdet jene Vergleichung fo ungereimt ſchon nicht mehr 
finden. ‚Aber immer ift doch Ehriftus nicht Die Sünde! —” Freunde, 
wenn Er zurechnungsweife umfre Sünde trug; wenn fih auf Ihn der 
Fluch zufanımenhäufte, der der Sünde zulam; wem Er ſich flellvertres 
tend um unfrer Sünde willen dem Richtfchwerte des Geſetzes unterwarf, 
auf daß bei ımferer Begnadigung die Majeität des Geſetzes unverlept 
amd umverdunfelt bliebe; wenn die Sünde nad) apoſtoliſchem Ausdrud 
„an feinem Fleiſch“ verdammet ward, damit fle ihrer verdammenden 
und verderbender Kraft für uns beraubet würde;— wenn, fage ich, diefe® 
Alles, folkte er damn nicht troß aller feiner perfänlichen Heiligkeit m 
einem tiefen Sinne mit gutem Grunde die Sünde heißen, und’ übers 
ans paſſend und bedeutimm jenem ehernen Schlangenbilde verglichen 
werden förmen? Und alles das, was ich eben nannte, ift ja wirklich 
wach der Schrift gefchehen, und die Paſſtonsgeſchichte ift deſſen Erfüls 
Iung. Und gefchehen mußte, mußte es, „Es muß“, hören wir 
Ia ſelbſt in unferm Zerte fagen, „alſo“ (d. i. in gleicher Weile) 
auch des Menſchen Sohn erhöhet werden. Ja, ein Muß ware, 
deſſen Tiefen wir freilich hienieden nicht zu ergründen cn Der 


20 Der Vorhof. 


ganze Erloͤſungsplan ging allerdings von der Liebe und Erbarmung 
Gottes aus. „Alſo hat Gott die Welt geliebt‘, beginnt das unferm 
Terte folgende große Wort, „daß er feinen eingebormen Sohn dahin 
gab.” Aber e8 ziemete Gott, jenen Plan in dem blutigen Vers 
mittlungswege zu vollführen, den Ehriftus wandelte. Es war dies 
ein Muß, welches theils in unfrer gänzlichen Unvermögenheit, uns 
felbft aus unfrer fittlichen Verkommenheit wieder heraus zu helfen, 
theils in dem hochheiligen Wefen und der unwandelbaren Hausordnung 
unſres Gottes feinen Grund hatte Die Nothwendigfeit erheifchte 
es fo, fagt uns die ganze heilige Schrift; und Lönnen wir das Warum 
nicht durchſchauen, fondern höchftens nur von ferne ahnen, fo 
wiffen wir, daß überhaupt noch viel daran fehlt, Daß wir die Tiefen 
der Gottheit follten erforfchen können. Wer hier den etwaigen Ein- 
wänden und Bedenken feiner natürlichen Vernunft vor dem Worte des 
lebendigen Gottes den Vorzug geben will, der thue es auf feine Ge 
fahr bin; ermäge jedoch, wie e8 den vernünftelnden Kopffchüttlern Ans 
gefichts der ehernen Schlange in der Wüfte ergangen tft, Die es einzig 
ihrem Hochmuthe zugufchreiben hatten, daß fle an ihren Wunden ftars 
ben und verdarben, indem nun einmal wider den Schlangenbiß außer 
dem einen Mittel, das ihnen Gott felbft verordnet hatte, in weiter 
Welt ein andres nicht aufzutreiben war. 
| 2 


Sp wifjen wir denn: Das Gegenbild der ehernen Schlange ift der 
für uns gekreuzigte Chriftus am Holz. Diefer fleht als das einzige 
Heilspanier im Lager der durch die Sünde verwüfteten und um der 
Sünde willen dem Fluch verfallenen Menfchheit aufgerichtet. Keine 
Genefung, feine Gewiffensitillung, feine Erledigung von Fluch und 
feine Zulaffung in das himmlifche Canaan, als durch Ihn. „Ich bin 
der Weg, die Wahrheit und das Leben,” bezeugt er felbft, „Niemand 
fommt zum Bater, denn durh mich!” Nun aber fragt ſich's, 
wie durch ihn heil zu werden fei, nachdem er in feinem Leiden und 
Sterben die letzte Obliegenheit erfülkte, durch welche er zum vollendes 
ten Erlöfer wurde? Ich antworte: In ähnlicher Weife, wie in dem 
Borbilde der Wüfte die durch den Schlangenbig Vergifteten gerettet 
wurden, Zuerft wie dort: Empfindung ımfrer Wunde, Mares Bewußt⸗ 
fein um unfer Elend, Sündenfchmerz und Sündentrauer! So lange 
und die Lüge gefangen hält, und der Wahn uns umftriett, als feien 
wir vor dem Geſetze nicht verfchuldet, nicht fleifchlich, nicht verloren 


Die eherne Schlange. 21 


mit unſerm ganzen von der Liebe Gottes verlaſſenen, und vom Egois⸗ 
mus durchgifteten Zuſtand, und in unſrer Gottentfremdung nicht dem 
Fluch und Zom verfallen, fo Iange find wir der Rettung noch nicht 
fähig. Die Rettungsfähigkeit ift erft mit der Marbewußten Rettungs- 
bedürftigfeit vorhanden, Wer in Iſrael nicht geglaubt hätte, von den 
Nattern gebiffen zu fein, der wäre auf feinem Lager liegen geblieben 
und geftorben, Brüder, es thut's noch nicht, daß ihr das Wort von 
dem Gekreuzigten hört, faßt, ja gar feine Wahrheit anerkennt, und felbft 
es Andern verfünden und erläutefn könnt, Nicht für das Wort bios, 
fondern vor Allem für eure eigene wahre Geftalt und Rage müfen 
euch die Augen aufgehn. Ihr müßt euch ſelbſt erfaffen als nad 
Sinn und That von dem Leben aus Gott gewichene, in grober oder 
fubtiler Weife unter die Sünde verkaufte und von dem Gefege Gottes 
entſchieden verurtheilte und verdammte Uebertreter. In diefer Eigen 
ſchaft, die wahrhaftig die eure tft, müßt ihr mit dDurchgreifendem Weh, 
mit tiefer Herzensfümmernig, und brennend heißem Durft nad) Gnade 
und Verſöhnung euch erfunden haben: dann, aber auch erft dann, 
feßtet ihr den erften Fuß auf den Weg, der zur ewigen Heilung führt. 
Fa, Die erfte Station auf diefer Straße ift naß von Thranen. Bor 
Allem ein Zöllner erft, der an feine Bruft fchlägt; ein Simon 
Petrus mit einem „Gehe hinaus von mir, denn ich bin ein fündiger 
Menſch“; ein verlorener Sohn, der mit dem Seufzer wiederfehrt: 
Bater, ich habe gefündigt im Himmel und vor dir, und bin hinfort 
nicht mehr werth, daß ich dein Kind heiße, und dann das Weitere! — 

„Was aber weiter dann? —“ Es wird dies der Nothftand dei⸗ 
nes Herzens ſchon enthüllen. “Der dürftende Hirfch findet Teicht die 
Quelle, und die vom Kluge ermüdete Taube entdedit bald den Del- 
baum, auf den fie fich niederlaffe. Wohl kann es fein, daß du erft 
eine Beile noch kreuz und quer umbertreibft, und bald hier, bald dort 
zu entdeden hoffit, was den Sturm in dir bedräue. Was aber gilt's? 
nur ausgehauene Löcherichte Brunnen findeft du, die fein Waſſer geben, 
und fommft zur Ruhe nicht, bis du vor dem blutigen Paniere des 
geiftfichen Iſraels, dem Gegenbilde der ehernen Schlange, Halt macht, 
Hier fiehe dann auf, d. h. in der Deutung des Bildes: hier glaube, 
„Auf daß Alle”, fpricht der Herr, „Die an Ihn glauben, nicht 
verloren werden”. Merke jedoch wohl, daß es nicht heißt: Die 
Ihm, fordern die an Ihn glauben. Diefer Ausdrud wiegt in ber 
Sprache des Herrn ſchwer, und bezeichnet umendlich mehr, als 'eine 


* Der Verhol. 


bloße Verftandesthätigfeit, mehr, als ein Jaſagen zu irgend einem 
Behrfag, mehr, als ein Fürwahrhalten und Beifallgeben Des Gedan- 
tens. Kine gläubige, vertrauensvolle Hingebung gilt es an den 
gefreuzigten Chriſtum, ald an den legten und einigen Heiland und 
Helfer von aller Noth, von allem Verderben. Man fteht vor Ihm, 
man erkennt in Ihm den Mann, der in unergründlicger Liebe fein 
Alles dahin gab, aber auch dahin geben mußte, um und Unwirdige 
zu retten. Eine dankbare Rührung überwältigt das Her, Man ums 
faßt Ihn, nicht als den letzten Nothaufer nur, noch wie der vom Vlut⸗ 
rächer Verfolgte das fehükende Altarhorm erfaßt; man umarmt ihn 
zugleich als unfern allertreuften Freund, und eignet ihn fih an als 
den füßeften Inhalt unfers Lebens, Man wirft fi) gaͤnzlich auf ihn 
bin, Man kommt in feinem Berdienft zur Ruhe. Man laͤßt Ihn 
feine ganze Hoffnung, feine höcfte Wonne fein. Und Die Liebe zu 
ihm, die unter Wirkung des heiligen Geiſtes in unjern Herzen fid 
entzündet, wird nun zum neuen Prinzip unfers innerften Lebens, und 
zur Hüterin unfers ganzen Thuns und Laſſens. Rur Ihm will man 
leben hinfor. Man wandelt vor Seinen Augen auf Schritt uud 
Tritt, Man berechnet zart, was Ihm mißfallen könnte und meidet 
es, Und neue Winden, — denn ah, die Sünde tft nun fo wenig 
ſchon völlig todt in uns, als wir Iefen, daß in dem gefchichtlichen 
BVorbilde der Wüfte Die Schlangen fofort hinweggenommen worden 
feien, — treiben immer aufs Neue zu ihm hin. Aufs Neue hängt 
Die Thräne am Wimper, aber aufs Neue entnimmt man auch den Troft 
ber Bergebung von feiner guadenreichen Kippe. 

Seht, Freunde, das heißt an den gefrenzigten Chriſtus glauben. 
Ber alfo an Ihn glaubt, der, — vernehmt es aus Jeſu eigenem 
Munde, — wird nicht verloren gehn, fondern hat das ewige Leben. 
Nichtglauben und VBerlorengehn find alfo ungertrennliche Momente. 
Ber wird gegenüber einem fo unzweideutigen Zeugniß aus dem Munde 
des Herm jelber, wie wird hier vernehmen, noch fernerhin dem flachen, 
abgetretenen Gemeinplag huldigen können, daß bei der Frage nach der 
Seligkeit der ganze Schwerpunkt in das Thuen falle, der Glaube 
Dagegen „indifferent” fei, d. h. nicht in Anſchlag komme, wenig 
ſtens nichts enticheide. Freilich kann nur die äußerfte Unfenntmiß von 
dem Weſen des Glaubens eine fo alberne Borftellung erzeugen, Man 
überfieht Dabei völlig, Daß der Here nicht fagt, wer glaube, werde 
das Sehen haben, ſondern es habe das Leben ſchon. Der Gert foßt 


nn \ 


Die eherne Schlange. B 


den Glauben ſchon als Leben, ja als den Anfang und Keimanſatz des 
ewigen Lebens, indem er, weit entfernt, denfelben nur in eine bes 
jahende Zuftimmung des Verſtandes zu einer gewiffen Summe von 
Lehrbegriffen zu feßen, denſelben vielmehr als eine lebensfräftige Ans 
eignung diefer Lehren, ja als ein umbedingtes Sichſelbſtaufgeben an 
den Herrn Chriftum und an feine Leitung und Bewirfung anſchaut. 
Ber den Glauben in diefer feiner Eigenfchaft aus eigenem Innewer⸗ 
den Bennen lernte, der kann nur mitleidig über Die Afterweisheit Lächeln, 
die ihn vergleichgültigen, und der Sittlichleit in ähnlicher Art eine 
Ehre anthun will, wie wenn etwa Jemand Dadurch einem Bade eine 
Ehre zu erweilen gedächte, Daß er, um denfelben zu einem felbft- 
ſtaäͤndigen Dafein zu verhelfen, ihn von feiner Quelle trennte, Keine 
Sittlileit ohne Hergensreinigfeit; und Teine Herzensreinigung ohne 
Glauben, Ohne Glauben feine Liebe zu Gott; und ohne diefe Liebe 
feine Zugend. Der Glaube findet aber die Einigung mit Gott allein 
in Chriſto. Nur der Aufblid der Zuverficht zu dem dorngekroͤnten Ge⸗ 
genbilde der ehernen Schlange heilt den Inbegriff aller unfrer inneren 
Schäden. Gebet bin, werdet es in eigner Erfahrung fellg inne, und 
lernet einftinmen in des Dichters Worte: 


Gekreuzigte, verflärte Liebe, 

Du mehr, als jeder Schaf ber Welt! 

Ob nichts, maß irbifch ift, mir bliebe: 

Da biſt's, die mehr, ala ſchadlos hält. 

Und wandelt’ ich auf bunfeln Wegen: 

Du biſt's, auf die mein Herz vertrant! 

Du bift des Glaubens Licht und Segen, 

Bis dich mein Ang’ im Throne fhant. Amen! — 


24 Der Bordef. 


IH. 
Der Dobepriefter. 





Es ift eine fehr irrige Vorftellung, die durch Ehriftum das alte 7 
flament als etwas Nichtiges abgethan umd verneint fein läffet. - 
Allerdings verneinte er das alte Teftament; jedoch nicht fo, wie er zu 
Beifpiel den Pharifäismus verneinte, fondern wie die Frucht Die Blütt 
verneint, indem fie deren Mark und Segen in ſich aufnimmt, und dan 
die Hülle abſtoͤßt. „Ihr follt nicht wähnen“, fpriht der He 
Matth. 5, 17 felbft, „daß ich gefommen bin, das Geſetz ode 
die Bropheten aufzuldfen. Ich bin nicht gelommen auf 
zulöfen, fondern zu erfüllen.” — Ja, Lebensfülle mitzuthe 
len, fowohl dem heifchenden, wie dem weiffagenden Buchſtabe 
Des alten Bundes, dazu kam er. Das Geſetz, gehorchend und vol 
bringend, die Prophetie, wahrmachend und verwirklichend, in fir 
aufzunehmen, war feines Erſcheinens Zwed und Ziel. Das hingezeid 
nete Ideal kam in Ihm zu feiner Berleiblihung Das todt 
leere Bild hob, Subftanz und Zleifch geworden, in Ihm, als in fe 
nem lebendigen Originale und wefenhaften Urbilde, fih auf. 

Nichts ift vom alten Teftamente als eine taube Blüthe abgefalle 
und verftoben., Bis zu dem geringfügigften und unfcheinbarften Zug 
hinab ward felbft die Ievitifche Tempelordnung in Ihm gerettet um 
in Wefen umgefeßt, Jeder gottesdienftliche Gebrauch feierte in Ihr 
und Seinem Thun den Moment. feines Webergangs aus dem Be 
reiche der Schatten in's Gegenbildfihe und Reale. Wie der Grunt 
riß eines Baues zu dem verwirklichten Baue felbft, ähnlich verhält fic 
das ganze mofaifche Geremonialgefeß zu Zefu Perfon und Werl, De 
architektonische Plan zu der Bauanlage ward nicht vernichtet, fon 
dern blos, bis zu den Fleinften Federftrichen hinzu realifirt, in da 
Gebäude aufgehoben, und behält, ob er gleich feine Dienfte nu 
gethan hat und dem Archive übergeben ift, doc immer noch de 
Werth eines Maßſtabes für den Vorbedacht, die weife Berechnung 
die Pünktlichkeit und Treue, womit der Baumeifter baute und fei 
Werk vollführte, In ähnlicher Weife dient uns auch heute noch da 


Der Hobepriefter. 25 


alte Ceremonialgeſetz, indem es gleich einer heiligen Fackel die Tie⸗ 
fen des göttlichen Erlöfungs-Rathes ums beleuchtet, Wie wohl 
thuend aber und wie erhebend ift es, den Ewigen vor Zahrtaufenden 
{don mit der Zeichnung feines großen Retterplanes befchäftigt anzu- 
treffen! Oder ift e8 etwas Anderes, ald Seine planzeichnende Hand, 
Die in jenen Schattenriffen fih uns kundgibt? — In diefem bilder- 
reichen, und fowohl perfönliche als f ählice Zeichen umfchließen- 
den Borentwurfe fteht num bekanntlich als eine Hauptfigur der aro- 
nitifche Priefter vor und. Wie EChriftus auch diefem bedeutungs- 
vollen Schatten in Seiner Perfon zu Weſen und Verkörperung verhalf, 
das werden wir heute in unfern Gefichtöfreis treten fehen. 


Hebraer 7, 26. 


Denn einen ſolchen Hohenprieſter mußten wir haben, der da waͤre heilig, unſchul⸗ 
big, unbeſſledt, von den Sündern abgeſondert, und höher, denn der Himmel iſt. 


:- Ein herrlich Gebiet thut fi vor und auf. Unſer Text führt ums 
zu den Grundveiten der göttlichen Erlöfungsanftalt. Wir vernehmen, 
wie der Heiland, der uns Gott verfühnen follte, habe beſchaffen fein 
müflen. Es bedurfte einer göttlihen Offenbarung, um uns dies 
zum Begriff zu-bringen.. Ohne Aufichluß von Oben hätte fein Engel- 
noch Menfchenverftand jemals das Näthfel gelöft, wie ein dem Fluche 
verfallenes Gefchlecht unbefchadet der göttlichen Gerechtigkeit wieder zu 
Gnaden angenommen und mit Gott neu vereinigt werden möchte. Jetzt 
find uns von diefem Geheimniß die Siegel gelöft. Vernehmen wir 
denn zubörderft heute, was für einen Erlöfer wir haben muß— 
ten und wirklich haben; und fodann: welde Rechte aus der 
Vollkommenheit diefes hohenpriefterlihen Mittlers für 
die Gläubigen hervorgehn. 

Schwebe der Geift des Herrn über unfrer Betrachtung und führe 
und in alle Wahrheit! 

1. 

Der Menſch in ſeinem n natürlichen Stolze mag von einem Mittler 
und Erloͤſer überhaupt nicht wiſſen. Er duͤnkt ſich Mann's genug, fich 
ſelbſt zu vertreten, und verſchmäht es, ſich nach Gott zu richten, indem 
Gott vielmehr nach ihm ſich richten müſſe. Er ſchreibt dem Aller⸗ 
hoöchſten die Bedingungen vor, unter denen derſelbe ihn gerecht erklaͤ⸗ 
en und feguen, und einft fogar ihn erhöhen und zu feiner Hertlich⸗ 


* Der Berhel. 


keit erheben ſolle. Gott ſoll ſich au der Gerechtigkeit gemügen lafſen, 
Die er ihm darſtellt. Welch' jaͤmmerlich Stückwerk dieſelbe immer 
ſei, Gott foll fie für voll annehmen, für genügend gelten laſſen. Er 
foll feine fittlihen Forderungen nach dem gegenwärtigen Zufland 
des Menfchen mäßigen. Er ſoll's, oder der Menſch droht heimlich 
in feinem Herzen, Ihn der Härte und Granfamkeit anzuklagen. So 
fiebt der Mamsfohn zu Gott: ein frecher und zugleich unfinniger 
Rebelle, der da verlangt, es folle Gott um feinets, des elenden Sün⸗ 
ders willen, Sein Weſen und alle Seine Bolllommenheiten verläng- 
nen. So proteftirt er gegen Die Botichaft von einer göttlichen Gnaden⸗ 
und Heilsanftalt, weil feinem dummen Hochmuthe der Gedanke uner⸗ 
träglich ift, daß feine Erlöfung und Befeligung fo große Zubereitungen 
der göttlichen Barmherzigkeit follte erfordert haben. Ach, ihr wißt es 
ja, welche Aufnahme dem Herm Jeſus ward, als er mit der Eröff- 
wung unter die Leute trat, daß er erfchienen fei, fein Leben zum Loͤſe⸗ 
geld für fie dahin zu geben. „Was Löfegeld!” hieß es. „Wozu ein 
Löfegeld? Als ob wir banquerotte Leute und in uns felber hülflos 
wären! — Gilt's Zahlung, fo ftehen wir felber unfen Mann, und 
bedürfen keines Bürgen!” — Und fünsahr! hätte Gott die Grün 
dung feiner Gnadenanftalt vertagen wollen, bis die Menfchen aus fich 
feld Ihn darım würden angegangen fein, die Anftalt des Heils 
wäre nie gegründet worden; vielmehr wäre Gejchlecht um Geſchlecht 
in gräßlicher Sicherheit und Berblendung dem Abgrunde des ewigen 
Berderbens zugetaumelt, und heute noch taumelte die Menſchheit hals⸗ 
flarrig und ohne Hülfefchrei dem Abgrund entgegen. — Aber Hei, 
Heil uns! Gott rechnete diefe unfre entjegliche Blindheit mit zu dem 
Elend, deß Er ſich jammern ließ; und je lauter wir in unſrer Raferei 
daher fchrieen: „Wir wollen feinen Mittler] “ um defto höher ſchlug 
in Seinem Herzen die Flamme des Mitleids auf, die ihn Drängte, 
einen Mittler und Erretter und zu fenden. Ya, Er hat das Heil uns 
aufgezwungen und wider unfern Willen in Ehrifto und erlöfet. 
Aber hörte man denn nicht die Alten feufzen: „Ach, daß Du den Hüns 
mel zerriffeft und führeft herab!?“ — Die Alten fchrieen fo; aber 
nachdem ihnen vorab ein göttlicher Wunderakt dazu Die Zunge loͤſte. 
Die menſchliche Natur als ſolche hat niemals fo gefchrieen. Sie ift 
ſich felbft genug bis dieſe Stunde. Sie geht vornehm an Krippe und 
Kreuz vorbei; denn „wozu dieſe Geräthe?“ denkt fie; „ich brauche 
ihrer wicht" — In der That alfo bedarfſt du keines Mittlers? Du 


Der Hohepziefter. 37 


biſt wirklich eines MWertreters nicht bedürftig? — Allerdings, zwei 
Faͤlle geſetzt, und du brauchſt einen Mittler nicht. Exiſtirt kein 
Get im Himmel, nein, dann bedarfit du feinen Heiland; denn 
Dann gibt's auch fein Gericht, keine Fortdauer nach dem Tode, keine 
Ewigfeit. Dann bift du eine Wafferblafe auf der Strömung der Na- 
tur, die bald wieder in Nichts zergehen wird. Es hat dann für des 
Lebens Zukunft gar feine Bedeutung, ob Jemand ein Heiliger fei, 
oder ein Sünder. Es trifft Beide nad) kurzem Dafeins-Traum das 
gleiche Vernichtungsloos. Der Tod loͤſcht den Funken, „Geiſt“ ge 
nannt, in ihnen aus, Sie verfchwinden aus der Reihe der Perfün- 
lihleiten für immer, und „ihre Stätte iſt nicht mehr gekannt”. Was 
fol dir alfo, ift Gott ein Hirngefpinnft, ein Hoherprieiter?! — 
Aber „die Thoren“, ruft der heilige Sänger, „ſprechen in ihrem 
Herzen: e8 ift fein Gott;“ umd fügt hinzu: „Sie taugen nidt, 
und find ein Greuel mit ihrem Weſen.“ — Doch, auch wenn 
ein Gott ift, wie denn fo wahrhaftig Einer lebt, als die Himmel feine 
Ehre erzählen und die Befte feiner Hände Werk verfündet, fo bift du 
and Dann noch eines Erlöfers nicht benöthigt, wenn jener Gott ein 
Lügner ifi, wie Du, der zwar ein „Berfludt fei Jedermann, 
der nicht bleibt in Allem, das gefchrieben ſteht im Buche 
des Geſetzes, daß er es thue,” an die Säulen der Erde fchrieb; 
aber nach diefem Wort nicht ftraft, fondern ihm zuwider handelt; oder, 
wenn Er ein Unheiliger ift, wie Du, der Sünde und Miffethat nicht 
anfchlägt; oder, wie du, ein Unweifer, der in feinem Regimente 
plans und ordnungslos zu Werke geht. Ich fage: ift Er ein Sol⸗ 
her, freilih, was fol dir dann ein Heiland? — Aber wäre auch 
ein folcher Bott noch Gott? Gehört es nicht wefentlich zum Begriffe 
Gottes, daß er heilig fei, gerecht und wahr, und die Sünde ver- 
Hude, und über der Erfüllung feines unmiderruflichen Gebotes halte, 
und einem Seglichen vergelte nad) feinen Werken? Ich meine, nichts 
lebe mehr außer Frage, als eben Dies, — Was aber, o Menſch, ges 
büßret dir nad) deinen Werken? Dir, der Du der Grundlage aller 
vor Gottes Augen geltenden Güte, nämlich der Liebe Gottes: über 
Alles, und des Nächften als dich felbft, fo gänzlich banr bit? Dir, 
der du von Natur als ein vollendeter Egoiſt erfunden wirſt? Dir, 
dem Knechte des Fleiſches, ja dem Feinde und Widerfacher Gottes, 
der du dich als folchen fo oft bethätigeft, als Gott mit Seinem 
Wort, Seinem Gefeh, oder Seinen Führungen deine Wuͤnſche und 


28 Der Bordof. 


Geluͤſte durchkreuzet? — Wiffe, was Dir gebühret, ift der Tod 
und die VBerwerfung von Gottes Angefiht, Er muß did ver- 
dDammen, wo er richtend nur deine Perſon anfieht, oder. jelbft zu 
Grunde gehn und aufhören, ‚Gott zu fein. Und du verlangft, Daß 
er fich ſelber aufhebe, mit fich felber ſich entzweie, ja, fich felbft ver⸗ 
nichte, indem du begehrft, daß er did) Sünder ohne Vermittlung, 
ohne Genugthuung, ohne Opfer fegne, erhöhe und in das himmlifche 
Weſen verfege! — — O Zollheit, o Raſerei, o unfinniges, ja frevel- 
haftes Beginnen! Was immer du nöthig haben magft, biutnöthiger 
haft du nichts, als einen Mittler und Erlöfer! Frohlode drum, 
und bete an am Staube, daß ein Solcher erfhien, und auch Dir 
die Retterhand entgegenftredt! — 

Gott mußte die abtrünnige Menfchheit ftrafen. „Das war Gottes 
Recht”, fagt die Schrift. „So ziemete e8 Gott”, fagt fi. Ja, fo 
entſprach e8 Seinem hochheiligen Weſen. Es Tiegt als eine Noth 
wendigfeit in Gottes Natur und der Ordnung feines Haufes, Daß 
der Sünde der Fluch fih an die Ferfe hänge. Damider ift nicht zu 
disputiren. Das it eine ewige unbeftrittene Wahrheit. Was aber 
wäre nun aus der Menfchheit geworden, hätte ihr nad ihren Werfen 
vergolten werden follen? ine Beute der Hölle wäre fie, ımd das 
für ewige Zeiten. Aber dahin follte es nicht fommen; und darum 
trat die unergründfiche Gottesliebe mit ihrem Netterplan in's Mit- 
tel. Es galt, daß Einer zu uns Sündern in das Verhaͤltniß eines 
zweiten Adams eintrat, Das heißt in ähnlicher geheimnißvoller Weiſe 
fih mit uns vergliederte, wie der erfte Adam mit feinem Gefchlechte 
Einer war: Er unfer Vertreter, wir in Ihm aufgegangen; er das 
Haupt, wir als fein Leib zu einer Perfon mit ihm verbunden; er 
fomit unfrer Schulden theilhaftig, wir theilnehmend an feiner Bezah⸗ 
lung, gleich als wären wir Er, und als wären wir nicht etwa Viele, 
fondern mit Ihm nur Einer, eingefchloffen in Ihn vor Gott, aus 
Dielen in Ihm Ein Mann geworden, Natürlich mußte der Vertreter 
zunädft ein Menfch fein: denn nicht die Engel, die Menfchheit 
mußte zur Sühnung des unter die Füße getretenen Geſetzes die ge 
techte Strafe leiden. Der Menfchheit war gefagt: „Ich will den 
aus meinem Buche tilgen, der an mir fündig.“ Der Menfhheit 
war das Geſetz der zehn Gebote gegeben, daß fie e8 bewahrete und 
darnach lebte. Die Bedingung, an welche unfre Wiederaufnahme in 
das Vaterhaus geknüpft war, war eine doppelte: zuerft die, daß wir 


Der Hohepriefter. 29 


Gott dargeftellt wurden als Solche, die den angedrohten Suͤndenfluch 
erduldet; und dann die, daß Er als Knechte uns erfand, die den 
unwiderruflich den Menjchen auferlegten Gehorſam nach allen Seis 
ten bin geleiftet hatten. Daß nun der Mittler nicht bios Menſch, 
fondern auch ein gerechter Menfch fein mußte, ergibt ſich fo von 
felbft: denn war er felbft ein Schuldner, fo bedurfte er für feine 
Berfon eines Mittlers, der für ihn bezahlte. Daß er zugleich mehr 
fein mußte, als ein Menſch, Teuchtet nicht minder ein. Er mußte 
Gott fein, und zwar zunachſt, Damit Er, was nur bei Gott zutrifft, 
nicht unter, fondern über dem Geſetz fände, und dadurch befähigt 
wäre, für Andre „unter das Geſetz“ ſich thun zu laſſen; fodann, 
damit Er, durch feine unbegrenzte Herablaffung von der flrahlenden 
Höhe der Gottheit in die Befchränfung der armen Menfchennatur 
den Werth feines ftellvertretenden Gehorfams erft recht in's Unend⸗ 
fiche fteigerte, und vollendete; ferner, damit Er, wie ſich die Kirchen- 
lehre ausdrüct, die „Zaft des Zornes Gottes” und alle Schauer 
des übernommenen Fluches ohne Verzweiflung zu ertragen vermöchte, 
und endlich, damit Er uns mit fih aufs höchſte, d. h. bis zur Herr⸗ 
fhaft und Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater ers 
heben koͤnnte. Ach, wir lallen und ftammeln wohl davon, wie und 
warum der Mittler fo und fo habe beichaffen fein müffen; aber wir 
faffen von der großen Sache in unfrer menfchlichen Kurzfichtigkeit nur 
äußerft wenig. Das aber fteht, weil fein untrügliches Wort es bes 
zeuget, unerfchütterlich feit, daß wir „einen ſolchen Hohenpriefter haben 
mußten, der da wäre nicht allein heilig, unſchuldig und unbefledt, 
fondern auch von den Sundern abgeſondert“, d. h. nicht, wie fie, in 
Sünden empfangen und geboren, und „höher denn der Himmel if,“ 
d. i. auch über die Engelwelt erhaben, oder Gott gleich, und felber 
Gott, hochgelobt in Ewigkeit, Erft die Ewigkeit wird und das Ge 
heinmiß ganz entflegeln, aus welchen Gründen nur ein Solcher un- 
ferm Elende gewachſen war. Bis dahin Takt uns glaubend und in 
Dank zerfließend vor Gott am Staube liegen, daß Er einen Hohen- 
priefter uns gefandt, der allen jenen Erforderniffen in der That ent 
foricht, und das große Bertreterwerk herrlich vollendet hat. Ja uns 
kam ein Solcher. Durchſchreitet das Heiligthum des Evangeliums, 
und Er wird euch begegnen. Pilgert gen Bethlehem, und ſchauet hier 
werft den Menfchen, uns an Gebehrden gleih. Höret dam den 
zum Manne binangereiften won fich zeugen: „Ich und der Vater find 


Der Borhel. 


; wer mich fieht, fiebet den Vater;“ und beuget dem Bott in 
Pie Kniee. Gebet hinaus an den Sordan, und vernehmet ed 
ans feinem eigenen Munde, daß er gefommen fei, „alle &es 
rechtigfeit für ums zu erfüllen.“ Folget Dann ihm wieder amf den 
Schaunplatz feines öffentliben Wirkens, und lat end) fagen von ihm, 
wie e8 feine Abficht fei, „fein Leben zu geben zum Löfegeld für 
Viele.” Hört über ibn das Zeugniß feines himmliſchen Vaters nie 
Dertönen: „Tas ift mein lieber Sobn, an dem ih Bohlgefallen 
babe!” und entnebmet daraus, daß er ein Linfträflicher war, mb 
wirfiih das Geieh für uns erfüllte. Und begehrt ihr biefür au 
noch ein Menſchenzeugniß, hört feinen Richter mfen: „ch finde feine 
Schuld an dieiem Menſchen.“ Und nun vernebmt von feinem Freue 
ber fein „Lama asaphtani!“ Hier trägt er für euch den Fluch; bier 
fhmedt er für eu die Schauer der Verdammniß. Bernehmt fein 
triumphirendes „Es ift vollbracht!” Run ift der große Sieg erfänmpft, 
und das erlöiende Opfer durgeftellt. ‚Und dem wäre wirklich fo?“ 
— D, menn daran noch ein Fweifel ench befdhleicht, fo eilt hinans im 
Joſephs Gurten, wo der Allmächtige ſelbſt thatfächlich es bezeugt, und 
Durch Das Wunder der Auferweckung dem Werke feines Sobnes Sein 
ftrablend Siegel aufdrüdt. Und dann bört den Ebor feiner feligen 
geiftgefalbten Jünger: „Mit eine m Opfer hat Er in Ewigfeit vollendet 
Alle, die da gebeiliget werden!” — „Ihr feid volllommen in Ihm,” 
— „Chriſtus ift uns von Gott gemacht zur Weisheit, zur Gerechtigkeit, 
zur Heiligung und zur Erlöfung.” — „Ber will beſchuldigen? Wer 
will verdammen? — Hier ift Ehrifus!" — 


th s 


2. 

D, mit welchen Worten foll ich nun felig preifen Diejenigen unter 
uns, die Grund haben, jenen volllommenen Hohenpriefter den ih⸗ 
rigen zu nennen! — Dem wiſſet, Aller Hohberpriefter iſt er nicht; 
fondern nur derjenigen, die auf dem heiligen Wege des Gnadenbes 
dürfniffes als dem einigen Manne ihrer Hoffmmg und ihres Troftes 
Ihm begegnet find. O ihr, die ihr durch Gottes Gnade aus Dem 
Sündenſchlaf der natürlichen Sicherheit ermadhtet; ihr, die ein luftiger 
Traum von einer Gerechtigkeit und Tugend nicht mehr umgaulelt und 
irte führt; ihr, die ihr die Sünde im Lichte Gottes als das erlanntet, 
was fie wirklich ift, und ench der ſchauerlichen Gottentfremdung, im 
die ihr darch Die Sihide hineingeriethet, mit Schreden bewußt ger 


— 


Der Hoßepriefter. si 


worden feld; ihr, die ihr, die Flüchtigkeit des zeitlichen Lebens und 
die ernfte Ewigleit vor Augen, in der That nichts fehnlicher begehrt, 
als daß nır Gott euch Hold und gnädig fei; ihr, Die ihr an der 
Möglichkeit, in eigner Kraft dem Ewigen euch zu verfähnen, gründs 
fich verzagend, ad), nur einen Stern noch fchaut, der vor der Ders 
zweiflung euch bewahrt: den Stern aus Jakob; nur einen Balken 
noch gewahrt, der über der Sündfluth euch oben halte: den Kreuzes⸗ 
balten; mur eine Hand noch kennt, von der ihr Erlöfung hofft: die 
durchgrabene des Mannes in der Domenfrone; ja ihr mit dem aufs 
richtigen: „Herr Jeſu, erbarme did, meiner;“ ihr, die ihr Immer wieder 
Seinen Namen euch nennen, zu Seinem Kreuze aufichauen, betend 
zu Seinen Füßen niederfinfen, und, wofern ihr vor Weh und Angſt 
nicht vergehen wollt, euch daran erinnern müßt, daß Er ja da fei; 
— ihr, die ihr es fo ermftlich meint mit euerm Sehnen nad Ihm, fo 
aufrichtig mit eurem „Sohn Davids, errette mich;“ fo herzgründlich 
mit eurem „Was willft du, daß ich thun ſoll?“ und fo wahr und tief 
mit dem Wunfche eures Herzens, Ihm ganz zu leben, Ihm überall 
zu dienen, und Allem, Allem abzufagen, was Seinen heiligen Augen 
nicht gefalle; — — ja ihr, die ihr alfo euch erfindet, o zaget umd 
fraget ihr nicht mehr, ob es euch geftattet fei, euch Seiner zu ges 
tröften? Ja, ja, es iſts! Ahr tragt ja augenfcheinlich den Stempel 
eurer Erlöfung an der Stim. Fürwahr! wenn ihr nicht befugt feln 
folltet, Ihn als enren Hohenpriefter zu erheben, fo wäre es Ries 
mand im Himmel ımd auf Erden! 

Steht uns aber ſolche Befugniß zu, o Brüder, welch lieblich Loos 
it uns dann gefallen! Wird ſich's Doch von felbft verftehen, daß ein 
fo vollkommener Mittler auch eine vollkommene Eriöfung ımd Ges 
rechtigkeit zu Wege bringen mußte Die Rechte, die aus Seinem 
Berle für uns hervorgehn, find unermeßlich und unvergleichlih. Wir 
dürfen binfort uns „Dafür halten,” daß wir der Sünde geftorben find, 
und nichts Verdammliches mehr an uns fei: denn wären wir noch 
unter dem Fluche, wie reimte fi damit das Wort: „Er hat und er 
löfet vom Fluche des Geſetzes, da Er ward ein Fluch für uns?” Wir 
dürfen von feiner umfrer Sünden mehr beforgen, daß fle und noch 
von Gott zu umfrer Berwerfung werde zugerechnet werden: dem trigen 
wir noch unfre Sünden, wie könnte gefchrieben ſtehn, Er habe fie 
alle für uns binanfgetragen auf das Holz? Es gebühret uns, uns 
als Gerechte vor Bott zu wiflen: dem gölten wir noch vor Ihm ale 


32 Der Vorhof. 


Uebertreter, was bedeutete der Ausſpruch: „Wie durch Eines Unge⸗ 
horſam Viele Sünder worden find, fo werden durch Eines Gehorſam 
Biele Gerechte?” Wir dürfen hinfort vor Zod und Zeufel nicht mehr 
erzittern: denn unfer Borkämpfer muß ja den einen, wie den andern 
für und entwaffnet haben, da uns aus göttliher Vollmacht der 
Zriumph in den Mund gegeben wird: „Tod, wo tft dein Stachel?! 
Hölle, wo ift dein Sieg?!” Selbſt auch die Sorge um unfer Bes 
barren in der Wahrheit und auf dem Lebenswege dürfen wir fahren 
laffen: denn müßten wir und noch felbft mit diefer Sorge tragen, 
warum fpräche denn der Herr: „Das ift der Wille meines Vaters, 
daß ich von Allem, das er mir gegeben bat, nichts verliere; und 
wiederum: „Niemand wird meine Schafe aus meinen Händen reißen?“ 
— So find wir denn wirklich in den Stand geſetzt, ſchon hienieden im 
Genuffe eines vollen und ftetigen griedens einherzugehen, Denn wären 
wir das nicht, was für einen Sinn hätte der Ausfpruch des Herrn 
felbit: „Meinen Frieden gebe ich euch; meinen Zrieden laffe 
ich euch;“ und der Zuruf des Apoftels: „Sorget nichts;“ und 
der Apoſtels Mahnung: „Alle eure Sorgen werfet auf Ihn, 
denn Er forget für eu?!” — An folhen Sprüchen zerfchelle 
euer letzter Zweifel! 

Seht, Freunde, fo find wir geftellt! Warum aber gehen wir nicht 
in dieſem Frieden? Warum koſten wir ihn mehrentheild zeitweilig, 
ftundenweife und unterbrochen nur? O, die Urſachen hiervon Tiegen 
nicht in Ehrifti Werk, als lange etwa das nicht hin, eine andauerndere 
und volllommnere Beruhigung uns zu gewähren. Bielmehr find fie 
lediglich bei uns felbft, und in verkehrten Stellungen unfres Innen 
zu ſuchen. Bald mangelt's an der umfaffenden Einfiht in die ge 
waltigen Grundlagen, von denen unfre Erlöfung getragen. wird, Das 
Blut des Lammes und deſſen unermeßliche Kraft und Wirkung wird 
nicht nach Gebühr erkannt und erkannt, Bald ift unfer Glaube 
gelähmt, und die fleiſchliche Vernunft mit ihren Zweifeln und Bes 
denfen hat wieder den Thron beftiegen. Bald bezaubert uns aufs 
Neue die Welt mit ihrem Blend» und Gaufelwerf, und wir leben 
wieder mehr in ihrem Weſen und Getreibe, in ihren Bildern nnd 
Geſchäften, als in Chrifte. Bald treibt ein falfcher Syftemseifer 
uns allzufehr in's Heußere, und wir fuchen in der Feithaltung und 
Dertheidigung Diefes oder jenes evangelifchen Lehrpunftes mehr unfre 
Ehre nor der Welt, als die Stillung unſres Seelendurftes, Bald 





Der. Geßepziehtr. 83 


endlich, — und das tft der Hauptgrund, warum wir meiſt fo wenig 
an Ehrifto haben, — fehlt es an dem Iebendigen und durchdringen 
den Sündergefühl,. Das Bewußtfein von unferm Elend ift verdunkelt. 
Die Empfindung unferer Verderbtheit und Zluchwürdigfeit ermattete 
und ftumpfte ab. Da liegt uns denn wenig mehr an den Waffen 
der Quelle Siloah, und dem göttlichen Friedensſtrome öffnet fich fein 
Kanal zu unferm Herzen. Man dringt in das Innere des Opfers 
heiligthums nicht mehr hinein, weil man dort nichts mehr zu fuchen 
bat, und der Balfam aus den Wunden Jeſu findet nicht mehr Raum, 
feine heiligende und befeligende Kraft an uns zu erzeigen, 

Darum, Geliebte, was wir thun, bitten wir den Herm täglich um 
die göttliche Augenfalbe Mit der Selbſterkenntniß hält die Er⸗ 
kenntniß des Heils in Ehrifto gleichen Schritt, Nur ein immer frifcher 
Sündenfchmerz unterhält die Verbindung mit den göttlichen Friedens 
quellen. Je geiftlich ärmer, deſto näher aller Fülle; je wundenfränter, 
defto fähiger der ewigen Heilung. Das Bild des großen Hohenpries 
ſters in feiner Herrlichkeit fpiegelt fih am vollftändigften und reinften 
im Thau der Petruss und Magdalenenthräne; und nichts hat tiefen 
Grand, als das Wort unferes lieben Sängers Woltersdorf, mit dem 
wir fchließen: 

Erſchrick, o Menſch, und finfe His zum Staube! 
Nur in zerfehlag'nen Herzen wächft der Glaube, . 
Der Glaube, der die Sünde heftig fhenet, 
Deweint, berenet: 


So wird der Herr dir beine Schuld vergeben ; 
So wirt du jandzen und im Frieden leben; 
So ſieheſt du ſchon hier mit ſtillem Hoffen 
Den Himmel offen. — Amen. 


— 8 — 


M va U 


IV. 
Die Salbung. 





Es mill mir oft eigen friedfam, ja feierlich zu Muthe werden, werk 
ih am einer Hütte worüberfchreite, von der ich weiß, daB ſie von 
wahren Kindern Gottes bewohnt wird, Gern hemmte ich writunter 
vor ſolcher Stätte meinen Schritt, und überfieße wich dem Juge mei 
ner Empfindungen und Gedanken. Ich gedenke da an das Wort de 
Herm zu dem Engel der Gemeine von Pergamus Offenbarung 2, 13: 
„Ich weiß, wo du wohneft!” ımd fehe im Geifte, wie zwei fremd» 
liche Himmelsfterne, Gottes Dateraugen, Tag und Nacht über folcher 
Hütte offen ftehn. Ich gedenfe des Ausſpruchs unfres Sriedensfinften 
%05.14,23: „Wir werden zu ihm fommen und Wohnung bei 
ihm machen;“ und ein Schauer der Ehrerbiehmg ergreift mich Aw 
geſichts einer Tolhen „Hütte Gottes bei den Menfhenktindern." 
Als ein drittes Wort gefellt fi) jenen beiden in meiner Erinnerung 
Dasjenige Des Apofteld Hebr. 1, 14 bei: „Sind fie nicht allzumal 
Dienftbare Geifter, ausgefandt zum Dienft um derer willen, 
die ererben follen die Seligfeit;“ und mein Glaubensauge flieht 
die Salobsleiter glanzumfloffen zu ſolchem Haufe fi) herniederneigen. 
Wir nähern uns heut im Geift einer Hütte jener hehren Gattung. 
In dem bekannten Städtlein jenfeits des Delbergs, in Bethanien, 
ragte fie einft. Es ftanden dort der Häufer wohl manche; aber wo 
blieben fie? Seit Jahrhunderten tft deren Stätte nicht mehr gekannt. 
Mur zweie Derfelben wurden aus der Alles verheerenden Zeitenflut 
gerettet, und ftehen ungertrümmert bis diefen Tag. „Wo“? fragt ihr. 
Im großen Bilderfaale der heiligen Gefchichte, und auch noch anderswo, 
als da. Gewiß umfchloß Bethanien anfehnlichere Gebäude, als fie. 
In dem einen derfelben wohnte ein Reicher etwa, ein Bornehmer 
in einem andern, in einem dritten ein Gelehrter; doch ihrer wird 
nicht mehr gedacht. Zu der Hütte Martha’s und Maria’s hins 
gegen, und zu derjenigen Simons mit dem Zunamen „des Auss 
ſätzigen“ bewegt ſich eine Geifterwallfahrt bis diefe Stunde. Ja auch 
im Himmel find dieſe Häufer nicht vergeffen. „Die Hütten der Ges 


Die Saltutz. de 


reihten", ſagt ein. Schriftſpruch, „werden bleiben.“ Ob fie: vom An⸗ 
geſicht Der Erde auch entſchwinden; im Gedächtniß der Himmlifchen 
grünen fie fort. Denn Fußſtapfen Immanuels ſtanden einft tn ihren 
Gemaͤchern; DOffenbarungen, Wunder und Zeichen Ieuchteten unter ihs 
- rem Dach, und Segnungen ergoſſen fich durch ihre Kammern, und flofs 
fen wieder von ihren Schwellen aus, Die felbft über Das Dieffeits 
bis in das ewige Leben hinüber reihen. O, wären unfer Aller 
Hütten wie Maria's und Simons in Bethania! Was diefer Wunfch 
bedente, wird und unfre heutige Betrachtung fagen! — 


Ishaunes 12, 1—8, 


Secht Tage vor den Oftern fam Iefnd gen Bethania, da Lazarus war, ber Ber: 
Rorbene, weichen Jeſus auferwedet hatte von den Todten. Dafeldft machten fie ibm 
ein Abendmahl, und Martha dienete; Lazarus aber war deren einer, die mit ihm zu 
Tiſche faben. Da nahm Maria ein Pfund Salbe von ungefaͤlſchter könlicher Narde, 
und ſalbete die Füße Iefu, und trodnete mit ihrem Haar feine Füße; dad Haus aber 
ward voll vom Geruch der Salbe. Da ſprach feiner Jünger einer, Judas, Simon® 
Sohn, Iſchariothes, der ihn hernach verrieth: Warum ift diefe Salbe nicht vertauft 
um breihundert Grofchen, und den Armen gegeben? Das fagte er aber nicht, daß er 
nach ven Armen fragte, ſondern weil er ein Dieb war, und hatte dem Beutel, und 
trag, was eingelegt ward. Da ſprach Jeſus: Laflet fle mit Frieden, ſolches hat fle 

zum Tage meines Begräbniffee. Denn Arme habt ihr allezeit bei euch; 
mich aber habt ihr nicht allezeit. 


Dad verlefene Evangelium entriegelt uns gleihfam die Pforte zur 
heiligen Paffionsgefchichte.. Ob es zu Anfang auch noch in ziemlich 
heitern Lichtern ſtrahlt; in feinem weitern Verfolge fteigen ſchon weiters 
ſchwangre Wolken auf. Es ift das Evangelium voller Sinnigfeit und 
Ziefe, und. richtet fi, wenn wir's nur recht verfiehen, geradezu an 
uns, und zwar mit einer Aufforderung, die uns wie immer, fo zumad 
beim Beginn der heiligen Faftengeit zur guten Stunde kommt. „Zu 
Jeſul“ ruſt das Evangelium. Wir aber fragen, zuerft: Zu Jeſu, 
als zu Wem? Sodam: Wie doch zu Jeſu? und endlich: Bann 
zu Ihm? Und auf fänmntliche Drei Fragen erhalten wir hier ebenfo 
unzweideutige als beherzigenswerthe Antwort, wie wir nun, helfe Gott 
unter Seinem Segen, näher vernehmen wollen, 

1 


Sechs Tage find es noch bie Oftern; viere bis zum großen bluti⸗ 
gen Freitag. Da treffen wir den Herrn in jenem wohlbelannten, 
3* 


86 Der Vorhol. 
friedlichen Flecken, in welchem er fo gern zu weilen pflegte. In Bes 
thanien begegnen wir ihm, und zwar diesmal im Haufe .eined ges 
. wiffen Simon, wo feine dortigen Jünger ihm ein Xiebesmahl bereitet 
Haben. In der unfcheinbaren Geftalt eines geladenen Gaftes unter 
andern Gäften tritt er uns entgegen; aber ſchaut nur etwas jchärs 
fer, und ihr feht ihn fchon hier, wie ihn fpäter der Seher Yohans 
nes fah, in einem etwas andern Sinne nur, „unter den Leuch⸗ 
tern” wandeln. Zu Zefu, Brüder, ja zu Jeſu! — Aber zu Jeſu, 
als zu Wem? Ahr denkt: als zu einem Weiſen erften Ranges? Ja 
auch als zu einem folchen gehn wir mit euch zu Ihm hin, — „Als 
zu einem Lehrer edler Sitten?” — Gewiß, wir huldigen Ihm auch 
tn diefer Eigenfchaft. — „ALS zu einem Bor- und Mufterbilde jeg- 
licher Tugend?” — Freunde, wir halten mit euch dafür, daß er auch 
aus dieſem Gefihtspunft betrachtet nicht feines Gleichen habe. Aber 
arme Chriftuserfenntniß, die über diefen Anſchauungskreis nicht bins 
ausreicht; und noch ärmere Menfchheit, wenn Jeſus mehr nicht wäre, 
denn das, als was die eben genannten Titel Ihn bezeichnen! Schaut 
nur, fohon aus dem feinen Rahmen der erften Verſe unfrer heuti- 
gen Gefchichte fieht ein ganz anderes Ehriftusbild euch an, als ihr 
mit jenen armen Zügen e8 dargeftellt. Der Herr Zefus braucht nicht 
erft felbft von fi zu zeugen; es zeugen von Ihm ſchon Andere 
in beredtfter Weile. Seht hier zuerft Maria und die Schwefter 
Martha. Ihr Fennt fi. Edle Frauen find es, bei Allen angefehn, 
verftändig, finnig, Far und nüchtern Martha heiter, rührig und 
gefhäftig; Maria gedanfenvoll und zur Vertiefung neigend. Beide 
aber lehnen fi mit all ihrem Hoffen auf Jeſu Schulter; Beiden 
tft Jeſus die Tebendige Säule, von der fie ihren Himmel getragen 
ſehen; fle wiffen Beide von Ausfichten in ein feliges Jenſeits nur 
durch Seine Vermittlung; und was an Frieden und an Zroft im Le 
ben und im Sterben fie erquidt, fle fchöpfen’s beide aus der einen 
Quelle, welde Chriftus heiße, Was muß uns nit dieſer Um⸗ 
ſtand ſchon für eine hohe Borftellung von dem Manne aus Nogareth 
gewähren! — Aber feht euch weiter um. Da find die Jünger Petrus, 
Andreas, Zohannes, Jakobus, Nathanael, Thomas, und wie fie weiter 
heißen. Ihr fahet fie fchon früher wie eine Heerde zerfprengter und 
Hülfe fuchender Schafe zu dem Täufer in die Wüfte firömen. Ahr 
ferntet fie als Leute kennen, welche ganz etwas Andres, als bloßer 
Wiffensdurft in jene fuchende Bewegung feßte. Ihr erfandet fie 


— 


Die Salbung. 37 


als Soldye, denen ihre Sünde und der zukünftige Zorn ſchwer, ſchwer 
auf's Herz gefallen, und mit deren innerer Ruhe es völlig aus war, 
feitdem fie Gott gejehn im Feuerglanze feines fordernden und Fluch 
umd Verdammmiß drohenden Geſetzes. Kein Menfch, kein Engel vers 
mochte fie zu tröften; und fiehe, feitdem fle Jeſum fanden, Diefe, 
weil grimdlich gedemüthigten, darum auch gründficher Heilung und Bes 
ſchwichtigung bedürftigen Seelen, ſeitdem fand der Vogel fein Haus 
und die Schwalbe ihr Net, da fie die müden Zlügel fenkten.. Ste 
find über alle Sorgen jegt hinweg. Welche hellen Schlaglichter wirft 
auch dieſe Thatfache auf Jeſu Perfon! Wie hoch wächft er auch durch 
fie über einen bloßen Rabbi, Weifen und Lehrherrn von Nazareth 
hinaus! Wen blieb nod nur ein Reſt von gefunder Sehfraft, und 
erfennt das nicht? — In der Reihe der Jünger treffen wir, ach, auch 
den Judas noch, den Sohn der Nadıt, das Kind des Berderbens, 
Nein, der war nie ein hülfsbedürftiger Sünder; nie dürftete den 
nach Gott; nıe war der fromm; nie trachtete Der nach dem, was 
droben if. Was aber bewog ihn, in Die nähere Umgebung Zefu fi 
hineinzudrängen? Zunächſt gewiß der unmwiderftehliche und überwälti⸗ 
gende Eindrud von der übermenfchlichen Größe und Hoheit des Das 
vidsfohnes, und dann ımbezweifelt ein ehrgeisiges Gelüfte, in dem 
neuen Reiche, zu deſſen Gründung Jener ja offenbar gekommen fet, 
(denn auch Zudas las die Köntgsfignatur auf Jeſu Stirn) ſich felbft 
zu irgend einer glänzenden Rolle berufen zu fehn. So muß denn auch 
fogar die Ahnung des Verräthers die Perfon des Herm verflären 
helfen. Die göttliche Hoheit Immanuels Teuchtete fo mächtig durch 
feine Knechtögeftalt hindurch, dag ihr Strahl felbit bis in die Fin⸗ 
fterniß einer Sfchariothsfeele fich Die Bahn zu brechen mußte! — Aber 
muftern wir den Kreis der Feftgenoffen weiter. Wer ift der Wirth? 
Simon heißt er, und trägt den Zunamen des „Ausfäßigen.” Er 
trägt ihn zur Ehre Jeſu; denn der Name befagt, was er war, ehe 
der Herr fein allmächtiges „Set gereinigt!” über ihn ausſprach. Mit 
jener fchauerlichen Krankheit war Simon einft behaftet, Die fein Arzt 
auf Erden, fondern der allein, der fie verhängte, der Allmächtige tn 
der Höhe, und der, der da bezeugen durfte: „Ich und der Vater 
find eins,“ wieder hinwegzunehmen vermochte. Simon, tritt hervor 
und zeige dich allen Zweiflern als ein lebendiges Denkmal der Gott 
heitsfülle, die in Ehrifto wohnte! Ya, da fteht er fchon, und deutet 
auf feine ‚reinen. Glieder. Ganz Bethanien weiß es, daß er dieſes 


38 Her Barhef. ® 


Set dem Herrn Jeſu nur aus Danfgefühl für die Wunderheilung 
bereitete, die er durch ihn erfahren hatte; und felbit die Feinde Tonnen 
ed nicht leugnen, daß Jeſus ſich eine Ehrenfänle in dieſem Manne 
aufgerichtet habe, die lauter und ducchdringender rede, als irgend 
Schhriftzüge und Worte es vermögen. — Doch ſchaut, wer ift der dert 
in des Meifters nächfter Nähe, der Juͤngling mit dem tiefen Blid 
und dem fonnenhaften Antlig, wer ift er? O kennt ihr ihn nidt 
mehr? Ihr faht ihn einft im weißen Leichenfleide auf Der Bahre 
liegen. Ihr wart dabei, als man im Gefolge der weinenden Schwe⸗ 
ſtern und vieler Trauernden feinen Sarg hinaustrug. Ihr ſchantet 
in das dunkle Grab hinab, in das man ihn darauf verfenkte; aber 
thr waret nicht minder Deffen Zeugen, wie vier Zage fpäter Einer 
an die Gruft berantrat, fi) die Auferftehung und das Leben nannte, 
Dann den Befehl ertheilte: „Hebet den Stein hinweg;“ Das arm 
Wort der Martha: „Herr, er riechet ſchon,“ mit dem königlichen 
„Habe ich dir nicht gefagt, fo du glauben würdeft, follteft du die Herr 
lichkeit Gottes ſehn?“ zurüdwies, und dann, nachdem man den Stein 
hinweggehoben, über der verwefenden Leiche den beienden Bli gen 
Himmel richtete, und in die Worte ausbrady: „Vater, ich danke dir, 
daß du mich erhöret haft. Doch ich weiß, daß du mich allezeit hoͤrſt; 
aber um des Volles willen, das umberfteht, fage ich es, auf daß 
fie glauben, Du habeſt mich geſandt;“ — und nun mit lauter Stimme 
befehlend, heifchend, fchaffend, in die Zodtengruft hinab rief: „Lazare, 
fomm heraus!” — Und was fich ereignete, wißt ihr. — Dort figt 
er num wieder, der einft todt war, und dem unzerbrechlichiten aller 
Kerker entronnen iſt. Er lebt, und ift frifch und frob, und Keinen, 
weder Freund noch Feind, füllt e8 ein, daran zu zweifeln, Daß Laza⸗ 
rus einmal als Leiche im Grabe lag, und nun durch das Allmachts⸗ 
wort Jeſu wieder lebe, Spuren, dab die Pharifäer über diefes Wun⸗ 
der außer fich waren vor Grimm und Neid, finden wir in Fülle; aber 
auch nicht eine einzige, und wäre es die leiſeſte, daß irgend 
Jemand im Bolfe ſich unterfangen hätte, Die Zhatjache felber zu bes 
zweifeln, oder gar zu verneinen. Da figt er num wieder, und macht 
die Reihe der Leuchter, unter denen Zefus wandelt, voll, Nein, fie 
- bedürfen dort eines Heroldes, der von Jeſu zeuge, nicht. Der ge 
waltigfte Prediger von Zefu Herrlichkeit ift Lazarus. Sie bedürfen 
feines Harfenfchlägers zu Zefu Ehren; wer Lazarum anfleht, vers 
winmt im Geifte einen ganzen Jubelchor: Juda, du biſts, dich werben 


— 


Die Salbung. 80 


ine Brüder Toben!’ Gie bedürfen feines Pfalmgetönes, das Jeſum 
wherrlihe; Lazarus ift fliller und Doc) Donnerlauter Lobpſalm genug 
ıf den Ehrenkönig aus der Höhe. — O, zu Jeſu, lieben Brüder | 
- Und fragt ihe no: „Zu Iefu, als zu wem?" — Us zu dem, 
8 weldyer er in Bethanien erfcheint] in menfchlicher Lehrer, ein 
wer Gejeßgeber, ein Vorbild der Tugend, was hülfe e8 uns gottent- 
emdeten, zerrütteten und verfonmenen Gefeßesübertreten?! Wir 
üffen einen Herm vom Himmel, einen Zürften des Lebens, einen 
eberwinder des Todes haben; und ein Solcher — fhaut ihn nur in 
a Lichtern an, die der in Bethanien ihn umgebende Kreis über Ihn 
isſtroͤnt, — iſt Er. — Und Er iſt noch ein Weiteres! — 

Zu Bethanien weilt er. Drei Jahre hat er nun gelehrt. In der 
bteren Zeit hat er es mehrfach deutlich zu verftehen gegeben, daß er 
in Lehramt nunmehr vollendet habe, So viel fie tragen könnten, 
gte er zu ihnen, habe er ihnen geoffenbart; der Zröfter, der nad) 
m kommen werde, werde fie weiter unterweifen. Nach der Anficht 
iſter fogenannten „Aufgeflärten“, die nichts als einen Lehrer 
‚ ihm fehn wollen, müßte er jebt fein Werk überhaupt vollens 
$, und feinen ganzen Beruf erfüllet haben, Nach feiner eige— 
en Anficht dagegen hat er Dies mit Nichten. Denn nicht fehen wir 
m jebt in die Stille ſich zurüdziehen, nicht kehrt er num zu feinem 
mmlifchen Bater wieder, ſondern fpricht vielmehr: „Ich muß mich 
ſch mit einer Taufe taufen laſſen; und wie ift mir fo bange, bis fie 
zogen werde.” Er weiß, daß die Hauptaufgabe, die Ihm geftellt 
i, noch ihrer Löjung harre. Er befindet fih auf dem Wege nad 
erufalem, mit vollem Bewußtfein von alle Dem, was Dort eben vors 
ht und berathichlagt wird, Daß feine Feinde jet Ernſt machen 
ollen, ihn zu greifen und ſich feiner zu entledigen; Daß die Phari- 
er und Hohenpriefter fchon, wie unmittelbar vor unfrer Gefchichte 
meldet wird, „ein Gebot haben ausgehn Laffen, daß, jo Jemand 
üßte, wo er wäre, er es anzeigete, auf daß fie ihn griffen —,“ Er 
eiß um Alles, Weit entfernt aber, der Schlinge auszumeichen, Die 
e ihm gelegt, geht er ihr vielmehr gradeswegs entgegen, Er müffe 
st, fagt er, den Heiden überantwortet, an's Kreuz geſchlagen, und 
Mödtet werden. In unfrer Gefchichte felbit fpricht er wieder von 
inem nahen Sterben und Begrabenwerden als von einem Muß, 
nd freilich ja, er mußte, Es war ja das „Lamm“ no nicht ge 
Hadıtet, das Der Well Sünde trägt, Sein Fort. „Ins Menſchen 


46 =. Her Borhef. » 


Sohn tft gelommen, nicht daß er ihm dienen laffe, fondern daß er 
diene, und gebe fein Leben zum Löfegeld für Diele“, war noch 
nicht in That und Leben umgefeßt. Das Blut, auf welches Das ganze 
alte Zeftament ſchon hingewiefen hatte, und das er nachmals ſelbſt 
bei der Einfegung des heiligen Bundesmahls als den Enwerbgrund 
aller Sündenvergebung bezeichnete, röthete noch nicht Das Holz des 
Fluchs, fondern ftrömte noch unvergoffen durch feine Adern. Es galt 
noch die Vollziehung eines Hauptafts feines erhabenen Berufs: Die 
wirkliche Darbringung des fühnenden Opfers für die Sünden der flud« 
beladenen Welt. Hiezu aber ſchickt er fi in dem Momente an, in 
welchem wir ihn heute in Bethanien treffen, — Zu Jeſu, lieben Brü 
der, ja zu Jeſu! — Aber zu Jeſu als zu wem? O vor allen Dingen 
zu Ihm als zu unferm einigen und ewigen Hohenpriefter, als zu dem 
Mittler, dem Bürgen und dem Bezahler unfrer Schuld! „Ohne Blut⸗ 
vergießen gefchiehet feine Vergebung.” — „Das Blut Jeſu Ehrifti 
macht uns rein von allen Sünden.” — Die Vollendeten droben iu 
den weißen Gewändern haben „ihre Kleider gewaschen in dem Blute 
des Lammes.“ O ſcheuet euch nicht, Daffelbe zu thun, wie fie 
Der Zefus im Domenkranze und mit den blutigen Wunden muß det 
Gegenftand eurer Liebe und der Grund eurer Hoffnung werden; oder 
ihr habt an Jeſu nichts, bleibt unit dem Fluche, und feid verloren! — 


Zu Zeful — Aber wie zu Mir Maria zeigt e8 und, Der Her 
bat fi) eben bei der Tafel niedergelaffen, da kommt ſie, die tiefe, 
innige Seele, unmusfprechlich bewegt von Dank, von Liebe und Vers 
ehrung, und zugleid wohl ahnend, weldy ein Zeitpunkt jest für ihn 
gelommen fei, wohin er gehe und was er wolle. Es drängt fie, 
ihm noch einmal ihr tiefites Innere aufzufchließen, und ihre ganze an⸗ 
betungsvolle und hoffnungsreihe Anhänglichkeit ihm Fund zu thun. 
Aber in welcher Weile? Das Wort däucht ihr zu arm. Gefchenfe 
hat fle nicht. Was fie jedoch Köftliches noch hat, iſt ein, viel 
leicht als mütterliher Nachlaß auf fle vererbtes alabafternes Gefäß 
mit reinem Nardenöl, wie mans im Morgenlande hoch zu fchäken 
und nur bei fonderfich feftlichen Gelegenheiten zu verwenden pflegte. 
Sie hat es mitgebracht. Es foll, nicht etwa in einzelnen Tröpflein 
nur, wie e8 fonft gefhah, fondern ganz zum Sinnbilde deffen werden, 
was fie für dem Herm der Herrlichkeit empfindet. Mit tiefer Ehr⸗ 
erbietigleit nähert fie ſich dem göttlichen Freunde, zerbricht unvermerkt. 


—* | 
» 4 


* 


v Die Salbung 


binter feinem Rüden das wohlverſchloſſene Gefäß, laͤßt die Narde Ihm 
über Haupt und Füße ſtroͤmen, neigt fich anbetend dann zum Staube 
nieder, und beginnt mit ihrem aufgelöften Haare die Füße Ihm wies 
derum zu trodnen. Und Das ganze Haus duftet vom Wohlgeruch 
der Salbe. Ya, diefer Duft, — glaubt es! — ftrömte bis in den 
Thronſaal Gottes himiber, und wurde von den heiligen Engeln mit 
Freuden eingenthmet. Denn das irdifche Salböl war nur eines ans 
dern Symbol und Träger: desjenigen, das auch die „klugen 
Jungfrauen“ in jenen Gefäßen bargen, mit denen fie dem Bräuti« 
gam entgegen gingen. D, ein Löftliher Schatz entkleidete fih in 
der zarten finnbildlichen Handlung Maria’8 feiner Hülle. Ein Leben 
der Hingegebenheit an Jeſum gab fich darin fund, wie es in folcher 
Fülle felten zu Tage tritt. Maria will Chrifti eigen fein in Zeit 
und Ewigkeit. Maria will mit ihrem Glauben an Ihm kleben, wie 
die Epheuranfe an dem Stamme, den fie unfchlungen hält. Sie will 
leben in feinem Lichte, wie der dunkle Planet im Lichte der Sonne, 
die ihm den Glanz leiht. Maria kennt feinen Hoffnungsanfer, feis 
wen Grund des Troftes, keine Himmelsleiter außer Ihm; und denkt. 
fie Ihn fich aus ihrem Leben weg, fo fühlt fie den Zahn der Ver⸗ 
zweiflung in ihrem Mark, und fieht fid) rettungslos der Hölle zuge 
wiefen. So ift Er ihr allein noch übrig als der letzte, aber auch 
überfchwenglich ausreichende Fels, von welchem fie ihr ewiges Heil 
getragen ſieht. Darım läßt fie denn auch von Ihm nicht mehr, fons 
dern hält Ihn umflammert, und wenn Er fie tödten wollte Er 
tft darum ihre Gedanke Tag und Nacht, ihre höchſte Wonne und ihre 
ganze Liebe. Dies Alles fpricht fie Durch ihre Salbung aus. O ſeht's 
denn an Marien, wie’d zum Herm ſich's zu ftellen gelte. Zuerſt 
aufgewacht vom Zodesichlaf des Seibftbetruges, im Lichte Gottes als 
diejenigen uns erkannt, die wir wirklich find, dem göttlichen Gefeße, 
das und verurtheilt, wider und Recht gegeben, und alles Blendwert 
des Lügenvaters der himmlifchen Wahrheit geopfert! — Dann außer 
halb und gefucht, was Gerechtigkeit, Heiligung und Stärke heißt, was 
Möglichkeit des Durchlommens durch's Gericht, was Hoffnungsgrund, 
was Leben, und des Köftlichen und Unentbehrlichen mehr genannt mag 
werden, und diefes Alles dann entdecket, erfannt und ergriffen in dem 
Einen, der da fpricht: „sch bin der Weg, die Wahrheit und das 
Leben ;* über dem der Bater zeuget: „Er iſt's, und Ihn, Ihn follt 
ihr hoͤren;“ ia, in dem Einen, außer welchem nie eine tiefer gründende 


r 


42 Der Vorhoſ. » 


Seele zum Frieden gelangte, und in defien Gnade, o, wie viele Tanue 
fende ſchon im Hinblick auf ſich felber jubeln lernten: „Das Alte ift 
vergangen, und fiehe, e8 ift Alles neu geworden!” Ya, Dies tft es, 
was es gilt. Und hat man nun alſo fein Alles in Ihm gefunden, 
alsdann mit ganzer Liebe Ihn umfaßt, und das ganze Nardenfläſch⸗ 
fein unfrer zärtlichften Hingebung über fein Haupt und feine Fuͤße 
ausgegoffen! Mit dem heiligen Dele eines lebendigen Glaubens und 
einer völligen Ueberlaffung an feine Gnadenführung Ihn gefalbt, auf 
Seine Schultern und gelehnt, und mit der Lofung: „Mach, was du 
willt, mit mir, werd’ ich nur zugerichtet zu Deinem Preis und Zier,* 
unfer Leben als einen bildfamen Thon in Seine Hand gelegt! Seht, 
das thut's! O, es gibt nur Eins, was das Herz erleichtert, das 
Leben verflärt, und Diefem einen wahren, würdigen und wefenbafe 
ten Inhalt mittheilt: Jeſus, Jeſus! An Ihm liebt man hienieden 
fhon fich felig und über diefe arme Welt hinaus. An Ihm liebt man 
fih fo reich, daß man feines andern Dinges mehr bedarf. Und wenn 
man ſich an irgend einem Gegenftande heilig lieben kann, dann an 
Ihm, der fo unendlich, gegründete Anſprüche an unſre ganze innigfte 
Gegenliebe hat. 

Alles in dem Kreife zu Bethanten ift von Mariens finniger Hand 
lung tief ergriffen. Nur Einem tönt die füßefte Harmonie wie Miß—⸗ 
laut. Einer nur wendet mit Widerwillen von dem lieblichen Narden 
duft fih ab. Ach, wir ahnen, wer. Judas iſt's, der Unglüdfelige, 
das Kind der Finſterniß. Wohl nie bat die froftige Selbftfuht in 
ſchauerlicherm Kontrafte der warmen, heiligen Xiebe gegenüber geftans 
den, als bier in der kalten, wahrhaft empörenden Aeußerung: „Was 
foll dieſer Unrath? Warum ift dieſe Salbe nicht um dreis 
hundert Groſchen verkauft und den Armen gegeben wors 
den?” — Ach, wie tief ift er ſchon gefallen, der Beklagenswerthel — 
„Den Armen.” OD der Heudler! Als wenn man nicht wüßte, 
warum er die Salbe lieber verkauft gefehn hätte! — „Um dreihundert 
Groſchen.“ — Auf die Abſchätzung der Narde verfteht er fi, aber 
die Liebe dahinter zu würdigen, mangelts ihm am Organ: deun er 
liebt ja felber nicht. O, laßt euch das Erempel Judä zum ab« 
jhredenden Barnungszeichen dienen, ihr, Die ihr auch fo manchmal 
ſtarke Neigung verrathet, die Liebe der Marienfeelen zu Jeſu zu miß⸗ 
fennen, oder gar, wo fie zu Tage trüt, mit einer gewiffen umern Vers 
ſtimmung, ja Erbitterung, wenn auch nicht von Unrath“ ges 


Die Selbung. 48 


e, fo doch von „ Schwärmeret”“, Kopfhängerei, Heuchelweſen 
> dergleichen reden könnt! Wiſſet, daß dann auch über das Aut 
eures innern Menfchen wenigitens ein leiſes Spiel dämonifcher 
daszüge hinzuckt. Ihr Habt allen Ernftes auf eurer Hut zu fein, 
was in folchen Augenblicken fich in euch regt, nicht um fich greife, 
» nach und nach euch zu vollftändigen Judasbrüdern made. O 
m auch euch einmal — und gebe Gott, DaB es zur rechten Stunde 
b geichehe! — die Schuppen von den Augen fallen, und unter 
a Donnerworte „Ewigkeit " auch eure Seele aus dem Pharifäer- 
um erwachte, und ihr, verfolgt vom Fluche des Gefehes, geſchreckt 
n Richterftuhl dort Oben, und gedrängt von dem Schreckenskoͤnige 
d, den Allmächtigen mit lauter Stimme dafür loben und preifen 
tet, daß als eine letzte Zuflucht auch euch die bfutigen Arme 
u noch offen flehen: wahrlich, dann zieht ihr die Stimme nicht mehr 
a8, wo eine Seele eud) begegnet, die dem Herrn Jeſu ihr ganzes 
3 geichenft. Dann widert euch die Inbrunſt nicht mehr an, Die 
Aſſaph ausruft: „Wenn ich nur Dich habe, o Herr, fo frage ich 
#8 nah Himmel und nah Erden!” D nen, dann vergießt 
wohl in der Stille heiße Reuethränen darob, daß ihr das Köfts 
Re auf Erden, die Liebe Chrifti, je verfennen fonntet, und 
nme wohl ein in unfern SKlaggefang: „Das ift mein Schmerz, Das 
et mich, daß ich nicht genug kann lieben dich, wie ich dich lieben 
bei" — Hört Freunde, wie der Herr Jeſus die That Maria's wür⸗ 
b Er tritt fofort gegen den Judas und die vorübergehend in 
Anſchauung des finftern Geiftes mit hineingezgogenen Jünger für 
ria als ein treuer Anwalt in die Schranken, und fpricht, dem Judas 
eutend, daß Er die trübe Quelle feines Unmuths wohl erfchaue: 
a8 befümmert ihr Dies Weib? Kaffe fie mit Frieden, 
et fie nicht. Sie hat ein gutes Werk an mir gethan. 
me habt ihr allezeit bei euch; mid aber habt ihr nicht 
ezeit. Daß fie diefe Salbe hat auf meinen Leib ges 
'fen, das bat fie gethan, mich zum Grabe zu beflatten, 
ch Johannes: folches Hat fie behalten zum Zage meines Begräb« 
8.) Wahrlih, ih fage euch, wo dies Evangelium ges 
digt werden wird in der ganzen Welt, da wird man 
h fagen zu ihrem Gedächtniß, was fie gethan hat!“ — 
vernehmt es! Er, fonft jo farg in Belobigung menfchlicher Werke 
guter, nennt Mariens That laut und mit befonderem Nachdrud 


% 


44 Der Borhef. 


ein gutes Werk. Alle Welt foll es wiflen, daß er ſich einer Liebe, 
wie fie Maria Ihm erweife, werth erachtet, und wie hoch Er diefe 
Liebe zu ihm ftelle, die Sefustiebe, die ja der Stamm war, am Dem 
die fchöne Blüthe der That Maria's fich entfaltet. Aller Welt foll 
bier fund werden, daß Marien’s Herzensftellung zu Ihm keine Ber 
irrung, feine Schwärmerei, fondern diejenige Stellting fet, die wirklid 
und allein felig mache. Damit aber Jedermann dies wiffe, darum 
hat Er die That Marien’8 wiederholt in feinem Evangelienbuche 
verzeichnen laffen. Und es iſt gefchehen und gefchieht fort und fort, 
wie er vorhergefagt: wo dies Evangelium gepredigt wird in der Welt, 
da fagt man auch, wie heute wir, zu ihrem Gedächtniß, was fie ge 
than bat. 
8. 

Kaum, daß der Herr feine ebenfo Tiebreich lockende, als ernſtlich 
warnende Rede vollendet hat, „da”, meldet Matthäus, „ging bin 
der Zwölfen einer mit Namen Judas Iſcharioth, zu den 
Hohenprieſtern, und ſprach: Was wollt ihr mir geben? Ich 
will ihn euch verrathen. Und ſie boten ihm dreißig Sil— 
berlinge. Er aber ſuchte von dem an Gelegenheit, daß er 
ihn verriethe. Gräßlih! — Wo in aller Welt findet fih ein Ge 
genſatz fo grell, fo fehreiend, fo über alle Maßen furchtbar, wie er 
fid) hier der zarten Liebesthat Marin’ gegenüber in dem Schauer 
gange des unglücfeligeneVBerderbensfindes darſtellt? — Mein Gott| 
fo weit ift es alfo ſchon mit ihm gediehen, daß ein Wort der Er- 
barmung, welches ihm zum ewigen Heil hätte gereichen fünnen, wie 
es in der Atmofphäre feiner gottentfremdeten Seele anlangt, in eine 
tödtliche Effenz fih umfegt, und Unmuth erzeugend, und bitten Haß 
ftatt Reue, den unglückſeligen Menfchen vollends vergiftet! — „Er 
ging hin.“ — Entfeglicher Hingang! Seinem einzigen Retter wendet 
er, weil er fich jet von ihm durchſchaut fühlt, auf immer den Rüfs 
fen, Er ftürzt hinaus in die Nacht. In die Nacht gehört er, dieſer 
Sohn der Finfterniß. Ja, in eine unheimlichere Nacht, als die 
der Natur, ftürzt er bin, und das „Wehe Gottes tönt ihm nach auf 
feinem Wege, — 

Uns fchaudert, Nein, mit dief em Manne ziehen wir nicht, Wir 
wenden und mit geiteigerter Innigfeit zu Jefu zurüd. AS zu wen 
und wie es gelte, zu Ihm zu kommen, vernahmen wir, Benehmen 
wir num auch noch aus unferm Evangelium die Antwort auf eine 


Die Salbung. 48 


dritte Frage, und zwar auf die des „Wann“ der Zufluchtnahme zu 
Schu ' 

„Solches“, hören wir den Herrn fagen, „hat fie behalten zum 
Tage meines Begräbniffes.” Wir verftehen Ihn. Er fieht fein 
Sterben und fein Auferftehn in einem Blick. Allerdings mußte eine 
Einbalfamirung bei feines Leibes Leben noh an Ihm vollzogen 
werden, indem hierzu in feinem Tode nicht Zeit verblieb, Maria 
ahnete Dies wohl kaum. Gewiß aber haben Borempfindungen feines 
nahen Hingangs ihr Herz bewegt, und Ahnungen der heilbegründens 
den Bedeutung defielben die heilige Glut ihrer Liebe vollends zu fo 
heller Flamme angefacht, und zu jenem Zärtlichkeitserguffe im Haufe - 
Simons fie drängen helfen. Des Meifters Liebe bis in den 
Zod vollendete ihre Gegenliebe, wie ja immerdar Die Liebe der 
Kinder Gottes zumeift an dem Blute Jeſu fich entzündet. Und wo 
nur die Liebe Ehrifti erft Raum gefunden bat, da wird es auch 
an hülfreicher Handreichung, fremder Noth gegenüber, nimmer 
mangeln, „Arme“ fpricht der Herr, — und fchleudert mit dieſem 
Worte einen durchbohrenden Pfeil in Judas Seele, „habt ihr alles 
zeit bei euch.” „Maria“ will er fagen, „wird e8 auch jenen an 
zarter Liebespflege nicht gebrechen laſſen.“ „Mich aber,” fügt er 
ſchließlich Hinzu, „habt ihr nicht allezeit;“ und dieſes Wort, ihr 
Freunde alle, die ihr euch feiner noch nicht getröften koͤnnt, ift auch 
zu euch geredet. | 

O nehmt's zu Herzen: ihr habt Ihn nicht mehr, wenn plößlich des 
Todes Flügel euch umraufcht, oder in den Banden der Krankheit 
die Sinne euch vergehn, und durch's Gewirre entzügelter Phantafien 
die Botichaft vom Heile nicht mehr hindurchdringt. Ihr habt Ihn 
nicht mehr, wenn Gott der gerechte Richter euch endlich, weil ihr 
fange genug wider Seinen Bußruf euch verftodtet, in euren verkehrten 
Weg dahin gibt, und den Fräftigen Irrthümern geftattet, in eurem 
Him ſich ihre bleibende Statt zu wählen. Ihr habt Ihn nicht mehr, 
wenn, was nad) der Signatur unfrer Tage gar bald geichehen koͤnnte, 
die fette große Verfuchsftunde mit ihrem dämonifchen Blendwerk wie 
mit ihren Berfolgungsfchauern über euch daher fällt, und „eure Füße”, 
um mit dem Propheten zu reden, „ſich an den dunkeln Bergen fo: 
Ben.” Ihr Habt Ihn nicht mehr, zieht ihr das Loos jenes im fchauers 
liche Sicherheit eingewiegten Mannes im Evangelio, den auf fein 
felbfigenügfames: „So iß und trink num, liebe Seele”, wie ein Blig 


48 ver Verhoſ. 


aus heller Luft der Mark und Bein erſchütternde Beſcheld erdite: 
„Du Narr, noch diefe Nacht wird man deine Seele von dir fordern’ 
jenes ſchauerliche Loos, unverfehens vom breiten Wege ber dahin ent 
rüdt zu werden, wo fein Gnadenruf mehr tönt, und feine Retterhaud 
mehr ſich nach euch ausftredt. Was ftehet ihr darum noch lange und 
fraget: „ Bann?” Heute fommt zu Jeſu! „Heute, da ihr feine 
Stimme hört, verſtocket eure Herzen nicht, wie zu Meriba gefchab mb 
zu Maffa in der Wüſte!“ — „Jetzt ift die amgenehme Zeit, jebt iſt 
das Jahr des Heils!” Sehet zu, daß ihr die Friſt der Gnaden 
nicht verfäumt. Laut ruft Er dur das Getümmel unfrer Tage no 
hindurch: „Wendet euch her zu mir aller Welt Ende, und werbet 
ſelig!“ — „Küffet den Sohn, daß er nicht züme, md ihr umlommt 
auf dem Wege; denn fein Zorn wird bald entbrennen!“ Wohl aber 
Allen, die auf Seine Stimme hören, den breiten Weg verlaflen, und 
mit dem 109ten Pſalm fprechen: „Deine Gnade tft mein Troſt; 
errette mich!“ 

3a, Jeſus nimmt die Sünder an! 

Ihr Sünder, die ihr's noch Tönnt hören, 

Mir bitten euch, fo hoch man fan: 

Ad, laßt euch doch an Ihm beiehren! 

O bleibt nicht länger hart und todt! 

Erſchredt einmal vor eurer Roth; 

£ernt endlich eure Schuld erfennen, 

Seht endlich Iefu Liehe brennen. 

O kommt doch, fommt zu ihm heran ! 

Heut’ nimmt er noch die Sünder an. Amen. — 


— a — 


V. 
Der Einzug in Jeruſalem. 





Kaum begegnet uns in der heil. Schrift eine befremdlichere Rede, 
als diejenige, mit welcher nach Matth. 16, 23 der Herr einſt ben 
Simon Petrus abwies, da diefer in ungebührlichen Andringen mit 
feinem „Herr, ſchone dein felbft; Das widerfahre Dir nicht!” ihn übers 
zeden wollte, feinen Borfab, nach Zerufalen, den Sammelplaß Feiner 

9 


Der Ginzug in: Jernſalem. 47 


Feinde, zu gehen, aufzugeben. „Der Herr,” meldet das Evange⸗ 
um, „wandte fih um und fprad zu Petro: „„Hebe Di 
hinter mid, Satan, du bift mir ärgerlih; denn Du mei— 
neft nicht, was adttlih, fondern was menſchlich iſt!““ — 
Ehen erft hatte derfelbe Jünger auf fein herrliches Belenntniß: „Du 
bift Ehriftus, des lebendigen Gottes Sohn!” das ehrenvolle 
Zeugniß überlommen: „Selig bift du, Simon, Jonas Sohn; 
denn Fleiſch und Blut hat dir Das nicht geoffenbaret, fon> 
dern mein Bater im Himmel!” — Und nun urplößlich dieß 
vernichtende ımd wie Verwerfungsurtheil Plingende „Hinweg von 
mir, du Satan!” Wie, daß die Beftürzung ihm nicht das Blut 
in den Adern ftoden machte! — Wer faßt bier den Herrn? Möchte 
man bier nicht, wenn auch auf Augenblide nur, an Ihn faft irre wer« 
den?! Und doc braucht man der harten Rede nur ein wenig tiefer 
auf den Grund zu fehen, und fie verliert nicht blos fofort jeden pas 
radogen Schein, fondern gewinnt fogar namentlich für die Würdigung 
der Paſſion des Herm eine Bedeutung, wie fie kaum einem andern 
feiner Worte innewohnt. Der Herr erlannte hinter dem abmahnens 
den Rathichlage feines Simon augenblidlich denjenigen eines Andern. 
Richt, ald ob er hätte feinen Jünger einen Satan fchelten wollen, 
Nein, fein „Hinweg von mir, Satan!” galt dem Lügenvater, 
welcher den, in dem Artikel von des Erldfer8 Perſon zwar bereits 
göttlich erleuchteten Fünger, binfichtlih des Erloͤſungswerkes no 
tm fleifchlichem Wahn und arger Finfterniß gefangen hielt. Den Si⸗ 
mon Petrus traf das „Du Satan!” nur infofern, als er hier des 
Satans Dollmetfcher und Organ war. Unbewußt war ers, jedoch 
nicht umverfchuldet: denn warum beugte er ſich nicht Tängft den Er⸗ 
Öffnungen des Herrn über die Rothwendigfeit der auf Ihn wartenden 
Marter, und warum Taufehte er nicht fehärfer den Stimmen Moſis 
und der Propheten? — „Du bift mir,” will der Heiland ſagen, „ein 
Anſtoß auf dem Wege, den ich wandeln fol. Du meineft nicht, mas 
gösttich,” d. i. dem Rathſchluſſe and den Gedanken Gottes gemäß, 
‚Äondern was menſchlich,“ d. i. was irdiſch und fleifchlich iſt. 

Auf das Unzweldeutigfte erhellt alfo aus diefem Worte des Herrn 
an feinen Jünger zuwörderft, Daß, was in Jerufalem feiner wartet, 
vo dem Math, und ausdrüdlichen Willen feines bimmlifchen Vaters 
ihn treffen werde. Alsdann erhellt Daraus mit gleicher Klarheit, daß 
do des Satans und feines Weiches Sieg und Trinmph fein wihde, 


48 Der Vorhof. 


wenn ſich Jeſus feinen Leiden entziehen wollte. Endlich, und in Folge 
deffen, ergibt fi daraus, daß das Erlöfungswerk, zu defien Vollen⸗ 
dung Ehriftus erfchienen war, Seine Paffion zu feiner unerläßlichen 
Bedingung hatte. Die unbedingte Nothwendigleit feiner Leiden zu 
unfrer Errettung fteht mithin laut feiner eignen Berficherung außer 
Frage. Diefes Bewußtfein begleite uns heute auf feinem Ieten Gange 
nach Jeruſalem! 


Matth. 21, 1—9. 

Da fie nun nahe gen Ierufalem Tamen gen Bethphage an den Delberg, ba ſandte 
Jeſus feiner Jünger zween, und fprad zu ihnen: Gebet hin in ben Fleclen, ber vor 
euch liegt, und bald werdet ihr eine Ejelin finden angebunden, und ein Füllen bei 
ihr; Töfet fie auf und führet fie zu mir. Und fo euch Iemand etwas wird fagen, fo 
fprehet: Der Herr bedarf ihrer, ſobald wird er fie euch Taffen. Das geſchah aber Al⸗ 
les, auf daß erfüllet würde, das gefagt ift durch den Propheten, der da ſpricht: Sa⸗ 
‚get der Tochter Zion, fiehe, dein König kommt zu dir fanftmüthig und reitet auf ei⸗ 
nem Ejel und auf einem Füllen ber laftbaren Efelin. Die Jünger gingen hin und 
taten, wie ihnen Jeſus befohlen hatte. Und brachten die Efelin und das Füllen und 
Tegten ihre Kleider darauf, und ſetzten ihn darauf; aber viel Volls breitete feine Klei⸗ 
der auf den Weg; Andre hieben Zweige von den Bäumen, und flreueten fie auf den 
Meg. Das Bolt aber, dad vorging, und nachfolgete, ſchrie und ſprach: Hoflanna dem 
ar Gelobt fei, der da fommt in dem Ramen bed Herrn! Hoflanna im 
ber ! 

Da tönt e8 uns denn wieder an mit feinen hellen, feftlichen Klaͤn⸗ 
gen, Das Evangelium, das vor Kurzem erft den lieblidhen Advent uns 
eingeläutet, und jet auch an der Schwelle der ernftern Paſſtonszeit uns 
in Empfang nimmt, um in das blutgeneßte Heiligthum, wo Gott die 
ewigen Gründe unfrer Erlöfung legt, uns das Geleit zu geben. Auch 
an diefer Stelle heißen wir es herzlich willlommen. Freilich von 
einer alten, längft vergangenen Begebenheit gibt8 uns Kunde; aber 
von feiner abgefchloffenen, keiner todten, fondern von einer fortgehen 
den und ewig lebendigen; und von einer folchen, die, wenn je, dann 
fiher in Diefen unfern Zagen zur guten Stunde in unſern Geſichts⸗ 
freis tritt. Denn Zroftesgloden ſchlagen in ihr zufammen. Ermuthi⸗ 
gung und Glaubensftärkung reicht fie dar. Der Ermuthigung aber 
werden wir, wofern uns die göttlichen Neichsangelegenheiten nur eis 
nigermaßen am Herzen liegen, in dieſer bedenktichen und fturmbewegten 
Zeit unfehlbar fehr bedürftig fein. Wohlan denn, geben wir dem Löft- 
lichen Evangelium Raum, das an und auszurichten, wozu es uns 
Überliefert worden if. Es ſtärke uns in dem zwiefachen Glauben 


Der Einzug In Jernſalem 49 


zuerfi an Die göttliche Meffiaswürde unferes Herrn; und 
dann an die fiegreihe Zukunft feines Reichs, 
Bir bitten den Geift der Wahrheit um fein Geleite! 
1 


„Biſt du e8, der da kommen foll, oder follen wir eines Andern 
warten?” Ihr kennt dieſe Frage, Fragen, wie dieſe, liegen in uns 
fen Zagen gar Manchem, der es übrigens treu und redlich meint, 
ſchwer auf dem Herzen. „Iſt er der Herr? — Iſt er der König 
Iſraels?“ — „Nein!“ fohreit eine von ihm abgefallene Welt; und 
ach, der im Ganzen hoͤchſt Mägliche Zuftand feiner Kirche auf Er- 
den fcheint nur das Siegel auf dieſes „Nein“ zu drüden. Denn 
nimmt Er den Thron der Macht und Ehre ein, warum läffet er die 
Voͤller toben? Sibt Er im NRegimente, warum erfiht der Satan 
Sieg um Sieg? Reicht Sein Arm vom Himmel auf die Erde, war- 
um verfchließt er den Xäftererhaufen nicht das Maul? Führt er den 
Hammer und das Schwerdt der Allmacht, warum ftredit er nicht in 
den Staub, die ihm trogen, und feinen Weinberg verwüften? Ste 
ben ihm alle Kräfte zu Gebote, warum erzwingt er fich nicht durch 
Wunder und Zeichen die Ehre, die ihm gebührt; und braucht er ſei⸗ 
nen Odem nur auszulaffen, um das Zodte zu beleben, und die Wuͤ⸗ 
ſten zu bauen; warum grünen nicht längft Die Steppen der Heidens 
welt, .und ftehen die Einöden nicht fröhlich, wie die Lilien?! — O, 
wie oft drängen fich in diefer Zeit felbft Gläubigen folche und ähn⸗ 
liche Fragen auf, und wie nahe legt fid) auch ihnen der Zweifel, ob 
Er der auch fei, wofür Er in ihrem Kreife gehalten werde? Der Zwei⸗ 
fel aber ift des Friedens ärgfter Feind, und darum den Wohlmeinen- 
den nichts willkommener, al8 was ihn entkräftet und vernichtet. Ueber⸗ 
aus willlommen darum auch eine Gefchichte, Die, wie unfre heutige, 
jede Wolfe der Ungewißheit wieder zerftreuend, gleich einer göttlich 
befiegelten Urkunde über das Meffiasthum und die ewige Königss 
würde Ehrifti fi) vor uns aufthut, und und die gebundene Zunge 
wieder Löft zum freudigften und entfchiedenften Bekenntniß: „Ja, 
Ehrifte, du biſt's! Gelobet feift du, der da kommt im Namen des 
Herrn! Hofianna in der Höhe!” 

Daß Er es fei, und wir mit allem Grunde auf Ihn hoffen, be 
fräftigt und zuerft fein eignes GSelbftbewußtfein, wie er es in 
unfrer Gefchichte fund werden läflet. Bon Jericho kommt er, begriffen 
auf feinem lebten, feinem eigentlichen Hohenpriefterzuge gen Jerufalem, 

A 


0 ger Vorho 


Auf dem Oelberge angelangt, ſpricht er heiſchend und befehlend zu 
zween feiner Juͤnger: „Geht in den Flecken, der vor euch Liegt, 
und bald werdet ihr finden eine Eſelin angebunden, und 
ein Füllen neben ihr. Löſet ſie auf und führet ſie zu 
mir!“ — Merket zuvörderſt: in einer Ferne, in die ein menſchliches 
Auge nicht hinüberreicht, ſieht er die begehrten Laſtthiere ſtehen. Schon 
in dieſem Umſtande ſehen wir das Höhere in Jeſu, wie Die Some 
das Gewöälf, die Hülle feiner Knechtsgeſtalt durchbrechen. Dam ver 
fügt er über die genannten Thiere mit einer Beftimmtheit, in der nichts 
Geringeres, als der Gebieter über Alles fi und verräth. Hierauf 
fährt er fort: „So Jemand eud etwas fagen wird, fo fpre- 
het: Der Herr bedarf ihrer! Alfobald wird er ſie eud 
laſſen.“ — Habt ihr aufgehorcdht, Lieben Brüder? „Der Herr,” fügt 
. er, und nicht der „Meiſter“ nur, oder „Jeſus von Razareth”, 
Nein, „der Herr!” Dies ift ein Majeftätstitel, ein Ehrennane, 
mit dem er fich felbft hoch über alle Kreatur hinauffegt, ja für Je⸗ 
hovas andres Ich erklärt, „Der Herr bedarf ihrer.” Rimmer 
hätte er als bloßer Menfchenfohn fo von fi) fprechen dürfen, ofme 
einer Käfterung ſich fchuldig zu machen. Aber er weiß, wer er tfl, 
und wie er ſich nennen und bezeichnen darf. Und fehr feſt fpricht 
er fein „Der Herr;“ fehr beitimmt und klar und ruhig ſpricht ers. 
Aber wird auch fehon auf das bloße Wort der Sünger bin: „Der 
Herr bedarf ihrer” der Befiker fich bewogen finden, feine Thiere 
ihmen zu überlaffen? Ja, er wird es. Der Herr zweifelt Daran nicht, 
fondern fpricht vielmehr die entfchiedenfte Zuverficht aus, daß es für 
Ihn, den Mann von Nazareth und vom Himmel, ein fremdes Ei⸗ 
genthum nicht gebe; fondern daß er Macht habe über Alles, und der 
ewige Vater dem Klange „der Herr” einen folhen Nachdruck im 
Herzen des Eigenthümers der begehrten Thiere verleihen werde, Daß 
derfelbe fie, wie er ausdrüdlich fagt: „alfobald“” verabfolgen Taffen 
werde, D, erholen wir und von unfrer Glaubensfchwäche an dem 
Selbftbemußtfein unfer8 Herrn, wie es hier fich offenbart, und für 
feine übermenfchliche Herrlichkeit fchon unendlich mehr beweift, als alle 
Einwände der Widerchriſten gegen fie. 

Doch halt, der Unglaube findet auch) bier noch eine Hinterpforte, 
durch welche er entichlüpfen zu fünnen meint. „Der Beſitzer der beis 
den Laſtthiere,“ fagt er, „konnte ja ein Freund des Propheten ans 
Rnzareih fein, und, dies vorausgeſetzt, hätte der Umſtand, daß er bie 


Der Enzug In Ierufalem. 51 


Gfelin willig abtrat, alle feine Bedeutung verloren.” — Nun, das 
altfehbende Auge Jeſu fchlöffe fih doch darum noch nicht, und 
das majeftätifhe „der Herr” biiebe gleichfalls in voller Kraft am 
feiner Stelle. Aber der linglaube fpike die Ohren weiter. Es ſtel⸗ 
len fich noch ftärkere und unzweideutigere Zeugniffe und Beläge ein. 
Das Füllen der Efelin tft ſamt Diefer herbeigeführt. Die Jünger 
legen als Dede ihre Mäntel drauf, und der Herr befteigt das Thier, 
um auf demfelben in Serufalem einzureiten. Ein unfcheinbarer 
Zug dies, an und für fi Taum der Beachtung werth. Aber man 
blicke nur tiefer, und feine Bedeutung wird fich fleigern. Ja, es 
bezeugt der Herr durch diefen Alt umendlicdh Größeres noch von ſich, 
als er bezeugt haben würde, wen er ſich etwa plößlich auf einen 
Fürftentbron hinaufgeſchwungen, oder unter einem goldnen Baldachin 
md in einem Königspurpur feinen Einzug tn die heilige Stadt ges 
halten hätte. Es Tiegt am Tage, und die Gefchichte meldet's ja aus⸗ 
drüdlih, daß dem Herm in diefem Augenblide ein alter göttlicher 
Prophetenfpruch vor Augen ſchwebte. Ahr Left denfelben bei Sas 
charja 9, 8. 9. Dort fpricht Jehova verheißend für die Zukunft: 
„Ich will felbft um mein Haus das Lager fein, daß es nicht bes 
dürfe Stehend und Hinundwiedergehens (der Hüter und Wachen nem- 
fih), daß nicht mehr über fie fahre der Treiber (Geſetz, Satan 
und Tod); denn ich habe ihr Elend angefehn mit meinen Augen.” — 
Nach diefer allgemeineren Hindeutung auf die zukünftige Erlöfung heißt 
es dann weiter: „Du Tochter Zion, freue dich fehr, und du 
Tochter Jeruſalem jauchze: denn fiehe, Dein König fommt 
zu dir fanftmüthig, ein Gerechter und ein Helfer, und reis 
tet auf einem Efel, und einem jungen Füllen einer Efes 
lin.” — Liebliche Gottesverheißung dies, über welche die ganze Süns 
derwelt laut hätte jauchzen follen! Holder Hoffnungsftern am Himmel 
des alten Bundes, Jahrhunderte hindurch von den Heiligen Gottes 
gegräßt mit Sehnfuchtsthränen! — Und was begibt fih nun? Mehr 
als vierhundert Jahre find verfloffen, feitdem jenes Wort erflungen war, 
da erfcheint auf der Höhe des Delbergd der Mann mus meh, 
und gedenft an diefen Prophetenausfpruch; und im Begriffe, 

Tochter Jeruſalem fih zu nähern, heißt er eine Efelin bringen 
ſamt ihrem Züllen, befteigt diefer Thiere eins, und zieht auf demfels 
ben oͤffentlich vor allem Volle in Serufalem ein. Was aber bezeugt 
er durch dieſe ſtumme und Doch fo beredte und inhaltsreiche Hand» 

As 


52 | Der Borhof. 


fung? Was Anderes, als: „Ienes Weiſſagungswort ift nun, und zwar 
in meiner Perfon erfüllt;” was Anderes, als: „Ich bin der ver 
heißene Ehrenfönig, der als der Gerechte und der Helfer den Frieden 
bringen foll den Völkern; was Anderes, als: Ich bin es, deſſen Herr- 
haft fid) von einem Meere zum andern, vom Waſſerſtrom bis an der 
Welt Ende erftredden wird; Ich bin es; darum freue dich jeßt fehr, du 
Tochter Zion, und du Tochter Serufalem jauchze?!“ Ja, dies iſts, 
was Er nun dommerlaut bezeugt. Ein andrer Sinn kann jener Scene 
nicht zum Grunde liegen. Wäre Jeſus dennoch der verheißene Frie⸗ 
denskönig vom Himmel nicht, mit welchem Namen fähe man fi Damm 
gendthigt, jene feine That zu bezeichnen! Aber er wußte, was er 
vornahm, und kannte das Maß feiner Berechtigung; und fo haben 
wir an jenem feinem wohlbedachten und höchft bedeutungsvollen Ein 
zuge in Serufalem einen neuen, gewaltigen Sach⸗ und Zhatbeweis, 
daß Ehriftus der von den Propheten verkündete wahrhaftige Meſſias, 
und ſomit der eingeborene Sohn vom Vater und unſer ewiger Mitt⸗ 
ler und Hoherprieſter ſei. 

Ihr fühlt ja Alle das überaus Schlagende, das in jenem Zuge 
liegt; und in der That ift unfer Evangelium aus dieſem Gefichts- 
punkte noch nicht genugſam gewürdigt worden. Auch den JZüngern 
des Herrn, und felbit einem großen Theil des Volkes, ftand es nad) 
diefem Vorgange außer Frage, daß Er fein Anderer fei, als der 
angekündigte große Friedefürft. Seht, welch” Geleite fie Ihm ge 
ben. Ein mehr als königlicher Einzug wird ihm bereitet. Sie breiten 
Ihm ihre leider über den Weg, beftreuen die Straße Ihm mit 
Maien, fchreiten, Palmzweige in den Händen, wie in einem Triumph⸗ 
zuge vor Ihm ber, und des frohlodenden Lobgetönes: „Hoflunna, 
d. h. Heil, Heil dem Sohne Davids! Gelobet fei der da kommt im 
"Namen des Herm! Hoſianna in der Höhe!” ift fein Ende. Denkt, 
folche Huldigungen dem fchlichten, von allen Töniglichen Infignien 
entblößten Manne! Doc) es erklärt fih. Auch jene Huldigenden fa 
ben, theilweife wenigftens, im Geifte den alten Prophetenchor wie mit 
hellen Fackeln um den Reiter auf dein armen Laftthier bergefchaart; 
ja, nicht fehlen konnte e8, daß namentlich der Seher Sacharja, deſſen 
prophetifches Geftcht von dem nahenden EChrenkönige bier bis in die 
Heinften Zügeahinein in Fleiſch und Blut gekleidet den Plan der Wirk 
lichkeit befchritt, das letzte Dunkel, das noch über der Perfon Des 
Einziehenden ſchwebte, völlig “or ihmen zerftreute, Was ihre Ar 


Der Einzug in Jeruſalem 53 


nungen aber zur vollendeten Gewißheit fteigerte, waren ihre jüngften 
Erlebniffe in Bethanien, von wannen fie eben wiederkehrten. Hier 
ſchauten fie des Meifterd Herrlichkeit ohne Dede, eine „Herrlichkeit 
als des eingebornen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit,” 
Zuerft zwar dunfelte ihren Augen eine offne Zodtengruft entgegen, 
und fie athmeten Verwefungsduft, und vernahmen Martha's armes, 
hoffnungsloſes Klagewort. Dann aber fehlug an ihr Ohr das er- 
habene: „Vater, ich Dante Dir, Daß du mid erhöret haft!” 
und ihm folgte hinunterdröhnend ins Grab Sein fchöpferifch heifchen- 
des „Lazare, fomm herauf!” Und welch' Schaufpiel num ſich ih⸗ 
nen darbot, wißt ihr. Wie hätten fie nach folcher Begebenheit ſchwei⸗ 
gen, ja, wie nur wieder aufhören fünnen, zu jauchzen: „Hofianna, 
dem Sohne Davids!” — Die Pharifäer hören den Jubel mit 
verbißnem Grimm, und rufen dem Gefeierten verdroffen zu: „Meis 
fter, ftrafe Die Schreier, und heiße fie verftummen!‘ Aber 
warum übernahmen fie wider die frohlodende Menge nicht felbft das 
Strafamt?” Warum Elagten fie Ddiefelben nicht des Irrwahns an? 
Barım führten fie ihnen nicht den Beweis, es fei ein Mährlein mır, 
daß Lazarıd durch ihren Rabbi vom Tode auferwect, daß ein Blind- 
geborner durch ihn geheilt fei u. f. w.? O, hätten fie Dies vermocht, 
fie würden es, fürwahr nicht unterlaffen haben. Aber fie vermochten’s 
eben nicht. Die Thatfachen waren zu allgemein befannt und aners 
kannt. Da gehen fie denn in ihrer Verzweiflung den ihnen übrigens 
fo verhaßten Meifter mit der Bitte an: „Strafe fie.” O, der glau⸗ 
bensftärfenden Bedeutung auch die ſes Zuges! — Wie aber verhält 
fih nun der Meifter? Thut er ihnen den Willen, und ftraft die Be⸗ 
geifterten? Im Gegentheil! Dort reitet er von dem taufendftimmigen 
Hofianna umklungen hin, und läßt das alte meffianifche Bild ſich fo 
recht nach allen Seiten hin in feinem Aufzug entfalten, und nimmt bie 
Huldigungen als Ihm gebührend gelaffen an, und bemerkt den Phari⸗ 
fäern: „Ich fage euch, wo dieſe fhweigen, fo werden die 
Steine fihreien!” Freunde, was wollt ihr mehr? Nichts unter 
dem Himmel ift ermwiefener, als daß bier der Herr Jefus ſich felbft 
als den feit Yahrtaufenden verheißenen und erwarteten Gottmenſchen 
wußte. Dies fein eignes zweifellofes und entfchiedenes Selbftbewußt- 
fein aber ift uns ſchon Waffe genug, um damit alle Widerfprüche, 
die fih gegen unfern Glauben an Ihn erheben wollen, flegreih abs 
zufchlagen und in den Staub zu ſtrecken. 


54 Der Vorhof. 


2. 

„Aber iſt er wirklich der König aus der Höhe, warum erweiſt er 
fih als ſolchen nicht mächtiger und augenfälliger auf Erden, und 
büft feinem Neiche nicht rafcher zum Triumphe?“ Kragen, wie Diefe, 
können uns allerdings das kaum gehobene Haupt oft ploͤtzlich wie 
der finfen machen, und das ermuthigte Herz mit neuen fchweren Zwei⸗ 
fein erfüllen. Aber auch auf fie gibt unfer Evangelium uns tröfl- 
lichen Befcheid, und zwar in zwiefacher Weife: uns beruhigend bin . 
fichtlich des gegenwärtigen Ganges und Standes der Reichsangelegen- 
beiten unfres Zriedensfürften; und dann unfre Hoffnung für die Zu 
funft ftärkend, und entzüdende Fernficht durch die Wolken der Gegen- 
wart uns eröffnend. Die ganze Scene des Einzugd Jeſu in Jeruſa⸗ 
lem bat auch ihre vorbildliche und prophetifhe Seite. Das 
unfcheinbare Einberziehen des Herm nicht im Purpurmantel, noch auf 
geſchmücktem Schlachtroß, noch im Geleite bebänderter Magnaten und 
MWürdenträger, fondern im fchlichteften Gewande auf dem Füllen einer 
Efelin und in der Umgebung armer Fifcher und andrer Handwerks; 
leutlein, fol einen Wink uns geben, in welcher Art und Weiſe der 
Ehrenkönig Chriſtus viele Jahrhunderte hindurch bis zu feiner zweiten 
Zukunft auf Erden ſich werde erblicden laffen; und das ausdrücklich 
angeführte und hier erfüllte Weiffagungswort des Sehers Sacharja 
betätigt und beftegelt Dies, indem es fagt: „Siehe, dein König 
fommt zu dir fanftmüthig.” Das Woͤrtlein „[anftmüthig“ 
fließt zugleih den Begriff des Niedrigen, Unfcheinbaren, 
Pomp⸗ und Geräufchlofen in fih; und dies find ja die Attribute, 
die Seinem Wirken und Walten bis zu diefer Stunde eignen. Kein 
Getümmel auf den Gaffen, fein raufchendes Gepränge, wo Er kommt! 
Dennoch kommt Er, das fteht außer Zweifel. Kein Herzuftrom der 
Großen und Notabeln unter den Völkern zu Adoration und Glück⸗ 
wunſch. Noch immer durchreitet Er gleichſam auf dem Züllen einer 
Eſelin die Welt. Uber Er durchzieht fie wirklich; und wenn nichts 
Anderes dies bezeugte, jo doch fchon das Gebell der Hunde hiw 
ter Ihm ber auf feinem Wege, „Uber wo ift Er denn?” — DO, 
fteigt hinab in Die verborgenen Erdgefchoffe der menfchlichen Gefell- 
fchaft ; laßt euch einweihen in Die innerften Erfahrungsgeheimniffe 
diefer, jener Hütten; laufchet den Erzählungen der Stillen im Lande 
Da und dort; leſet die verachteten Blättlein, Die gleich Noah's Tau⸗ 
ben mit dem grünen Dellaub erquidlicher Botichaften aus den Bes 


Der Einzug in Iernfalem. 55 


reichen der äußern und innern Miffton dahergeflogen kommen; laßt 
ech berichten von den vielen Zaufenden, die jährlich an allen Enden 
in ftiller Berborgenheit zu Jeſu Fügen von ihrem Herzensharm genes 
fen, und heilsbegterig, oder ſchon getröftet in feinem Namen zum ewi⸗ 
gen Leben bimüberfchlummern; — thut dies, und ihr werdet nicht mehr 
fragen: „Bo ift der König Chriſtus?“ Fürwahr, er ift noch mitten 
unter euch; er iſts mit derfelben Gewalt, mit derfelben Liebe, mit 
denjelben Gnadenwundern, daran man ihn einft erfannte. Das „Ho 
flanna dem Sohne Davids!” iſt noch nicht verftummt auf Erden; 
und verflummen wird es nimmer, nimmer! 

Sage mir, wie fteht e8 um did) felbft? Mich dünkt, du athmeſt 
ſchwerer und bedrüdter feit Kurzem, denn vormals, und fiehft fo 
traurig, befiimmert und verlegen. Nicht wahr, dir ift nicht mehr, wie 
einft? Deine Blumen wellten dir dahin, und deine Freudenquellen 
geben fein Wafler mehr? Du felber weißt nicht, wie dir ift; Doch 
Eines weißt Du: du haſt nicht Frieden. Wille, in ſolcher Gemüthss 
verfaffung ſchlagen oft die erften Glocken an, die den Anzug des Fries 
Densfürften fignalificen. O ficher, du wirft ſchon weiter kommen | 
Es wird fich Mären über der Tiefe deines ftillen Grams. Du wirft 
üme werden, in deiner Gottentfremdung liege der Grund der ges 
beinuißvollen Zrauer, die über dich gekommen, Wirſt du dep inne, 
fo wird das Maß deines innern Leidmuths freilich vol, und wir 
betreffen dich vielleicht bald in Thränen ſchwimmend und um Gnade 
ſchreiend in deinem Kämmerlein ; aber dann wiſſen wir auch, wer 
ſchon zu deiner Hütte und deinem Herzen auf dem Wege ift; ja, wer 
ſchon Hold, gnädig- und wunderwirkend bei Dir einzog. Und wie lange 
wird es währen‘, fo weißt du es auch: denn er enthüllt fih dir; er 
ruft Dir fein „Komm her, Mühfeliger und Beladener, ich erquide dich;“ 
er legt die durchgrabene Hand Dir fegnend auf dein Haupt; er vers 
ſichert dich durch feinen heiligen Geift, daß er auch für Dich fein Lö⸗ 
fegeld gegeben; er macht dich gewiß, daß um feines Blutes willen 
auch an Dir nichts DVerdammliches mehr fei, und eignet Die Gerech⸗ 
tigkeit dir zu, die vor Gott gilt. Nun aber erhebt du Dich vom 
Stande, und bift ein neugeborener Menſch, und ſchmeckſt einen Fries 
den, wie du ihn nie zuvor geahnt, und bift dein felbit nicht mehr, 
fondern fühlt dich einem Andern angehörig, lebſt Gott in Chriſto, 
böreft auf, vor Zod und Hölle zu erſchrecken, breiteft Ihm, der dich 
erlöfte, deine Kleider auf den Weg, ſtreuft Ihm Palmen ber Liebe 


56 Der Borhof. 


und der Huldigung, und jubelft in deinem Innern dein Hoflanna und 
Hallelufa. Und fiehe, da hat, ohne daß vielleicht außer Dir irgend 
Jemand etwas davon erfuhr, unfer Evangelium dem Weſen nad) 
wahrhaftig in deinem eignen Leben ſich erneuert. In ſolcher Weile 
aber erneuert und wiederholt ſich's ohme Unterlaß. Ununterbrochen 
zieht fo der Himmelskönig bald hier bald dort in Hütten und Herzen 
ein. So baut und erweitert er täglich in der Stille fein felig Gna⸗ 
denreich, und thut große Wunder der Erbarmung fort und fort, wer 
nur ein Auge für diefelben hat und ihrer achtet. In diefen Tagen 
ftarb in unfrer Nachbarfchaft ein Prediger. Er wurde, nachdem ihm 
bis vor Kurzem noch ein ſchwerer Weg durch's Leben befchieden war, 
gerade in dem. Momente abgerufen, da er allem Anfcheine nad) num 
in die fehönere, freundlichere Hälfte feines Lebens eintreten follte. Unter 
dem Kreuze aber, das ihn körperlich freilid; knickte, war in der Stille 
der gute Hirte zu ihm gekommen und hatte fich tief inniglich mit ihm 
verbunden, Vier Monden find es bin, al8 unfer Freund in die Ge 
meine einzog, in der er farb, und welche, ohne zu wiffen was fte 
that, ſich Tange gegen ihn und feine Berufung fträubte. Bei dem 
Einholungsmahle jedody wurden ihm Freundlichkeit und Chrerbietung 
nicht verfagt, und unter Anderm auch durch ein Glied des Gemeinde 
porftandes der gebräuchliche Feſt- und Willlommgruß gebracht. Es 
erhob auch er fich, und erwiederte den Gruß mit diefen Worten: „Es 
gibt Bäume, die, obwohl halb abgeftorben, Doch noch nicht umges 
hauen werden, weil fie in einem oder zweien Aeſten nod) Leben 
bergen, und an denfelben noch einige Frucht verfprehen. Man Täßt 
fie ftehn, bis fie, wie man fagt, „fi todt getragen” haben. Als 
einen folhen armen Baum pflanzt der liebe Gott mich heute in euren 
Kirhengarten, und es ift mein herzliches und aufrichtiges Begehren, 
mic) auch, wo anders Gottes Gnade mich noch einige Früchtlein treis 
ben lafjen will, im Dienft der Liebe für die Gemeine todt zu tras 
gen.” — Er ſprach's, und eine feierliche Stille ging durch die Bers 
ſammlung, und Aller Augen wurden feucht. Und wo in einem Herzen 
noch irgend etwas Feindfeliges gegen den lieben Mann verborgen ftad, 
war e8 im Nu getilgt, und es flammte in Allen alfobald eine Liebe 
für ihn auf, Die nicht inniger und lauterer fein fonnte, und die aud) 
nicht wieder erlofchen if, Denn jenes eine in Einfalt gefprochene 
Wort öffnete den Leuten einen Blick, ah, in welch ein.Herz hin⸗ 
ein! In ein Herz, wie eben die Herzen find, in welche der Geiſt des 


Der Enzug In Ierufalem. 57 


Herrn Jeſu einzog, und worin er die Obmacht zu gewinnen wußte; 
und das Er mit einem Tröpflein Seiner Liebe und Seiner Treue 
träntte, Nicht gamz vier Monate hindurch hat der theure Dann wirl- 
lich Tiebliche Früchte in feinem Kirchengarten tragen Dürfen, da hat 
der, defien Name „Wunderbar” heißet, ihn in die triumphirende 
Kirche heimbefchieden. Zuvor aber hat er ihn noch eine Predigt hal- 
ten laſſen, die in der Gemeine nicht wieder verhallen wird. Seine 
fchönfte, feine gewaltigfte Predigt war es. Sie war fein Sterben. 
Als ein Sieger über Sünde, Tod und Hölle ift er mit aufgerichtetem 
Haupte in das dunkle Thal hinabgefchritten, und hat's mit feinem 
Erempel beurfundet und befiegelt, daß der König Ehriftus wol noch 
in der Belt ift und wol noch Thaten thut und Wunder wirkt. Mit 
voller Geiftesflarheit fah unfer heimgegangener Freund den Schreckens⸗ 
koͤnig nahen; aber er begrüßte ihn mit dem Rufe: „Tod, wo ift dein 
Stachel?! Hölle, wo ift dein Sieg?!” Und als ihm zuleßt noch das 
17. Kap. des Evangeliums Johannes vorgelefen wurde, und eben die 
Worte erlangen: „Vater, ich will, daß wo ich bin, auch die 
bei mir feien, Die du mir gegeben haft, Daß fie meine 
Herrlichkeit ſehen,“ da hat er mit feinen letzten Athemzügen ges 
fagt: „Herrlichkeit —, Amen —,” und ift entfchlafen. — Das 
thut der Friedensfürft, der einherreitet „arm, und fommt zu Dir 
„ſanftmüthig.“ Er thut folhe Wunder zu taufenden noch alle Zage 
und pflanzet und feitiget fein Reich „mitten unter feinen eins 
den.” Freilich, meiit unter Schleiern thut er's; aber er thut es Doch, 
Gebt darum euren Zweifeln Balet, und glaubet, glaubet! „So 
wird e8 denn feinem Reiche noch wohl gerathen in der Welt?” O, 
forget doch um feines Reiches Zukunft nicht! Auch für Diefe Sorge 
fteht in unferm Evangelium eine mächtige Wetterfcheide aufgerichtet. 
Merkt zuerft auf Das Wort, das der Herr feinen Jüngern an den 
Eigenthümer der beiden Kaftthiere aufträgt. „Sagt zu ihm,” fpricht 
er, „der Herr bedarf ihrer; alfobald wird er fie euch lafs 
fen.” — ‚Der Herr bedarf ihrer!” Ja, ein Weiteres ift nicht noth, 
Bedarf er’s, fo muß ihm Alles zu Dienften ftehn, Er heifcht, fo ges 
ſchieht's; er gebeut, fo ſtehtss da. — „Der Herr bedarf ihrer!“ 
Herrliche Schakanweifung für die Miffton! Köftlicher Troſtſpruch für 
die Kirche, wenn ihr bange werden will, wo der Herr nod) Zeugen» 
kraͤfte finden werde! Unvergleichliche Verficherung, daß es Ihm zur 
Verwirklichung feiner Pläne nie an Mitteln werde fehlen können! Bergt 


58 Der Vorhoſ 


dies Sein Wort in euer geiſtlich Schatzhaus, umd erholt euch am ihm, 
fo oft der Muth euch finken will! — 

Merkt weiter, wie der Herr, indem er in der ganzen Art und Weiſe 
feines Einzugs in die heilige Stadt die Prophezeiung des Sacarja 
9, 9. bis auf das Jota zur Erfüllung bringt, hiedurch zugleich allen 
alten Prophetenfprüchen, die von Ihm handeln, den Stempel der 
Bewährung aufdrüdt. Ihr wißt aber, was dieſe Sprüche Ihm in 
Ausficht ftellen. Ihnen zufolge werden einft alle feine Feinde zum 
Scemel feiner Füße liegen; der Welt Ende werden fein Erbtheil, 
und der Herr nur Einer, und fein Name nur Einer fein. Und 
Serufalem wird gerechtfertigt ftehn zu Lobe auf Erden. Und es wird 
ein Hirt und eine Heerde werden; und was noch weiter vom Vater 
ihm zugefchworen ward, ihr wißt es ja. Ebenſo unfehlbar, wie das 
Eine zur Verwirklichung gedieh, wird auch das Andre nicht blos Bild 
und Schatten bleiben. Die buchftäbliche Erfüllung des Wortes Sa 
charjas: „Jauchze, du Tochter Zion, denn fiehe Dein König 
fommt zu Dir fanftmüthig und reitet auf einem Efel,“ 
verbürgt auch in thatfächlicher Weife die einftige Verleiblihung des 
Geſichtes Johannis, des Sehers: „Siehe, Einer auf einem weis 
Ben Roffe, der hat einen Namen gefchrieben auf fein Ges 
wand und auf feine Hüfte: König aller Könige und Herr 
aller Herrn;* und ebenfo die Erfüllung jenes andern, in welchem 
er am Stuhle des Lammes jene Schaar anbetender Seligen erblickte, 
die Niemand zählen konnte. 

Endlicd beachtet no ein Wort Immanuels, welches Lufas nach» 
trägt. Als nämlich ergrimmt über den jubelnden Huldigungslärm der 
Jünger und des Volkes die Pharifäer dem Herrn Jeſu ihr „Meiſter, 
ftrafe fie doch!“ entgegenfchrieen, that Diefer den bedeutungsvollen 
und ewig denfwürdigen Ausipruh: „Ich fage euh, wo Diefe 
fhweigen, fo werden die Steine reden!” — Hört, hört, dies 
Wort wiegt unausfprechlich ſchwer. Zupörderft hätte der Herr fein 
Innerftes Bewußtfein von dem unendlich hohen Glüde, welches in Ihm 
und feiner Sendung der Welt zu Theil geworden fei, nicht deutlicher 
zu Tage geben können, als er ed in diefem Ausſpruch thut. Denn 
was befagt derfelbe Anderes, als: „Ih nahe euch als ein folder Hei⸗ 
Iand, und bringe eine ſolche Hülfe, und biete eine ſolche Seligkeit, 
daß, erhübe darob ſich in der Menfchenwelt Fein Jauchzen und Froh⸗ 
locken, der allmächtige Gott Die leblofe Kreatur zur Lobpreifung Sei⸗ 


Der Einzug in Iernfalem. 59 


ner Liebe umd Erbarmung erweden würde.” Sodann aber ertheilt der 
Herr uns in jenem Worte zugleich die Verficherung, es werde von 
Ihm und feinem Heile nie ein Schweigen fein auf Erden: dem 
ſchwiege Iſrael, ſchwiege die Ehriftenheit, fo werde er die Söhne der 
Wildniß, die todte Heidenwelt, befeben, daß fie Ihm das Hoflanna 
fängen. 

Und er hats geihan, und thut's, und wird es ferner thun. Unſer 
Evangelium rüdt uns ein propbetifches Gemälde in den Blid. Wie 
dort das Bolf, fo breitet einft die ganze Bevölkerung der Erde 
die Kleider ihm über den Weg und ftreut ihm Palmen. Wie Tau 
fende dort, fo fchreien einft Millionen: „Hoflanna dem Sohne Das 
vide, gelobet fei, der da kommt im Namen des Herm! Hofianna in 
der Hoͤh'!“ D, miſchen auch wir uns in die Schaar der Huldigenden! 
Beherzigen wir noch einmal des Herrn Verficherung, daß fo unents 
behrlich und überfchwänglich groß Das Heil fei, welches uns Gott in 
Ihm bereitet habe, Daß, wo wir jchweigen koͤnnten, die Steine fchreien 
würden; und flinmen wir ein in Die betenden Worte des alten Liedes: 

Schreibe, Herr, mid auch mit an 
Unter deine Unterthanen;, 

36 will dir, fo gut ich Tann, 

In mein Herz die Weye bahnen. 

Ich geielle mi im Geift, 

Herr, zu jenen froben Reiben, 

Die das Hoflanna fchreien. 

Sohn des Hoͤchſten fei gepreift! Amen. 





vi. 
Die Fußwaſchung. 





Geliebte in dem Herrn! Wenn der Apoftel Phi. 3, 12 ausruft: 
„Richt, daß ich es ſchon ergriffen habe, oder ſchon volls 
kommen fei,” fo feheint er fich mit feinem eigenen Worte V. 15: 
„Wie Viele nun unfer volllommen find,” fo wie mit Dem Auss 
ſpruche Hebr. 10, 14: „Mit Einem Opfer hat er in Ewigkeit 


60 Ger Borhof. 


vollendet (oder: „ans Ziel gebracht‘), Die da geheiliget wer- 
Den,” in Widerfprud zu feßen. Aber dem ift nicht alſo. Der Apo⸗ 
fiel redet dort nur aus dem Bewußtfein des Unterfchiedes heraus, 
der zwifchen objectiver (gegenftändficher), und fubjectiver (per 
fönliher) Vollendung befteht. — Der durch den lebendigen Glau- 
ben Chriſto Eingepflanzte ift in Gottes Augen allerdings voll 
endet, fowol im Sinne der Rechtfertigung, indem der ganze 
Gehorſam Ehrifti ihm von Gott zugerechnet wird; als auch im Sime 
der Heiligung, fofern nämlich Gott das Wollen für Die That, den 
Keim der Heiligung ſchon für die vollitändig entwidelte und ent⸗ 
faltete Pflanze nimmt. — Keinesweges ift aber der Gläubige darum 
auch ſchon am Ziele der Aufgaben angelangt, die in feinem Innern 
ihre Löſung fuchen. Vielmehr hat er unabläffig darnach zu ringen, 
zuerft, Daß er unverrüct in der rechten Aneignung der ihm zuges 
gerechneten Gerechtigkeit fich erhalte; und fodann, daß er im Kraft 
derfelben feinen alten Menſchen freuzige, und mehr und mehr ein 
„vollommener Dann werde, der da jet in dem Maße des vollen 
Alters Chriſti.“ 

Wir nähern uns heute einem Evangelium, das uns in der letztern 
Sphäre hriftlichen Lebens zu einem vortrefflichen Wegweifer dienen 
kann. Wie wir dahin gelangen mögen, in ftets ſich verjüngender 
Sugendfrifche „„aufzufahren mit Flügeln, wie die Adler, und zu laus 
fen, ohne matt, zu wandeln, ohne müde zu werden,” das lehrt ung 
dieſes Evangelium, 


Ih. 13, 1—17. 


Bor dem Feit aber der Oftern, da Jeſus wußte, daß feine Stunde gelommen war, 
daß er aus diefer Welt ginge zum Bater, wie er hatte geliebet die Seinen, die in der 
Melt waren, fo liebete er fie biß and Ende. Und als dad Abendeilen vorhanden war, 
da ſchon der Zeufel hatte den Juda Simonid Iſcharioth in's Herz gegeben, daß er 
ihn verriethe; und Jeſus wußte, daß ihm der Bater hatte Alles in feine Hände ge 
geben, und daß er von Gott außgegangen war und zu Gott hinging: fland er vom 
Abendmahl auf, legte feine Kleider ab, und nahm einen Schurz und umgirtete fid. 
Darnach goß er Waffer in ein Beden, hob an, den Jüngern die Füße zu waſchen und 
trodnete fie mit dem Schurz, damit er umgürtet war. Da lam er zu Simon Petrus; 
und berfelbige fprach zu ihm: Herr, follteft du mir die Füße wafhen? Jeſus antwors 
tete und ſprach zu ihm: Was ich thue, das weißt du jegt nicht; du wirft ed aber her 
nad erfahren. Sprit Petrus zu ihm: Nimmermehr ſollſt du mir die Füße wachen. 
Jeſus antwortete ihm: Werde ich dich nicht waſchen, ſo haſt du kein Theil mit 
mir. Spricht zu ihm Simon Petrus: Herr, nicht die Fuͤße allein, fondern andy die 


Die Fußwaſchung. 61 


Hände umd dad Haupt. Spricht Jeſns zu ihm: Wer gewafchen ift, ber bebarf nicht, 
denn die Füße zu waſchen, fondern er ift ganz rein. Und ihr feid rein. Aber nicht 
alle. Denn er wußte feinen Berräther wol; darum ſprach er: Ihr feid nicht alle 
rein. Da er nun ihre Füße gewaſchen und feine Kleider genommen hatte, febte er 
ſich wieder nieder und ſprach zu ihnen: Wiſſet ihr, mas ich euch gethan habe? Ihr 
heißet mih Meifter und Herr, und fager recht daran, denn ic) bin ed auf. So nun 
ich, euer Herr und Meifter, euch die Füße gewafchen habe: fo follt ihr auch einander 
bie Füße waſchen. Ein Beifpiel habe ich euch gegeben, auf daß ihr thut, wie ich euch 
getban habe. Wahrlich, wahrlih, ich fage euch: Der Knecht ift nicht größer, denn 
fein Herr, noch der Apoftel größer, denn der ihn gefandt hat. So ihr ſolches wiſſet, 
felig feid ihr, fo ihr's thut. 

Sagt an, geliebte Brüder, um was geht es euh? Wollt ihr wiffen, 
was einem jeglichen unter euch vor Allem noth thut? In diefem 
Evangelium wird’8 eudy fund gethan. Gelüftet euch, zu erfahren, wozu 
Ehriftus erfchienen fei? Hier vernehmt ihr's fo Har, wie immer mög- 
lich. Sähet ihr gerne den innerften Kern des Evangeliums vor euch 
enthüllt? Hier taucht er aus der Tiefe vor euch auf. Begehrt ihr 
Anleitung zum Wandel auf dem Wege des Herrn? Hier empfangt ihr 
fie, und empfangt nody mehr, als diefes Alles, O, der unergründ- 
lich tiefen und unvergleichlihen Geſchichte, vor der wir heute ftehen! 
Treten wir derfelben betrachtend näher, und richten wir unfere Blicke 
zuerft auf die Liebesthat des Herrn; fodann auf den bedeu> 
tungsvollen Auftritt zwifhen dem Meifter und feinem 
Sünger Petrus; und endlih auf das Deutende Wort, das 
der Meifter felbft als Sclüffel feiner geheimnißvollen 
Handlung beifügt. | 

Möge der Geift der Wahrheit auf unferm Betrachtungswege uns 
begleiten, und felber uns die Hieroglyphenfchrift entziffern, mit der 
Diefes Evangelium Zug für Zug durchwirkt iſt! — 

1. 

In eine feierlihe Stunde verfeßt uns unfre Erzählung. ‘Der Herr 
Jeſus hat feinen Pilgerlauf Durch dieſe Welt vollendet, und der Vor⸗ 
abend feines großen blutigen Opfertages ift berbeigelommen. Noch 
einmal verfammelte er die Seinen in dem trauten Gemache eines bes 
freundeten Haufes zu Serufalem um fih her. Noch einmal follen fie 
in's treue Mittlerherz ihm fehauen, und inne werden, was ihnen in 
Ihm von Gott gefchenkt ſei. Und nie haben fie Diefes Abends mehr 
vergeſſen. Nie mehr erloſch in ihrer Erinnerung das wunderhehre 
BD, in welchem fie den Mann ihrer Liebe da gefehen. O, Ddiefe 


623 Der Border. 


ftille Majeftät, die ihn umfloß! Diefe wunderbare Inmigkeit, die ſich 
in jedem feiner Blicke, feiner Worte, fund gab! Diefer übertrdifche 
Friede, der über feiner ganzen Erfcheinung ausgegoffen lag! Diefe 
findlich heitere Ergebenheit in Gottes Nath und Willen, und dieſe 
leutfeligfte Herablaffung bei aller feiner Hoheit! Und ach, dies goͤtt⸗ 
lich Tiefe, Troftvolle, Gebeimnißreiche in jedem Ausfpruch feines Mun⸗ 
des, und in dem Ganzen feines Thund und Verhaltens! Weberwäls 
figend war es, und berzerhebend, wie fie nie etwas erlebten! — Wie 
in einen Vorhof des Himmels fühlte man ſich verfegt, und wäre uns 
endlich feliger noch gewefen, als felbft in Tabors Klarheit einft, hätte 
nicht, ach! die Vorahnung des nahen Abfchieds den Flor der Wehmuth 
um die Freude hergewoben. 

„Bor dem Zeit aber der Oftern,” beginnt Johannes feine Er⸗ 
zäblung, „da Zefus wußte, daß feine Stunde gekommen 
war, Daß er aus dieſer Welt ginge zum Bater: Wie er hatte 
geliebet die Seinen, die in der Welt waren, fo liebete er 
fie bis an das Ende.” — Welch wunderbarer Styl dies! Hört man 
nicht Das Herz Johannis deutlich durchpulficen? Gemahnt nicht feine 
Redeweife an einen Bergftrom, der in regellojer Gewaltſamkeit über 
Felſen duberftürzt? Iſt's nicht, als aönnte der Gefühlsdrang, der den 
Evangeliſten überwältigt, feinem Griffel feine Ruhe, auf die Stellung 
feiner Worte ſich zu befinnen; ja, als jchriebe der ergriffene Jünger 
unter Thränen anbetenden Entzückens, und mit dem Bewußtfein gaͤnz⸗ 
lichen Unvermögens, Das, was wie ein Geficht aus einer andern Welt 
ihm vorſchwebt, in einem auch nur einigermaßen würdig entfpredhen- 
dem Bilde wiederzugeben? Was aber vor allem Andern ihn fo mädy 
tig dus Herz bewegt, it der Umftand, Daß der Herr Jeſus, ob ihm 
gleih Damals ſchon Kar bewußt war, daß Die Stunde feiner Rücklehr 
zum Vater nabe bevorſtand, und ch er bereits im Geifte mehr ſchon 
dort oben, als noch auf Erden weilte, und bereits Me Lobgefänge von 
ferne rauichen hörte, unter deren Wiederball er bald den Zhron der 
Majeſtät beſteigen ſollte, dennoch Der Seinen nicht vergaß, fondern 
für fie, die Pilger im Todestbal, in feinem liebenden Erinnern und 
Belũümmern fo viel Raum neh übrig bielt. Und welch' ein Herze⸗ 
feid batten ihm dieſe je zärtlich Umfangenen erit vor Kurzem noch bes 
reitet Durch Den Müglichen Rangſtreit, in den fie ſich miteinander ver 
widelt butten, und jonderlih durch ihr Verbalten bei der Salbung 
Mariä, du fie, gleichſam als hätten fie dem Meifter foldhe Ehre nicht 


Die Fußwaſchung 63 
geadnnt, von der finftern Geſinnung des Verräthers angeſteckt, das 
zarte Liebesopfer der begeifterten Züngerin wegwerfend einen „Unrath” 
zu nennen fich nicht entblödeten, und zu der herzloſen und kaltgründigen 
Bemerkung fich verleiten ließen, es habe diefe Salbe beffer verkauft, 
und der Erlös dafür den Armen gegeben, als fo nutzlos vergeudet 
werden mögen. Ihr erinnert euch, was der Herr ihnen Damals fo 
ruhig und fo milde entgegenhielt; aber es hatte fie des Herm Wort 
fo wenig gebeugt und zu Abbitte veranlaßt, daß es fie vielmehr mur 
aufs tieffte gegen ihn verftimmt, ja, ihre Herzen für eine Weile ihm 
verföhloffen und entfremdet hatte, Und dennoch — — o, ermeßt Diele 
Treue und Erbarmung! — und dennoch; — noch jetzt möchte os 
hannes darob in Thränen zerfließen; und dennoch: „Wie er hatte 
geliebet die Seinen, die in der Welt waren, fo liebete er 
fie bis an das Ende!“ — „Aber um defwillen,” will Johannes 
fagen, „gefellte Er ſich ja auch eben den Sündern zu, daß er fie feſt 
und ewig auf dem Herzen trüge. Diefe vom Vater Ihm Gegebenen 
lagen ihm ja näher am Herzen, als felbit die heiligen Engel um 
Gottes Thron. Und am Ende liebte er fie erft recht. O, wie liebte 
er fie, da er mit ihren Sünden in's Gericht ging, und ſich für fie 
binunterftürzte in das Feuer, das fie durch ihre Miffethaten ſich ans 
gezündet! Wie liebte er fie, da ihm das Xöfegeld feines eignen Blutes 
nicht zu theuer deuchte, um es für fle, die Mebertreter, dahinzugeben. 
Durch liebte er fi) mit ihnen! Und bis heute liebt er, was fein 
it, „bis an das Ende” Durchbebte den Johannes ein himmli⸗ 
ſches Wonnegefuͤhl bei diefem Gedanken; Brüder, fo durchgehe un» 
fer Herz ein gleiches! Was da kommen, was fidh ereignen mag: 
Sein Lieben Hält dur. „Es follen wol Berge weichen, und His 
gel hinfallen; aber meine Gnade foll nicht von dir weichen, und der 
Bund meines Friedens foll nicht hinfallen, fpricht der Herr dein Ers 
barmer.” Jeſaj. 54, 10. 

Bir treten in das Gemach zu Serufalem zurüd, und treffen Die 
Berfammlung bereits um das Mahl gelagert. Wie es fcheint, geht's 
da anfangs ftille und einfilbig ber. Aber wo der Herr fchweigt, res 
det Johannes. Aufs neue das Herz des Umvergleichlichen wie ein 
Allerheiligftes uns entichleiernd,, fpricht er: „Iefus wußte, Daß 
ibm der Bater hatte Alles in feine Hände gegeben, und 
daß er von Gott ausgegangen war und zu Gott ging.” 
Welch ein Wiſſen dies! Hätte fih das in Jemandes Herz vers 


66 Der Borbof. 


wie etwas fo Iingeziemendes gefchehen folle. Zwiſchen dem „Du“ 
und „mir“ bewegt fi die ganze Herrlichkeit des Herrn md 
Das ganze Nichts des Menſchen. Wie weit ſchleudert Simon mit 
dem „mir“ fich felbit hinweg, und wie hoch erhebt er mit dem „Du“ 
feinen Herm und Meifter! „Du Heiliger,” will er jagen, ‚mir armen 
Sünder? Du Sohn des Allerhöchften, mir Wurm am Stanbe? — 
Nein, rede mir davon nicht mehr!“ — Gewiß, eine fchöne Enpfin 
dung dies in Simons Seele; aber nichtsdeftomeniger eine arge und 
fträfliche Verirrung! — O Simon, der Herr kam ja eben, Daß er 
diene! ZThörichter Jünger, eben darin ftehet ja fein eigentliche® Amt, 
daß er die Unreinen ſäubere, die Befleckten wafche! Verblendeter, 
wo biiebft du, ließe er fich nicht bis zu folcher Tiefe zu Dir herab? — 
Nicht wahr, du Ihm die Züße waſchen? — Sa, wafche fie Ihm ins 
merhin mit Armenfünderthränen; aber im Uebrigen gib Ihm Raum, 
daß er Dich wafche; wie willft du fonft dem Fluch entrinnen? — — 
Doch Simon verfteht den Herm nicht, und hat noch feine Ahnung 
davon, auf welchem Irrwege er fih befinde. — Der Herr nimmt das 
Wort und fpriht — ihr kennt ihn ja, den für und Alle fo gehaltoollen 
und troftreichen Ausfpruh —: „Was ich thue, weißt du jegt nicht; 
wirft esaber hernach erfahren.” Sa, erwußte esjegt nicht. 
Wird aber nad) diefer Bemerkung des Herm Simon ihm nicht blind⸗ 
fings ftille halten? — Man follte e8 denken; aber nein! Simon 
glaubt für Die Aufrechthaltung der Würde feines Meifters forgen zu 
müffen. „Nimmermehr!” ruft er mit größter Beſtimmtheit, „ſollſt 
Du mir Die Füße waſchen!“ — — O Simon, erinnerteft du dich 
doch daran, daß „Gehorſam beffer fei, denn Opfer!“ Auch heute 
noch hört man nicht felten äußern: „Nein, zur Ehre Ehrifti kann ich 
es nicht glauben, daß er die nadten Sünder ohne Weiteres auf⸗ und 
annimmt!” — O Freunde, wollt ihr Jeſum ehren, fo thut's durch 
Unterwerfung unter fein Bort: „Sch fuche Verlorene,” — „Nein,“ 
fagt man, „ich bilde mir's nicht ein, Daß der Majeitätifche ſich um 
mein Gebet, das Gebet des Wurms, bekümmere.“ O, u 

ger Eifer um die Hoheit Gottes! Gerade Dadurch will ſich Gott 
von und gepriefen fehn, daß wir an Ihn als am einen Gebet- 
Erhörenden glauben. „Nimmermehr,“ fpriht Simon. O Si⸗ 
mon, daß dir nur nicht nach deinem Worte widerfahrel Dam 
vernimm, wie fagt der Herr? „Werde ich Dich nicht wafchen, * 
ſpricht er, „fo haft du keinen Theil mit mir.“ Welch eine über 


Die Fußwaſchung. 67 


Alles beberzigenswerthe Eröffnung dies! Koͤnnte ich doch einem Jeden 
dies Wort unauslöfchlich in die Seele fhreiben! Ihr merkt, wie fchon 
bier der tiefere, myftifche Sinn der Handlung Jefu vor uns aufbligtz 
der Sim, der aufs Blut, auf die Vergebung, auf die Rechtfertigung 
und Reinigung von Sünden zielt, Es ift euch ja ſchon befannt, was 
Ales in dem Ausfpruche verborgen liegt, und wie eine jede Sylbe 
bier ihre tiefere Bedeutung hat. „Werde Ich dich nicht waſchen.“ 
Ya, Du mußt es thun, Herr Jeſu; denn wer wüfche ſich ſelbſt? — 
„Werde ich dich nicht waſchen.“ — Ja, waschen mußt du ung; denn 
belehren, unterweifen, Vorbild geben hilft uns nicht, — „Werde ich 
dich nicht waschen.“ — Freilich, was frommt mir's, daß Petrus 
gewafchen fei, oder Paulus? Sch muß Vergebung haben, und dar 
um wiffen, daB fie mir geworden. Und ewig bleibt e8 wahr: Wer 
nicht gewafchen wird mit Chrifti Blut, der hat nicht Theil an Ihm, 
noch an den Gütern feines Reiches, 

Bas aber füngt nun Simon mit jenem Worte an? Es läßt fich 
fhon im Boraus denken. „Wie,* heißt es in feinem Innern, in wels 
chem jenes Wort einen Sturm der Beftürzung beraufbefchworen hat, 
wie er ihn nie empfunden, „feinen Theil an Jeſu; an meinem höch⸗ 
fien Gute Leinen Theil?“ Und wie er's denkt, fteht er auch ſchon mit 
unausfprechlicher Beugumg und unbedingter Hingebung da, und fpricht, 
den tieferen Sinn des Nusfpruchs feines Meifters ahnend: „OD Herr, 
dann nicht die Füße allein, fondern auch die Hände und das 
Haupt”, d. i. den ganzen Mann! — Ja, wenn Er Miene macht, den 
Abfchied uns zu geben, dann tritt's, ob feiner auch im Zaumel des 
Alltagslebens, für eine Weile einmal wieder vergeffen ward, aufs neue 
an den Tag, wie tief und innig man mit Ihm verkettet if. Wenn 
es den Anfchein gewinnt, als wolle er uns die eigenen Wege wieder 
wandeln laſſen, dann beurkundet ſich's, wie doch Nichts in aller Welt 
über Jhu uns gehe, Der bange Zweifel, ob man auch wirklich etwas 
für Ihn fühle, fehwindet Hin, und das „Band der Vollkommenheit“ 
legt ſich wieder bloß, das unauflöslich im innerften Grunde unfers 
Weſens uns mit Ihm vernüpft; und man empfindet mit erneuter Les 
bendigfeit und Stärke, wie urplöglich Fluch, Tod, Teufel und Hölle 
wieder über uns hereinbrechen würden, falld wir auf Ihn nicht fers 
ner trauen und hoffen dürften. Und ſüß iſts, fo feines Verknuͤpft⸗ 
feins mit Jefn fi wieder im Wege der Erfahrung bewußt zu wer» 
den, Wie trefflich kann ums dies, wenn einmal die Empfindung 

| 


68 Der Borbof. 


wieder verfiegt, und die Gefahr, an ums irre zu werden, aufs nem 
nahe tritt, zu Statten fommen! Da wird uns denn folch eine frühere 
Erfahrung zum „Saitenfpiel in der Nacht“, und ermuthigt ums, wie 
den König David einft in dunkler Zeit feine „vorigen Lieder“ 
ermuthiget haben. — 

„Herr, nicht allein die Züße, fondern auch die Hände umd das 
Haupt!" — Schön dies; aber wieder das rechte Gleis verfehlt! Simon 
überfchreitet jet die Linie des Richtigen zur Rechten, wie er fie zw 
vor zur Linken überfchritten hatte. Vorhin wies er Un entbehrliches 
von fi, und jetzt verlangt er Heberflüffiges. Er flieht der ganzen 
Sadje immer noch nicht auf den Grund; und wahrfcheinlich gehörte auch 
das nächte Deutungswort des Herrn zu denen, deren Bollfinn dem 
verbiendeten Züinger erft fpäter aufgegangen iſt. Es lautet dieſes Wort: 
„Wer gewafchenift, der bedarf nicht, Denn allein die Füße 
zu waſchen; fonderneriftganzrein; undihr feid rein, aber 
nicht alle.” Daß er mit den lebten Worten auf den Berräther 
zielt, Tiegt auf der Hand. Welches ift nun Diefer geheimnißvollen Rede 
Sinn? — Ich glaube, Daß wir ihn in Folgendem für ausgedens 
tet erachten dürfen. Gewafchen ift, wer als armer Sünder durch den 
Glauben in die Gemeinſchaft Jefu einging. Ein Solcher ift zunächft 
der Rechtfertigung nad von aller Sünde rein. Das Blut des 
Zammes floß für ihn. Die Bezahlung aller feiner Schulden iſt ge 
ſchehen. Ganz rein ift er vor Gott: denn das Berdienft des Buͤr⸗ 
gen ward ihm zugerechnet; und rein bleibt er: denn „Gott mögen 
feine Gaben und Berufungen nicht gereuen.»« Täglich, ſtündlich foll 
er fih feines abgewafchenen Standes freuen. Petrus ermahnt in feis 
nem zweiten Briefe: „Vergeſſet nicht der Reinigung von euern vorigen 
Sünden.“ Er iſt aber aud) rein der Heiligung nad), und zwar infos 
fern, al8 er in Folge der Wiedergeburt aus Waſſer und Geift, die er 
erfuhr, für immer mit aller und jeder Sünde brach, und vermöge feines 
neuen, aber freilich von feinem Fleiſche nod immer vielfach anges 
fochtenen und bedrängten Ichs, nichts Anderes will, als wis Gott 
will, und Ihm mwohlgefällt. Wie pflegt e8 aber nun im Fortgange 
des Glaubenslebens herzugehn? Es treten unbewachte Augenblide ein, 
in denen man in der einen oder andern Weife fih neu verfündigt. 
Unverfehens denkt, fpricht und thut man wieder, was nicht taugt, 
und macht fih — natürlich wider Willen (denn mit Willen ſündigt 
nur der Zeufel und fein Same; wer aber aus Gott geboren if, kann, 


Die Fußwaſchung. | 69 


wie der Apoftel Tagt, nicht fündigen), — neuer Untreuen gegen den 
Herrn ſchuldig. Der Wandel ift befledt; die Füße find befu- 
delt. Wie verhält man fi nun? Drei Irrwege thun ſich auf, 
und nur zu häufig geichieht es, daß man nun einen derfelben eins 
fhlägt. Entweder gibt man einem übergreifenden Schuldges 
fühle bei fih Raum, ruft, wie weiland, wieder das „Unrein, Un⸗ 
rein!® eines aus der Genofienfchaft der Reinen Ausgefchloffenen 
vor fi her, erachtet die Gnade für eingebüßt und verfcherzt, das 
Band der Gemeinfchaft mit dem Herrn für zerriffen; und fchreit mit 
Petrus: „Herr, nicht allein die Füße, fondern auch die Hände und 
das Haupt] — Oder man nimmt's mit der neuen Berfündigung zu 
leicht, redet fi ein, der begangene Fehler habe Feine Bedeutung, 
beſchwichtigt fein Gewiffen mit dem rafch und eigenwählerifch berbeis 
gerafften Gedanken, es gehöre ja auch dies Vergehen mit zu der 
Sündenmenge, die in dem Blute Ehrifti gefühnt und vernichtet fet, 
und wandelt fo feine Straße gemach und ohne Anftoß vorwärts. In 
beiden Fällen ift man, zur Rechten dort, und hier zur Linken, 
von der Fährte der Wahrheit abgekommen. Im erfteren Falle 
öffnete man ohne Noth fein Herz einer das richtige Maß überfchreitents 
den Borftellung von den Folgen des begangenen Fehltritts, und mißt 
die ſem einen Einfluß auf das Ganze unfers Gnadenftandes bei, den 
er nad Gottes Wort durchaus nicht ausübt. Die vereinzelte Ders 
fündigung, zu der man hingeriffen wurde, fteht mitnichten einem Ab- 
fall von dem Herrn gleich. In dem vereinzelten Siege des Fleifches 
über den Geift geht fo wenig die erfahrene Wiedergeburt wiederum 
verloren, als um diefer Uebertretung willen die göttliche Gnade fich 
uns entzieht, und aus ihrer Hut und Pflege uns entläßt. In dem 
andern Zalle fehlägt man die begangene Sünde viel zu geringe am 
und vergibt vermittelft einer willfürlichen dogmatifchen Verſtandes⸗ 
operation diefelbige fich ſelbſt, anftatt fie fih vom Herrn verzeihn 
zu lafien. Es wird aber der vorgeblich „Eleine Fehler’ dadurd, 
dag wir mit jenem Namen ihn bezeichnen, nicht Heiner, als er ift, 
und weicht in Folge der Selbftüberredung, daß er ja zu dem Haufen 
mit gehöre, für welchen das fühnende Blut gefloffen ſei, fo wenig aus 
unferm Gewiflen, daß er vielmehr als ein geheimer Bann in demfel- 
ben haften bleibt, Trebsartig unfern Herzensfrieden zernagt, und und 
mehr und mehr den kindlichen Zreimuth zum Hinzutritt zum Thron 
der Guade raubt. — Weldyes wäre denn: in Lagen, wie die bezeich⸗ 


70 Der Vorhof. 


nete, das dem Evangelium entſprechende Verhalten? Man häte ſich 
zuerft vor der Verzweiflung, dur die man nur dem Satan ein 
Feſt bereitet. Man trete nicht von dem Angeficht des Herm fern, als 
wäre einem jebt Sein Herz verfchlofin. Man denke nicht, Daß wım 
ein neuer Anfang mit dem Ehriftenleben zu machen ſei. Der Same 
der Wiedergeburt: „bleibet bei uns“, fagt die Schrift, und das 
Kind vom Haufe Gottes fteht nicht plößlich wieder als ein Knecht 
und Zremdling draußen vor der Pforte. „Wer gewaſchen if," 
fpricht der Herr, „ift ganz reim Und ihr feid rein, aber nit 
alle." Wer verfteht jet dieſe Rede nicht? Ihr Sinn iſt diefer: 
Wer der Blut⸗ und Geiftestaufe, d. h. der Doppelgnade der Los⸗ 
fprehung von der Sünde Schuld, und der Wiedergeburt zum 
neuen Leben theilhaft worden ift, der ift dem innerften Kerne feines 
Weſens nad ein durchaus neuer Menfch, der für unmer mit der Günde 
brach, und deſſen innerftes Lieben, Begehren, Dichten und Trachten 
nur auf Gott und auf das Göttliche gerichtet iſt. Ein Solcher bedarf 
darum, wenn er aus Schwachheit aufs neue von einem Fehl übereilt 
ward, nicht wieder einer radikalen Wefensumgeftaltung, fondern einer 
Säuberung nur. Ermuß fih „Die Füße wafhen* lafieen. Man 
erwäge dies wohl, wo man im Stande der Gnade ſteht. Man fehe 
fi) zur Wehr wider den höllifchen Verkläger, daß er uns wicht mit 
maßlofen Befchuldigungen übervortheile. Man halte ihm als Schild 
das Blut des Lammes vor, und laſſe ſich den Muth und Das Ver 
trauen nicht erfchütten! — 

Nicht minder forgfam aber umfchiffe man auch Die andere Kippe, 
die hier droht, und hüte fich, die erneuerte Untreue, mit der man fldh 
befledte, zu bemänteln oder zu unterſchätzen. Kein Fehltritt 
ift geringfügig und unbedeutend. Man laſſe den Richter in unferer 
Bruft ungehindert fein Amt verwalten, und fträube fich nicht, in ſei⸗ 
nen Anklagen ihm Recht zu geben. Man nahe als ein tiefbetrüßs 
tes, aber darum doch nicht verzagendes Kind dem Herm, und be 
fenne demfelben aufrichtig feine Schuld. Man fpreche: „Her, mein 
Gott, aufs neue habe ich mich an Dir verfündigt. Es if mir leid, 
Siehe, ich richte und verdamme mich felbft; aber Deine Gnade iſt 
groß, und auf fie vertraue ich. Befprenge mein Gewiffen neu mit 
deinem Blute, und gib mirs, auch für Diefen Fehl die Bezahlung, 
die du für mich geleiftet, mir gläubig anzueignen!“ So feufze das 
gebeugte, zerknirſchte Herz, und, was güts, der Here neigt ſich guds 


Die Fußwaſchung. 71 


Dig zu ums nieder, fpricht der Seele durch den heiligen Geiſt das 
Wort der Vergebung zu, und der Herzensjabbath bleibt mit dem Kind⸗ 
fhaftsbewußtfein ungebrochen in Jeſu Blut, Und o, wie fühlt man 
fh dem Herrn neu verbimden und neu geftärkt zum Kampfe wider 
Zeufel, Belt, und eignes Fleiſch und Blut, und wie grünt neu ge 
friſcht im Gemüthe die freudenreiche Zuverfiht auf, daß man in Wahr⸗ 
heit einen Heiland habe, nach ſolcher erneuerten Erfahrung Seiner 
Treue! Man erreichte wieder ein Pniel, bei welchem man mit Jakob 
jubelt: „Ich habe den Herrn von Angeficht gefehn, und meine Seele 
it geneſen; und flimmt auf3 neue tief bewegt in David’ Worte 
ein: „So fei nun wieder zufrieden, meine Seele; denn der Herz 
thut dir Gutes!" — 

Seht, Freumde, dies ift das „fih die Füßewafchenlaffen“ 
im Süume des Herm; und ihr merkt, es ift ein felig, erquicklich und 
beiebend Ding darum, Und wer in der rechten Einfalt fteht, dem tft 
diefe täglich erneuerte Buße und Darauf folgende neue Heilserfahs 
zung nichts Gefehliches, fondern gerade rechtes Evangelium, ımd 
wnausfprechlich füße Uebung. So wird der innerlihe Menfch tagtäglich 
emeut, und erfährt eine unaufhörlihe Berjüngung. Die Blumen 
der Freude, wie der Hingebung an den Herrn, geben im Herzen ims 
mer wieder auf, und jeden Augenblid ift e8 drinnen wieder Frühling: 
Mauche Ehriften Tennen eine andere Nahrung für ihr inneres Leben 
nicht, als die fie an dem verfchimmelten Brode verjährter Erfahrungen 
befigen. Dabei kommt aber ein rechter Friede nicht heraus, Es ver 
haͤlt fich nicht fo mit dem innern Chriftentbume, daß, nachdem man 
einmal Vergebung der Sünden empfing, man nun in gedächtnißs 
mäßiger Nüderinnerung daran in todter Sicherheit dahinlebt, 
Nein, wo ein wirkliches geiftliches Leben befteht, findet fi) auch forts 
währende Bewegung, unabläffiger Kampf gegen die Sünde, und nad 
ſtets ſich erneuernder Beugung vor Gott ftete Wiedererhebung 
tm Genuſſe Seiner neu verfiegelten Gnade. Wäre ed anders, 
wie hätte der Herr feinen Kindern als tägliche Bitte die Worte auf 
die Lippe legen können: Vergib uns unfere Schulden?" Wer 
gewafchen tft, bedarf nicht wieder, Daß er ganz, wohl aber, Daß ihm 
ſtets aufs neue „Die Füße gewafchen“ werden, — 

3 


So hat ſich uns denn der tmmerfte Sinn der Fußwaſchumgsſeene auf⸗ 
geſchloſſen. 68 gehört derſelbe der Hellsordnung an, und tft feinem 


72 Der Borbof. 


ganzen Umfange nach dem Verfländniß der Jünger gewiß erft fpäter 
aufgegangen. Was diefelben aber unfehlbar befier und alfobald ſchon 
faffen mußten, war die mehr Außerliche und Erempel gebende Seite 
jenes Aktes; und auf dieſe beichränft fi denn auch die Schluß⸗ 
Deutung unfers Herm, auf die wir nun noch unſer letztes Augen 
merk zu richten haben. Nachdem der Herr fein Oberfleid wieder aw- 
gelegt, und mit den Seinen aufs neue bei der Tafel fich niedergelafien 
bat, öffnet er abermals den holdfeligen Mund, und fpricht zu ihnen: 
„Wiſſet ihr, was ich euh gethan habe?“ Mit diefer Frage 
deutet er zuvörderft noch einmal auf den tieferen Geheimfinn feiner 
Handlung bin, der freilich durch feine Bemerkung: „Ihr feid reim; 
aber nicht alle,* der Ahnung der Jünger nahe genug gelegt war. 
Sa, e8 mußte vor diefem Worte des Herrn jeder Zweifel verſchwin⸗ 
den, daß es fich hier von einer geiftlichen Reinigung handle. Zugleich 
aber bahnte fich der Meifter duch das „Wiffet ihr, was ih end 
gethan habe“ den Weg zum Folgenden. „Ihr heißet mi Meis 
fter und Herr,“ fährt er fort, und fügt, in majeftätifchen Selb 
bewußtfein ihre kühnften Ahnungen von Seiner übermenfchlichen Ho⸗ 
heit befiegelmd, hinzu: „Und ihr fagt reht daran; denn ich bin 
ed auch.” Dann fpricht er weiter: „So nun ich, euer Herr und 
Meifter, euch die Füße gewaſchen habe, fo follt ihr aud 
einander die Füße wafchen. Ein Beifpiel babe ih eud ge 
geben, auf Daß ihr thuet, wie ich euch gethan habe, Wahr; 
ih, wahrlich, ih fage euch, der Knecht ift nicht größer, 
Denn fein Herr, noch der Apoftel größer, denn der ihn ge 
fandt hat. So ihr Solches wiffet, felig feid ihr, fo ihr’s 
thut.“ Hier ſehen wir alfo das Mufter gebende Moment der Hands 
Iung Jeſu hervorgehoben, Das grumdtertliche Wort, das unfere Ue⸗ 
berfegung „Beifptel* wiedergibt, fchließt übrigens den doppelten 
Begriff des Sinn- und VBorbildes in fih, und deutet alfo wies 
der an, daß wir deſſen Gedanken nicht eben auf der Oberfläche zu 
fuhen haben. Es wird eud) bekannt fein, daß Manche gemeint has 
ben, e8 habe der Herr hier für feine Kirche einen Außerlichen kirch⸗ 
lich ſolennen Akt anordnen wollen. Aber zu diefer Annahme ift nicht 
der allergeringfte Grund vorhanden. Hat fi die vom Herm ms 
pfoblene Zußwafchung auch hin und wieder wirklich zu einer bloßen 
Bormalität entgeiftigt, fo hat der Herr dies nicht verfhuldet. Er 
empfahl in ihr nicht ein leeres Geremoniel, gefchweige einen Deds 


- 


Die dußwaſchung. 73 


mäntel für hierarchiſchen Hochmuth, wozu fie derjenige fich dienen laͤſ⸗ 
fet, von welchem Jemand richtig bemerkt hat, daß er mehr zu be- 
wundern fein würde, wenn er in ungefärbter Demuth einem einzigen 
Könige, ald wenn er, wie jebt geſchehe, taufend Armen die Füße 
wüfche; — fondern e8 empfahl der Herr durch fie den Seinen die in 
wahrbaftiger Selbftwerleugnung auch zu den geringften Dienften ſich 
gern herablaffende, aus Seinem, des Erlöfers, Herzen in das unfere 
überfliegende Bruderliebe. Auch wir follen einander die Füße 
wachen, und, wo Noth und Umftände es fordern, dies auch im buch⸗ 
Käblichen Sinne. Zu feiner Hülfleiftung, und wäre fie die ſchein⸗ 
bar erniedrigendfte, follen wir, nachdem Chriſtus uns darin mit 
leuchtendftem Vorbild vorangegangen, uns zu hoch und zu vornehm 
dünfen. Xiebesthätigfeit, auf wie unfcheinbarem Wege fie immer 
wandfe, erniedrigt nimmer. Sie erniedrigte felbft den Herrn der 
Herrlichkeit nicht; wie denn uns, feine armen Knechte? Vor⸗ 
nehmlich aber follen wir geiftlicherweife dem Vorbilde des Herrn 
entſprechen. Bon Natur find wir fehr geneigt, einander, wie man 
zu fagen pflegt, wohl „den Kopf zu wafchen“, d. h. uns wechfels 
feitig unfere Fehler vorzurüden, und ihrethalben uns einander mit 
Herbigfeit zu richten und zu befchämen. Der Herr aber empfiehlt eine 
Waſchung der Füße, und zwar eine foldye, der die Liebesabficht zum 
Grunde liege, den Bruder von der ihm noch anklebenden Sünde zu 
reinigen und frei zu machen. Es kann freilich auch Dies ohne 
Rambaftmachung der Sünde nicht geſchehen; aber es tft etwas gar 
Anderes, wenn die Demuth, die niemals richtet, ohne zuvor fich felbft 
gerichtet zu haben, Sünden vorhält, und die Barmherzigkeit, die nims 
mer kraͤnken, fondern nur heilen will, Gebrechen aufdedt, als wenn 
Die felbftgerechte Vornehmheit, oder der fplitterrichtende Phariſaͤismus 
dem armen Sünder fein Schuldregifter vorrüdt. Wer in der Weiſe, 
wie der Herr es meint, dem Bruder die Füße wäfcht, ftellt fi) Dies 
fem vorab als Sünder gleich, gehet mitleidig ein in deſſen Schuld, 
deckt ihm dieſelbe mit ebenfo zarter Schonung, als unverholener Of⸗ 
fenheit auf, fchmelzt ihn durch liebevolle Erinnerung an den Reich⸗ 
thum göttlicher Güte, den er mit Undanf vergolten habe, das Herz; 
und nachdem er fo, zur Buße ihn flimmend, die Füße ihm gewas 
ſchen, vergiffet er auch nicht, fie Dadurch auc wieder ihm zu trod- 
nen, daß er ihm den Schleier vom Thron der Gnade hebt, das Kreuz 
von Golgatha ihn wor Augen malt, die Gnade Defien ihm: verkündet, 


714 Der Borhof. 


der auch‘ Gaben empfangen habe für die Abtrünnigen, und ihm den 
Balfam des Evangeliums in die Wunden tränfelt. 

Freilich wafchen wir einander fo die Füße nicht, fo lange wir wicht 
„wiffen, was der Herr uns gethan hat." Das Geheimnig feines 
Kreuzes muß erft uns felber im Lichte des heiligen Geiftes aufge 
gangen fein, ehe wir zu folcher Zußwafchung tüchtig werden. a, 
wir müflen felbft erft im wefenhaften Gegenbilde das e 
fahren haben, was damals im Borbilde Simon Petrus erlebte. 
Ehriftus muß uns felbft erft walchen, oder wir wafchen Nieman 
dem je die Züße in Seinem Sinne. Gehe denn fortan auf Schritt 
und Tritt Sein Wort und nah: „Wo ich Dich nicht wafche, fo 
haft du keinen Theil an mir.“ Dertreibe dafjelbe aus unfere 
Seele alle falſche Sicherheit; gönne es und nicht Ruhe Tag wm) 
Nacht, bis e8 zum Schemel feiner Füße uns niederwarf, und, falls & 
überhaupt uns noch nicht wuſch, auch unferer Bruft den Simons 
ruf entpreßte: „Herr, nicht allein die Füße, fondern auf 
die Hände und das Haupt!” Sind wir aber Seiner Waſchunz 
theilhaftig worden, fo fet die Sprache unfered Herzens eine andere; 
und immer wieder ertöne in unferm Innern das Wort des Sängers: 


Weil ih denn nın an Deinem Leibe 

Ein arm, doch lebend Gliedmaß bin, 

So gib, daß ſtets an Dir ich bleibe, 

Und zeuch mich fündlih zn Dir hin 

Laß mid nicht andre Helfer fuchen, 

Wenn Dein Gefeb mi neu verflagt; 

Der Sünde laß mi ewig fluchen; 

Doch halt! Dein Blut mid unverzagt! Amen. 


— Sf 


vu. 
Das Oftermahl. 





An der Schwelle der Paſſionsgeſchichte fteht fo uͤberſchwaͤnglich reich 
am Gehalt und Bedeutung, wie ſchlicht und unanfehnlich feiner aͤuße⸗ 
ven Erſcheinung nach, das Heilige Bundesmahl, und erſchließt uns 


Seas Oftermahl. 75 


Ueln das innerfte Geheimniß der Marter Jeſu, fondern reicht ung 
h im Voraus ſchon den Inbegriff feiner Segensfrüchte zum Ges 
ar. Bom Herrn felbft zur Reichs⸗ und Familientafel beftimmt, bei 
e hausgenoſſenſchaftliche Einheit feiner Gläubigen nicht allein an⸗ 
ch dargeſtellt, fondern zugleich genährt und getragen werde, hat 
in lauter Liebe getauchte, und nur auf Förderung der Liebe berech⸗ 
dahl in grellftem Widerſpruch mit feiner Beitimmung gerade das 
Haderfeuer angezündet, ja, die Kirche zerriffen und dreifach ges 
» Und wollte Gott, daß wir von einem folchen Unglüd nur als 
nem vergangenen reden dürften! Aber leider! bildet felbft in- 
der evangelifchen Kirche das b. Abendmahl immer noch das Me- 
den Ort des Haders, wo Brüder, mit einem Blut erfauft, mit 
ı Geift getränft, und an einer Heilandshruft gebettet, einan- 
e Gemeinfchaft fünden, und fehmollend, oder gar fid) wechfels- 
verdammend auseinandergehn. Verfchuldet dies das heil. Mahl? 
ne fei es! Verſchuldet's die Schrift mit einer etwa ungenügen- 
ehre von des Mahles Zwed? — Ebenſowenig. Die Schuld 
Diglih) auf das Haupt der fündigen Menfchen, die, flatt in 
t an der Schriftdeutung fid) genügen zu laffen, und der apo- 
en Mahnung 2 Timoth. 1, 13: „ Halte an dem Vorbilde 
eilfamen Worte, die du von mir gehöret haft,* nach⸗ 
I, mit klügelndem Borwig die Grenzen des Schhriftwortes zu 
reiten wagen, und auch da den Schleier des Geheimnifjes lüf⸗ 
müffen meinen, wo Gottes Wort ihn ungehoben ruhen läßt. 
rchliche Einigkeit würde unverfehrt geblieben fein, hätte man 
der wahrhaft weifen Uebereinkunft verftanden, dasjenige als 
Befentliche in der Bedeutung des heil. Abendmahles feſtzu⸗ 
was und das Wort unzweideutig als ſolch es bezeichnet, und 
is wenigftens nicht flreiten, gefchweige fich entzweien zu wollen, 
arer uns zu offenbaren der heiligen Schrift nicht gefallen bat, 
enthält die Schrift überhaupt Beftimmtes und Unzweideuti⸗ 
er des Abendmahls Sinn, Zwed und Bedeutung?” — Unbe⸗ 
‚ geliebte Brüder. Mögen unfre heutige ımd die ihr folgenden 
sungen uns davon überzeugen. Wir gehn auf die Einfekung 
iligen Mahls zurüd, und ſchöpfen fomit unfre Anfchauung von 
ben, unbefangen durch ein menfchlich gefaßtes Dogma, aus der 
le | 


76 Der Vorhof. 


Matth. 26, 29. Marc. 14, 25. Sucas 22, 1418. 

Und da die Stunde fa, fehte er fi) nieder, und bie zwölf Apofel mit if. Und 
er fprach, zu ihnen: Mich hat herzlich verlanget, dies Ofterlamm mit euch zu effen, 
ehe denn ich leide. Denn ich fage euch, daß ich binfort wicht mehr davon eflen werde, 
bis daß erfüllet werde im Reiche Gotted. Und er nahm den Kelch, danlete und ſprach: 
Nehmet denielbigen und fheifet ihm unter euch; denn ich fage euch: Ich werde von 
nun an nicht mehr von diefem Gewaͤchs des MWeinftod6 trinfen, bis daß Reich Gotteß 
— und bis an den Tag, da ich es neu trinken werde mit euch in meineß Vaters 


Was für diesmal unfre Andacht befhäftigen wird, tft nicht ſchon 
das heilige Bundesmahl felbft, fondern nur Einfeitendes und Vorbe⸗ 
reitendes zu deffen Stiftung, aus dem wir aber ſchon ein vorlaus 
fendes Licht über die Bedeutung des Mahles felbft fich werden 
ergießen fehn. Wir vernehmen heute zuerfl, was der Herr zu feis 
nem Saframent verflärte, fodann, in welcher Gemüthsver- 
faffung er zur Einſetzung des heiligen Mahles ſchritt; und 
endlich, welhe Ausfichten er vor deffen Stiftung den Gets 
nen eröffnete 

Begleite und Sein Segen auf unfern Betrachtungsgangel 

1, 
- Der Here hat fein prophetifches Tagewerk vollendet. Der Mei⸗ 
fer Ifraels tritt in den Hintergrund zurüd; der Hohepriefter 
Gottes befchreitet Die Opferftätte. Was er auf der Höhe des Del 
bergs verordnete, ift geichehn. Petrus und Johannes find auf feinen 
Befehl bingeeilt, haben den von dem Meifter aufs genauefte bezeich⸗ 
neten Mann mit dem Wafferkruge beim Eingang in die heil. Stadt 
getroffen, dann, der Spur diefes Mannes folgend, das befreumdete 
Haus erreicht, und den Haushern auf ihre Anfprache: „Der Meifter 
läßt dir fagen: Wo ift die Herberge, darin ih das Ofterlamm eſſen 
möge mit meinen Juͤngern?“ willfährig gefunden, ihnen zu dieſem hei⸗ 
ligen Zwede einen großen gepflafterten Saal in feiner Wohnung zur 
Berfügung zu ftellen. Der Herr felbft folgte fpäter am Abende nad; 
und in dem bezeichneten Gemache ift es, wo wir ihn heute in trau⸗ 
tem Kreife mit feinen Zwölfen vereinigt finden. Das Paſſah⸗ oder. 
Dfterfeft bricht eben an, der Feſte Iſraels höchftes, herrlichftes und 
freudenreichftes; Das eigentliche Geburtsfeft des auserwählten Bundes 
volles; das Feſt, das feit fünfzehn Jahrhunderten gefeiert, alljährlich 
wieder mit neuer Wonne begrüßt ward, durch fein bloßes Dafein die 


Das Oflermahl. 77 


ſchichtliche Wahrheit der einftmaligen Wundererrettung des Samens 
rahams vom Schwerte des Rachengels durch das Blut der Lämmer 
er allen Widerfpruch erhob, als Gedächtnißfeſt diefer großen Bes 
benheit immer wieder zu erneuertem Dank, aber auch zu erneuerter 
engung vor dem Gott der Gnade aufrief, und zugleich mit der Er: 
Mengsbedürftigkeit die Hoffnung auf das dur die Erlöfung in 
zypten nur vorgebildete Heild- und Nettungswunder im Blute des 
theißenen großen Friedensfürften frifchte. Werfen wir zunädft 
f die vorbildliche Thatfache einen flüchtigen Blick zurüd. Der 
angel des richterlichen Gottes war vom Throne der ewigen Majeftät 
tfendet, alle Erftgeburt in Egypten zu fchlagen umd vom Angefichte 
e Erde hinweg zu mähen. Dem Samen Abrahams jedoch wurde 
8 göttlichen Auftrag ein Rettungsmittel an die Hand gegeben, und 
rin daſſelbe beftand, wißt ihr. Jeder einzelne Familienvater follte 
n fehlerlofes Lamm männlichen Geſchlechts von feiner Heerde nehmen, 
ſſſelbe fchladhten, deffen Blut an die Pfoften feiner Hausthür fprens 
a, und dann mit den Seinigen fich ruhig und getroft in feiner Hütte 
Iten. „Das Blut, * ſprach der Herr, „foll euer Zeichen fein an den 
äufern, darin ihr wohnt, daß, wenn ich das Blut fehe, ich vor euch 
ergebe, und euch nicht die Plage widerfahre, die euch verderbe, 
sn ich Egypten fchlagen werde.“ Und es geſchah, wie der Herr 
boten. Wer aber kann in Diefer göttlichen Anordnung die geheim» 
Boolle Bilderfchrift verfennen, die fie im Schoße trug? Wer übers 
et in ihr die ſymboliſche Predigt von der im Rathe Gottes den 
ündern zugedachten ewigen Erlöfung? Wem bleibt e8 zweifelhaft, 
8 das Lamm, an welches die Rettung genüpft ward, Ehriftum, 
n einigen Heiland, bedeutete; des Lammes Schlachtung auf Ehrifti 
hnendes Leiden und Sterben für Die Sünder himüberzielte; die Bes 
rengung der Zhürpfoften mit der Lämmer Blut die den gläubigen 
ändern widerfahrende göttliche Zurechnung der Berdienfte des gro« 
n Bürgen abfchattete, und die fichere Geborgenheit der der Veran⸗ 
tung Gottes. in findlicher Einfalt ſich beugenden Iſraeliten nur die 
Ulonmmene Begnadigung wiederfpiegeln follte, welche der Ewige fort 
d fort Allen, die der Heilsorduung der Buße und des Glaubens in 
enuth fich unterwerfen würden, umfonft, und lediglich im Hinblid 
f Das vermittelnde Blut des Gotteslammes würde zu Theil werden 
Ten? — Diefe große finnbildliche Heilsverkündigung hallte alle die 
ihrhunderte ununterbrochen, und zwar dadurch in Sfrael fort, daß 


78 Der Border. 


in Folge gotwerordneter Stiftung das Wunder Egyptens altjährfid 
am Paflahfefte dem Volke wieder lebhaft vergegenwärtigt wurde. Da 
fahen fie die Lämmer, dieſe bedeutfamen Vorbilder des erhofften Get 
tesfammes, wieder zur Schlachtbant führen. Da ermeuerte ſich Ange 
fihts des firömenden Bluts derfelben mit dem Dank für Die erfe 
Verſchonung die vorbildliche in Egypten, die freudige Hoffnung auf 
die andere, die wefenhafte, der man entgegenhartte. Da rief man 
fi) wieder mit verftärfter Zuverficht einander zu: „Er wird unfehlbar 
kommen, der unfre Krankheit auf fich nehmen wird; denn bier haben 
wir des Wahrhaftigen in der Höhe Siegel und Unterpfand.“ Und 
indem man nach vollgogener Opferceremonie das Oſterlamm im feſt⸗ 
fichen Familienkreis verzehrte, freute man fich, ſelbſt auch auf dem ver 
fchleierten Grunde diefes unfcheinbaren häuslichen und finnlichen Altes 
wieder einen göttlichen Gedanken, und zwar den anzutreffen, Daß eine 
gläubige Aneignung und Hinnahme deffen, was Gott den Sünden ia 
Chrifti Blut bereiten werde, die einzige Bedingung bilden folle, an 
welche die Betheiligung an dem großen bis in die Ewigkeit hinũuber⸗ 
reihenden Gnadenſchatz genüpft fein werde. 

Brüder, wir haben das Moment entdeckt, an welches Ehriftus feine 
Abendmahlsftiftung anſchloß. Das Oftermahl iſt's. Das Wörklein: 
„anſchloß“ befagt hier jedoch zu wenig. Wir bezeichnen Die Sache 
richtiger, wenn wir fagen, Chriftus habe das moſaiſche Paſſah⸗ oder 
Erlöfungs Mahl zu feinem Saframente verflärt. Eine fehr irrige 
Anfchauung liegt der Nedeweife zum Grunde, welche das alte Teſta⸗ 
ment durch das neue „abgefchafft” oder „befeitigt“ nennt, Ads 
geſchafft ift aud nicht der unfcheinbarfte Theil des mofaifchen Ritus 
und Geremonials, fondern Alles vielmehr nur aus dem Zuftande des 
Schattenhaften und Borbildenden in's wirflihe Sein md 
Weſen aufgehoben, Dies ift der Sinn des Ausfpruchs Chriftt: „Ihr 
folt nicht wähnen, daß ich gekommen bin, Das Geſetz oder die Bros 
pheten aufzulöfen. Ich bin nicht gelommen, aufzulöfen, fondern zu 
erfüllen. Denn wahrlich, ich fage euch: bis daß Himmel und Erde 
zergehe, wird nicht zergehn der Meinfte Buchſtabe, noch ein Strichleln 
vom Geſetz, bis daß es Alles geichehe.” So wie die Blüthe am 
Baum feine Vernichtung erfährt, fondern welfend nur in die Frucht 
fich aufhebt, und in diefer ein wefenhafteres Leben fortlebt; in glei⸗ 
cher Weife hatte Alles, was im alten Bunde al8 Schatten und Typus 
auftrat, Die göttliche Beftimmung, im neuen Realität anzuziehn und 


Das Oftermahl. 79 


ch zu verkörpern, Die altteftamentliche Priefterfigur z. B. wurde 
a Ehrifto wirklich; wirklich wurde in Ehrifti Tod das Sühn- 
pfer der alten Hütte; es fand fein wejenhaftes Gegenbild das ganze 
witiſche Beiprengungs-, Waſchungs⸗ und Reinigungsritual in der Reis 
kung durch Chriſti Wort, Blut und Geift. Ja, nicht das Geringfte 
m mofaifchen Schattenwerk ſank als taube Blüthe hin oder blieb 
serer Schattenrig und umerfülltes Bild. Es verleiblichte fih Als 
es. Das Puppengefpinnft zerriß; der Zwiefalter ftieg daraus empor. 
Fin merfwürdiger und glaubensftärtender Umftand dies! Das ganze 
Frlöfungswert Chriſti erfcheint fomit Akt für Akt nur als die lebens, 
olle Ausführung und Verwirklichung eines fchon Tänger als taufend 
Jahre zuvor dem Volke Ifrael, und in diefem der ganzen Welt, vor 
(ngen geftellten Modells und Bilderchklus. Kann dies Zufall fein 
der auch nur Einfädelung menfchlich Eluger Berechnung? Unmöglich! 
Zier waltet der lebendige und perfönlihe Gott! Hier if Sein 
Plan, Sein Bert, Sein Thun. Wer dies bezweifelt, bezweifelt 
rei hellem Tage das Dafein der Sonne. Gott begegnet uns verhüllt 
we in der Natur; im Zufammenbange feiner Offenbarung das 
jegen aller Schleier und Deden baar und ledig. Schließt für eine 
Zeitlang nur einmal in den Bibelbau euch ein, und ſchickt wiederholt 
yerzinnige Seufzer um göttliche Erleuchtung hinauf zur Höhe: und ohne 
Unterlaß werdet ihr in dem heiligen Bibel »Zempel von dem: „Hie 
yin Ich, hie bin Ich,“ euch umklungen hören, und des Entdedens 
seuer Wunder und Herrlichkeiten wird für euch fein Ende fein, 
2 


Bie nun die Rettungsgefchichte in Egypten an dem blutigen Vers 
ſoöhnungswerke felbft, fo fand das. göttlich verordnete Oftermahl 
m dem beil. Abendmahle fein erfülltes und wefenhaftes Gegen⸗ 
id. — Kommt nun, und fehet! Der Tifch zu Jeruſalem ift bereitet, 
und Alles, was das Feftmahl erfordert, aufgetragen. So eben kam 
der geheimnißvolle Alt der Fußwaſchung zu feinem Schluß, und nun 
Darf Das Brod gebrochen, die Speife genommen werden. Die Jüns 
ger find tief bewegt. Der Meifter, der feinen Brüdern „in Allem 
sleich ward, ausgenommen die Sünde, * und in deffen Bruft ein menſch⸗ 
lich, tiefinnig mit uns armen Adamskindern ſympathiſirend Herz fchlug, 
iſt es nicht minder. Er fieht das Paflahlamım vor fich ftehn, und in 
demſelben — fein eigen Bild. Er tft „das Lamm Gottes, das 
der Belt Sünde trägt", wie er als foldyes gleich zu Anfang ſchon 


80 Der Vorhof. 


durch feinen Vorläufer fich hatte ankündigen Iaffen. Zum erneuerten 
Zeugniß, daß Er es fei, hatte er an demfelben Tage, ar welchem 
die Ofterlämmer in die heilige Stadt eingeführt zu werden pflegten, 
auch feinen Einzug in diefelbe gehalten. — Nachdem man ſich dem 
wieder an der feftlichen Tafel niedergelaffen, beginnt er mit der Stimme 
inniger Zärtlichkeit: „Mich hat herzlich verlangt, Dies Dfter 
Nlamm mit eud) zu effen, ehe denn ich leide.“ O, beachtets, 
welch' einen Blick Er uns bier in das Heiligthum feines Innern thm 
läßt. Ihn hat „herzlich verlangt,“ mit ihnen noch dies Mahl zu 
halten. Aus welchem Grunde doch? — Allerdings wollte Ihm auf) 
das ſchon lieblich und füß erfcheinen, die legten Stunden feines Les 
bens in der Sneditsgeftalt, von den Miptönen des Unglaubens ent 
fernt, und dem Getümmel der verneinenden Welt entnommen, im fried® 
lichen Kreife feiner Einverftandenen , Diefer feimenden Saat feine 
Kirche, verbringen zu können, Auch das fehon hatte ihn lockend und 
tröftlich gedeucht, den Schluß feines nunmehr vollendeten Laufes im 
Scoße der Liebe, in der Gemeinfchaft feiner Vertrauten feiern, und 
Dann in ungeftörter, feftlicher Weife mit denfelben feinen Abfchied ma 
chen zu dürfen. Aber denkt nicht, hierin den Grund feines Berlaw 
gens ſchon erfchöpft zu haben. Hütet euch überhaupt, dem Herm ir 
gend etwas von jenem kränkelnden Wefen zuzufchreiben, was wir Sew 
timentalität oder Empfindfamfeit zu nennen pflegen. Wie in Ihm 
Alles gefund, und voller Kern und Energie war, fo war Ihm auf 
unfre fehwächliche Gefühligkeit, unfer egoiftiiches Selbftergößen in weis 
chen, träumerifchen Empfindungen etwas völlig Fremdes. Was fo hery 
lich Ihn nach diefem legten Oſtermahl verlangen gemacht, war alles 
dings die Liebe, aber nicht Die Liebe, die genießen will; fondern 
diejenige, die wohlzuthun, zu erfreuen und zu fegnen brennet. 

Sein auf dies letzte Oſtermahl gerichtetes Verlangen entftieg vor 
nehmlich feinem fehnlichen Begehren, daß die Stunde gelommen fein 
möchte, da er unferm Zluchitande ein Ende machen, und die Hands 
fohrift, Die wider uns war, an's Holz nageln könnte; und fodann freute 
Er ſich Tängft fo herzinnig auf dieſen ftillen Abend als auf Den Zeit 
punkt, da es Ihm vergönnt fein werde, in der beabfichtigten, geheim⸗ 
nißpollen Stiftung zu Gunften feiner Lieben gleichfam fein Teftament 
zu machen, und unter Zuftimmung feines himmlifchen Vaters auf fie 
die Früchte feines verföhnenden Lebens, Leidens und Sterbens zu vers 
erben. Mit einem Worte: um des alsdann einzufegenden Abends 


Das Oftermahl. 8 


mahls willen hatte er ſich fo lebhaft und herzlich nad) dem Eintritt 
dieſer letzten Pafjahfeier gefehnt. Als Iodendes Denkbild ftand diefe 
Gründung feiner Liebe feit Jahren fehon vor feiner Seele. Ermeſſet 
bienach die hohe Bedeutung, die diefer heiligen Stiftung zu Grunde 
fiegen muß. Nein, ein Aft, in dem es nur auf Anordnung einer wies 
derlehrenden freundichaftlichen Erinnerungsfeier abgefehn geweien wäre, 
hätte für das Herz des Sohnes Gottes nimmermehr der Gegen 
fland eines fo tiefen, heißen und durchhaltenden Verlangens werden 
föunen. Das „mich bat herzlich verlangt * reicht allein fchon 
bin, wicht blos die rationaliftifche, fondern auch des fonft fo theuer⸗ 
werthen Zürcherifchen Reformators Anficht vom beil. Abendmahle zu 
widerlegen. Das „mich hat herzlich verlangt“ drüdt an und für 
fh ſchon dem heil. Mahle den Stempel eines göttlichen Geheim⸗ 
niffes, eines Sakramentes auf, — D Du, mein Herr und Hel- 
land, fo innig alfo fehnte Dein Herz fid) nach dem Momente, da Du 
dieſes Bermächtniß Deiner LZeutfeligfeit uns Sündern überweifen könn⸗ 
tet? Selbit die graufige Todesnacht, die bald damad) Dich umſchat⸗ 
ten follte, ließ diefer Gedanke der Erbarmıng Dich überfehen?! — — 
Ad, wie Du uns geliebt haft; geliebet „bis an das Ende!” — Und 
wer liebt Dich wieder, und fchäßt das Gefchen? Deiner Gnade nad 
Gebühr, ımd dankt Dir, wie ſich's ziemte, für das uns zugedachte 
sehe Erbefl — — O Herr, wie tief find wir entartet, verkommen 
und verloren! Erbarme Dich unfer, o Zefu, und fchaffe ein „Neues“ 
in uns nad) Deiner Berheigung! — 
3 


An das Wort: „Mid hat herzlich verlangt," nüpft der Hat 
nun zunächit ein anderes, und zwar ein Wort von prophetifcher Na- 
tur, dem er bald darauf ein zweites gleicher Gattung folgen läßt. 
„Denn ich fage euch,* fpricht er: „daß ich hinfort nicht mehr 
Davon effen werde, bis daß erfüllet werde im Reihe Gots 
tes." — „Wir ſcheiden,“ will er fagen. „Unſer Verhälniß zu ein- 
ander wird fortan ein anderes, ein neues. Aber wir werden uns wies 
derfehn, und dann auch wieder zufanmen zu Zifche fien.* „Wann ?* 
fragen wir wißbegierig und gefpannt; und fragen weiter: „Was iſt's, 
Das dem Herm, über den ZTrennungsfchmerz Ihn erhebend, bier vor 
Dem Geiftesauge fchwebt ?! — In ein fern Zulünftiges ſchaut fein 
Did hinaus. Hört ihn: „Ich werde hinfort nicht mehr: das 
von effen, bis daß erfülllet werde (mas? Natürlich Das Paflah) 

6 


82 Der Vorhoſ. 


„im Reiche Gottes.“ — Der Herr weiß, was er fagt, und fickt, 
auf was er zielt, mit frohlodendem Geifte Har und in beftimmtien 
Umriffen vor fih. Uns dämmert etwas nur davon fernher entgegen; 
aber auch ſchon das reicht hin, um von des Herrn Freude einen 
Wiederſchein auch in unfer Herz hinein zu leiten, Das Paffahmakl 
des alten Teftamentes hat, nachdem es zum Abendmahle fich verklärt, 
feine fhlieglihe Erfüllung noch nicht gefimden. Es weift yes 
phetifch noch auf ein Weiteres, und fogar Größeres und Herriis 
heres hinüber. Es fteht in Zukunft ein Felt der Verſöhnten und 
Griöfeten bevor, zu welchem auch unfre gegenwärtige Communion 
wieder nur wie Abbild zum Wefen, oder doch wie Borfhmad 
zum Bollgenuß ſich verhält. Wenn dieſes Feſt gefeiert werden wird, 
wird der Glaube dem Schauen, das Stüdwer? dem Vollkommenen, 
der Sünderftand der vollendeten Heiligung, und der Kampf und Streit 
dem andauernden Triumph gewichen fein. Diefes durch nichts meh 
unterbrochene Jubelfeſt füllt mit der Fertigung und Vollendung des 
Neiches Gottes, fo wie mit der Verklärung der Natur, in einen 
Moment zufummen, An die Stelle unfres Abendmahls tritt dann & 
was Neues. Worin daffelbe beftehen werde, darnach fragt mich nicht. 
Gewiß aber ift, daß der Herr mit dem „Ich eſſe binfort nicht mer 
mit euch von diefem Paſſah, bis e8 erfüllet werde“, nicht blos fagen . 
will: „Bis wir miteinander der vollendeten Herrlichkeit meines Reicht 
und feiner Genoffenfchaft uns frenen werden.” Zur Auflöfung feines 
Ausſpruchs in eine ſolche Allgemeinheit find wir nicht befugt. Die Au 
drucksweiſe, deren er ſich bedient, leidet ſchon Diefe Deutung auf ein 
unbejtimmtes Geiftige nicht; und vollends widerftrebt derfelben der 
Zufag, mit weldyem der Herr fpäter jenes Wort ergänzt. Zum Ritual 
des Oſtermahls gehörte es, daß bei Demfelben vier Becher herumge⸗ 
reicht wurden, welche ſich auf die vier verheißungsreichen Worte in 
der göttlichen Ankündigung des Rettungswunders in Egypten begiehen 
follten; auf die Worte nämlich: „Ich, Schova, will euch ausfühs 
ten, — erretten, — erlöfen, — und eudh annehmen zum 
Volk als euer Gott!" — Nah Darreihung eines diefer Becher 
bei dem trauten Mable zu Jeruſalem, wahrfcheinlich des erften der 
viere, der mit dem Abendmahlsbecdher, deffen im zwanzigften Verſe 
unfered Zertcapiteld erſt Erwähnung geichieht, nicht zu verwechfeln 
it, fprady der Herr: „Sch fage euch aber: ich werde von un 
an nicht mehr von Diefem Gewächs bes Weinftods trinken, 


Das Oftermahl. :83 


bis an jenen Zag, da ich ed neu mit euch trinken werde in 
meines Vaters Reich. — Was bedeutet diefer geheimnißvolle Aus: 
ſpruch? DBefagt er nur: „Ofterwein trinke ich nicht mehr mit euch; ich 
werde aber einft in meiner triumphirenden Kirche dasjenige, was der 
Bein bedeutet, die Himmelsfreude, im volliten Maße mit euch ges 
nießen? — Unmöglic kann der Herr gewollt haben, daß wir den Sinn 
feines fo eigenthümlichen, und mit dem feierlichen: „Ich fage euch“ 
eingeleiteten Berheißungsworted alfo verallgemeinerten und verflüchtig- 
ten. — „Aber follte denn im vollendeten Chriftusreiche auf Erden 
einft wieder etwas Aehnliches, wie unfer Abendmahl, für und bereitet 
fein, wobei, etwa wie weiland vom Baum des Lebens im Paradiefe, 
aufs neue gegeffen, und, wie aus den Quellen Edens, aufs neue 
getrunken würde?” — In der That fcheint der Herr hier auf der Art 
Etwas hinzudenten, wenn auch das Was, Wie und Wozu Ddiefer 
zufünftigen wunderbaren Speijung und Tränfung, zu der die vers 
Härte Schöpfung die Elemente hergeben wird, uns einflweilen ein 
verfiegeltes Myfterium bleibt. 

Genug, der Heiland bezeichnet hier unzweifelhaft das Paſſahmahl 
des neuen Bundes, in welches er eben das vorbildliche des 
alten verklärend aufhebt, wieder als Vorfeier eines großen Fries 
dens⸗ und Jubelfeſtes, das feiner Gläubigen in der Zuhunft des Rei⸗ 
ches Gottes harre. Was unfer Mahl zu einer folhen Vorfeier er⸗ 
bebe, wird ſich im Berfolge unfrer fernern Betrachtungen über daſſelbe 
berausftellen. DO, daß es in jener Eigenfchaft der Erfahrung Aller, 
Die ihm nahen, fid) fund thun, und namentlich auch euch, die ihr noch 
in Diefer Morgenftunde ihm zu nahen euch anfchidt, zu dem Rufe 
des Entzückens veranlaffen möchte: „Hier ift nichts Anderes, denn 
Gottes Haus; hier ift Die Pforte ded Himmels!” Sicher gefchähe dies, 
wo ihr nur recht hungernd, duͤrſtend und kindlich gläubig kaͤmet. Ein 
einziger Gang zur heiligen Communion lehrete von deren Weſen 
uud Beſtinmnung alsdann euch mehr, als hundert theologiſche Lehr⸗ 
vortraͤge. Auch ihr verließet die heilige Stätte mit dem Jubelllang 
des 23ften Pfalms im Herzen: „Du bereiteft vor mir einen 
Tifch Angefichts meiner Feinde; Du falbeft mein Haupt 
mit Del, und ſchenkeſt mir voll einz“ und machtet die Worte 
des Dichterd zu den euern: 

3% kann fhom hier empfinden 
Des Himmel Wonn und Erend. 


84 _ Der Borbef. 


Einft wirft Du mid) entbinden 
Bon aller Eitelfeit. 

Laß mid) dad Ziel erlangen, 

Da, Jeſu, ih und Du 

Auf ewig und umfangen 

In ſel'ger Herzensruh'. — Amen. 





VIII. 
Die Abendmahlsſtiftung. 


Als eine der geheimnißvollſten Geſtalten der Urgeſchichte des Re 
ches Gottes begegnet und, dem Monde vergleichbar, der durch Wollen 
bricht, (1 Mof. 14, 18) Melchiſedek. Prieſter und König in einer 
PBerfon, Herr über Salem, die „Stadt des Friedens“, vaterlos, mutter 
108 und ohne Gefchlecht (d. h. des für den Aaronitifchen ‘Priefter ument- 
behrlichen Nachweifes feiner Abftamnumg, in der biblifchen Urkunde wes 
nigftend, ermangelnd), ohne Anfang der Tage und ohne Ende Des Lebens 
(fofern nemlich weder des einen noch des andern in der mofaifchen Er⸗ 
zählung gedacht wird), fteht er da ald der merkwürdigften und hervorra⸗ 
gendften Typen des zukünftigen Meſſias einer. Schon der 110. Pfalm 
fchaut ihn aus diefem Gefichtspunfte an; und welch’ ein helles Licht 
der Hebräerbrief im Tten Kapitel über jene „dem Sohne Gottes vers 
glichene” hieroglyphiſche Erfcheinung und verbreitet, muß euch ja bes 
kannt fein. Das Vorbildliche in der Berfon Melchiſe deks befchränft 
fid) aber nicht blos auf die eben angegebenen Züge, fondern dehnt 
fih bis auf das Verhältniß aus, in welches wir ihn zu dem aus dem 
Kampfe mit Kedor Laomer und deſſen Bundesgenoffen fiegreich wieders 
Tehrenden Abraham fich ftellen fehn, Er tritt dem Vater aller Gläus 
bigen im Weichbilde Salems huldvoll entgegen, ertheilt, als der Groͤ⸗ 
Bere, denn Abraham, Diefem, und in ihm deffen Samen, feinen 
priefterlihen Segen, reicht ihm Brod und Wein zur Stärkung und 
Erquicung dar, und Abraham entrichtet ihm den Zehnten von aller 
feiner Beute, Wie beziehungsreich ift diefes Alles! Wie bedeutſam 
fehen namentlich Die jedenfalls als Symbole aufzufaffenden Elemente 
des Brodes und des Weines in der Hand des Priefterföniges uns 





% 


Die Abendmahlmiftung. > 5 


an! Ihrem nächften Sinne nach bedeuten diefelben allerdings nur im 
Allgemeinen die Schaͤtze des Friedens und der Freude, weldye der 
vahre Melchiſedek der Menfchheit bringen werde. In ihrem tie 
eren Gehalte aber jehen wir fie bis auf das Opfer des Leibes und 
Blutes Chrifti, und ſchließlich gar bis auf das heilige Abendmahl, 
m welchem dem geiftlichen Abrahamsfamen der gefreuzigte Leib und 
das vergofiene Blut des wahren Hohenpriefterd als Speife und Trant 
des ewigen Lebens dargereicht werden follte, hinüberztelen. Alfo ſchon 
an der Schwelle der göttlichen Reichsgeſchichte ein Vorbild unferes 
Sakraments! Wie hoch heißt fchon dieſer Umftand von des Sa⸗ 
kramentes Beitimmmg, Sinn und Zwed und halten! 


Matthãus 26, 26 u. 27. Marcus 14, 22—24. Sucas 22, 19 u. 20. 
Da fie aber aßen, nahm Iefus dad Brod, danfete, und brach es, und gab es ben 
Jängern, und ſprach: Nehmet, effet, das ift mein Leib, ber für euch gebrochen und 
gegeben wird; dad thut zu meinem Gedäaͤchtniß; deſſelbigen gleichen nahm er auch 
ven Kelch nach dem Abendmahl, und danfete, und gab ihnen den, und ſprach: 
Arinfet alle daran, | 
So thut fih denn das Heiligthum felbft vor ums auf, auf def- 
fen Borftufen wir mit unferer Teßten Betrachtung ftehn blieben. Die 
Schuhe von den Füßen! Der Drt, den wir betreten, ift heilig Land! 
— Ber, wen er’s nicht ſchon wüßte, follte glauben, daß Die eben vers 
fefenen, einfachen und unfcheinbaren Worte, in einem noch unfcheins 
bareren abendlichen Freundeskreiſe gefprochen, die Stiftungsurkunde 
einer Feier enthielten, welche, von Sahrhundert zu Jahrhundert fich 
vererbend, ganze Völker und Reiche mit deren fcheinbar für die Ewig⸗ 
keit gegründeten Staatsordnungen und Religions » Berfaffungen übers 
danern, und bis an’s Ende der Tage in zufehends ſich erweiternden 
Kreifen erhalten würde? Und doch hat fih’s fo. Wer kann darum 
noch zweifeln, daß wir es hier mit göttlich gebieterifchen, ja, mit 
ſchoͤpfimgskraͤftigen Worten des Königes aller Könige zu thun haben? 
Jene Worte felbft, und noch nicht der durch fie in's Leben gern⸗ 
fenen Stiftung Weſen und Sinn, mögen unfrer heutigen Betrachtung 
zum Grunde liegen. Wir verweilen mit unfrer Erwägung guerft bei 
ihrer Form; und fchauen dann die Handlungen an, die der Herr 
mit jenen Worten begleitete. 
Führe und der Geift des Heren in alle Wahrheit, und entfiegle € er 
ums ſelbſt Das erhabene Geheimniß, vor dem wir flehn! 


86 . Der Borhel. 


1. 

Das Dftermahl in dem trauten Freundeshanfe zu Jeruſalem iſt a 
nau nach ifraelitifhem Brauch gehalten, dad Lamm mit 
Gemüth von den Güften verzehrt, und der Feitbecher nach herkoönn⸗ 
licher Sitte zu verfchiedenen Malen herumgereicht. So wäre num be 
Moment gefommen, da unter Anftinmung des großen „Hillel”, ode 
Pſalmlobgeſanges die Tafel aufgehoben, und den Gäften hiedurch dab 
Zeichen zum Aufbruch und Heimzug ertheilt werden müßte. Was abe 
ereignet fich ftatt deſſen? Der Meifter, auf dem Aller Blicke gerichtet 
find, erhebt fich allerdings von feinem Sitze, aber nicht, wie man 
bald bemerkt, um den Saal zu verlaffen, fondern um einen nenen, 
noch feierlicheren Akt, als das Paffahmahl, einzuleiten. Er nimmt 
bausväterlich aufs neue dad Brod, bricht's, gibt's nad) vorbergegans 
gener Dankfagung feinen Jüngern, und ihr kennt die Worte, mit des 
nen er diefe Handlung begleitete. Dann reicht er ihnen ebenfo den 
Kelch, gebeut Allen, daraus zu trinken; und was er bei Diefem Alte 
fprach, wißt ihr gleichfalls. Die Apoftel werden und im Himmel einſt 
Davon erzählen, wie in dieſen Augenbliden feine ganze Haltung eine 
feierlichere geworden fei, feine Stimme fi) wunderbar gehoben, und 
fein Auge in hellerm Glanz geleuchtet habe, denn zuvor. Zugleich 
aber werden die Verflärten Dann auch den befriedigendften Auffchluß 
Darüber ung ertheilen, aus welchem Grunde fie und die Einſetzungs⸗ 
worte ihres Meifters nicht in vollftändig übereinftimmender Form und 
Fafſung überliefert haben. — „Das hätten fie wirklich nicht?” Nein, 
Freunde. Bei Matthäus und Marcus fpricht der Herr beim Brechen 
des Brodes: „Nehmet, efjet, das ift mein Leib, der für euch gege⸗ 
ben wird, das thut zu meinem Gedächtnig. — Nach Paulus 1 Cor. 11 
fprady er Daffelbe; bediente fi) jedody ftatt des „der für euch gege- 
ben,* des Ausdruds: „der für euch gebrochen iſt.“ Bei Matthäus 
fpricht er bei Darreichung des Keldhes: „Zrinfet Alle Daraus; demn 
Das ift mein Blut, das des neuen Zeftaments, welches vergoffen wird 
für Viele zur Vergebung der Sünden.” — Bei Marcus fehlt fowol 
Das „Trinket Alle daraus,“ als das „zur Bergebung der Süns 
Den." — Lucas läßt den Herrn fagen: „Diefer Kelch ift das neue 
Teftament in meinem Blute, das für euch vergoffen wird.” Paulus 
zwar ebenfo; Doch läßt er den Herm hinzufügen: „Soldyes thut, fo 
oft ihr's trinket, zu meinem Gedächtniß.“ — Dffenbare Verſchie⸗ 
Denheiten alſo, wenn auch nichts weniger, als Gegenfäge und 


Die Abenpmahlsfiftung. 87 


Bideriprüde Wie hat man fid) aber diefes Variiren der vier Ber 
richterftatter zu erklären? Es find darüber, wie ihr denken könnt, feit 
achtzehn Jahrhunderten der Bermuthungen nicht wenige aufgetaucht. 
Gegen die, unbegreiflicherweife fugar von manchen Gläubigen getheilte, 
Annahme, als habe der eine und andere der vier Berichterftatter fich 
verthan, und nicht mehr mit vollitändigfter Genauigkeit auf den Wort- 
laut der Rede Jeſu fich befinnen können, muß ich als wider eine Er- 
findung des Unglaubens, oder doch der Glaubensſchwäche pro- 
teftiren. Die Apoftel wurden bei Abfaffung ihrer heiligen Schriften 
vor jedem Irrthum bewahrt. Hatte ihnen doch ihr Herr und Meifter 
die ausdrüdliche Verheißung gegeben, daß der Tröfter, der heil. Geift, 
fie in alle Wahrheit leiten, und alles deffen fle erinnern werde, das. 
er zu ihnen geredet habe, Und diefer Geift follte bei einer fo gewicht: 
vollen Sache, wie die Anordnung unferes Saframentes, jenes feines 
Amtes gefehlt, und nicht vielmehr deffelben grade hier aufs pünkt- 
fichfte gewartet haben? Glaube dies, wer da wolle, ich werde es nim⸗ 
mer glauben. „Aber die Abweichungen,” wendet ihr ein, „find num 
doch einmal vorhanden; und wie willft du ihre Ausgleihung erzielen?” 
Brüder, nicht einen Augenblid ift mir's zweifelhaft, daß der Herr die 
Horte, welche die vier Berichterftatter ihm in den Mund legen, auch 
ſaͤmmtlich gefprochen babe, und daß die vier Zeugen ſich in ihren 
Darftellungen uur wechfelweife ergänzen. — Aber wie fprad) denn 
nun der Herr? Sagte Er: „Dies ift mein Leib, für euch gegeben, 
oder für uch gebrochen?" Sagte Er: „Diefer Kelch ift das Blut 
Des neuen Zeflaments;” oder: „Diefer Kelch ift Das neue Te⸗ 
flament in meinem Blute?“ Sprach Er: „Das Blut, das für 
euch;“ oder „das für Viele vergofien wird?" — Ich lebe der lie 
berzeugung, daß er bei Austheilung des Brods und Darreichung des 
Kelchs mehrmals Die Einfegungsworte wiederholte, und fie bald in 
diefer, bald in jener Faſſung ausſprach. — Freilich war es nicht 
gleichgültig, daß wir in diefer Sache unfern Fuß auf ficheren Bo⸗ 
den ſetzen, und mit vollfter Beitimmtheit jagen fomıten: „Dies 
ſind die urfundlichen Stiftungsworte des Herrn in ihrer authentifchen, 
d. i. rechtögültigen, weil vom Herm felbft herrührenden, Zufammen- 
faffung! Dies ift ihre wefentliche Grundſubſtanz; dies Die heilige 
Formel, die für alle Zukunft nad) dem Willen unſres Meiſters ſelbſt 
die ſtehende bleiben, und bei der Feier des heil. Abendmahls immer 
wieder verlauten fol" — Um mm aber ſolchem Beduͤrfniſſe feiner 


88 Der Borhof. 


Kirche auf Erden wirklich zu entfprechen, hat der Herr nachmals bie 
große Gnade gehabt, in einer unmittelbaren Offenbarung feinem Apoftel 
Paulus eine unzweideutige Eröffnung über die Einfeßungsformel ſei⸗ 
nes Saframents zu ertheilen. Hört den Apoftel 1 Corinth. 11: „Ih 
habe es,“ fpricht er, „von dem Herm empfangen, das ich euch tiber 
liefert habe; nemlich diefes: „daß in der Nacht, Da er verrathen 
ward, nahm er das Brod, dankete,“ — — und wie es weiter heikt, 
Ganz unverkennbar bezeugt hier der Apoftel, daß er nicht etwa aus 
Mittheilung anderer Jünger, fondern direkt und umvermittelt von dem 
Herrn feine Belehrung über die Einfegung des heil, Abendmahls er 
halten habe. Das Wefen der Einfegungsworte findet denmach ſei⸗ 
. nen Ausdrud beim Brode in der Formel: „Das ift mein Leib, der 
für eud gebrochen wird; Solches thut zu meinem Gedädt: 
niß;“ — und beim Kelche in diefer: „Diefer Kelch ift Das nene 
Teftament in meinem Blut; Solches thut, fo oftihrs trin- 
tet, zu meinem Gedächtniß.“ 


2, 


Dies über die Form der heil. Einfeßungsworte. Werfen wir nun 
einen Blick auf Die Handlungen, die der Herr mit jenen Worten bes 
gleitete, Zuerft Iefen wir: „Der Herr nahm das Brod.“ Merkt, 
Brod nahm er, und nicht etwa Fleiſch vom Oſterlamme. Letzteres 
ſchon darum nicht, damit er feinerlei roh-finnlichen Vorftellungen vom 
heil. Abendmahle, wie dergleichen 3. B. ſchon in Capernaum aufs 
tauchen wollten, irgendwie Vorſchub Teiftete, und von vornherein dem 
Irrthume begegnete, als bleibe auch im neuen Teftamente noch Raum 
für das Opferwefen der alten Hütte, welches ja in Ihm als ein kraft⸗ 
Iofes Schattenwerf zu feiner vollen Endfchaft gediehen war. Das 
Brod, das er nahm, war das ungefäuerte Ofterbrod; in welchem 
Umftande jedoch ficher nicht ein Winf für die fpätere Wahl des ſa⸗ 
Iramentlichen Elementes Tiegen follte, Die erften Ehriften, Die Apos 
ftel an ihrer Spitze, bedienten fich bei ihrer Communion, welche fie faft 
täglih am Schluffe ihrer gemeinfamen Liebesmahle zu feiern pflegten, 
des gewöhnlichen, das heißt des Brodes, das fie über Zifche 
aßen, alfo des gefänerten. Brod nahm der Herr, diefes und un⸗ 
entbehrlichfte aller Nahrungs und Erhaltungsmittel; diefes durch die 
gewaltfamen Prozeſſe des Drefchens, Mahlens, Knetens und Backens 
aus ber Foftbarften Frucht der Erde gewonnene PBrodult, welches ein 


Die Abendmahldſtiftung. 89 


fo überaus treffendes Bild Desjenigen abgibt, ohne Den wir 
fein Leben haben nach dem Geift, fondern dem ewigen Tode ver- 
fallen find, — „Aber das Brod nur ein Emblem, ein Bild — 
Nun, werdet ihr in Abrede ftellen wollen, daß wir die Elemente des 
Abendmahls zunächft als Zeichen, Symbol und Bild zu faſſen 
Haben? Wolltet ihr’s, fo müßtet ihr das Wort des Herm Joh. 6 
überhören: „Ich bin das wahrhaftige Brod vom Himmel gekommen, 
und gebe der Welt das Leben,“ und wie mandye feiner Worte fonft. 
Ja wohl, jenes „Waizenkorn“ Gottes, das, Damit e8 nicht alleine 
bliebe, fondern viel Frucht brächte, in die Erde fiel, und durch Die 
Gethfemanesglut und das Kreuzesfeuer zur Seelenfyeife der armen 
Sünder bereitet ward, fpiegelt fich, wie die Sonne in einem Thaues- 
tropfen, in dem Nachtmahl sbrode, und wird durch daffelbe zunächt 
uns vor Augen gemalt und repräfentirt. — Nachdem der Herr das 
Brod genommen, hob er feine Augen gen Himmel, und „dankete,“ 
d. h. ergoß fich in lauter Lobpreiſung feines himmlifchen Vaters. Für 
was dankte er? O Brüder, für was Anderes doch, als für den Rath⸗ 
fhluß der göttlichen Erbarmung, für unfre, der armen Sünder, Erloͤ⸗ 
fung, die er im Geifte fchon in feinem Blute vollendet fah, und für 
der fluchmwürdigen Adamsfinder Errettung aus des Teufels Gewalt 
wnd aus der Hölle Rachen? Waren wir c8 doch, wir fluchwürdi- 
gen Nebellen, auch du und ich, die Ihm Tag und Nacht auf dem 
Herzen lagen, um deren Wiederbringung all fein Sorgen und Beküm⸗ 
mern fi) bewegte, und deren Erhöhung und Befeligung fein höchftes 
Intereſſe und füßeftes Hoffen war. Er „dankete.“ O, mit welder 
anbetungsvollen Wonne werden die heiligen Engel diefen föftlichen 
Weihrauch in ihre güldenen Schalen gefaßt und zu Gott emporgetra- 
gen haben! — Er „dankete.“ — Wir follten danken. Aber wohl 
ums, daß er auch in dieſem Stüde, wie in Allem, uns vertritt, und 
anfre Schulden mit feinem Gehorfam deckt, unfern Mangel mit feiner 
Fälle erftattet! — Uebrigens dankte er nicht blos, fondern fegnete 
zugleich) nad) Matthäi Ausdrud, Freilich bedeutet das Wort „ Eus 
fogein“ bei dieſem Evangeliften ebenfowol danken und lobpreis 
fen, wie das Wort „Euchariftein” bei Lucas und Paulus; und e8 
würde nicht eben ein großer Nachdruck darauf zu legen fein, daß es 
auch den Begriff des Segnens in fich fchließe, wenn nicht Paulus 
1 &or. 10, 16 defielben Wortes ſich bedienend, den Kelch den „ge⸗ 
ſegneten“ oder den „Kelch der Segnung“ nennete. Richt aber 


90 | Der Borhof, 


über den Kelch nur, fondern auch über das Brod ſprach der Helland 
feinen Segen. Und wozu? Etwa um die Elemente von dem gewoͤhn⸗ 
lichen und profanen Gebrauche zu einem höheren, geiftigen und heili⸗ 
gen auszufondern? Unzweifelhaft bezwedte er auch Dies. Aber wo 
der Hohepriefter Jeſus fegnet, da mögen wir nur gleich an Weſent⸗ 
ficheres gedenken, als an eine bloße Bezeichnung und Zwectbeftimmung 
eben gedachter Gattung. Wirkung gibt es da, und e8 bleibt Re 
les zurüd, Und o, wie überfchwänglich Reiches und Großes if 
bei dem Brod und Wein der Communion von jenem Segensfprude 
des Herrn zurüdgeblieben! Wie vielen Zaufenden ward, feit jenem 
feftlichen Abende zu Zerufalem, durch Vermittlung diefer unfcheinbaren 
Elemente himmlische Erquidung, Stärkung und Ermuthigung darge 
reicht! Wie Manchen ift im Laufe der achtzehn Jahrhunderte durch 
fie das wunde Herz geheilt, der matte Geift belebt, und namentlich 
der Bang durch's dunkle Sterbethal erhellt, erleichtert umd verſüßet 
worden! Und wie Unzählige werden in Zukunft noch, bis an das 
Ende der Tage, dep Alles fich zu erfreuen haben! Seht, Dies ift des 
Sriedensfürften Segen. Der Segen Immannels reiht „Dis zu der 
Wonne der ewigen Hügel, * 

Nach gejchehener Dankfagung und Segnung „brach“ der Herr daß 
Brod. Auch dies, wie er gleich darauf in den Worten: „Das if 
mein Leib, für euch gebrochen,“ felbft erklärt, nicht ohne Abficht, nicht 
ohne tieferen Sim. Es haben deßhalb auch fänmtliche apoſtoliſche 
Berichterftatter nicht unterlaffen, diefes Brechen des Brodes ausdrüds 
lich zu melden. Jeſus brach's zum ſymboliſchen Zeugniffe von Dem, 
was bald mit feinem eigenen Leibe gefchehn, und wodurch er erft zum 
Sühnopfer und zum Lebensbrod und werden würde. Sein Sterben 
malt er mit dem Brodbrechen feinen Jüngern vor Augen; und die 
erhabene, bewunderungswürdige Ruhe, womit er dies thut, zeuget um 
wieder von der unendlichen Sünderliebe, die Sein Herz für. Diejent- 
gen durchglühte, Denen das große Opfer gelten follte. In der erſten 
Kirche vergaß man bei der Beier des heil. Mahles nie nach Chriſti 
Borgang das Brod, ehe man ſich's reichte, zu brechen; und wem 
fpäter dieſer Gebrauch abhanden, und ftatt des Brodes die fogenannte 
Hoftie auflan, fo ift dies, wenn es auch für etwas Erhebliches und 
Wefentliches grade nicht zu erachten ift, Doch eine mit nichts zu rechte 
fertigende Abweichung von der urfprünglichen Site, Luther behielt 
die Weife der römischen Kirche bei. Wenn dagegen wir den ur⸗ 


Die Aben mahltfiftung. 91 


ſpruͤnglichen Gebrauch wieder herzuftellen uns bewogen fanden, fo 
verführen wir hierin nur bibliſch, und darum mit voller DBerechti- 
gung. Gottes Wort ſteht uns allevege über aller Menfchen- 
fagung, und dürfte Diefe aud fi) rühmen, die theuern Reforma⸗ 
toren zu ihren Urhebern zu haben. Haben Doch diefe Gottesmänner 
ſelbſt ausdruͤcklich von uns gefordert, daß wir, wo es nöthig erfchiene, 
ihr Berl nad) der einzig unträglichen Richtſchnur der h. Schrift ver- 
vollftändigen und verbeffern möchten. — Das gebrochene Brod reicht 
der Herr feinen Jüngern dar; und hier erbliden wir Ihn fo recht 
in feinem Amt und Lieblingsberufe. Geben, Darreidhen, Mit- 
theilen ift feine Luft, Wie damals, fo ift feine Hand bei feinem 
Liebesmahle auch heute noch ausgeftredt, wenn auch jebt verhültt 
in die Hand feines menfchlichen Botfchafters und Dieners. Wir, 
feine armen Knechte, treten bei der Verwaltung der Communion für 
unfre Perſonen ganz zurüd, Nichts find wir da, als feine Werk: 
zeuge und Organe. Er ift immer wieder felbft der fpendende Wirth, 
Der darreichende Geber. Deßhalb ertönen beim heil. Mahle auch nur 
feine Worte, und andre Worte, wie fhön und glaubensftarf fie klin⸗ 
gen möchten, follen und dürfen Dabei nicht verlauten, 

Bei der Keldhftiftung wiederholte fich, was bei der Weihung des 
Brodes geſchah. Nach erneuerter Dankfagung und Segnung reicht der 
Herr denjelben feinen Jüngern, und fordert fie auf, alle daraus zu 
trinten. Er nennt den Bein fein „Blut“, wie er das Brod feinen 
„geib * nannte; und beide Elemente vereint bezeichnen und vertreten 
fomit den ganzen Ehriftus, jofern derfelbe fein Leben, das „un 
Binte* ift, für uns zum Schuld⸗ und Sühnopfer in den Zod gab. 
Das der Herr nicht etwa Waffer, fondern Wein zum Symbol fei- 
nes vergoffenen Bluts fich erſah, geſchah aus tiefen Gründen, umd 
erweitert und vermannigfaltigt nur den Gedankfeninhalt des gewählten 
Sildes. Ehriftus ift der wahrhaftige „Weinftod*, und wir haben 
nur ein göttliches Leben in uns, fofern wir, den Neben vergleichbar, 
mit Ihm verwuchſen, und mit Seinen Kräften getränkt und durch⸗ 
deumgen wurden. Der Wein erinnert überdies an Die Angſt⸗ und 
Moxterkelter, in der der Sohn Gottes erft zu unferm Heiland und 
Mittler zubereitet ward; und deutet Daun auf die Fülle himmlifcher 
Ermuthigungen, Freuden und Wonnen hin, welche Chriftus 
gleichſam als Zuthat und Ueberfhwang feinen Gläubigen dar⸗ 


wicht, während das Brod mehr Das zu ihrer Rettung und Geligfeit 


92 Der Bnıhel. 


Nothdürftige und ſchlechthin Unentbehrliche veranſchaulicht, wel⸗ 
ches fie an feiner Erföfung und Vertretung befigen, 

Wir fchliegen. Wenn wir das Ziel des Verftändniffes unferes Sa⸗ 
framents noch nicht erreichten, fo find wir demfelben doch wieder um 
eine bedeutende Strede näher gefommen. Helfe der Herr uns weiter, 
und ftelle er auch in der Abendmahlslehre unfre Füße auf einen 
feften und gewiffen Grumd, auf daß auch wir in tiefer Wahrheit fpre 
hen koͤnnen: 

Mic) ftört fein Schuigezänfe mehr, 
Noch fahr’ ich zweifelnd mehr umber, 
Seitdem Du felber mir gedeutet, 
Was Du in Deinem Bundesmahl 

An Gnaden fonder Maß und Zahl 

Mir armem Sünder haft bereitet. 

Ich folge ftill der Biene Spur 

Auf Deiner Heilögedantenflur. — Amen. 


— 4000 OO ůüüç— 
IX. 
Die Einſetzungsworte. 





Der Prophet Amos redet im 7ten Verſe des 5ten Kapitels ſeiner 
Weiſſagungen von Leuten, die „das Recht in Wermuth verkeh⸗ 
ren.” Er hätte für „Recht“ auch Heil fagen koͤnnen; und es würs 
den feine Worte auch in dieſer Faflung in unzähligen Lebensbildern 
der Menfchheit bis zur heutigen Stunde ihre traurige Betätigung ge 
funden haben. So iſt's unter Anderm ein ſchreckliches Zeichen des Bers 
falls unfrer menfchlichen Natur, daß das heil. Abendmahl, welches un 
zu Frieden und Seligkeit gefeßt ward, allem Anfcheine nach viel Meh⸗ 
teren zum Unheil, als zum Heil gereicht. Nicht allein, daß daffelbe 
-Zaufende, weil fe es ihr Lebenlang verachten und mit dem Nüden 
anfehn, ftatt ihnen Die Abfolution zu verfiegeln, vor dem Richterfhihle 
Gottes nur verflagen wird; nicht allein, daß andere Taufende, die 
der heiligen Stiftung wenigftens äußerlich noch einige Ehrfurcht bes 
zeugen, von dem Schreckensworte getroffen werden: „Wer unwürdig 


u % 


Die Einfekungbworte, 93 


iſſet und trinket von diefem Brod und Wein, der iffet und trinket fich 
ſelber das Gericht”; — felbft unter den Gläubigen gereicht es Vielen 
inſofern nur zum Berderben, als fie von ihm, — denkt, von dem Mahl 
der Liebe, — in beflagenswerthefter Weife Anlaß nehmen zu Haß, 
Berkeperung, ja Berfluhung wahrer und lebendiger Glieder am 
Leibe des Herrn, die nur aus triftigen bibliſchen Gründen nicht vers 
mögen, ihren Lehr- und Schulformeln von der Bedeutung des Sa⸗ 
framentes in Allem bis auf's Jota beizuſtimmen. 

D Her! Was zum Auferſtehn gefeßt ward, wird den Menfchen 
durch ihre DVerdrehtheit zu Aergerniß und Zalll Was ihnen zum Les 
ben dienen follte, gereicht ihnen zu Tod und Untergang! Ach, daß 
Solches nur nicht auch uns widerfahre! — Eine gründliche Vertie⸗ 
fung in das, was die Schrift vom Abendmahle und deſſen Zweck 
und Bedeutung uns lehrt, wird uns dagegen ficherftellen helfen. Wir 
baben mit folcher Vertiefung den Anfang gemacht, und gedenken, ge 
liebt’ 8 Gott, unter Seinem Segen heute damit fortzufahren, 


Matth. 26, 26—28. Marcus 14, 22—24. Suras 22, 19 u. 20. 
1 Eorinth, 11, 24 u. 25. 

Und Jeſus ſprach: Nehmet, effet, dad ift mein Leib, der für euch gebrochen und 
gegeben wird, ſolches thut zu meinem Gedädhtniß. — Diefer Kelch if dad neue Te⸗ 
kament in meinem Blute, das für euch und für Biele vergoffen wird zur Bergebung 
der Sünden. Solches fhut, fo oft ihr es trinfet, zu meinem Gedächtniß. 


Die Einfeßungsworte des heil. Abendmahls find es, welche heute 
unfre Andacht in Anſpruch nehmen. Ih fage mit Nachdrud „unire 
Andacht”; denn es find Worte, die geheimnißvollften langes aus 
dem innerſten Heiligthume unfres Gottes uns entgegentönen, Lehre 
der Herr uns ihre Tiefen verfichen! Wir betrachten zuerft Diejenis 
gen Borte, welche die Darreihung des Brods, und dann 
Diejenigen, welche die Kelchftiftung begleiteten. 

1 


Der Herr reicht den Seinen das gebrochene Brod und beginnt: 
„NRehmet, effet!” Beachtet zunächft, Daß er hier felbit weder mit 
iffet, noch mit trinfet, Es würde ungeeignet gewefen fein, daß 
er von den Wahrzeichen feines eignen Leibes und Blutes gegeffen 
und getrunfen hätte, — „Nehmet, effet!" fpricht er. In diefen 
Worten verlmitet ein Einladungsruf der freien Gnade; ja, es tönt 


9 Det Berk 


durch fie ein Wiederhall der prophetifchen Aufforderung bei Jeſaias 55 
hindurch: „Wohlen Alle, die ihr durftig feid, kommet her und Taufet 
ohne Geld und umfonft beide Wein md Milch.“ — „Umfonf, 
umfonft!* Dies ift, Gott ſeis gedankt, die Infchrift aller Güter 
des neuen Zeftamentes. Es hindert Dies aber nicht, daß man derfel- 
ben doch nur in einer beftimmten Ordnung theilbaftig wird. 6 
hat das „Nehmet, effet* auch feinen tiefern myſtiſchen Sinn 
In dem „Nehmet“ Tiegt ein Aufruf; in dem „effet“ zugleich eine 
Berheißung Das „Nehmet“ wendet fich nicht blos an Die Hand, 
fondern viel mehr noch an das Herz. Es fordert 

Hunger und Durft, und Aneignung im lebendigen Glauben. „Ein 
Menſch kann nichts nehmen“, fagt Johannes der Täufer, „es werde 
ihm denn gegeben vom Himmel.” — Sehr wahr! — Aber nicht min⸗ 
der wahr ift die jenen Worten Seitens eines Auslegers beigefügte 
Bemerkung: „Richts kann vom Himmel gegeben werden, es fei Dem, 
daß der Menfch es nehme‘. — Wo es an Empfänglichkeit mund 
Glauben beim heil. Abendmahle gebricht, gefchieht auch keine innerliche 
Speifung und Tränkung mit dem Leibe und Blute des Herm. Schon 
durch die Stellung der Worte wird Dies angedeutet, indem das „Neh⸗ 
met, effet“ dem „Das ift mein Leib“ vorangeht. Hieße es in 
umgefehrter Ordnung: „Das ift mein Leib; nehmet, eſſet,“ fo könnte 
auch Einer gut römifch denken, es fei auch vor dem Nehmen und 
Eſſen das Brod ſchon der Leib des Herm, und es emipfange den letz⸗ 
teren auch derjenige, der ohne Bedürfniß und Glauben das Brod ges 
nieße. Wäre aber dies der Fall, fo würde folgen, daß auch Gottlofe 
und Heuchler durd) den bloßen Abendmahlsgenuß dem Gerichte ent» 
rinnen und die Seligfeit erraffen könnten: denn Joh. 6 fagt der Herr 
ausdrücklich und beftinmt: „Ber mein Zleiſch iffet und trintet 
mein Blut, der hat das ewige Leben!” Jener Anficht tft aber, 
wie gefagt, ſchon dur die Form der Einfeßungsworte vorgebeugt. 
D, es ift in der Ausdrudisweife des Herm Alles bis auf Sylbe md 
Strichlein gar fein und tief berechnet. Wir werden fpäter noch öfter 
Anlaß finden, dies zu bemerfen. 

Das „Nehmet“ heißt mithin: „Begegnet dem dargebotenen Gut 
mit bungerndem und Durftiendem Herzen, und gebt ihm in heils⸗ 
bedürftiger und empfänglicher Seele Raum.” Das „Effet* iſt wie 
das nachfolgende „Zrinket“ Zufage, und verheißt die himmliſche 
Sättigung und Erquicdung, Borin aber die Speife beftehe, fragt ie} 


—N—— 


Die Einfehungbworte, 9% 


Hört: „Dies iſt mein Leib“, fährt der Heiland fort. Diefe Worte 
bilden den Schwers und Angelpunft der ganzen heiligen Stiftung, und 
fehren darum auch gleichlautend bei fämmtlichen vier bibliſchen Bericht⸗ 
erftattern wieder. In ihnen thut fi) die Pforte des Allerheiligften 
vor uns auf. Sie ftellen uns unmittelbar vor das große Geheimniß. 
Jede Sylbe fordert bier ihre genaufte Erwägung. Merkwürdig iſt 
zuerſt das Wörtlein „Dies“. Es fteht nämlich im griechifchen Grund⸗ 
tert als Reutrum, oder in der fächlichen Gefchlechtsform, während 
das Brod (Artos) im Griehifhen Maskulinum, oder maͤnn⸗ 
lichen Geſchlechtes if. Der Herr fagt alfo, die Sache genau genoms 
men, gewiß in bewußter, weifer Abficht, nicht „Diefes Brod iſt mein 
Leib." Solche Redeweife hätte groben Mißverftand veranfaffen müffen, 
und namentlih den römifchen Verwandlungswahn begünftigt. “Der 
Herr fagt vielmehr: „Dies“ nämlih was ich euch, (freilich mit‘dem 
Brode,) nehmen heiße, ift mein Leib; und nun gewinnt das Iutherifche 
„in, mit und unter“ in der That eine Berechtigung, während 
nicht blos Rom, fondern in einem mäßigeren Grade auch den ehr⸗ 
würdigen Zwingli der Vorwurf trifft, nicht ſcharf genug gelefen 
zu haben. — Aber jebt das Wörtfein „ift*. — Wenn das erzählen 
tönnte, durch welch’ ein Feuermeer von Zank und Eifer es hindurch 
gegangen feil Wer ſieht's dem Wörtlein an, welch’ wüfter Kriegsbrand 
dasfelbe Jahrhunderte hindurch umlodert hat? Ach, welche fchäumens 
den Brandungen hundertfach geftalteter Sünde haben dieſes Wort bes 
fpült! Keine Burg und Veſte in der Welt fah ein wüthigere® Ge⸗ 
tämmel um fich ber, als diefe Sylbe. An keiner Stelle der Erde 
ift greller zu Tage getreten, daß auch die größten Heiligen unter dem 
Himmel Kinder des Todes ımd der Verdammniß wären, wenn nicht 
freie Gnade herrfchte, ald an dieſer. Aus dieſem „ift” hat fich, 
wie eine Kröte aus einer edlen Blume Gift, eine ſtolze Priefterfchaft 
unerfättlichen Hadergeift getrunken. Bei diefem „tft * brach) die evans 
gelifche Kirche für Zahrhunderte in zwei Städe auseinander; und heute 
noch gibt es Leute, die diefem „ift“ nicht nahen können, ohne daß 
ihnen die Augen in einem Feuer zu funkeln beginnen, welches wahrlich - 
anderswoher, als vom Himmel ftammt; ja, die, fo oft dies „tft“ fie 
antönt, nur Schlachtdrommeten fchmettern zu hören glauben, und zum 
unglüdfeligften Bruderkriege ſich rüften. OD, begnadige uns Gott mit 
der Kindes-Einfalt, welche um dieſes „iſt“ nur den Himmel offen 
fieht, und darin die ganze Güterfülle des nenen Zeftaments, ja, Den 


3 Der Vechel 


Sam Ehriitum ſelbſt mit allen feinen Gaben und Guaden findet; 
und ichenfe Er uns den Glaubensfinn, der um dus „ift“ nur wie ein 
harmlos⸗ frõöhliches Kind um den jtrahlenden Baum am Weihnachts 
abend in Zreudeniprüngen jeinen Reigen führt. — Was bejagt aber des 
Wörtlein „iit*? — Daß daſſelbe in der Schrift jehr häufig für „be 
deutet” steht, leidet feinen Zweifel. In der Erklärung des Gleich⸗ 
nifjes von dem Unkraut unter dem Waizen ſpricht z. B. der He: 
„Der Ader ijt Die Welt; der gute Same jind die Kinder des Reiche; 
das Unkraut jind die Kinder der Bosheit; die Emdte ift das Ende 
der Belt.“ Im allen diejen Sägen hat dus Zeitwort „fein“ vers 
gleihenden Zinn, und bezeichnet daſſelbe, was Das Wort „bedens 
ten“. Ebenſo bat ſichſs mit dem Wortlein „iit“ in der beim alt 
teitamentlichen Sitermahl gebräuchlichen, und vor dem Efien vom Hans 
vater auögeiprochenen Zormel: „Dies ift das Pafijah“, oder „der 
Leib des Paſſah!“ Tasjenige, auf was der Sprechende hinwies, war 
nicht das egyptiſche Diterlamm felbft, durch deſſen Blut die Sfrueliten 
aus dem Dienitbaufe gerettet wurden, jondern nur ein Abbild des⸗ 
jelben, welches Das wunderwirkende lediglich wiederfpiegelte aber 
bedeutete. — So wäre denn in der That der Sinn des WBörtleins 
„ist“ in dem Begriffe des Bedeutens vollitändig erfhöpft? — Das 
fei ferne! lieben Brüder. — Ic, meinestheils kann nit Zwingli’s 
Anficht theilen; aber, wie ſich von felbit vwerfteht, viel weniger bie 
Anficht derer, die Das „iſt“, Jofern es auf das Brod und den Wein 
bezogen wird, im buchſtäblich ſten Sinne verftanden wiffen wollen. 
Ich müßte dann ja auf Die Ceite der Papiſten treten, welche Ichwen, 
Daß das Brod wirklich nicht mehr Brod, und der Wein nicht mehr 
Wein, jondern jenes durch die Conſecration des Prieſters in Fleiſch, 
und dieſer in Blut verwandelt je. — , Was uber“, fragt ihr, „wiegt 
Dir denn das Wörtlein „iſt“?“ Ihr follt es fpüter hören, wenn wir 
die Bedeutung des heil, Abendmahls erforfchen werden. Einſtwei⸗ 
len aber mögt ihr wiffen, daß auch ich für die buchſtäbliche Auffaſſung 
des Wörtleind mich entjcheide, wenn nümlih das, was wir vorhin 
über die neutrale, oder ſächliche Form des Wortes „Dies“ ber 
merkten, der gehörige Accent gelegt wird. Bejchränfen wir und indeß 
für heute auf die Borterflärung der einzelnen Ausdrücke in Der 
heil. Einjeßungsformel, ohne noch auf ihre fahramentliche Währung 
einzugehn, und achten wir jeßt auf das, was der Here dem „Dies 
iſt“ unmittelbar folgen läßt. 


Die Einfekungbworte, 97 


es iſt mein Leib”, fpricht er. Hier nennt er alfo den Gegen 
‚ der genommen und gegefien werden fol. Nicht fein Geift, 
fein Leib iſt's. Diefer, deutet er an, werde hinfort die Stelle 
affahlanımes vertreten. Es haben Munde die Worte fo gedeutet: 
der Gottmenſch, bin in Zukunft euer Brod, euer Manna, eure 
njpeije”. Aber das ijt eine willfürliche Umſtellung feiner Worte, 
Herr ſagt ausdrücklich: „Was ich euch mit dem Brode gebe, ift 
Leib“. Was wir aber hier unter dem Leibe zu verftehen haben, 
mmen wir fpäter. — Nach Nennung feines Leibes fährt der 
fort: „Der für euch gegeben wird“. Er meint: Gegeben 
en Tod, wie Died der andere von dem Herm gebrauchte Auss 
„Der für euch gebrochen wird,“ außer Zweifel ſtellt. Diefes 
rgleichenden Blick auf das gebrochene Brod ausgefprochene Wort 
at die bevorftehende Aufldfung feiner menſchlichen Leiblichkeit 
den Gterbeprogeß. Der Herr predigt hier alfo wieder felbft die 
Wahrheit, Daß er ſich als Sühnopfer für unfre Siinden werde 
ven laſſen. Ya, Diefe Thatfache bleibt der eigentliche Kern» und 
puntt feiner eriöjenden Thätigkeit, und macht erft Das Werk des 
zu einem Heilswerl. Streicht diefes blutige Faltum aus dem 
des Herrn weg, und Jeſus Chriftus ift uns nicht mehr, was 
Bet. Es bleibt uns dann in Seiner Perfon nur noch ein Ges 
s und Sittenlehrer. Gebieter aber hatten wir an Mofe und 
wopheten fchon genug. Was wir bedurften, war ein Mittler, 
an koͤnntet ihr einwenden, daß der Herr Damals den Jüngern 
Leib als einen für fie Dahingegebenen und gebrochenen, und 
ds fchon als einen auferftandenen und verflärten, zum 
fe noch nicht habe darreichen Fünnen; und diefer Einwurf ift 
n98 ebenſowol gegründet, als es mit Der Daraus hergeleiteten 
mg feine Nichtigkeit hat, daß die Yünger in jener Nacht den 
n Segen des Abendmahls noch nicht empfangen haben. Bers 
3 fie doch damals noch nicht einmal den Zwed und die Bes 
ıng des Opfers, auf das die heil. Communion fie hinwies; 
t doch ihr ganzes Verhalten während der Paffton ihres Meifters 
glich Zeuge, dab ſich ihnen von den Kräften des Saframents 
ft wenig mitgetheilt hatte. Ferne fei e8 von mir, zu leugnen, 
gend ein theilweifer und eingewidelter Segen des Saframents 
ängern auch fchon damals zu Theil geworden fei. Im Grunde 
mırde das Mahl in jener Abendflunde erſt für die Zukunft 
7 


98 .. Der Borkef. 


geftiftet, und gelangte per Ausübung feiner garigen Heilswitkung nich T 
eher, als bis der Leib des Herrn thatfächlich dabingegeben und fein 
Blut wirklich vergoſſen wur. Erweiſt ſich doch auch. jebt noch dem 
Segen der Communion als ein reicherer oder geringerer, je nad) bemam 
dieſelbe wit mehr oder weniger Empfänglichkeit und Grleuchtung ge⸗ 
feiert wird. Die Römifchen, welche lehren, dus Brod werde im Abend 
mahl der wirkliche Leib Chriſti, weßhalb fie auch die Hoftie geradezaz 
„Gott“ zu nennen fein Bedenken tragen, können der ungeheuerlidiern 
Folgerung aus ihrer eigenen Lehre ſich kaum entziehen, daß nun im 
erften Abendmahle ein doppelter Chriftus habe gegenwärtig fein 
müffen, und zwar ein todter, nämlich der im Brode neu erfchaffene 
und ein lebendiger, der Spender des Brodes ſelbſt. Ein folche 
Schluß drängt ſich ihnen mit Nothwendigfeit auf; und den noch be 
harten fie, großentheils wider befferes Wiffen und Gewiſſen, bei 
ihrem Wahn. — 

„Solches thut!“ Vernehmet hier die Stiftungsformel. & 
ift ein majeftätifches, Tönigliches Wort. Gebot iſt's, Weiſſagung md 
Verheißung zugleich. Wer hätte denken follen, daß es in jener ſtillen 
abendlichen Abfchiedsftunde, in dem Heinen, unjcheinbaren und ringeum 
von Widerſachern bedrohten Kreife zu Jerufalem, um eine Gründung 
für Jahrtaufende fih Handle?! “Der Herr der Herrlichkeit aber war 
fich feiner Sache gewiß. In göttlicher Vollmacht fprach er fein „Sols 
bes thut”; und ihr wißt, fein Wort bat fich durch Gebirge von 
Hemmmnifjen und Widerftänden fiegreich hindurch geichlagen. Und wie die 
Sriedenstafel, die er bereitete, bis zur Stunde millionenfach auf Erden 
fteht, jo wird man fie ftehen fehen biß an das Ende der Tage. — 
Dem „Solches thut“ folgt nun das „zu meinem Gedächtniß“. 
Merkt wohl; der Herr fagt nicht: Thuts in Erinnerung an mid, 
fonden „zu” (das Wörtlein bezeichnet den Bielpunft, mıf den das 
Eſſen und Trinken berechnet ift,) „meinem Gedaͤchtniß“. Allerdings 
enthält diefer Ausdrud eine Aufforderung; aber zugleich wieder eine 
Zufage, eine Berheißung. Er ift nicht Bitte blos des fcheidenden 
Freundes: „Gedenket mein”; fondern ebenfowol Eönigliches Verſpre⸗ 
hen: „Ihr werdet am mich gedenken“; d. h.: „ich werde Sorge tra 
gen durch die Gnade, die ich euch erweifen werde, daß ihr meiner 
nicht vergeſſen follt”. Es hat ſich Damit, wie wenn ein weltlicher Macht 
baber feiner Günſtlinge einen mit einen Fürſtenthum belehnte, md 
zu ihm fpräche: „Herrſche du hinfort darüber, und genieße biefes Lam 


I 


Die Einfegmghworte. 9 


des Brühte zu meinem Gedaͤchtniß“. Chriſtus ſetzt in dem heil, 
Abendmahle Rh ſelbſt ein Monument, dauernder als Erz und Mars 
mor. Bo Er „das Gedächtnig Seiner Wunder” ftiftet, da will Er 
‚a und kommen und uns ſegnen“; und diefer Sein Segen foll das 
Andenken an Ihn frifch und lebendig in uns erhalten, 


2. 

„Deffelbigen gleihen“, fährt unfere Berichterftattung fort, 
„nahm er auch den Kelch“. Er nahm ihn, dankte und ſegnete, 
wie beim Brod, und reichte ihn feinen fänmtlichen Gäften, daraus 
za trinfen. Unter beiderlei Geftalt bekamen das Abendmahl Alle; 
und als eine unverantwörtliche Willkür erfcheint es, Daß Rom deu 
Kelch allein den Dienern der Kirche vorbehalten wiffen will. Spricht 
der, Herr doch ausdrüdiih: „Trinket Alle daraus“. In der neu⸗ 
teftamentlichen Kirche befteht Fein Unterichied mehr des Nähers 
oder Zernergeftelltfeins zum Herrn zwifchen fogenannten Geiſt⸗ 
lichen und Laien; und Alle, die wieder darüber aus find, irgend eine 
Art Mittlerthum des Paftorenftandes aufzurichten, verleugnen Damit 
nicht allein den Proteftantismus, fonden das Evangelium 
felbſt. — Rach Matthäus und Marcus fpricht der Herr nun weiter: 
„Das ift mein Blut, Das des neuen Teſtaments“. Nah 
Lucas ımd Baulus ſpricht er: „Diefer Kelch ift Das neue Zeftas 
ment in meinem Blut”. Der Wein alfo bezeichnet und repräfen- 
tirt das Blut des Herrn. „Im Blute ift Das Leben.” Dur 
feines Blutes Dergießung erfüllte Ehriftus verwirkflichend das prophes 
tifch vorbüldende Schattenwerk der altteftamentlichen Opfer, und ftiftete 
dadurch, der göttlichen Gerechtigkeit genugthuend, den neuen Bund, 
in welchem ſich Gott als verjöhnter Vater und entbeut, und wir als 
freie Kinder vor Ihm leben, und in Kraft der Liebe Ihm ums zu 
Dienft ergeben. Alles, was in diefem neuen Bunde uns zu The 
wird: Vergebung, Rechtfertigung, Kindesrecht und ewiges Leben, macht 
das unvergleichliche Erbtheil aus, das der Mittler fterbend uns hinter 
ließ. So ift der griechifche Ausdruck „Diatheke“, welchen Luther 
Teſtament überfegt, überaus finnig gewählt, weil er Beides, fowol 
Bund als Bermächtniß bedeutet. Wenn es nun heißt: „Das ifl 
mein Blut, das des neuen Teſtaments“, fo ift das erftere „das“ wies 
der ebenfo zu verftehn, wie beim Brode. Der Herr will naͤmlich fagen: 
„Das, was ich hiemit euch gebe, ift mein Blut“. Wenn der Here 
aber fpricht: „Diefer Kelch”, ftatt: „Diefer Wein ift das neue Zeflas 

7* 


100 Der Borhef. 


ment”, fo verfteht er. natürlich unter dem Kelche des Kelches Inhalt, 
den Trank. Der Herr fährt fort: „Welches vergoffen wird für 
Biele zur Bergebung der Sünden“, ımd macht hier das Haupts 
gut des neuen Zeitamentes namhaft. Es ift die göttliche Abſolu⸗ 
tion, der Erlaß aller Miffetbaten. Die Worte „für Viele“ 
ftatt „für Alle” bedürfen feiner Erklärung. Es ift ja feider! wahr, 
daß nicht Alle die Krafts und Heilswirkung des Blutes an ſich erfah- 
ren. Das Blut reichte feinem Vermögen nah hin, die ganze 
Menfchheit zu reinigen und zu verföhnen; aber nur Wenige laflen 
die Wirkung deffelben an fi) Eommen. Der Zufab des Herm kei 
Paulus: „Solches thut, To oft ihr's trinket, zumeinem Ges 
dächtniß“, hat ſchon in dem früher von uns Bemerlten feine Deus 
tung gefunden. In dem „ſo oft‘ Tiegt wieder die göttliche Beſtin⸗ 
mung ausgefprochen, daß das heilige Abendmahl fortdauernd in der 
Gemeine Ehrifti auf Erden gefeiert werden ſolle. — Es gebeut diefe 
fortgefeßte Feier; aber zugleih verbürgt und trägt es fie. 

Eo viel denn zur nächften, ich möchte fagen, grammatifchen Er 
Märung der Einjegungsworte. Des Abendmahls Bedeutung md 
Zwed ſchimmern uns hoͤchſtens nur erft jchwebend und dämmernd 
aus diefer Wortentzüfferung entgegen. Unſre nächtten Betrachtungen fol 
len, geliebt's Gott, diefelbe uns vollitändig in's Klare ftellen. Wer wird 
aber überhaupt das große Geheimniß faſſen? Nur der Heile-, Els⸗ 
fungs- und BVerföhnungsbedürftige. Gehet darum mittlerweile in ener 
Herz, befchanet euch im Spiegel des Geſetzes, und prüfet euer imeres 
und Außeres Leben ftill vor Gott. Ind kommt ihr dann als arme, 
zerfhlagene und guadenhungrige Sünder wieder, jo werdet ihr Dinge 
verfündigen hören, die auch euch den Husruf des 87. Pfalms: „Herr⸗ 
liche Dinge werden in dir geprediget, du Stadt Gottes!” auf bie 
Lippe drängen, und im Blick auf das heilige Mahl euch) zu dem Be 
lenntniß nöthigen werden: 

Hier ift der Herr zugegen, 

Hier if des Himmels Pfort'! 

Es iſt mit Gnad' und Segen 

Der Heir an dieſem Ort. 

Hier finden ganz gewiß 

Die wahren Glanbensſtreiter 

Die Himmeld-Thär und Leiter, 
Trotz Satans Hinderniß. — Amen. 


ut 


Die Abendmapislchren. 101 


X. 
Die Abendmahlslehren. 





So weit unſer Blick in die Kirche Chriſti zuruͤckreicht, begegnet 
uns das unfcheinbare aber bedeutungsvolle Denkmal, das wir „den 
Tiſch des Herrn’ nennen, und erinnert an das Wort Jehovas 
2 Mof. 20, 24: „Wo ih das Gedächtniß meines Namens 
fiften werde, da will ich zu dir fommen, und dich ſegnen.“ 
As keine Gotteshäuſer noch fich wölbten, um diefes heilige Monu- 
ment in ihre feierlichen Räume aufzunehmen, ſtand's prunklos in den 
Hütten und Kämmerlein der Gläubigen, und ftille Bruderfreife, in 
Friede und Freude geeint, und den Preis des Lammes im bewegten 
Herzen, reibten fich um daffelbe ber. Und als auch dort die Hand 
des Feindes die geheimnißvolle Tafel umgeftürzt, fehen wir fle in eins 
fame Wälder ımd entlegene Wüſten hinausgeflüchtet; und ein nackter 
Fels, ein bemoofter Baumftamm wird mit dem weißen Tuche über- 
breitet, und beut, wenn auch auf irdener Schüffel und in höfzernem 
Kelche, den FZeiernden himmlifches Manna und Trank des ewigen Le 
bens. Und mur zu wahr iſt's, was ein Alter fagte: „So lange die 
Abendmahlsgefäße hoͤlzern waren, war die Kirche golden, und als 
jene golden wurden, ward dieſe hölzern.“ Doch wie dem auch 
fei, feine Macht der Verfolgung, feine antichriftifch -vandalifche Zer⸗ 
Hörungsmwuth, fein Siroccofturm falſcher, Chriſti Blut verhöhnender 
Lehre vermochte jenen Zifch aus der Welt zu bannen. Als ein laut 
redendes Zeugniß von dem Kreuze Jeſu Ehrifti und dem auf dafjelbe 
gegründeten göttlichen Gnadenthrone hat der heilige Tifch „Angefichts 
der Feinde“, wie es gemweiffagt ward, jederzeit auf Erden Dageftanden; 
und, ob in feiner urfprüngfichen, fchlichten Geftalt, oder ob in fremd⸗ 
artigen Pomp und Prunf verhüllt, fteht er, wo irgend ein Chriſten⸗ 
haͤuflein fi findet, bis diefe Stunde aufrecht, und wird bis an das 
Ende der Tage. von der Erde nicht mehr verfchwinden. — Greift ſich's 
nicht mit Händen, daß ein allmächtiger Schub über dieſem Tifche wal⸗ 
ten müfle; ja, daß er unter den befchirmenden Flügeln des Iebendigen 
Gottes geborgen ruhe? Mit einem einfachen Worte, mit dem Worte: 
„Sp oft ihr folches hut“, verbürgte der Hett aller Herren feinem 


102 Der Borhol. 


Liebesmahle die ewige Dauer. Wie deutlich legt ſich's bier ſchon zu 
Tage, daß man von dem Werth und der Bedeutung diefes Mah—⸗ 
les gewiß nicht hoch genug werde halten können! — 

Welches ift denn feine Bedeutung? Diefe Frage wird in unfern 
nächſten Betrachtungen uns befchäftigen. Helfe der Herr, daß wir die 
rechte Antwort finden! Doc, wir werden fle finden; dem Sein 
Wort ift „unfres Fußes Leuchte”. — 


1 Corinther 10, 16—21. 


Der KAb der Seguung, welchen wir feguen, iR er nicht eine Gemeinfchaft des 
Blutes Chriſti? Das Drod, welches wir bredien, it es nicht eine Gemeinfhaft bed 
Leibes Chriſti? Denn Ein Brod ift es, fo find wir Biele Ein Leib; bieweil wir ale 
bes Einen Brodes theilhaftig find. Sehet an den Iſrael nach dem gleich welche die 
Opfer eſſen, ſind die nicht in der Gemeinſchaſt des Altars? Was will ich denn um 
fagen? Will ich fagen, daß der Goͤtze etwas feit Oder daß dad Götenopfer eines 
ſei? Aber ich Tage, dab Die Heiden, was fie opfern, daB opfern fie den Zeufeln, und 
nit Gott. Run will ich nicht, daß ihr in der Tenfel Gemeinichaft fein folit. I 
Kunt nicht zugleich trinken des Herrn Kelch, und der Teufel Kelch; ihre könnt nich 
zugleich theilbaftig fein des Herrn Tifches, und der Teufel Tiſches. 


So fehn wir und denn heute bei der großen Frage angelangt, waß 
nad) der Xehre der heil. Schrift vom Zweck und von der Bedeutung 
des heiligen Abendmahls zu halten fei. Fanden wir je Urſache, den 
Herm mit der flchentlichen Bitte anzugehn, daß er uns in alle Wahr⸗ 
heit leiten wolle, dann bei der Erwägung, zu der wir gegemvärtig 
fpreiten. In dem verlefenen Terte haben wir, geftattet den Ausdrud, 
die Haffifche Stelle für die befagte Lehre vor und, Er bringt und 
Worte jened Apoftels, der, wie er feierlich bezeugt, feine Anfchanms 
gen von dem Saframent des Brods und Weins einer unmittelbaren 
Offenbarung feines erhöhten Herrn und Meifters zu verdanken hatte, 
Es ift diefen Worten fomit ein entfcheidendes Anfehen beizumeſſen. 
Auffallend freilich könnte es erfcheinen, Daß Die Bekenner der entgegen» 
geſetzteſten Lehrbegriffe von jener erhabenen Bundesitiftung fänmts 
lich, ein jeder zu Gunſten feiner Sonderanſicht, auf dieſe Stelle fi 
berufen. Aber dies verfchuldet die Stelle nicht, welche nicht Ya und 
Nein, fondern unzweideutig und entfchieden Ya tft, und die, wie wir 
im Fortgange unferer Betrachtung und überzeugen werden,‘ einer ges 
funden, Iautern und unverfünftelten Auslegung einen einzigen Stmt 
nur Darbeut, — Freilich geht des Apoftels nächfte Abſicht an unſerm 


Die Abendmahltlehren. 108 


Orte nicht chen dahin, Aber das h. Abendmahl und defien Beſtinmung 
was Unterweifung zu ertheilen. Vielmehr gedenkt er des Abendmahls 
hier nur beilaͤufig, und zwar zu dem Behufe, eine andere Wahrheit 
durch daſſelbe und zu veranſchaulichen und zu erläutern. Nichttheſto⸗ 
weniger iſt fein Ausſpruch auch für jenes von hoͤchſtem Belange; uud 
Dies ſowohl dadurch, Daß er den irrthümlichen Lehrbegriffen, 
die ſich im Lauf der Zeit dem Sakramente angehängt, : ihre Bloͤßen 
aufdet; als auch dadurch, daß er zum richtigen derftändniß 
are uns einen hoͤchſt wefentlichen Beitrag liefert. 

Wir betrachten: für heute die Paulinifchen Worte mır aus dem. a—⸗ 
Seren Geſichtspuntt, und beleuchten mit der Fackel, die fle hiezu in 
Die Hand uns legen, zuerft die römifche, fodann die zwingliſche 
amd. endlich Die lutheriſche Abendmahlslehre. Der Herr aber 
fei uns nahe und fchenfe uns Kindeseinfalt ünd unbedingte Un⸗ 
terwürfigkeit unter fein Wort zum Geleitel 

1. 

Die Behre Roms trete zuerft vor die Schranken unferes . Terms. 
Sie flüdet hier ihre vollfländigfte Widerlegung. Was die Römifchen 
aus dem heiligen Abendmahl zu machen fich vermefien haben, ift euch 
bekannt. Sie haben weder angefehen den unzweideufigen Ausſpruch 
Hebraͤer 10, 14: „Mit Einem Opfer hat Chriſtus in Ewigkeit 
vollendet, die x geheiliget werden“, noch den demſelben unmittel⸗ 
bar vorhergehenden, in welchem es heißt: die Prieſter des Tempels 
hätten oftmals einerlei Opfer dargebracht, weil ihre Opfer nicht im 
Stande gewefen feien, die Sünden wegzunehmen; Ehriftus. hingegen, 
da er Ein Opfer (das wirklich verfühnende) dargebracht habe auf 
immer, cd. t. als für die Ewigfeit geltend,) ſitze hinfort zur Rech 
ten. Gottes (d. i. ruhe von aller Opferarbeit), weil ed einer ſolchen 
nun nicht mehr bedürfe. Diefen entfcheidenden Zeugniſſen zum Trotz 
Iehren die Rönifchen, daß jenes einmalige. Opfer Jeſu Ehrifti zur Ret⸗ 
tung der Sünder. mit Nichten ſtrecke, wofern es wicht in unblutiger 
Weite immer. wieder erneuert werde; und fo fehen wir water ihren 
Händen das h. Abendmahl zu einer neuen Opferceremonie. verzert, 
md den einigen vollfommenen Hohenpriefter im himmliſchen Heilig⸗ 
thum in eine menfehliche Priefterkafte auf Erden fo zu fagen aufs 
geloͤſt. Brod und Wein werden nach römifchem Dogma durch prie⸗ 
ſterliche Eonfecration in den wahren Leib und das fuhftantielle Blut’ 
des Herm verwandelt, und duͤrfen nach Geftalt,. Geruch umb Ges 


104 Der Verheſ 


ſchmack nicht mehr beuriheilt werden, fondern haben, ob ihmen gleich 
Die zufälligen Eigenfchaften des Brods und Weins geblichen find 
nichtödeftoweniger aufgehört, Bein und Brod zu fein, tuden fie nach 
Subftanz und Weſen wirklih Zleifh und Blut Jeſu Chriſti gewer 
den find, welches der Prieſter aufs neue zur Berfühnung Gottes opfert. 
Es muß zugeftanden werden, daß dieſe Lehrbildung auf Hebmig des 
Anfchens der Kirche und ihred Elerus gar wohl berechnet war. Man 
denfe nur: welch' eine Kirche, in deren Schooße fortwährend ei fo 
wnerhörtes Wunder ſich ereignet, wie jene Wandlung; uud weldy eine 
Prieiterfchaft, die über Kelch und Putene wur ihren Segensfprud zu 
murmeln braucht, um daflelbe Object bervorzubringen, welches ef 
fchöpferifch der „heil. Geiſt“ und die „Kraft des Höchften* im Schose 
Maria's in's Dafein rief. — „Aber die Glieder der Kirche ‚glauben 
Das?“ fragt ihr befremdet. D Freunde, es. glaubt der Menſch fchen 
leicht, was ihm zum Pflafter auf die Wunden feines Gewiffens dienen 
fann. Und glauben auch Taufende der römifchen Ehriften das Ver⸗ 
wandlungswunder im inmerften Grunde ihres Herzens nicht, fo bin 
dert das nicht, Daß fie dennoch durch die das vorgeblide Wunder 
begleitende, finnlich beraufchende, und dem Herzen eine momentane 
Beſchwichtigung gewährende Feier zauberiſch angezogen und gefeffelt 
werden. Sch füge: „zauberijch”. Unſre heutige Zerteöftelle gedenft 
unheimficher Kräfte und Cinflüffe, denen fie anderwärts, als in de 
Welt der Sterblichen, ihren Quells und Ausgangspunkt auweifl. A 
der That wird man vwerfucht, dieſe Potenzen zu Hälfe zu nehmen, um 
fih das Räthſel zu deuten, wie Angefichtö der heiligen Schrift ein 
vorgebliches Mirafel, wie das der fogenanntn Zransfubftantiatien, 
bei einem großen Theile der Ehriftenheit fich Jahrhunderte hindurch 
Das Anfehn einer wirklichen Thatſache wahren konnte. Wir wider 
fireben diefer Verſuchung; Doch räumen wir ein: wenn man von 
irgend Etwas fagen möchte, Daß es mit natürlichen Dingen nicht zu 
gehe, Dunn in der That von diefem unerbörten Umſtand. 

Freilich will Rom davon nicht wiffen, daß es in feinem Meßopfer⸗ 
dogma einem Wahne buldige. Vielmehr beruft fid’S zu Gauſten 
feiner Lehre ebenfowol, wie wir zu Gunften der ımjrigen, auf die heil. 
Schrift, und ſogar namentlih, — man denfe nur! — auf unfere 
Zeztesitelle, als ob diejelbe nicht die mächtigſte Klippe wäre, an 
der feine ganze Satzung jcheitern muß. Denn fürs erfte iſt in. ihr, 
wie überall, von einer Berwandlung der Rachtmablöelemente mit 


Die Abendmahlflehren. 105 


feimer :einzigen Eylbe die Rede. Das Brod ‚heißt auch nach geſproche⸗ 
wer Dankſagung und Segnung nicht „Fleiſch“ oder „Leib“, ſondern 
„Brod“, wie zuvor. Sodann gedenft der Apoftel allerdings einer 
„Segnung“, namentlich des Kelchs; aber keiner priefterlichen im pon⸗ 
tificalen Siune. Er ſpricht: „der. Segenskelch, den wir ſegnen“, und 
bat. bei diefem „wir“, wie am Tage liegt, nicht ausfchließfich die 
Apoſtel, fondern alle gläubigen Eommunicanten im Auge; und 
will nicht etwa fagen: -„der Kelch, den erft wir confecriren und 
weihen“, fondern: „Den wir als einen geweihten heiligen, vom ges 
wößnlicdyen Gebrauche fondern, und mit Zobpreifung zu Gott erheben.“ 
Und viel weniger noch, als an ein fpezififch priefterliches Segnen des 
Brods und Weins, wopon uns in der apoftolifchen ‚Kirche auch nicht 
die leitefte Spur mehr begegnet, denkt der Apoftel bei feinen Worten 
am ein Segnen mit magijcher oder zauberifcher. Wirkung; ein 
Begriff, der vollends dem Evangelium gänzlich fremd ift, und viels 
mehr dem Heidentbume angehört. — Endlich, und dies ift.vor Allen 
zu beachten, wird im 18ten Verſe unfre® Zextes das Abendmahl und 
deſſen Feier nicht mit dem im Tempel Dargebrachten Opfer und deffen 
Schlahtung felbit, fondern vielmehr mit dem dem Opferafte folgenden 
ifraelitifhen Opfermahle vergleichend zuſammengeſtellt. Wie aber 
dieſe Opfermahlzeit nur zu einer Gedächtnißfeier des dargebrachten 
Dpfers, und nicht felbit wieder zu einer neuen Opferung verordnet 
war, fo fpricht auch der Herr bei feinem heiligen Zifche nicht etwa: 
„Gebet, opfert, bringet dar”, fondern „nehmet, effet, trinket, 
was ich für euch geben und vergießen werde." Das ifraelitifche Opfer: 
Isahl follte nur die nothwendige Aneignung der Frucht und Wir⸗ 
fung des dargebrachten Opfers veranfchaulichen und vermitteln, und 
nicht eine neue Opfergabe fein. Wie kann alfo Rom e8 wagen, zu 
Gunſten feiner Meßopferfagung auf dieſe unfre Zertesftelle fich zu bes 
rufen? Rom vergreift darin fich fchwer, und febt feine Lehre, ſtatt, 
wie es vermeint, auf einen Felſen, auf eine Mine, die ſie in einer 
Gxplofion in die Lüfte ſprengt. 


Den ſtaͤrkſten Gegenſatz zum eönifen Abendmahlsdogma bildet Das 
reformirte, und zwar der zwinglifchen (nicht der caloinifchen) 
Formulirung. In dem zwinglifchen Lehrbegriffe ift allerdings die finn- 
bildlich erinnernde und veranſchaulichende Bedeutung des 
Abendmahls wenigfiens die vorhertſchende. Es wird hier in den 


106 Der Borhef. 


Einfegungsworten des Herrn vor Allem das „Solches thut zu mei⸗ 
nem Gedächtniß“ ſtark befont; und allerdings müßte derfenige ge 
waltſam Ohr und Auge fchließen, der es vertenuen wollte, Daß das 
Abendmahl nad) der Beſtimmung des Herm auch als Gedaͤchtnißfeier 
aufzufaſſen ſei. ine verkörperte Predigt iſte von dem, was bie 
Hauptfache im Evangelium bleibt; eine Aufforderung au die Verſöhn⸗ 
ten, „den Tod des Herrn zu verlündigen, bis daß er kLommt.“ Unzwei⸗ 
felhaft erfcheint fchon, auch nur nach Diefer Seite hin erſt angeiche, 
Das Abendmahl als ein theuerwerthes Vermächtniß des Herm. Es 
erfrifcht in uns das Bewußtſein, daß wir mit Chriſti Bliut von allen 
Sünden rein gewafchen find. Da der Herr Anders nichts im. Abend 
mahl abbildend dargeftellt, als dies, fo befeſtigts ums aufs neue in 
der Ueberzeugung, daß die vollendete Berföhnung durch fein am Krenze 
dargebrachtes Opfer den eigentlichen Kern: und Mittelpunkt des gu 
zen Ehriftenthumes bilde. Es läutet uns immer wieder ein Öffentliches, 
olaubenftärfendes Dauk⸗ und Yubelfeft ob folcher großen Gnade ein, 
und bringt e8 und zu emeuerter Anfchauung und Empfindung, dab 
wir Alle, die wir glauben, einem großen Bruders und Familtenbumde 
in Ehrifto angehören, ja, binfort Alle nur Einer find in Chriſte. 
Aber wie ſchon das Wort des Herm: „Mich hat herzlich verlangt, dies 
Dfterlanm mit euch zu efien“, es außer Zweifel ftellt, es müſſe das 
Abendmahl doch mehr noch in fich halten, als ein veranfchauftchen 
des Bild und eine bloße Erinnerungsceremonie; wie ſodam 
in Diefer Anficht die hohe Zeierlichkeit des Einfekimgsaftes, und na 
mentlich das öfter wiederkehrende Wörtlein „ift” uns nur beftärtt; 
wie ferner der gewaltige Ernft, womit Paulus vom unwürdigen Ge 
nuß des Mahles abmahnt, unfre Borftellung von der Bedeutung des 
letzteren nothwendig aufs höchſte fleigern muß: fo kann die zwings 
liſche Lehre in ihrer Einjeitigkeit vollends vor unferm heutigen 
Texte nicht einen Augenblick beſtehn. An diefer unfrer Stelle heißt 
es nicht: „Das Brod, oder der Kelch der Dankfagung ift ein Ge; 
dächtnißzeichen“; fondern: „it eine Gemeinfchaft des Leibes ımd 
Blutes Chriſti.“ Hier wird gefagt: „Wie das Opfermahl den Iſrael 
nad) dem Fleiſch in die Gemeinfchaft des Altars, wie das Göhenopfer 
den Heiden in die Gemeinfchaft der Teufel verjege, fo bringe dab 
Abendmahl den gläubig Genießenden in die Gemeinſchaft Ehrifti.“ 
Offenbar erfchließt fich hier aljo ein ungleich tieferer Sinn der body 
heiligen Stiftung; ein Sinn, nach welchen bei ber Ruchtmahlsfeier 


Die Uendmahltlehren. 107 


wicht der Menſch bios ſich thaͤtig erweiſt, indem er fih erinnert, 
dankt und Gottes Gnade preifet; fondern zugleich eine gött- 
liche Thaͤtigkeit von Oben vn um entgegenkommt. 


„Ja wohl”, ruft der Lutheraner; „ihr Reformirten faßtet die Sache 
zu ſeicht, zu verſtändig, zu rationaliſtiſch. Zwiſchen eurer glaubens⸗ 
armen und der aberglaͤubiſchen Lehre Roms Tiegt die Wahrheit in 
der Mitte.” — „Und“, fragen wir, „Ddiefe Wahrheit wäre?" — „Brod 
und Bein“, lehrt Die Iutherifche Kirche, „bleiben ihrer Natur nach, was 
fie find, und werden nicht verwandelt. Nachdem aber dieſe Elemente 
tut Abendmahl durch den verordneten Diener der Kirche gefegnet wors 
den, empfängt jeder. Communicant, der gottlofe, wie der fromme, 
in, mit und unter dem Brode und dem Bein, aus Kraft des mit 
dem Salramente gehenden Gottesworts, den wirklichen, jet verflär- 
ten Leib, und Das wirkliche, nımmehr verflärte Blut des zur Rech 
ten des Vaters im Himmel erhöhten, aber au leiblich noch auf 
Erden gegenwärtigen Chriſtus; und mit dem Teiblihen Wunde em⸗ 
pfängt er's, nur, daß es der Ungläubige zu feiner VBerdammniß, 
der Gläubige hingegen zn Heil und Segen empfängt.” 

Dies die Intherifche Lehre. Ob, und in wiefern dieſelbe in der 
Schrift gegründet fei, werden wir fpäter ſehn; geftehen ihr jedoch von 
vorn herein ſchon unmeigerlic den Vorzug der größeren Tiefe ımd des 
reicheren Inhalts vor der zwingfifchereformirten zu. Nichtsdeſtoweniger 
aber vermögen wir auch das Iutherifhe Dogma von allen Spuren 
menſchlicher Schwachheit und Kurzfichtigkeit nicht freisufprechen. Die 
Bloͤßen deffelben dürften namentlich in Folgenden zu fuchen fein. Zus 
vör derſt laͤßt es dem göttlichen Einfeungswort: „Solches thut 
zu meinem Gedächtniß“, zu wenig Ehre widerfahren, während die 
zwinglifhe LZehre, die den ganzen Schwerpunkt des Saframents in 
daſſelbe fallen Täßt, dem Worte, wenn id) fo fagen mag, der Ehre zu 
viel erweift, Die Bedeutung der Nachtmahlsfeier Tediglich in der 
jenigen eines feterlichen Gedächtniß-Aftes aufgehn zu laſſen, iſt ein 
Mißgriff; aber mit diefem Namen muß nicht minder au Das Ver⸗ 
fahren bezeichnet werden, in welchem man fich zu jener Bedeutung 
ausſchließend ſtatt einfchließend verhält. — Zweitens überfieht 
Das lutheriſche Dogma, daß das griechifche Wort „koinonia« im 16ten 
Berfe unſres Textes nicht blos eine Gemeinſchaft mit, ſondern 
mich eine: Betheiligung an eimem Gegenſtande bezeichnet; wie denn 


108 Der Borhef. 


3; 3. Paulus 2 Corintber 8, A die Gemeinden in Maredowien wegen 
ihrer „koinonia«, d. i, ihrer Theilnabme an der Sammlung ber 
Liebesſteuer für die Heiligen lobt und rübmt. Ya, es erhellt aus 
Rom. 15, 26, daß daß Wort „koinoniae auch eine Mittheilung 
bedeutet; denn Paulus jchreibt an der beiagten Stelle: „Deuen in 
Macedonien und Adhaja but e8 gefallen, eine „koinonie®, (d. i. 
Epende oder Steuer) zu machen für Die Armen; und fomit darf der 
Ueberiegung des 16ten Deries unſres Zegtes in ein „der Segensldd 
und das gebrocene Brod tbeilen mit dus bergofiene Blut und den 
gebrochenen Leib des Herm;” oder: „Sie vermitteln eine 

fie gewäbren einen Antbeil an denjelben, d. 5. au deren Früchten,” 
wenn fie auch nicht Die allein zulaͤſſige üt, Doch keinesweges alle Be 
recbtigung neben derjenigen abgeſprochen werden, die bier eine dur 
das Saframent vermittelte Einigung des Gommmunicanten weit dem 
verflärten Leib und Blute Ebrijti verbeißen finde. — Drittens 
läßt das lutheriſche Dogma unenrogen, daß, wo die Schrift ſchlecht⸗ 
hin vom Leibe und vom Blute Cbrifti redet, fie itets feinen für m 
gefreuzigten Leib, und fein für die Eunden der Belt vergoffenes 
Blut darunter veritebt, und eines verflärten Blutes Chriſti foger 
nirgends gedenft; und Daß fie, wo fie von jenem himmliſchen 
Leibe redet, Dies ausdrüdlich, wie Phi. 3, 21, durch ein hinzugefügtes 
Bei⸗ und Beſtimmungswort zu erfenmen gibt. Freilich will ich Feines 
wegs biemit jagen, dab un Suframente für den Gedunfen an eine Ber 
einigung mit Der verflärten Leiblichleit Ebrüti Fein Raum verbleibe; 
ſondern will mır Die allzugroße Zuverficht rügen, womit bebauptet wird, 
daß bei dem „Leib“ und „Blut“ im Abendmahle nur an Ghrifi 
bimmliſchen Leib und an jein verflärtes Alut zu denken ſei. — 
Viertens verfibern Die Iurberiichen Dogmatiker vielfach all zu dreifl, 
Ehrifti Leib und Put würden im Abendmahle mit dem leiblichen 
Munde genejien, da doch Feine Stelle der Schrift dies ausdrücklich 
lehrt, ja vielmehr der Herr Die Kapernaiten, die feine Rede vom 
Eſſen und Trinken jeined Fleiſches und Blutes buchitäblich und finnlich 
verſtehn wollten, aufs ernſtlichſte mit Den bedeutſamen Worten zuräds 
weit: „Der Geiſt iſts, der da Ichendig madt; Das Fleiſch ift fein 
nüge. Die Worte, Die ich zu euch rede, Die find Geiſt ımd find Le 
ben.” — Endlidy fünftens muß die Anſchauung lutberiicher Kirchen 
lehrer, nad) welcher auch die ungläubigen Abendmahlsgenoſſen Chriſti 
wahren Leib und wahres Blut, freilich nur zu ihrer Berdammuiß, 


Die Abendmahltlehren. 109 


wpfangen umd genießen, für völlig unbegründet erachtet werben; - Sie 
üben zwar ihre Behauptung auf 1 Gorinth. 11, 29, wo der Anoftel 
varnend fpricht: „Welcher unwürdig iffet und trinket, der iſſet und 
rinket ihm felber das Gericht, damit, daß er nicht unterfcheidet 
ven Leib des Herrn,“ Mit diefer Stelle aber hat fich’e, wie folgt. 
Ya der Gorinthifchen Gemeine war die Unfitte aufgefommen, die Lie 
besmahle, mit denen die Feier des Saframents verbunden zu werden 
legte, zu gewöhnlichen finnlichen Gelagen herabzuwurdigen. Nicht 
venigen dortigen Chriſten drohte die Gefahr einer allmaͤhligen 
Berdunklung, ja gänzlichen Verwiſchung des Bewußtſeins von dem 
Unterfchiede der Mahle der Welt und dem Herrnmahle Diele 
Berirrten warnt nım der Apoftel mit großem Nachdrud, indem er fol 
Nichtimterfcheiden der fahramentalifchen Speife von der alltäglichen als 
inen Frevel bezeichnet, der der göttlichen Strafe nicht entgehn werde. 
Allerdings nennt er das, was im Abendmahl gegeffen und getrunfen 
wird, den „Leib des Herrn’; jedod nur, weil daffelbe diefen Leib 
repräfentirt, und die Gemeinfchaft mit ihm vermittelt. Weit entfernt 
ft er aber, biemit etwa fagen zu wollen, es feien Brod und Wein 
ma Sakrament ſchon an und für fich in abfoluter Weife für Jeden 
xs Herrn Leib; oder gar: es werde auch der Ungläubige und Gott- 
ofe, indem er das Brod und den Wein zu fi) nehme, wahrhaft und 
vefentfich mit Chrifti Leib und Blut gefpeifet und getränft. Nichts 
värde der ganzen Anfchauungsweife eines Paulns entjchiedener widers 
treben, als ein folcher Gedanke, Wer mit Ehrifto gefpeifet und ges 
raͤnket ift, der kann unſerm Apoftel nicht mehr verloren gehn, fondern 
nuB in feinen Augen geborgen fein. Paulus hält fih an das Wort 
eines Meilters: „Wer mein Zleifch iffet und trinfet mein 
But, der hat das ewige Leben.” Diefes Wort leidet Feinerlei 
Einfchränfung, fo wie der Herr es auch in unbedingter Form und 
he angehängte Klaufel ausfpricht. Paulus rechnet alfo, wie gejagt, 
| Eorinth. 11, 29, den corinthifchen Chriften nur das nicht unter 
Geidende Bermifchen der Abendmahlselemente mit den gewöhns 
ichen Rahrımasmitteln al8 das Verbrechen an, um deß willen fie nicht 
mgerichtet bleiben würden; keinesweges aber kommt ihm der ımerhörte 
Bedanfe in den Sinn, dem wirklich genoſſenen Ehriftusleibe in 
rgend einem Falle eine verdammende und die Seele verderbende 


Birfung zuzuſchreiben. 


119 Der Vechel 


Nachdem wir fo des Unhaltbaren Mandherlei von der Abendmahl 
lehre abgewieien, und gewilte einjeitige Auffaffungen des Saframenis 
anf ihren wahren Wertb qurudgefübrt haben, ift uns jeht zu einer 
richtigen Daritellung des bibliihen Lebrbegriffs der erforderliche 
Raum geſchafft; und ich verbeble nicht, daß ich meines Theil mit 
großer Zuverficht, und meiner Sache freudig verfichert, zu dieſem erw 
quicklichen Werke ichreite. Fuͤr heute jedoch laſſe ich den . unfter 
gemeinfamen Betrachnung fallen, und Dies ſchon danım, weil ich end 
Zeit und Ruhe gönnen möchte, Das bisber Geſagte nochmals zu pri 
fen, und ed mit der beil. Schrift, dieſer unſrer in hoͤchſter Jam 


ald was das feſte propbetiiche Wert uns fund thut; aber Das wollen 
wir auch ganz und feit, und iprechen Darum zum Schluffe mit dem 
alten Sänger: 

Rebe, Herr, dein Diener böre, 

Ohr uud Herz fei anfgethan! 

Bas mi deine Stimme lehre, 

Nimmt mein Geil mit Frenden an. 

Gib mir deinen Willen ein; 

Ich will gern dein Schüler fein. 

Rühre mid in deiner Lehre, 

Daß ich wie ein Jünger höre. — Yen. 


— — 


xI. 
Das Abendmahl. 





As einft unfer Herr bei einem Oberften der Pbarifier zu Gaſte 
war, und unter Anderm feinem Birth über Tiſch die Lehre gab, wenn 
er ein Mahl madye, fo folle er die Armen, Krüppel, Lahmen und Bi 
den laden; dies werde ihm vergolten werden in der Auferftehumg ber 
Gerechten: da rief der Säfte einer, in freudiger Aufwallung den Her 
unterbrechend: „Selig iit, der das Brod iffet im Reihe Bots 
tes! ® — So lefen wir Lucas 14, 15. 


Dat Abendmahl. 111 


Wie herrlich und bedentſam dieſer Ausruf an: und für ſich erſchei⸗ 
wen. mag, fo war er doch tm Munde jenes Juden mır der Wiederhall 
einer jehr eiteln Erwartimg. Er dachte an die Feſtgenüſſe eines Meſ⸗ 
finBreiches, wie e8 die Propheten nicht verkündet hatten; und im Blick 
auf dieſe erträumte Herrlichkeit brach er aus in fein entzüdtes „Selig! 
felig!* Wie es aber öfter in der evangelifchen Geſchichte vortommt, 
daß auch Jrrende, ja Feinde des Xichts, ohne es zu willen und zu 
wollen, gleich Bileams Efelin, Weiſſagung umd tiefe Wahrhelt reden 
mũſſen, alfo auch hier. Der Jude hat mit feinem Ausfpruche Recht. 
Bir rufen ihm wit verftärktem Nachdrud nah: „Selig, wer das 
Brod iffet im Reiche Gottes!“ 

Was ift Das aber für ein Brod, das in diefem Neiche gegeffen 
wird? — Fragt die Kinder des Neichs, und fie werden’s euch fagen, 
was täglich fie nähre, ftärke, erquide und labe, und ihrer unfterblichen 
Seele Leben und Bedeihen gebe. Das Brod ift Chriſtus. „Ich 
bin das Brod des Lebens,“ fpricht er felbft; „wer zu mir kommt, den 
wird nicht hungern, und wer an mid glaubet, den wird nimmermehr 
dürften.” Beides tft Er: Wirth und Brod; wie er auch zugleich der 
Hirt ift und die grüne Au, der Weg und des Weges Ziel. Die 
fe8 Brod will gegeffen, d. h. mit dem Munde des Glaubens aufs, 
an⸗ und eingenommen, dem inwendigen Menfchen einverleibt, und in- 
nerlich verarbeitet und in Saft umd Blut verwandelt fein. Gefchtehet 
Dies, wie gerne läßt man dann denen da draußen die Träbern der 
Belt! Unſer Gefchmad ift ein anderer worden. Wir haben an 
jenem Brode genug, und fprechen freudig: „Selig, wer es iffet 
im Reihe Gottes!“ 

.In mancherlei Weife wird diefes Brod ıms aufgetragen. In der 
Schäffel des Worts zumächft: in der der Vorbilder und VBerbeis 
Äungen des alten, fo wie in der der Gefchichten und Lehr⸗ 
ſprüche des neuen Zeftaments. Hier genießen wir das Himmelbrod 
vermittelft gläubiger Betrachtung und aneignender Erwägung. Biel 
füßer aber noch will e8 fchmeden, wenn wirs Teibhaftig finden auf 
der Tafel unfres eignen Lebens und Innewerdens. Wenn Er uns per⸗ 
fönlich nahe tritt, und wir Seine Zußtritte in unfern Führungen umd 
Geſchicken raufchen hören, und der Hauch Seines Mundes umfüchelt 
unfre Stim, und Er felbit ſpricht Grüße des Friedens in unfre Seele, 
und greift uns umter die Arme, wo wir ſchwanken, und richtet uns 
wieder auf, wo wir flraucheln, ımd trocknet uns das Auge von Thrä- 


112 Der Vorhoſ. 


nen, wo wir weinen, und beitet uns traut an Seinem Mutterherzen: 
wie rufen wir da erft mit himmlifchem GEntzüden: „Selig, ſelis, 
wer das Brod iſſet im Reiche Gottes!“ 

Run aber gibt es eine Stelle auf Erden, da lann's, wie nir⸗ 
gend fonft, erfahren werden, daß es „jelig, felig“ fei, Dad Brod 
"zu effen im Reiche Gottes. Sicher wird uns da das Wunderbrod 
zu Theil, und wir empfangen’s ganz, wie Gott es zur Rahrumg ſei⸗ 
ner Kinder bereitet hat; und in einer neuen, eigenthümlichen 
Weiſe werden wir feiner da theilhaftig. Diefe Stelle iſt der Tiſch 
des Herm. Der Bedeutung diefer hochheiligen Bundestafel Inma⸗ 
nuels nachzufragen, ift der Zweck unfres heutigen kirchlichen Zuſam⸗ 


menſeins. 


1 Estinther 10, 16—21. 11, 26. 


Der Kelch der Segnung, welchen wir fegnen, ik er nicht eine Gemeinſchaſt bei 
Bintes Chriſti? Das Brod, welches wir brechen, ik es nicht eine Gemeinſchaft bei 
Leibes Chriſti? Denn Ein Brod if es, fo find wir Viele Ein Leib; dieweil wir «ße 
des Einen Brodes theilbaftig find. Sehet an den Ifrael nach dem Fleiſch: welche Die 
Opfer effen, find die nicht in der Gemeinfchaft des Alters? Was will ich ben um 
fagen? Bill ih fagen, daß der Göße etwas fei? oder daß daS Göbenopfer etwai fit 
Aber ih fage, Daß die Heiden, was fie opfern, das opfern Re den Tenfeln und nicht 
Gott. Run will ich nicht, daß ibr in der Teufel Gemeinſchaft fein follt. Ihr Einuel 
nicht zugleich trinlen des Herrn Kelch und der Teufel Kelch; ihr lönnet wicht zugleich 
theilbaftig fein des Herrn Tiſches, und der Teufel Tiſches — — So oft ihr von 
diefem Brod effet, und von diefem Kelch trinfet, ſollt ihr des Herrn Tod vertünbigen, 
bis dad er fommt. 


Aus unfern bisherigen Betrachtungen über das heilige Abendmahl 
wird euch Mar geworden fein, Daß daffelbe mehr ald eine Seite habe, 
und daß wir deßhalb darauf verzichten müffen, feine Befimmung 
mit einem Worte auszufprechen. Stand's doch von vornherein zu 
erwarten, daß, wenn der Herr der Herrlichkeit eine Stiftung der Liebe 
binterlaffen wollte, dieſelbe von göttlichen Gebalt und hehrer Bedeu 
tung überfließen würde. Und infofern bat der Streit der Schrift 
gelehrten, der fih um dieſes erhabene Inſtitut entfponnen hat, auch 
fein tröftlihes Moment, als er im Grunde nur von der Tiefe des 
Reichthums in dem heiligen Saframente Zeugniß gibt. 

Bird Alles, mas Gottes Wort über das heil. Abendmahl enthält, 
forgfältig und vorurtheilsfrei von und erwogen, fo ergibt ſich, die Bes 


Das Aendmahl. 118 


ſtimmung des Abendmahls fei eine dreifache. Das heil. Abendmahl 
erſcheint zuerſt als Gedächtniß-, dann ale Verſiegelungs— md 
endlich ald Vereinigungs mahl. 

Schauen wire aus diefem dreifachen Geftchtspunfte näher an; und 
gebe uns der Herr das Geleite “if unferm Betrachtungswege! 


Es gehört ein hoher Grad von  Berblendung oder Eigenfinn dam 
um zu verlennen, daß das heil. Abendmahl wenigſtens auch die Bes 
ftimmumng habe, eine Gedächtnißfeier zu fein. Spricht doch der 
Herr fowol bei Anordnung des Brodbrechens, als bei der Kelchſtif⸗ 
tung ausdrädlich: „Solches thut zu meinem Gedächtniß“. Und 
wenn er 1 Corinth. 11, 26 erklärend hinzufügt: „Denn fo oft ihr von 
diefem Brode effet und von dieſem Kelche trinfet, follt ihr des 
Herrn Tod verfündigen, bis daß er kommt,“ fo ift damit ders 
jenigen Deutung jener Worte, die ſich fofort beim erften Anblick ders 
felben jedem ımbefangenen Lefer aufdrängt, und gemäß welcher die 
Nachtmahlsſtiftung zumächtt als Denkmal, die Communion als hei 
figes Erinnerungsfeft des Glaubens und der Liebe ſich barftellt, 
das göttlich beftätigende Siegel aufgedruͤckt. 

Das heil. Abendmahl iſt ein fortgehendes Zeugniß des Herrn; 
ein Zeugnig in Zeichen, ftatt in Lauten, in Bildern, ftatt in Worten. 
Er entrollt in demſelben vor dem Angeficht Seiner Kirche ein erhas 
benes Gemalde, zunächſt dazu beſtimmt, das Bewußtſein von dei, 
was den Mittelpunkt des ganzen Ehriftentfums bilde, und das Evans 
geltum erft zum Evangelium mache, in ihr lebendig umd wach zu ers 
halten. Seine Baffion malt Er ihr darin vor Augen. Die geheim 
nißvollen Schauer des Kalvarienberges läßt er in bedeutfamen Sym⸗ 
bolen an ihr vorüberziehn. Er erfcheint in dem Bilde ald Das Lamm, 
das der Welt Sünde trägt; als der Bürge, der zahlend für die 

igen eintritt; als der Hohepriefter, der für die Uebertreter 
fein Leben zum Löfegelde gibt; als der Mann der Schmerzen, 
der ein Fluch wird an ihrer Statt, auf Daß Er fie vom Fluch erlöfe: 
Das Kreuz wird auf der Höhe Zions aufgepflanzt, und zwar als der’ 
Grandpfeiler alles Heils, als das Wunderzeichen der Welterrettung, 
als der Lebensbaum, defien Früchte zur Genefung der Völker dienen; 
md Er, der einft an dieſem Marterholge die Sünde gefühnt, den Tod 
getödtet hat, ift es felbit, der in Seinem Sakramente jenes Panier 
afwirft und erhöht, — 8 | 


114 Der Barhei. 


Welch’ einen hohen Werth hat aber das Keil. Abendmahl ſchon in 
dieſer Gigenfchaft einer authentifchen Urkunde des Herrn Ehrifti ſelbſt 
über das durdy Ihn vollbrachte Verſohnmgswerk als über das un 
wandelbare und überfihwenglich genügende Fundament unferer ewigen 
Scigfeit! Lind welch' einen Segen ftiftet e8 infofern bereits, als es 
mit der Autorität eines untrüglichen Zeugniffes der Welt die Exrhal 
tung und ununterbrochene Verkündigung des weientlichften Lehr⸗Artilels 
der evangelifchen Kirche ſichert. Es bat eine Zeit gegeben, da in wei⸗ 
ten Strecken der Chrütenheit das Dogma von der großen Frieden 
fliftung im Blut Des Lammes in der öffentlichen Predigt fo gut wie 
verfhollen war. Der Born des Siündertroftes wäre damals völlig 
verjhüttet geweſen, hütte das heil. Abendmahl ihn nicht noch - 
und in Fluß erhalten. Es gibt noch heute ganze Landeskirchen oder 
doch einzelne firchliche Sprengel, auf deren Kanzeln das Imutere Evans 
gelium längft verſtummte. Verſtummte e8 aber auch auf den Ranzen, 
fo doch nicht in den Gemeinden, in die, während die Schriftgelehrten 
fihweigen, der Ziich des Herm nach wie vor mit flummem und Dei 
fo beredten Munde daffelbe laut hineinpofaunt. Prediger gibts, die 
Jahr aus Jahr ein den Namen Jeſu kaum auf ihre Lippen bringen, 
geichweige die Herzen ihrer Hörer Ihm zu gewinnen fuchen. Diefel 
ben Prediger fehn ſich nichtsdeftoweniger, fo oft ein Abendmahl 
fonntag erfcheint, wider ihren Willen genöthigt, Chriſtum den Ge 
fragigten zu verfündigen und Die Gemeinde zu Ihm einzuladen. Gie 
müffen ja zu Zeiten in ihren Gotteshäufern die heilige Tafel dei 
fen; und was thun fie da, als daß fie der Gemeine die verfühmende 
Paffion Immanuels vor Augen malm? Sie müffen ja an die Ge 
meinde die Aufforderung ergehn laſſen, zu diefem Zifch hinzuzunahn; 
und zu wen laden fie fie dann, als zu dem einigen Retter armer Sim 
der? Sie müffen ja den Hinzunahenden die Zeichen des Leibes und 
Des Blutes zum Genuſſe reichen; und wozu rufen fie hiemit gegmans 
generweife Die Leute auf, als zu gläubiger Umfaffung des in jemen 
Bildern abgefchatteten Kreuzesopfers? Sie müffen ja bei der Dar 
reichung des Brods und Weins die heiligen Einfekungsworte fprechen; 
und was bezeugen fie damit, als daB in Eprifti Opfer der Grumd jed⸗ 
weden Held, ja Das ganze neue Zeftament befchlofien ruhe? — Ge 
find aljo felbft die Miethlinge und falfchen Propheten in der Kirche 
gegoungen, bei dieſem Tiſche wenigftens je und dann einmal ihren 
Schafen die rechte Weide zu erichließen. Mit weifer Berechnung bat 


Das Abendmahl. 113 


der große Erzhirte dafür geforgt, daß auch da, wo geiftliche Seelen- 
mörder fich in den Schafftall feiner Kirche einfchleichen möchten, dieſe 
ſelbſt wenigftens dann und wann nothgedrungen als Botfchafter an 
Chriſti Statt auftreten, und, ob auch mit widerftrebendem Geifte, den 
Stiedern der Gemeine zurufen müffen: „Laffet euch verfühnen mit 
Bott durch Das Blut des Lammes!“ — O, welche füße Beruhigung 
gewährt mir diefe Betrachtung im Hinblid auf fo mandye Gegenden 
md Gemeinden much unfres Baterfandes, in welchen die armen Leute 
son Kindesbeinen auf bis zu ihrem Ende nie fonft ein evangelifches 
Bort, und kaum eine Sylbe von Chriſti Kreuz und deffen Bedeutung 
m hören befommen. Nun fteht aber much dort, al8 ein hellfcheinendes 
Bahrheitszeugniß inmitten der Liigentempel, der heilige Tifch mit feis 
ıer Haren, kindfaßlichen Bilderpredigt; und ich bin gewiß, daß dieſe 
m unzähligen Herzen mächtiger und überzeugender reden wird, als 
illes glaubensiofe Geſchwatz, das irreleitend von den Kanzeln auf fte 
indringt. Wie, daß wir nicht ſchon aus Diefem Grunde die heilige 
Bundestafel fegnen, und den Herrn für Seine Liebesftiftung Dank, Lob 
md Anbetung bringen follten! — 

Und weldy einen belebenden Einfluß übt das heil. Abendmahl fchon 
n der Eigenfchaft eines bloßen Bildes und göttlichen Denkmals auch 
mf den Glauben der Gläubigen aus! Wie thut e8 wohl, den Herrn 
ver Herrlichkeit vermittelft jener Stiftung aufs neue gleichfam Teib- 
yaftig bezeugen zu hören, daß das Opfer, mit welchem feine Ges 
yelligten in Ewigkeit vollendet find, wirklich gebracht fei! Wie troft- 
voll iſts, Die ganze Güterfülle, die Ehriftus uns erwarb, in die ſym⸗ 
oliſche Geſtalt eines Mahls gefaßt zu fehn, zu welchem es eines 
mdermweitigen Einlaßbriefes nicht bedarf, al8 den Der arme Sünder 
m feinem geiftigen Hunger und Durft ſchon mit fih bringt! Und wie 
rquicklich, in den fügen Friedensglodenflängen: „Nehmet, effet, 
rintet; für euch gebrochen, für euch vergoſſen“, Die leutſeligſte 
ind verheißungsvollfte aller Einladungen verlauten zn hören! O, wie 
verfüngt fi da in uns das Bewußtſein um das Tiebliche Loos, das 
n Chriſto Jeſu uns gefallen ift! Wie frifeht und fleigert fich Die 
Begenliebe zu dem, der alle Strahlen Seiner Erbarmung in Diefem 
Saframente als in einem Brennpunkt vereinigte! Wie fühlt man 
ich nen ermimtert und gedrängt, „den Tod des Herrn zu verfündigen, 
#8 daB er kommt“, und es laut zu bezeugen, daß man nichts mehr 
viffen wolle, als Jeſum Chriſtum, den Gekreuzigten! 0 hebt fich 


116 Der Borhef. 


bei diefer Tafel der Belennermuth; und wie befebt und ftärkt ſich, 
gegemüber der Sünde, der Welt, dem Tode und dem Teufel, das Sie⸗ 
gesbemußtfein! Ich kann mir's erflären, wie felbit Solche, welche das 
Saframent nur Zwinglifch anzufchauen unterwiefen waren, nichts 
deftoweniger aus demfelben ſchon eine weltüberwindende Märtyrer 
freudigkeit zu ſchöpfen vermochten. Nicht allein veranfchaulichte ihnen 
ja das Mahl die für alle Ewigkeit gelegten Grimde ihrer göttlichen 
Kindfchaft und Erlöfung; fonden als Mahl verbürgte es ihnen zw 
gleich die perfönliche Gegenwart des Wirths, der die Tafel dedite, 
und der, nachdem er verheißen, alle Zuge bis an das Ende de 
Belt bei den Seinen zu verbleiben, fiher dort am legten fehlen 
werde, wo er fo hauswäterlich traut feine Kinder zu fich zu Tiſche 
lade. — 

Urtheilt nun felbft, Geliebte, welchen Namen das Berfahren der 
jenigen verdient, welche, in offenbarem Widerfpruch mit der ausdräd 
lichen Beftimmung der göttlichen Stiftungsurfunde, von dem heiligen 
Abendmahle als einem Gedächtnigmahle, nicht allein nichts wiffen 
wollen, fondern fogar von Diefer Seite und Bedeutung des Salra⸗ 
ments geringfchäßig, ja’wegwerfend reden können. Welche die meuſch⸗ 
lichen Autoritäten auch immer ſeien, auf die fie ſich bei dieſem ihrem 
Thun berufen: über Aller Autorität fteht der unzweideutige Buchſtabe 
des göttlichen Wortes; und der uöthigt und eine andere Anfchauung 
der Sache auf. 

2. 

So feft wir jedody auch daran halten, daß das Abendmahl nach des 
Herrn Willen und Verordnung zun ächſt veranfchaulichendes Deuts 
mal feiner großen Liebesthat, und Gedächtnißfeier umfrer ewigen 
Erlöfung ſei; ebenfo entjchieden treten wir denen entgegen, welde 
hierauf die ganze Bedeutung des Saframents befchränfen wollen. 
Ihre, das heilige Vermächtniß ausleerende, Anficht fcheitert ſchon, 
wie gefagt, an der ganzen feierlichen Stimmung und Haltung, wit 
der wir den Herm zur Einfegung feines Mahles fchreiten fahen, md 
fann vollends vor dem Wörtlein „iſt“ in der GStiftungsformel, fo 
wie vor dem apoftolifchen Ausdrud: „Die Gemeinfchaft des Leibes 
und ded Blutes Chrifti“, und vor den wider die unwürdig Eſſenden 
und Zrinkenden ausgefprochenen fchweren Drohungen nimmermehr 
beftehn. Bon vorneherein ift ja mit Zuverficht anzunehmen, daß 
eine Teptwillige tefiamentarifche Beſtimmung des Königes der Könige 


Das Abendmahl. 117 


auf Größeres und Bedeutungsvolleres bereihnet fein mußte, als auf 
Die bloße Anordnung eines ob auch noch fo Tieblichen, erquicklichen 
und glaubensſtaͤrkenden Erinnerungsfeftes. Und freilich hat es 
wit feiner Stiftung noch eine andere, erheblichere und ungleich tiefere 
Bewandtniß. 


Das thenerwertheſte und ſeligſte Gut, das ein Menſch auf Erden 
befigen kann, iſt, naͤchſt der Vergebung der Sünden ſelbſt, das klare 
und beftimmte Bewußtſein von dieſer ihm zu Theil gewordenen 
Bergebung. An ſolchem Begnadigungsbewußtfein hat er hienieden bes 
reits einen Vorſchmack der himmlischen Seligfeit. Frei von Furt 
amd Sorge zieht er feinen Weg; Friede und Freude find die Engel, 
die ihn geleiten, Fröhlich blickt er zu den Sternen als zu den Lich⸗ 
tern der Heimath auf, zu der er pilgert; und die Wetterwolfen jeder 
äußeren Zrübfal lichten fi) ihm in der Beftrahlung des heitern Tas 
ges, der in feinem Innern leuchtet, Zu jenem entzüdlenden Bewußt⸗ 
fein aber foll uns armen Sündern durch Genuß des heil, Abendmahls 
verholfen werden; und dies ift der weſentlichſten Zwede einer, zu des 
nen der Herr die Stiftung feiner Liebe verordnet hat. Wer es ſchon 
weiß, dag ihm Erbarmung widerfahren tft, den foll das heil. Mahl 
in diefem Wiſſen neu beſtärken. Wer erft ſolche Gewißheit ſucht, 
fol diefelbe bei der Bundestafel finden. Wahr iſt's, daß der heil. 
Geiſt auch ohne das Saframent uns „Zeugniß“ geben kann, „Daß 
wir Kinder Gottes find”; aber wäre uns dieſes Zeugniß auch 
fhon geworden, wo ift der Ehrift, der fagen koͤnnte, Daß er einer 
weiteren Befeftigung und Belebung diefer feiner Zuverficht nicht be, 
dürfe? Wer ftünde fo feft in dem Glauben an feine Kindfchaft, daß 
er niemals wieder irre würde umd wankte? Wen föchte nicht zu Zeiten 
wieder ein Zweifel an, ob das, was er für ein Zeugniß des heil. Geis 
fies in fi halte, auch wirklich ein folches fei? Und wer, wenn er 
auch feines Antheils an Ehrifto noch fo verfichert ift, wird nicht ges 
ſtehen müſſen, daß feine Ueberzeugung eine noch flärkere fein würde, 
wenn er den beneidenswerthen Vorzug der Zeitgenoffen Jeſu theilen 
könnte, und, wie einft der Gichtbrüchige, Maria Magdalene und Ans 
dere, ſinnlich hörbar aus dem Munde des Herrn felbft das füße 
Bort: „Sehe hin mit Frieden; deine Sünden find dir vers 
geben!” vernommen hätte? — Wiſſet aber, Geliebte, DaB uns eben 
für jenen Borzug der erften Ehriften das heil. Abendmahl eine Art 
Erfapes bieten, und uns möglichft vollitändig für Dasjenige ent⸗ 


118 Der Borhof. 


ſchädigen fol, was etwa durch den Rücktritt der fihtbaren Erſchei⸗ 
nung Zefu von der Erde Begehrenswerihes und Köſtliches uns ent⸗ 
zogen wurde. Die Sichtbarkeit unferes Heilandes ift für uns gleid« 
fam in die Saframente übergegangen; und indem der Her uns aufs 
fordert, im heil. Abendmahle fein Gedächtniß zu feiern, „bis daß 
er wiederfomme”, deutet er unverkennbar felber an, daß Das Keil, 
Mahl dazu beftimmt fei, während der Zeit, die zwifchen feiner Him⸗ 
melfahrt und feinem fichtbaren Wiedererfcheinen in der Mitte Liegt, 
die Stelle feiner leibhaftigen Gegenwart und zu vertreten. 

Seht euch die heilige Tafel an. An und für fih iſt es ein Ge 
ringes, was fie zum Genuffe darbeut: ein wenig Brods und Weins. 
Aber beachtet wohl: ein Brod, das der König aller Könige feinen 
Säften bricht und „feinen Leib“, nennt; und ein Bein, den der 
Herr aller Herrn feinen Freunden einfchenkt, und als „fein Blut“ 
oder als das „neue Teftament in feinem Blut” bezeichnet. 
„Das ift mein Leib, das ift mein Blut“, fpriht Er, der feine 
Worte zu wägen und zu wählen pflegt. Und wie weit find auch wir 
davon entfernt, das Wörtlein „iſt“ in diefer Rede zu uͤberſehn und 
zu unterfchägen. Wir belaffen demfelben fein volles Gewicht, und 
geftehen zu, daß es mehr befagt, als ein „es bedeutet.” Es vers 
gleicht nicht blos; es ſtellt die Gegenftände, die es nennt, einander 
gleich. Es Hat fi) damit, daß ich Niedres mit dem Erhaben⸗ 
ften in Parallele ftelle, wie mit dem „Dies ift“ eines menfchlichen 
Fürſten, welches einem Schatzſcheine den vollen Werth derjenigen 
Summe verleiht, den die einfache Erklärung des hohen Ausftellers 
und Garanten ihm zuerkannt. An und für ſich ift das papierene 
DBrieflein völlig werthlos; aber das königliche Wort legte ihm 
eine goldgleiche Währung bei, Das Oberhaupt des Staates, deſſen 
Namen die Anweifung trägt, wird die letztere nicht verleugnen, for 
dern allaugenblidlich bereit fein, das an fich geringfügige Unterpfand 
gegen den realen Schaß, den es repräfentirt, einzulöfen. Denkt euch 
nun, es reichte der König aller Könige und irgend Etwas Dar, und 
begleitete daffelbe mit den Worten: „Dies ift meines Leidens und 
Sterbens Frucht: die Vergebung der Sünden, das Kindfchaftsrecht, 
Das ewige Leben u. f. w.“, empfingen wir dann nicht mit dem Dave 
gereichten Gegenftande, und wäre diefer auch nur ein Biffen Brodes 
oder ein Tropfen Weins, zugleich dasjenige wirklich, als was Er 
den Gegenftand bezeichnete; und hieße es nicht die Wahrhaftigkeit 


Das Abenomahl. 119 


des Darreichenden in Zweifel ziehn, wollten wir noch Bedenken ira 
gen, uns fortan zu rühmen, daß es nicht blos Brod und Wein ges 
wefen, defien wir theilhaftig wurden, fondern daß wir mit dem Brod 
und Wein auch die genannten Güter felbft wahrhaftig und unmittel⸗ 
bar aus der Hand des Herrn empfangen hätten? Nun gefchieht es 
aber in der That, Daß uns der Herr bei feinem Mahle ein Aeußeres 
jener geringfügigen Gattung darreicht; aber dabei die Worte ſpricht: 
„Dies ift mein für euch gebrochener Leib, md mein für 
euch vergoffenes Blut,” oder: „Das iſt's, was ich in meinem 
bintigen Opfertode euch erwarb.” Was follte nach gläubiger Hins 
nahme jener Unterpfänder mid, noch hindern Lönnen, aufs zuverſicht⸗ 
lichſte zu jubeln: „Ich habe Theil an Der Erlöfungsgnade Jeſu Chriſtil 
Mein Mund, mein Auge, ja, alle meine Sinne find Zeugen, daß er 
perfönlidy einen Antheil am Ddemfelben mir zugefprocdhen. Gr ſprach 
fein „Dies ift mein Leib, mein Blut” in gleichem Sinne, wie ein 
Schuldner bei lieberreihung eines gerichtlich abgefaßten und unters 
ſiegelten Berfchreibungsdolumentes fagen dürfte: Dies tft mein Haus, 
mein Hof, mein ganzes Erbe. Chriſtus würde, um jedes Zweifels 
mich zu überheben, die Frucht ſeines Todes mir, wie wir zu fagen 
in natura in Mund und Hände legen, wäre jene Frucht nicht 
etwas Geiftiges und Linfichtbares. Dennoch gelangt er zu demfelben 
Ziele, indem er mir in dem Brod und Wein ein finnlich Faßliches 
zum Genuffe darbeut, und mic, kraft göttlicher Autorität ermächtigt, 
e8 als die bezeichnete Sache felber anzufehn.” — 
Zu folder Sprache bin ich nad würdigem Genuß des Sakra⸗ 
ments nunmehr befugt. Was ift fomit das heil. Abendmahl? Eine 
Stiftung der Liebe, durch welche mir der Herr, in leutfeliger Herab⸗ 
faffung zu meiner Schwachhett, für Seine fichtbare Gegenwart md 
Seinen fimlich vernehmbaren Zuſpruch eine meinem menfchlihen Bes 
bürfniß entiprechende Entſchaͤdigung bieten will Als Erjag für jeine 
unmittelbare mündliche Huldverficherung überreicht er mir in den Abends 
mahlselementen ein Etwas, das einer bandfaßlihen Urkunde Hber 
meinen Antheil an den Gütern des neuen Zeflamentes gleich kommt. 
Ich berufe mich darauf vor feinem Throne als auf eine Schuldvers 
fhreibung, die Seine eigne Königshand mir ausgeftellt; und begegue 
proteftirend damit allen Anklagen des Satans, als mit einem Frei⸗ 
briefe, vor deſſen Unterfchrift auch er verflummen muß. 
Diefe Auſicht vom heil, Abenbmahle als einem Gtegelmante 


129 Der Vorhel 


findet ihre Stüße zubörderft in dem Woͤrtlein „iſt“, welches den fa 
framentlichen Elementen die Bedeutung einer wirklichen Repräſen⸗ 
tatton der bildlich bezeichneten Güter mittheilt; fodann im ben 
Worten: „Diefer Kelch ift Das neue Teftament in meinem Blute“, 
welche zunächſt nicht fowol an das Blut Chriſti ſelbſt, als viel⸗ 
mehr an die Seligleiten denken heißen, welche durch Vergießung jenes 
Blutes erzielt und erworben wurden; Drittens in der Analogie des 
Paſſamahls, das ja gleichfalls die Stelle eines beflätigenden Siegels 
zu einer göttlichen Verheißung einnahm; viertens in dem apoſto⸗ 
lichen Ausdruck, welcher das gebrochene Brod „eine Gemeinſchaft 
des Leibes Chrifti”, d. i. dem nächften Wortfinn nad), „eine Bethei⸗ 
ligung an demfelben” nennt; und endlih fünftens in der Paralleke, 
in welche unfer Text das heil, Abendmahl mit den jüdifchen Opfer 
mablzeiten ftellt, vermittelft deren die Feiernden die Frucht der dar⸗ 
gebrachten Opfer fih zuzueignen umd mit Freuden durch den Glan 
ben zu genießen pflegten, Ich falle nicht, wie lutheriſche Kirchenlehrer 
haben behaupten wollen, daß denen, welche zu ihrem Dogma ſich zu 
belennen Anftand nähmen, an Brod und Wein nichts Anderes übrig 
bliebe, als bloße Symbole md Erinnerungszeihen. Hätten 
fie die Bekenntnißſchriften der reformirten Kirche, namentlich die Des 
Genfer Gepräges, vorurtheilsfrei durchforfcht, fie würden fich eines 
Andern haben überzeugen müffen. 

' 3 


Nicht einen Augenblid jedoch fteht mir's in Frage, daß in demje⸗ 
nigen, was wir bisher als Sinn und Zwed des heil, Mahles fanden, 
die Bedeutung deffelben fich noch nicht erfchöpfte. Das Mahl ik 
mehr, ald Gedächtniß- und Siegelmahl. Ja, es gipfelt fich feine 
Bedeutung erft in derjenigen eines Mahles der Bereinigung mit 
Chriſto. Die perfönliche Gegenwart des Herm bei der Commumion 
wird ſchon, wie bereitS bemerkt, durch die Form verbürgt, in welche 
das Sakrament gekleidet ward. Ein Mahl iſt's, und als foldhes 
fordert e8 die Anmefenheit des Wirths. Es wird dabei gegeffen und 
getrunken; und Efjen und Zrinfen vermittelt eine innige Bereinigung 
der genofjenen Elemente mit unfrer Natur, ja eine Einverletbung 
derfelben in unfer Weſen. Daß eine ſolche auch im Sakramente fi 
vollziehe, und daß das hier mit uns fich einende Objelt Chriſtus 
felber fei, wird durch unfern heutigen Text über allen Widerſpruch 
erhoben, „Sehet au’, fpricht Paulus, „den Iſtael nach dem Fleiſch. 


Das Abendmahl. 121 


Beide die Opfer efien (an den Opfermahlen ſich betheiligen), find 
Die wicht in der Gemeinfchaft des Altars?“ Zunachft will der Apoftel 
hiemit fagen: „Ste haben am Altar, oder an der durch den priefters 
lichen Altardienft erwirkten vorbildlichen Verſoͤhnung Theil”; ſodam: 
„Sie bezeugen durch ihre Theilnahme an dem Opfermahle, daß fie der. 
ifraelitiſchen Glaubensgenofienfchaft beigehören”; und endlih: „Ste 
ftellen fi damit in ein Verhältniß der Untergebenheit und Leident⸗ 
lichkeit zu Dem Gott, dem das Opfer gebracht ward, und treten dadurch 
in den Sreis Seiner führenden, erziehenden und zum Himmelreich bil⸗ 
denden Einwirkungen ein.” — Der Apoftel gedenkt hierauf der 
heidniſchen Goͤtzenopfermahle, von denen er die zum Theil einer falfchen 
Breiheit fi) rühmenden Gorinther allen Ernſtes abmahnt. „Was will 
ich denn nun fagen?“ beginnt er. „Bill ich fagen, daß der Göße 
Etwas jei, oder Daß das Göbenopfer etwas ſei?“ — Bon vomherein 
verwahrt er fich hiemit gegen die Folgerung, als erkenne er den Goͤt⸗ 
tern der Heiden eine reale Eriftenz, und ihren Göbenopfern eine ihnen 
einwohmende Kraft und Wirkung zu. „Nein“, fagt er, „die Goͤtzen 
ſind nichts, als leere Phantafiegebilde, und die Gößenopfer Fleiſch, 
wie andres Fleiſch, Das an fich keinerlei zauberifchen Einfluß übt.” 
„Aber“, fährt er fort, „Die Damonen haben im Gößendienft ihr 
Berk, und halten durch die Opferfefte das verblendete Volk in dem 
abgöttiichen Lügenweien überhaupt verftridt. Was alfo die Heiden 
opfern, opfern fie (ob auch unbewußt) den Teufeln,” welche vermits 
beift dieſes Opferwerks ihre Zwecke erreichen und darin ihre Triumphe 
lien. — „Run aber”, fährt der Npoftel fort, — und hier liegt der 
eigentliche Nero feiner ganzen Rede, — „will id) nicht, daß ihr in der 
Teufel Gemeinſchaft fein ſollt.“ — „Durch eure Theilnahme an den 
Bößenmahlen” (zumal den Corinthifchen, welche zur Ehre der Venus 
gefeiert zu werden pflegten,) „‚gerathet ihr ſelbſt“, — Dies ift der apoftos 
liſchen Worte Sinn, — „ehe ihr e8 euch verfeht, unter den Eins 
fiuß der finftern Geifter, die hier ihr Wefen treiben. Das aber 
ſollt ihr. nicht.” „Ihr könnt nicht zugleich trinken des Herm Kelch 
und der Teufel Kelch; ihr könnt nicht zugleich theilhaftig fein des Herrn 
Tiſches und der Teufel Tiſches.“ — Beachtet num mit aller Sorgfalt, 
Heben Brüder, was der Apoftel in diefer Erörterung zur Beleuchtung 
bes heil. Abendmahles beibringt. Indem er fagt, Das Opfermahl der 
raeliten fege diefe mit dem Gott, dem der Altardienft gelte, das 
Bögenmahl hingegen die. Heiden mit den Teufeln, die hier in m 


124 Der Border. 


baſter Bers: „Ber mein Fleifch iffet und trinket mein Blut, 
der hat das ewige Leben, und ich werde ihn am jüngften 
Tage auferweden”, in Beziehung zum heil. Abendmahle au 
Jedenfalls würde der Herr, wenn Ihm hier nicht auch eine leib liche 
Bereinigung mit Ihm vorgefchwebt hätte, ſich anders ansgedrädi, 
und namentlich auch die über die „harte Rede” murrenden 

mit einem andern Befcheide zurechtgewiefen haben, ald mit demjenigen, 
der euch befannt ift. Genug, indem der Heiland bei feinem Sal 
mente fpricht: „Dies“ — (ich erinnere hier wieder an die neutrale, 
oder fächliche Form dieſes Fürworts,) „iſt mein Leib; Dies if 
mein Blut,“ theilt er uns neben den geiftlichen Gütern zugleich von 
feiner verflärten Leiblichkeit mit, und verfeßt uns mit feiner. gotts 
menſchlichen Berfönlichkeit in die wejenhaftefte und ums 
faffendfte Gemeinſchaft, eine Gemeinfchaft, deren Herrlichkeit und 
fegensreiche Folgen ſich hienieden nur theilweife unferm Bewußtſein 
erfchließen. 


Seht, Freunde, fo legt fi) die Beſtimmung des heil. Abendmahls 
in der dreifachen Bedeutung eines Gedächtniß⸗, Siegel- und Ver⸗ 
einigungsmahles vor uns auseinander. Wo man fih in Dies 
fer Anfchauung vom Tifche des Herrn begegnet, follte man doch nicht 
ferner hadern und ftreiten, fondern der Einheit des Glaubens mit 
Dank zu Gott fich freuen, Was über die Grenzen jener Anſchauung 
hinaus Tiegt, gehört der menfhlihen Schule und nicht mehr der 
biblifchen Theologie an. Mindeftens follte Niemand ſich beis 
gehen laffen, über Die Art und Weife, wie Ehriftus vermittelft des 
Brodes und Weines in die Gemeinfchaft feiner Leiblichkeit uns erhebe, 
eine beftimmte Satzung aufzuftellen, da die Schrift felbft Solches 
zu thun nicht für gut befunden hat, Der in aller Demuth fi bes 
fheidenden Ahnung und Vermuthung möge bier immerhin ein 
weiter Spielraum offen bleiben. Jeder herrifchen Dogmenbildung 
Dagegen ift in dDiefem Punkt durch Gottes Wort der Raum bes 
nommen. Das Wie der Speifung und Tränfung mit dem verflärten 
Leibe und Blute Ehrifti dürfte, fo lange wir im Dieffeits wallen, uns 
ferm Begriffe ein Geheimniß bleiben; daß aber eine ſolche wirk 
lich im Sakrament gefchehe, fteht, meiner Ueberzeugung nach, bibliſch 
feſt, und kann mit Gründen des göttlihen Wortes nicht bes 
ſtritten werden, 


Das Abendmahl. 125 


Id unvergleichliches Vermächtniß alfo, das uns der. Herr in 
m Mahle hinterlafen hat! Welch' eine Fülle himmliſcher Seg⸗ 
u und Gnaden, die Er in diefe unfcheinbare Stiftung für uns 
61 O, halten wir drum das Böftliche Erbe hoch in Ehren! — 
u wird durch oft wiederholtes heilsbegieriges Hinzunahn zur 
mng und Berflärung unfres inwendigen Menfchen aus! Erſchei⸗ 
sie nur im rechten Communionsſchmuck, das heißt: in Kindes» 
lt und der göttlichen Geiftesarmuth; und es wird ſich bei 
cklehr von der heiligen Stätte auch in unferm Herzenskirch⸗ 
in Wiederhall der brünftigen Worte des alten Kirchenfängers nie 
fen laſſen: 

Wohl mir, ich bin verfehen 

Mit Himmelsfpeis und Engeltranf; 

Nun will ich rüftig ſtehen, 

Zu fingen Dir Lob, Chr’ und Danf. 

Hinweg, du Weltgetümmel, 

Du bift ein eitler Tand; 

Ich ſeufze nach dem Himmel, 

Dem rechten Vaterland; 

Hinweg, dort werd’ ich leben 

Ohn' Unglüd und Berbruß; 

ein Gott, Du wirft mir geben 

Der Freuden Heberfiuß! — Amen. 


— — 


XII. | 
Herr, bin ich's? 





: Geheimniffe Gottes unterfcheiden ſich von denen aller menjch- 
Weisheit auch darin, daß Diefe nur dem im kühnen Auffchwunge 
6ft vertrauenden Geifte, jene dagegen allein dem an aller eignen 
gkeit verzagenden das Verftändniß ihrer Ziefen in Ausficht ftel- 
‚Es ift mir lieb,” fpricht David Pſalm 119, 71 aus fchmerz- 
figer Erfahrung heraus, „daß Du mich gedemüthiget haft, 
& deine Rechte lerne!” — In dem lebendigen Innewerden, 
de in uns felbft weder etwas wiflen, noch find, noch koͤnnen, 


126 Der Vorhoſ. 


Hegt nicht allein der Schlüffel zu allen Schaͤtzen der göttlichen Wahr 
heit, fondern bahnt ſich uns zugleich der Weg zu aller erreichbaren 
Herrlichfeit des Seins und des Vermögens. Wer faßt die Liebe Geb 
tes, bevor er feines eignen Elends überführt, wer ermißt die Wunder 
der Erlöfung, ehe er fich feiner Rettungsbedürftigkeit bewußt geworden 
it? Wer nicht fich felber ftarb, fteht auch nicht in Ehrifto auf; md 
in das himmliſche Wefen ftehet fih Niemand verfebt, er erlebte dem 
zuvor eine Niederfahrt in die unterften Derter der geiflfichen Ar⸗ 
muth. — Hiervon ein Weiteres mitelnander zu reden, beut unfer hew 
figes Evangelium uns Anlaß. 


Matthäus 26, 21—23. 


Und ba fle aßen, ſprach er: Wahrlich, ich fage euch, Ciner unter end) wirb mil 
verrathen. Und fie wurden fehr betrübt, und huben an, ein Jeglicher umter ihnen 
und fagten zu ihm: Herr, bin ih’8? Er antwortete und ſprach: Der bie Hand mit 
mir in die Schüffel tauchet, der wird mich verrathen. 


Die verlefenen Worte verfehen uns noch einmal in das Abendmahle 
gemach, und zwar in die Zeit zurüd, die unmittelbar der Stiftung 
des Saframents vorherging. Wir halten fomit Nachlefe auf dieſem an 
Betrachtungsftoff fo reichen Gebiete, und richten für heute unfre Blicke 
vorzugsweife auf Die wie in elfitimmigem Chore an den Herrn erge 
hende Jüngerfrage. In Ddiefer Frage erfcheinen uns Die Elfe als 
aͤngſtlich Forſchende. Beachten wir die VBeranlaffung, den Ges 
genftand, das Gebiet, das Hülfsmittel und endlich den Erfolg 
ihres Suchens. 

Helfe der Herr, daß wir bei der Scene, die heute an uns vorüber 
zieht, mehr als müßige Zufchauer feien! Verſetze er uns in eine ähn⸗ 
liche Bewegung, wie die Jünger, und führe er uns mit ihnen zu einem 
gleichen Ziele! 


1. 

Unverkermbar treffen wir die Zünger in unferm evangelifchen Bilde 
auf einer geiftigen Jagd begriffen. Ihre Gemüther find in lebhaftet 
Aufregimg; ihre Gedanken ſtrecken fih aus zum Erfpähen und Erha⸗ 
fhen. Was verfeßte fie in diefe unruhbolle Bewegung? Es thats 
ein andeutendes Wort des hoben Mannes in ihrer Mitte. Diefer 
bezeichnete ihnen den Gegenftand, den fie fuhen, und der ihnen bei 
ihrer Frage: „Herr, bin ich's?“ vor Angen ſchwebt. Seine Ber 


Her, bin I’? 137 


daß ein Menſch exiftire, wie der, um deſſen Entdediung es 
gebt, reichte für fie hin, um fie das Daſein eines folchen 
bezweifeln zu Taffen. Und in der That follte auch für ung 
aus Diefes Mannes Munde, was immer es beträfe, allem 
in Ende machen. Denn wer iſt's, der in Ihm die Lippen 
Ein Mann, deffen Erfheinung in der Welt Sahrtaufende vor⸗ 
das beftimmtefte fignalifirt ward; den Engelchöre und himm⸗ 
efolge aus dem Jenſeits auf die Erde herabgeleiteten; dem 
Stimme der hochwürdigen Majeftät in der Höhe felbft das don⸗ 
werfaute Zeugniß gab: „Dieſer tft es, und Ihn follt ihr hören“, und 
feinen überirdifchen Hetmathsfchein nicht in wörtlichen Bezeu- 
en nur, fondern zugleich im Glanze einer fonmenlichten Heiligkeit 
und in fchöpferifchen Allmachtsthaten vor uns entfaltet. Ein Mann, 
der zur Beurkundung feiner Dignität Verweſende ans den Todten⸗ 
gräften in's Leben zurüdrief, Stürme und Meereswogen gebieterifch 
ia feine Zügel bannte, über Tod, Teufel und Hölle einherfihritt wie 
ein Sieger über die Naden feiner Erfchlagenen, in Menfchenhers 
zen Ins wie in einem offnen Buch, und die entlegenfte Zukunft mie 
eime licht befonnte Landſchaft vor fih ausgebreitet fah., Ein Mann, 
dem auf Schritt ımd Tritt der Name „König aller Könige” vom 
Saum feines Gewandes blitzte; der, nachdem er feine große Miſſion 
erfüllt, die Erde wie einen leichten Kahn unter ſich wegftieß, und, um⸗ 
Hungen. von dem Zujauchzen bimmlifcher Heere, fichtbar in die ewige 
Gottesſtadt fi) hinüberfchwang, dann unter den Sterblichen ein Lob ſich 
bereitete von feurigen Zungen, und als Denkmal feines Namens den 
Tempel feiner Kirche, Diefe „Behaufung Gottes im Geift” Hinter fich 
zurhdfieß. Ein folder Mann, mit taufend Gotteshriefen beglaubigt, 
redete dort, und redet heute noch in der Welt; und felbft die Teufel 
gauben feinen Worten, und zittern. Und ihr, Unglüdfelige unter 
uns, Rachtwandelnde auf dem breiten Wege, ſaͤumt und zaudert noch, 
euch zum Glauben zu bequemen? Hörtet nicht auch ihr unzählige 
Male Ihn reden vom Ernfte der Ewigkeit und von der Nothwendig⸗ 
fett der Hausbeſtellung? Ich meine, gleich Sturmglodenkflang hätte 
euch amtönen müflen, was er davon vor euch bezeugte! — Vernahmt 
ihe nicht feine Ausfagen von Gottes Feuereifer wider die Miffethä- 
tee, dem enticheidenden Gerichte nach dem Zode, der Seligkeit der 
erprobt Befundenen, und von der ewigen Verdammniß der Unbußfer⸗ 
tigen? Ben mm ein Mann, wie Er, beihenert, es lodere dort eine 


HE 


J 


128 Der Borhef. 


Hölle für die Uebertreter, follten nicht die Steine zerfprüngen unter 
dem Eindruc feines Wortes? und ihr vermögt die erſchutternden Aus 
fprüche Diefes Untrüglichen Dahinzunehmen, als erfchöllen fie von den 
Lippen eines Albernen und Zräumers, umd Lönnt darunter fchlafen, 
wie unter einem Windeshauche, der nur fpielend durch Die Aeſte eines 
Baumes raufcht? DO, wiffet doch: von jenen Schredniffen der Gwig 
feit redet zu euch nicht ein Schwäßer, fondern der Mann, dem ſelbſt 
die Hölle die Anerkennung zu zollen gezwungen war: „wir wiflen, daß 
du bift Ehriftus, der Sohn Gottes!” — O, kommt ihr nur einmal 
an jenem Tage, und wollt zu eurer Entfchuldigung fprechen: „Her, 
wir vermutheten nicht, Daß es fo ernftlich hergehn werde; wir haben 
nicht geahnet, daß ein foldher Richterftuhl uns erwarte; nicht war ung 
bewußt, daß in der That des Sünders ein Feuer harre, Das nicht 
erlöfche, ein Wurm, der nimmer fterbe:” fürwahr, ein lautes Hohn⸗ 
gelächter der Abgrundsrotten wird euch auf eurer Selbftvertheidigunge 
rede zur Antwort dienen, und heißen wird es zu euch: „Wie, alle jene 
Dinge blieben euch verborgen, zu denen die Wahrheit ſelbſt von 
den Dächern her geredet, die ihr vor dem Lehrſtuhl des Meiſters 
aller Meifter gefeffen habt, und denen der Sternenhimmel einer wier 
Sahrtaufende hindurch nicht verftummenden Gottesoffenbarung über deu 
Häuptern ftrahlte? Was hätte mehr doch zu eurer Warnung und 
Zurechtweifung gefchehen können, als wirklich gefchehen it? Ihr aber 
wolltet das Leben nicht, fondern den Tod. Wohl ber denn, md 
ererbet ihn!” — 
2. 

Die Jünger in unfrer Scene verführen klüger. Sie dachten: „Der 
Meifter ſprach's“, und hatten daran genug, um an der Wahrheit des 
Vernommenen nicht einen Augenblid mehr zu zweifeln. Was hatte 
ihnen aber der Herr eröffnet? Ein herzerfchütterndes Geheimnig. Er 
fagte ihnen, e8 befinde fi wo ein unglückſeliger Menfch, der weder 
Theil noch Anfall am Reiche Gottes haben und nimmermehr das Leben 
fehen werde. Das Blut des Lammes werde ihn nicht wachen, die 
Gerechtigkeit des Mittlers ihn nicht decken; vielmehr werde er bleiben, 
was er fei: ein Kind des Teufels, welchem es beffer wäre, er wäre 
nie geboren worden. Es werde Diefer Verworfene den einigen Grund 
alles Heiles von ſich flogen und den Herm der Herrlichkeit verrathen,. 
und darum unrettbar, ein Fluch» und Todeskind, der ewigen Berdanmes 
niß entgegeneilen. Dies offenbarte ihnen Jefus. Und was fagen fie 


Herr, bin ich 7 1% 


Dazu? Gprechen fie: „Rede hin, rede her; fo ſchlimm wird's ja nicht 
fein?!” — Denten fie, wie Manche unter euch gedacht haben würs 
den: „Tod? — Ewige Verdammnig? — O, es gibt wol Menfchen 
nicht, die Dergleichen beforgen müßten, da Gott die Liebe iſt?!“ — 
Rein, fo denken fie nicht; fondern der Gedanke, der in ihrem Innern 
durchſchlaͤgt und Die Oberhand behält, ift der: „Es ſprach's der Mann, 
der mit Einem Blide Himmel, Erde, Gegenwart und Zufmft durch⸗ 
(haut, und in defien Mumde nie ein Betrug gefunden worden iſt;“ 
und Darum verfeßt Diefe Aeußerung ihre Seelen in ſolche Angft und 
Schrecken. 

Aehnliches, Bruͤder, wie dort den Jüngern, hat Er auch uns 
eroͤffnet. Auch wir vernehmen mindeſtens das aus feinem Munde, 
daß zu allen Zeiten zwar Viele berufen, aber aus der Gefammtheit 
der Völker und Gefchlechter der Erde nur Wenige auserwählt find, 
und den Weg zum Leben finden, wogegen Diele, denen es darum gleich- 
fall8 befier wäre, fie wären nie geboren worden, die Straße der Ver: 
danunniß wandeln und unaufhaltfam der Hölle entgegenreifen. An 
Bejanmernswürdigen diefer Art wird alfo auch in gegenwärtigen Au⸗ 
genblid fein Mangel fein. Er ſprach's ja, der nicht fügt. — Bohlen 
denn, nicht wieder den Kopf gefchüttelt, Freunde; nicht Teichtfertig an 
dem Worte vorbeigehufcht; fondern zu ernftlicher Kundfchaftung euch 
angefchict: „Wo find jene zur Schlachtbank Gezeichneten, und wie 
heißen die Namen diefer Todeskinder?“ — 


3. 

Die Ruhe unfrer Juͤnger ift bin, feitdem fie durch die Eröffnung 
ihres Meifters wiffen, Daß Einer vorhanden fei, Der ewig verloren 
gehe. Sie müffen dahinter kommen, wer der fei. Sie können die 
Sache nicht auf fi) beruhen laſſen. So geben fie fih denn an's 
Nachfragen und an's Spähen. Auf welchem Gebiete aber fuchen fie 
den Mann des Todes? Sie verrennen ſich nicht in's Weite, wie vers 
muthlih ihr gethan haben würdet, die ihr, um den verlorenen Sohn 
zu erfpüren, etwa Die Kerker und Nichtpläge durchmuftert, an die 
Derter, wo die Spötter und Xäfterer fiten, angeflopft, oder gar Die 
Ränberhöhlen und Mördergruben zu euerm Jagdrevier erfehen hättet, 
Die Zünger bleiben in der nächften Nähe, und fuchen den Signal 
firten zu Serufalem, in dem Saale, der fie vereint, an der Zafel, um 
welche fle:fich reihen, alfo in ihrem eignen Kreiſe. „Und ihr wißt, fie 
gingen nicht irre auf Diefem Wege. ' 

9 


180 Der Vorhoſ. 


Freunde, es ift noch Fein untrüglich Zeichen, daß man nicht felbft 
das Kind des Todes fei, wenn einen die Leute für ein Kind Gottes 
halten, und unfer äußerlicher Anſtrich ſolch Urtheil zu rechtfertigen 
ſcheint. Menſchen, die dem Verderben entgegentaumeln, gibt's aud 
unter den Ehrbaren und Unbefcholtenen, unter den Kirchlichen umd 
Gottesdienftlichen, ja, unter den Abendmahlsgängern, Betern, Pfalmen- 
fängern felbft. In Gemeinen, wo das Evangelium im Schwange geht, 
wie bei uns, fühet Satan wol eben fo viele Beuten in den Schlin⸗ 
gen eines religiöfen Selbftbetrugs, als er deren an andern Orten in 
den Zallgruben des Unglaubens und der Gottlofigkeit unter feine Bot 
mäßigleit bringt. ft euch doch bewußt, daß unter denen, au welche 
einft das Schredenswort ergehen wird: „Ich habe euch nie erkannt“, 
nicht Wenige ſich finden werden, die mit gutem Grunde werden fagen 
dürfen: „Herr, haben wir nicht vor Dir gegeflen und getrunken, und 
in deinem Namen geweiffagt, Wunder gethan und Teufel ausgetries 
ben?” — Auch den Elfen war dies nicht verborgen; und darum vers 
mögen fie ſich über die Anzeige des Herrn, daß ein Dermaledeiter 
unter ihnen fei, durchaus nicht Damit zu beruhigen, daß fie fih im 
der nächften Umgebung Jeſu finden. Selbſt in Diefer geheiligten Tafel⸗ 
runde machen fie Jagd auf jenen Menfchen. Es könnte ja in ihr 
ein Heuchler verborgen ftedlen, oder Einer, in welchem nur der alte 
Menſch fi) befehrte, ohne daß ein neuer in's Leben trat; oder ein 
Berbiendeter, dem über feinen wahren Zuftand die Augen gehalten 
wären, 

Freunde, nehmt euch an den Elfen ein Exempel, und fuchet auch 
ihr nicht zu ferne, wenn es ausfindig zu machen gilt, welche etwa zur 
Schlachtbank gezeichnet feien. Fangt mit der Erkundigung zwifchen 
euern eignen Wänden an, und fchließt euch felber nicht von denen aus, 
die ihr darauf anfeht, ob etwa fie die Beweinenswerthen feien. m 
Gegentheil, haltet Die Leuchte zuerft über Das eigne Haupt und Her. 
Gen Mitternacht wallen nicht Solche nur, die offen zur Aufruhrsfahue 
der Feinde Gottes und feines Gefalbten fchwuren; es gibt auch Men 
fhen, die mit der aufgefchlagenen Bibel in der Hand, mit dem Kreu⸗ 
zeözeichen an ihrem Halfe, und mit dem Namen Jeſu auf der Lippe 
— zur Hölle fahren. 

4 

Um den Gegenjtand ihrer Nachforfchungen nicht zu verfehlen, nah⸗ 

men die Suchenden in unfrer Scene zu einem Lichte ihre Zuflucht, 


Herr, bin ich87 131 


md zwar zu dem hellften und Durchdringendften der Welt, welches 
nimmer trügt und niemals falfchen Schein gibt. Es ift das Licht der 
Augen Jeſu, der Alles ergründenden, der Herz und Nieren prüfens 
den. „Herr,“ fprechen fie Einer nach dem Andern, tief geängftigt 
und befimmert, „bin ich's, bin ich's?“ — Und o, wie rührend ift 
Diefer Zug, wie lieblich, und wie nachahmungswürdig! — 

Mit derfelben Laterne, mit welcher jene, fuchte einſt auch David. 
„Erforfche mich, Gott,” ſprach er, „und erfahre mich; prüfe mein Herz 
und fiehe, wie ich e8 meine!” Die Pharifäer fuchten den Mann des 
Todes nimmer bei Diefem Lichte, fondern bei dem ihrer Eigen: 
liebe; und darum verfehlten fie ihn ſtets, obwol fie ihn fo nahe 
hatten. Bon den Unſern fuchen Viele ihn bei dem betrüglichen Scheine 
falfpger Merkmale, und ertappen deßhalb ihn ebenfowenig, wie 
ihn jene fanden. O du durchdringendes Augenlicht des großen Got 
tes! Möchte doch ein Jeder am dich fich wenden, daß du ihm helfen 
wolleft den Sünder entdeden! Wie bald wäre derjelbe in feinen vers 
borgenften Verſtecken aufgefpürt, und wie viel näher träfe zu feiner 
Ueberrafhung ein Jeder, als er e8 je vermuthet hättel — 


5. 


Bir fragen endlich nach dem Erfolge, der die Nachforfchungen 
der Elfe Trönte, und gelangen nunmehr zum bedeutfamften und ers 
anidiichten Momente unfrer Textesſtene. Das Kind des Todes tft 
entdedt. Es führt's ein Jeder wie am Strid dem Herm zu, und 
überliefert e8 Seinem Gerichte. — „Ein Jeder?“ fragt ihr flußend, 
So ift 8! Mit Ausnahme eines Einigen haben fie Alle, Petrus 
und Kohannes fowol, wie Andreas, Jakobus und Philippus und die 
Andern den Sünder, anf den der Heiland hingedeutet, in ihren eigs 
nen Perſonen erhafcht und in Haft genommen. — „In ihren eig. 
nen Perſonen?“ — Nirgends fonft. Hört ihr fehmerzliches „Herr, 
bin ich's?“, das fie an den Meifter richten, und bemerkt die nieders 
geſchlagene Miene, den thrämenfeuchten Blick, womit fie diefes Wort 
. begleiten. Was wollen fie fagen? Ein Jeglicher unwillkürlich nichts 
Anderes, denn dies: „Sa, Herr, fo verderbt finde ich) mein Herz, daß 
ich zu allen Böfen fähig, und, wenn der Wind der Verfuchung dar: 
nach wehte, möglicherweife felbft (auch Petrus fühlt Solches in. dies 
ſem Angenblide noch) im Stande wäre, Dich, du hoͤchſtes Gut, wie 
du gefagt haſt, zu verrathen. Unbehütet mir felbft gelaffen, vermag 

9 


132 Der Barhe. 

ich in nichts für mich einzuftehn. Wehe, unter die Sünde fühle ic 
mich verfauft, und mit meinen beften Vorſaͤtzen finde ich mich als ein 
fchwanfendes Rohr im Winde!” — Geht, Freunde, dies die Empfurs 
dung unfrer Jünger. Das Wild, dem fie nacdhgefebt, ift erjagt; der 
bezeichnete Webelthäter eingefangen. Aber heilvolle Inhaftuahme dies! 
Denn indem fie den Erhafchten, ein Jeder in fich felbft, vor den Herm 
führen, daß Der ihn richte und ihn binde, Iefen fie plögfich in dem 
holdfeligen Liebesblick des Meifters ein füßes Wörtlein, und Das heißt: 
„vergriffen! und gleich darauf tönt daffelbe fie verftändficher noch 
aus feiner mündlichen Erklärung an: „Ihr feid es nicht, fondern „der 
mit mir in Die Schüffel taucht, der wird mich verrathen!”“ 
— „Ei“, höre ich euch fagen, „ſo hatten die Elfe ſich ja Doch vers 
than?” — Keineswegs, lieben Freunde! In dem, daß fie in ſich 
der Fähigkeit nach den treulofen Verräther erkannt zu haben glaub 
ten, verthaten fie fich nicht; daß derſelbe aber die Frevelthat nicht 
wirklich wollbrachte, verdankten fie der Hut und Bewahrung Deffen, 
dem fie ihn unverholen überlieferten, der mit göttlichen Feſſeln ihm 
band, durch feinen heiligen Geift ihn entkräftete, und ihu einem ans 
dern, befiern Ich in ihnen unterthänig machte, 


Vernehmt, Geliebte, die große Lehre, welche der Auftritt unfe 
res Tertes auf feinem Grunde trägt. Die wirklich Berlorenen in 
der Welt, die „Kinder des Zornes“, find Diejenigen, die entweder den 
fluhwürdigen Sünder in fi) nicht erkennen, oder, wie der fchwarze 
Nabe dort unter den Gäften in dem Saale zu Jerufalem, den Sohn 
des Verderbens wol in fi wahrnehmen, aber ihn weder felber rich 
ten, noch dem Herrn ihn überantworten mögen, daß Er ihn dem Tode 
übergebe; fondern vielmehr ihn nur zu reiten, und, wie eben dort 
der falfche Bruder unter den Zwölfen mit feinem bios nadhgeäff- 
ten und Unfchuld und Aufrichtigleit erheuchelnden „Rabbi, bin 
ih’89’ zu verlarven trachten. Alle die hingegen, welche den zu jedem 
Böfen fähigen Sünder in ſich felbft nicht allein ertappten, ſondern 
auch in Heiliger Entrüftung wie geſchloſſen vor Das Angeficht des hei⸗ 
ligen Gottes führen, das Berdammungsurtheil Diefes allerhöchften Rich⸗ 
ter8 über ihn auf den Knieen als ein gerechtes und wohlbegründetes 
verehrten, und flehend die Gnade darum angehn, daß fle mit dem 
Dlige des Geiſtes ihn zerfchmettern und flatt feiner einen nenen 


Indas Iſcharioth. 133 


Menſchen, einen Menſchen Gottes in ihnen erzeugen wolle; — dieſe 
preiſen wir ſelig. Denn von dem Momente ſolcher Selbſtver⸗ 
baftımg an find fie als Individuen bezeichnet, wider welche der Steck⸗ 
brief des oberften Gerichtshofs zurückgenommen wird, und brauchen 
vor feiner Anklage, fei es Moſe's oder des Satans, mehr zu erzit- 
tem. „So wir uns felber. richteten”, fagt die Schrift, „ſo würden 
wir nicht gerichtet” und an einem andern Orte: „Die fich demnüthi- 
gen, die erhöhet Ex, und wer feine Augen niederfchlägt, der wird ges 
neſen.“ 

Neigen wir denn der Aufforderung Jeremiä, des Propheten, unſer 
Ohr: „Laſſet uns forfhen und fuchen unfer Wefen, und uns zum 
Herren ehren!” Sprechen wir betend mit unferm Kirchenliede: „Er⸗ 
feuchte mich, Herr, mein Licht! Ich bin mir felbft verborgen, und kenne 
mich noch nicht.” Und geben wir Raum in unfern Herzen den Worten 
eined andern Sängers: | 

Herr, fomm mit deinem Lichte 

Und deines Geiſtes Schein! 

Dein’ heil'ge Strahlen richte 

Tief und in’8 Herz hinein, 

Daß Schauder und durchwallen 

Bor unfrer Sünden Grans, 

Und dir zu Fuß wir fallen, 

Und flehn: Hilf und heraus! Amen. — 


— older — 


XIII. 
Judas Iſcharioth. 





Als ein ernſt warnendes Exempel für Alle, die, ſtatt Gott dem 
Herrn zu leben, an irgend einen Götzen dieſer Welt ihr Herz ver⸗ 
Tauften, wandelt durch die Geſchichte Davids die dunkle Geſtalt des 
Giloniters Ahitophel. Ein Mann von rafchem Blick und gewand- 
tem Geift, hatte er fi) durch die Klugheit feiner Rathichläge dem 
Böniglichen Hofe unentbehrlich gemacht; ja, „wenn er einen Rath er 
theilte,* meldet die heilige. @eichichte, „Das war, als hätte man Gott 


134 Der Bordef. 


um etwas gefragt.” So ſchwer wog fein ſtaatsmämiſches Urtheil; 
weßhalb er ſich denn auch zu der glänzenden Binde eines erften Käm⸗ 
merers der Krone emporgefchwungen, und biemit, wenigftens einft- 
weilen, den Höhepunkt feiner Wünfche und Beftrebimgen erfiommen 
hatte, Denn die Ehre der Welt war das Idol, für welches er zu 
jedem Opfer .bereit, aber auch zugleich der Preis, für den ihm Alles 
feil und läßlich war. 

So lange Glüd, Sieg und Macht mit David gingen, durfte dies 
fer auf Ahitophel, als auf feiner begeiftertften Freunde einen zählen, 
Treue aber ift eine Perle, die nur bei denen zu fuchen tft, melde 
Gott fürchten; während auf alle Anderen mit Sicherheit nur fe 
lange zu rechnen fein wird, als ihre felbftifchen Intereffen mit ihrer 
Hingebung an den Mann ihrer Verehrung nicht in Widerſtreit ges 
rathen. 

Der Aufruhr Abſaloms bricht in Iſrael los. Der größte Theil des 
Volks fcheint fih den Fahnen des Empörers zuzuneigen. David, von 
wenigen Getreuen umgeben, verläßt die Stadt, und- mit feiner Herr 
lichkeit liegt auch diejenige Ahitophels am Boden. Was ift nun zu 
thun? Ahitophel zieht in Erwägung, nicht was hier Gott gebiete, 
fondern was - vernünftiger Berechnung nad) der ganze Handel für einen 
Ausgang nehmen könne. Und da er, weil er die Alles Ienfende Hand 
dort oben außer Anfchlag läßt, die Sache feines Königes für eine 
verlorene erachten zu müffen glaubt, beeilt er fih, von der Hoffnung 
auf noch glänzendere und einflußreichere Stellungen, al8 er fie bisher 
befleidete, getragen, dem Rebellen Abſalom feine Dienfte anzubieten, 
und findet diefen denn natürlich auch gern bereit, ihn, den einfichtes 
vollen Staatsmann, unter feine Räthe aufzunehmen. 

Um David fammelte fich jedoch bald wieder, namentlih aus dem 
Zandvolfe, eine Kleine, aber getreue und kampfesmuthige Heldenfchaar. 
Abſalom begehrt Rath, wie er fich zu verhalten habe, um feinen Sieg 
und feine Herrfchaft zu befeftigen. Ahitophel macht den Vorfchlag, er 
möge ihn bevollmächtigen, mit zwölftaufend Mann dem entthronten 
Flüchtlinge nachzujagen; er wolle denfelben, weil er matt und laß fet, 
unverfehens überfallen, und, nachdem das Volk, das fi um ikm ges 
ſchaart, Durch den unvermutheten Angriff erfchredt, auseinandergeftos 
ben ſei, den entfliehenden König felber zu erhaſchen fuchen, und ihn 
Dann vereinzelt niederfchlagen. Abfalom genehmigt diefen Vorſchlag; 
Doc) will er auch hören, was Hufat Dazu fage, der Mann, der unter 


Judas Iſharioth. 1% 


dem Scheine, als ob auch er es mit dem Ufurpator Kalte, als Da⸗ 
vids Kundſchafter in Jeruſalem zurüdgeblieben war. Hufai verwirft 
Ahitophels Rath, und ertheilt einen amdern, welchem Abfalom den 
Borzug gibt. As Ahitophel von diefer feiner Demüthigung und 
Riederlage hört, glaubt er mit einem Male die Ideale feines Ehr⸗ 
geizes für immer zerrinnen zu fehn, und verfällt darüber in eine tiefe 
Schwermuth, welche unter den einlaufenden Kunden von den wach: 
fenden Heereshaufen, Die fi) zu David fchlügen, fo wie unter den 
verdammenden NRichterfprüchen feines fchuldbeladenen Gewiflens fich 
vollendet. Er, gewohnt, allezeit der Erfte zu fein, nach welchen Nies 
mand mehr zu reden wagte, hält das Paradies feiner weltlichen Herr 
lichkeit, — und für ein anderes war feine Seele nie entbramnt, — 
für unwiederbringlich verloren; und fo deucht ihm das Leben eine öde, 
freudenfofe Wüfte, auf welche vollends die Zukunft als eine unbes 
ftirnte, wetterfchwüle Nacht fich niederfenf. Was ift zu thun? Ahi⸗ 
** ſattelt verzweiflungsvoll ſeinen Eſel, zieht von Jeruſalem heim 

in feine Stadt, beſchickt daſelbſt ſein Haus, nimmt einen Strick, wirft 
ihn fih um den Hals, md — 2 Sam, 17, 23 leſet ihr's — ers 
beutt ſich: ein beflagenswerthes Opfer der Gottentfremdung und 
Beltvergötterung. — Ein Wehe hallt über feinem Grabe bis zu dieſer 
Stunde. 

Warum ich euch dieſe tragifche Gefchichte erzählte? Weil fie Weiſ⸗ 
fagung tft von einer noch viel erſchütterndern, zu der wir auf umferm 
Betrachtungswege heute kommen. Judas Iſcharioth ift der neus 
tekamentlihe Ahitophel. Dafür hat ihn Die Kirche je nd je 
erfannt, und dies, wie wir uns heute überzeugen werden, mit vollem 


Rechte, 


Matth. 26, 21 - 25. Marcus 14, 18—21. Sucas 22, 21 - 23. 
Jeh. 13, 21— 32. 


Da Zefus ſolſches geſagt hatte, ward er heträßt im Geiſte, nnd zengete und ſprach: 
Beni = wahrlich, ich Tage euch: Einer unter V wird mich verrathen; ſiehe, die 
Hand meineb Berrätherb if mit mir über Tiſchel Da ſahen fih die Jünger unter 
einander au, und wurden ſehr betrübt, und warb ihnen bange, von weldhem er te» 
bete, und huben an, ein jeglicher unter "ihnen, und fagten zu ihm einer nad) dem ans 
dern: Herr, bin ichs? und der Andere: Herr, bin ichs? Er ano and ſprach 

zu ipmen: Giner and den Zwölfen, der mit der Hand mit mir in die Schüffel tan- 
et, der wird uni verrathen. Des Menſchen Sohn ——æ wie non ihn 


:136 Der Vorhof. 


geſchrieben ſteht und befchloffen ift; body wehe demſelben Menſchen, durch welchen bei 
Menſchen Sohn verrathen wird; es wäre demſelben Menſchen beſſer, daB er noch nie 
geboren wäre. Und fie fingen an zu fragen unter ſich ſelbſt, welcher eB doch wäre 
unter ihnen. Es war aber einer unter feinen Juͤngern, der zu Tiſche ſaß an der 
Bruft Jeſu, welchen Jeſus lieb hatte. Dem wintte Simon Petrus, daB er forfchen 
-follte, wer e8 wäre, von dem er fagte. Derfelbige Ing an der Bruft Iefu und fpred 
zu ihm: Herr, wer ift e8? Jeſus antwortete: Der ift e8, dem ich ben Biffen ein- 
tauche und gebe. Und er tauchte den Biffen ein, und gab ihn Juda Simonis Iſcha⸗ 
rioth. Da ſprach Iudas: Bin ich's, Rabbi? Er ſprach zu ihm: Du fagk ed! Und 
nad dem Biffen fuhr der Satan in ihn. Da ſprach Iefuß zu ihm: Was bu Huf, 
das thue bald. Daffelbige aber wußte niemand über dem Tifhe, wozu er eb ihm 
fagte. Etliche meinten, bieweil Indas den Beutel hatte, Jeſus ſpräche zu ihm: Kaufe, 
‚was und noth ift auf das Feit, oder, daß er den Armen etwas gebe. Da er nun ben 
Biffen genommen hatte, ging er fo bald hinaus. Und ed war Radt. Da er hie 
ausgegangen war, fpricht Jeſus: Nun ift bes Menfchen Sohn verflärt, und Gott ik 
verfläret in ihm; ift Gott verfläret in ihm, fo wird ihn Gott auch verflären in ihm 
ſelbſt, und wird ihn bald verflären. 


Am Strahl der Sonne, diefes herrlichen Geftirns, reift die Traube, 
aber auch der Sodomsapfel. Das Evangelium, das dem Einen ein 
Geruch des Lebens zum Leben tft, wird einem Andern ein Geruch des 
Todes zum Tode, Ehriftus ift gefeßt zum Fall und Auferftehen Vieler. 
Siehe, elfe feiner Bertrauteften verklären fich in feiner Gemeinfchaft 
zu welterleuchtenden Gottesfternen. Ein Zwölfter verdüftert ſich in 
derfelben Atmoſphaͤre zu einem Phantom der Nacht, zu einem Hoͤllen⸗ 
kinde! 

Um Judas Iſcharioth ſammeln ſich heute unſere Gedanken. Wir 
richten auf'ihn zuerſt, und dann auf feine neuſten Brüder unſere 
Blicke. 

Ein dunkler, ſchauerlicher Gang, den wir in unſerer diesmaligen Be⸗ 
trachtung gehen. Lehre er uns vor uns ſelbſt erſchrecken, und gereiche 
er uns zum Sporne, unſere Seelen in Sicherheit zu bringen! 


ungefaähr um dieſelbe Zeit, da * Wort zu Bethlehem Fleiſch ward, 
und die Engel Gottes dem Erſchienenen ihr ſeraphiſches Wiegenlied 
ſangen, war Freude auch in der Hütte Simons zu Carioth im Stamme 
Juda; denn auch hier hatte ein Söhnlein, wenn auch ein menſchliches 
nur, das Licht der Welt erblickt. Ich denke, die himmliſchen Hüter 
der Kleinen haben auch ihm ihren Willlommsgruß entboten, und feine 
Eltern nannten dankbar und hoffnungsfroh das Knäblein „Judas“, 
d. i. „Gottes Lob" oder „den Belenner“, und weihten's Damit in 


Indab Iſcharioth. 137 


ſtiller Rührung dem Allmächtigen, der es ihnen in Gnaden ſchenkte. 
Bar doch das Söhmlein wohlgeftaltet und lieblich anzufehn, und ftand 
ihm Doch noch nicht am der Stimm gefchrieben, was aus ihm werden 
und ihm begegiien würde. Ach, wir fchauen jet jenes häusliche Er- 
eigniß mit andern Augen an, und das ffeſtlich geſtimmte Elterupaar 
mit tiefer Wehmuth; denn wir willen, daß fchon über der Wiege 
ihres fo heiter begrüßten Säuglings ein düfterer Schleier gebreitet 
lag, gewoben aus Prophetenfprüchen, wie Pfalm 41, 10: „Auch mein 
Freund, dem ich vertrauete, der mein Brod aß, tritt mich mit Fü- 
ſßen;“ und Pfalm 109, 17: „Er wollte den Fluch haben, der wird 
ihm auch kommen; er wollte des Segens nicht, fo wird er auch ferne 
von ihm fein.” — Wahrfagend von der Zukunft des Neugeborenen 
tauchte fern der grauenvolle Schatten Ahitophels auf. Die Eltern 
ſahen ihn nicht. Wir gewahren ihn und erzitten! — Aus den frü- 
beren Lebenstagen des Judas entbehren wir zwar jeder Ueberliefe⸗ 
mng; gehn aber gewiß nicht irre, wenn wir uns feine fortfchreitende 
Entwidelung als eine zu ungewöhnlichen Hoffnungen berechtigende den⸗ 
fen. Er erzeigte ſich bald als einen Menfchen von hervorragenden 
Beiftesträften, fcharfem Verſtande, ftarfer Erregbarkeit und energiſchem 
Willen, ımd erfchien darım, wie er deſſen felbft wol frühe genug 
fich bewußt geworden, für Bethätigungen höherer Gattung, als die 
engbegrenzten Gleiſe eines bürgerlichen Stillfebens ihnen Raum ges 
währen, angelegt. Wie der elektrifche Stoff, der die Luft durchs 
ſtroͤmt, je nad) dem die Bedingungen zufammentreffen, entweder zu 
einer Unheil drohenden Feuerkugel fi zufammenballt, oder zu wohl 
thaͤtigen, die Atmofphäre reinigenden und belebenden Blitzen fich ver- 
dichtet, fo lag ein Entweder, Dder diefer Art auch in der Nas 
her des Mannes von Carioth. Daß Dderfelbe irgendwie einmal auf 
der Bühne des öffentlichen Lebens fi) werde bemerkbar machen, war 
vorauszufehn. Je nach dem er mit der Fülle feiner Anlagen unter 
fine himmliſche oder gegentheilige Bewirfung gerieth, mußte er zu 
mem auserwählten Rüftzeuge Gottes, oder zu einem Apoftel uud 
Bannerträger des Satanas ſich entwideln. Wehe! er ging den Weg 
per Linken; und mit tieferem und gerechterem Schmerze, als Jeſaias 
dem Könige von Babel, rufen wir ihm die Worte nah: „Wie bift 
ya vom Himmel gefallen, du fchöner Morgenftern!” 

Das Heidenthum kennt feinen Judas, und konnte einen folchen 
nicht erzeugen. Solch Ungethüm reift nur im Steahlenfreife des 


138 Der Vorhof. 


Chriſtenthums. Daß Judas unter dem glüdfichften dee Sterne ge 
boren wurde, das wurde fein Unftern Er kam mit Chriſto in 
eine zu nahe Berührung, als daß er, wo er nicht ganz Sein ei⸗ 
gen ward, nicht gänzlich des Satans hätte werden muͤſſen. Auch 
Judas hat einmal feine Zeit gehabt, da „die Leuchte Gottes über fei- 
nem Haupte, das Geheimnig Jehovas über feiner Hütte” war. Auch 
ihm gebrach es einft an der Empfänglichleit für Eindrüde der hehr⸗ 
ften Gattung nicht, und feine Seele war jedes edleren Gefuͤhlsauf⸗ 
fhwunges fähig. Die Erfcheinung des „Schönften der Menſchenlin⸗ 
der” in ihrem Thaten- und Wunderglanze zog ihn an, wenn auch das 
Heilandsmäßige und Sünderfreundliche tn Jeſu Perfönfichkeit 
ihn weniger reizt. Er ſchwur, freilich ungebrochenen Herzens, wit 
einer jugendfich fchönen Schwärmerei zu Jeſu Fahne; und der Her 
zensfündiger, dem die verheißungsreiche Begabung des in einem ge 
wiften Maße wirklich für die Sache Gottes entflammten Junglings 
nicht entging, öffnete ihm vertrauensvoll die Schranken zu feinem 
nächſten und intimften Yüngerkreife. Nimmer würde dem Indas biefe 
Gnade zu Theil geworden fein, hätte er ſich Tediglih aus unlantes 
ren Beweggründen dem Herrn angeichloffen. In dem Momente, da 
er fi dem Meifter zu Dienft erbot, war er kein Heuchler, minde⸗ 
ſtens fein bewußter. Und wenn er binfort mit den Abrigen Juͤn⸗ 
gern bald betete, bald fi in Gottes Wort erging, bald fogar, wie 
es fpäter gefchah, Diefes Wort auch Andern verkündete, fo geſchah 
dies eine Zeitlang unftreitig noch mit einem gewiffen Maße innerer 
Wahrheit; zu abfichtlicher Täufchung und Verftellimg ging er erſt 
fpäter über. Der Herr überwies ihn das Amt eines Empfängers 
und Verwalters der Xiebesfpenden in feinem kleinen Kreiſe, und 
that dies unfehlbar aus feinem andern Grunde, als weil er ihn für 
diefe Verrichtung als den tüchtigiten erkannte, Manche haben zwar, 
faft Täfterlich, gemeint, der Herr habe ihm in der Abficht Die Kaffe 
anvertraut, um ihn zu verfuchen; aber ein folder Gedanke ift ſchlecht⸗ 
hin zu verwerfen. Im Gegentheil beut uns jener Umſtand einen neuen 
Beleg, daß Judas im Beginn feiner Süngerfchaft das volle Vertrauen 
feines Meiſters befaß, wenn es Diefem auch nicht verborgen bleiben 
konnte, daß e8 dem Juͤnger am einer durchgreifenden Selbfterfeuntniß, 
und namentlich an Der Herzenszerfnirfchung noch gebrach, an weiche als 
lerdings die Theilnahme au dem Erlöfungsheile Gottes ald an ihre 
unerlägliche Bedingung gelnuͤpft iſt. Inter aller Ueberwucherung from⸗ 


Iudas Iſcharioth. 139 


men Empfindungsiebens blieb in feinem Innern doch eine böfe Wurzel 
haften: die Liebe der Welt, und namentlich ihres Goldes und ihrer 
eiteln Ehre; umd in der That täufchte Judas fich felbft, wenn er ſei⸗ 
wen Eintritt in den Juͤngerkreis Jeſu viel tiefem und geheiligteren 
Motiven zuichrieb, als fie in der Sehnfucht nad) der Verwirklichung 
der immer nur irdifchen Zauberbilder Tagen, die ihm feine lebhafte 
Phantafie hinter dem Reiche, zu deſſen Aufrichtung der Herr erfchies 
nen fei, vorfpiegelte. Wie er felbit bei feinem Anſchluß an die Sache 
des großen Nazareners durchaus dem Zuge einer höheren und edieren 
Erregung zu folgen vermeinte, fo glaubten das nicht minder von ihm 
feine Mitapoftel. Rur dem Auge des Herrn entzog fid) der verftedte 
Schade feines Innern nicht; aber der Schade war ja nicht unheilbar, 
und Ehriftus dazu eben erfchienen, daß Er als der göttliche Arzt das 
Kranke heile und das Verwundete verbinde. 

An Nichts hat es die barmberzige Liebe Jeſu fehlen laffen, Ddiefe 
Heilung herbeizuführen. Aber wehel der Erfolg entſprach feiner zar⸗ 
ten und unermüdlichen Sorafalt und Samariterpflege nicht. Nur 
zu bald fchon ftellte ſich'ſs heraus, daß die anfänglich fo fchöne Bes 
geifterung, auf deren Flügeln Judas in die Nähe des Friedensfürs 
fen getragen wurde, ihrem innerſten Kerne nach nichts weniger, als 
ein reines Feuer vom Himmel war. Denn je mehr er an dem Les 
bensgange des Herm, wie an des Herrn Meußerungen und Reden 
dad Zruggebilde feiner finnlichen Reichsausfichten zerfahren fah, um 
deſto tiefer brannte der Flammenſtrauß feines fcheinbar fo heiligen 
Cathuſiasmus fichtlich herunter; und was als Heft deffelben in feis 
wem Herzen zurücdhlieb, war das ungeläuterte Feuer feines felbftifch 
tedifchen Erwartens ımd Begehrens. Wohl feheint faft zu ſtark, was 
Jemand gefagt bat, daß „ein Jeder feinen Preis habe, für den 
er ſich hingebe.“ Aber den unwiedergeborenen Menfchen trifft dies 
ſes Wort in der That, wie lange e8 auch währe, bis es ſich faktiſch 
an ihm bewahrheite. D, täufchen wir uns nur nicht: es wohnt auch 
den greßartigften Gharakteren, fo lange fie nicht durch Ehriftus ges 
heiligt wurden, die Fähigkeit inne, nach Umftänden nicht allein klein⸗ 
fich, fendern gar niedrig und gemein zu fein. Der natürliche Menſch 
vertiert auch in feiner vergeiftigtften Geftalt fein centaurifches We⸗ 
fen nicht, vermöge deſſen er, nachdem er vielleicht eben erft den hoͤch⸗ 
Ken Idealen nachgejagt, einen Augenblid fpäter mit jenem Thiere in 
Eden auf dam Buche Irierht und Erde iſſet. — 


140 Her Borbef. 


Dem Judas kam der verhängnißvolle Moment, in welchem es ihm 
wirklich gelang, die ernften Bedenken zu bemeiftern, die Seitens feines 
noch nicht ertödteten Gewiffens wider das freufe Gelüfte feines Her⸗ 
zend nach einer felbfterwählten Schadloshaltung für die erfahrene Taͤn⸗ 
[hung erhoben wurden. Wahrſcheinlich unter der trügerifchen Selbſt⸗ 
überredung, daß er nur ein Darlehn zu entnehmen beabfichtige, 
legte er zum erjten Male die diebifche Hand an die ihm awer⸗ 
traute Liebesfaffe; und nachdem er einmal die Schranken feines ſitt⸗ 
lichen Bewußtfeind durchbrochen hatte, erfolgte der zweite und jeder 
fpätere Unterfchleif ſchon um fo leichter und ungehemmter. Nun aber 
ftellte das richtende Gewiffen in der Perſon feines heiligen Meifters 
fih ihm von Außen gegenüber. Das Licht der Welt ward ihm zum 
brennenden Feuer; der Sünderheiland, in feiner ſtummen Erfcheinung 
fehon, zum Inquiſitor, vor welchem er entweder als einen todesſchul⸗ 
Digen Buben fi) bloß zu geben, oder — und er wählte das Leßtere, 
— in die Schleier fheinheiliger Lüge fih zu verhüllen hatte. Cine 
geraume Zeit glaubte er fih in der Vermummung feiner nunmehr 
bewußten Heuchelei gefichert; da trat der Vorgang im Haufe Simons 
des Ausfägigen zu Bethanien ein. Maria's Liebe falbte den Herrn. 
Judas, organlos für das Zarte und Tiefe dieſer Handlung, ver 
glimpfte die That mit der fcheinfrommen und doch fo rohen Bemers 
fung: „Diefe Narde hätte befjer verkauft, und das Geld dafür den 
Armen gegeben werden mögen.“ ‘Der Herr, alfobald in den Riß tre 
tend für die gekränkte Süngerin, lobte deren Werk als ein „fchönes“, 
defien nimmermehr werde vergeffen werden, und wies die ungebörige 
Bemäfelung, die der herzlofe Heuchler fih erlaubte, mit der ernften, 
Mark und Bein durchdringenden Erwiederung zurüd: „Arme habt ihr 
allezeit bei euch, mich aber habt ihr nicht allezeit.* An diefem Worte, 
und mehr noch an dem ſchmerzlich mitleidsvollen Blid, womit der 
Meifter dafjelbe begleitete, ging dem verfappten Jünger mit einem 
Male das volle Bewußtfein auf, daß der Herr fein Inneres durch⸗ 
fhaue und um feinen Zrevel wiffe. Ein entfcheidender Moment dies 
für Judas! Ein Augenblid, in dem er feiner Wahl nod) einmal den 
Segen und den Fluch vorgelegt erblickte, und der nach irgend einer 
Seite hin auf feine weitere innere Lebensentwicklung mit Rothwen⸗ 
Digfeit einen beftimmenden Einfluß üben mußte. Entweder flürzte der 
verirrte Sünger jegt unter einem Strom von Reuethränen zu ef 
güßen nieder, und fuchte mit dem unverholenen Bebenntuiß feines vers 


Judas Iſcharioth. 141 


lorenen Zuftandes Rettung und Erbarmen am Thron der Gnade; oder 
es flegte in ihm das gefränfte Chrgefühl, und machte, in die entges 
gengeſetzte Bahn einer abfichtlichen Verhärtung ihn hineinreißend, dem 
Satan Raum, den Höllenfunken einer geheimen Erbitterung wider den 
ihm einzuflößen, defien Bli er fortan als eine verhaßte Fackel über 
dem nächtigen Abgrımde feiner Seele fchweben ſah. Ihr wißt, welche 
diefer beiden Straßen Judas einfchlug. Gleich nach dem immer noch 
milde flrafenden und nur auf feine Heilung berechneten Worte des 
Meiiters eilte Judas aus der Verſammlung zu Bethanien hinweg. Wo⸗ 
bin er fi wandte, tft euch bewußt. Unter den Widerfahern Jeſu 
fühlte er fich heimiſcher jeßt und mehr in feinem Clemente, als im 
Kreife feiner bisherigen Genofien. Der Dreißig- Silberlinge- Handel 
wird abgefchloffen, mehr jetzt aus einem geheimen Rachedurft, als aus 
Geiz und Habſucht. Den Remonftrationen feines Gewiſſens begegnet 
Judas mit der Ausrede, e8 werde dem wunderthätigen Rabbi ja ein 
Leichtes fein, falls er wolle, aus den Händen feiner Feinde fich zu 
reiten. Uebrigens wußte Judas nur halb no, was er that. Er 
hatte fi in einen Strudel hineingeftürzt, dem fein Widerftand mehr 
zu leiften war. Er führte wicht mehr fich felbft; ein Anderer riß 
ihn hinter fih ber. Er war in dem graufigen Stadium angelangt, 
in. welchem, wie der Prophet fi) ausdrüdt, „ unfre Füße ſich an 
den Dunkeln Bergen ftoßen.“ 

Man follte meinen, Judas habe von nun an die Nähe Jeſu wicht 
mehr ertragen können, Nichtsdeftoweniger erbliden wir ihn bald wies 
der an feiner alten Stelle inmitten der Zwölfe. Ob, was ihn dahin 
zurädgeirieben, die folternde Unruhe und der Bann in feinem Innern 
war, oder etwa die Beforgniß, durch feine Abwefenheit Verdacht auf 
fich zu ziehen; oder ob er gar die Möglichkeit mit in Rechnung brachte, 
Daß e8 immer noch zu einer Reihsaufrichtung Jeſu nad ſei⸗ 
nem, Des Judas, Sinne kommen fönnte, und er für ſolchen Fall 
fich feine Rolle zu referviren gedachte? — Ich weiß es nicht. Aber 
vielleicht, daß alle dieſe Motive zufammenwirkten. Genug, wir be 
gegnen dem Kinde des Berderbens fogar auch noch in dem lepten 
trauten Abendfreife zu Serufalem, und fehn den Herm aufs neue Al 
les verfuchen, um die zum Tode franfe Seele noch zu reiten. Aus 
zarter Schonung für fein Ehrgefühl fordert er ihm die Kaffe nicht ab, 
fondern beläßt ihn auch jeßt noch in feinem bisherigen Amte. Aber 
Daß er um die Gefahr wiffe, in welcher des armen Jüngere Seele 


142 Der Borbef. 


ſchwebe, das muß er ihm zu verftehen geben; und Darum gefdhiehet, 
was wir jebt vernehmen. Wie fie nämlich bei Zifche ſitzen, be 
ginnt der Herr mit tiefer Ergriffenheit und fichtlicher Liebeswehmuth: 
„Wahrlich, wahrlich, ich fage euch: Einer unter eu wird 
mich verrathen!“ Mit unausfprechlicher Beftürzung fahren die Elfe 
zufammen, fehen fich einander erfchroden und befümmert an, und bres 
hen Einer nach dem Andern in die änaftlihe Frage aus: „Herr, 
bin ich's, bin ichis?“ Der Mann des Todes meldet ſich nicht. 
Ach, nur nad Minuten noch bemißt fich feine Gnadenfriſt! Es ruſt, 
als fpräche fein guter Engel, eine Stimme in feinem Innern: „Gut 
decke dich, Judas; wirf die Larven von Dir und entrinne, vor Thor 
ſchluß noch, dem ewigen Verderben!“ Aber Judas ftreubt fi md 
widerftrebt, und huͤllt ſich nur tiefer noch in feine Schleier; denn die 
Stimme eines Andern fchlägt mächtiger in feiner Seele durch, ud 
übertäubt in ihm jede befjere Regung. Da gibt der Herr feiner An⸗ 
zeige eine beftimmtere Faffung, und ſpricht: „Einer aus den Zwäls 
fen, der mit mir in die Schüffel taucht, wird mich vers 
rathen;“ und dann fpricht er feierlich das Wehe aus über den, 
der diefe ungeheure Zrevelthat vollbringen werde, und entfchletert dem⸗ 
felben feine Zukunft; und diefe Zukunft ift — die Hölle. Ach, der 
legte Mahnruf zur Rettung donnert in diefen Worten des Herrn den 
unglüdfeligen Jünger an. Den Elfen erzittert das Herz. Simon Pe 
tru8 winkt dem Apoftel, der an Jeſu Bruft Ing, daß er forfchen möge, 
wer der fei, von dem der Meifter fagte. Johannes wagt, nicht ohme 
Schüchternheit, die Frage: „Herr, wer ift es?“ — Da reißt der Meis 
fter dem Berräther die Iehten Zehen feiner Maske vom Angeſicht und 
fpriht: „Der ift es, Demic den Biffen eintaudhe und gebel* 
Und indem er's fpricht, taucht er den Biffen in die Schüffel und reicht 
ihn vor Aller Augen dem Juda Simonis Iſcharioth. Ein Schau 
der überfällt die Jünger. Und Judas? — Da fteht er, todtenbleid, 
zitterig, unftäten Blickes und faſſungslos. O Judas, noch ift es Zeit! 
Immer noch war es Bußglodenklang, was an dein Ohr Thing! 
Schlage in dich, fchleudre die Vermummung von dir, befenne, uud 
fhreie um Gnadel — Aber, — „bekennen?“ denkt Judas bei fich felbft; 
„Dem noch die Ehre geben, der fo ſchonungslos dich bloßgeftellt? 
Angefihts deiner Gefellen dich felbft zum Schandpfahl verdanmen 
und vor aller Welt als eine Memme, als einen jänmerlichen Seigs 
ling dich erzeigen? — Nein, behaupte dich, Judas, fei ein Mann, 


IAwal Iſcherioth. 143 


wud handle folgerecht!“ — — Go heißt es in feinem Innern; mb 
mit einem Gemiſch von entfeglicher Frechheit und tiefftem Jagen wagt 
er noch, den dargereichten Biffen in erheuchelter Unbefangenheit ver 
ſchluckend, der beftimmten und unzweideutigen Bezeichnung des Meis 
ſters gegemüber, die freilich mit Mühe bingeftotterte Frage: „Rabbi, 
bin ich's?“ Da enigegnete der Herr, mit unendlichen Herzeleid 
das Berderbenskind nın verloren gebend: „Du fageft es!’ m 
diefem Momente aber überwand in Yudas der böfe Wille den lebten 
ud mächtigften Gnadenzug, und die Sünde wider den heiligen 
Geift war vollendet. Das „Jahr des Heils“ fchloß fi ab; Die 
Stunde der Heimfuchung göttlicher Barmherzigkeit hatte ausgeſchlagen. 
Die Engel des Friedens traten trauernd von feiner Seite weg; der 
Satan aber triumphirte und „fuhr in ihn* Das Wort des Herm: 
„Eiuer unter euch ift ein Teufel," war nunmehr eine Wahrheit 
geworden. — Die furdhtbarfte Menfchengeftalt, die bis dahin Die 
Erde beirat, fland ausgeboren auf dem Plane. 

„Bas du thun wiltft,* rief der Herr ihm fchliehlich zu, „das 
thue bald;*" und gab ihm damit zu verfiehn, daß er fein ganzes 
Borhaben wiſſe. Zugleich deutete er ihm damit an, daß er ihn bins 


Sünderliebe fi zu unterziehen im Begriffe ftehe. Die Elfe wuß- 
sen ſich die Worte: „Was du thun willft, das thue bald,* nicht zu 
entziffern. Etliche unter ihnen meinten in ihrer Arglofigleit, weil Ju⸗ 
das den Beutel führte, fo fpräche Jeſus zu ihm: „Kaufe, was und 
noth ift auf das de; ;* während Andere dafür hielten, der Meifter 
gäbe dem Indas einen Wink, daß er den Armen eine Liebesgabe über; 
beingen ſolle. So fern lag felbft ihrer Ahnung noch das Bars 
brechen, welches ihrer Mitfünger einer im Schilde führte. Diefer 
Dagegen verftand den Meiſter defto befier. Ueberſehen wir indeß 
wicht, Daß Jeſus mit feinem „Was du thuft, das thue bald,“ zugleich 
den Berräther jetzt aus dem Kreiſe ſeiner Vertrauten und dem Ver⸗ 


gen Johannes fußend, ſich den Judas bei der Einſetzung des Sakra⸗ 
ments nicht mehr gegenwärtig denken. — Kaum, daß das verlorene 
Kind auf den erhaltenen Wink das Gemach geräumt hatte, und der 
Meifber mit feinen elf Getrenen fich allein ſah, ward Dieſem wieder, 


144 Der Border. 


o, wie viel Teichter um’8 Herz. War es doch auch, als wäre die ganze 
Atmofphäre plöglich eine andere, umd, ich weiß nicht, von melden 
unheimlich beffemmenden Elementen gereinigt worden. Freier athmete 
der Heiland wieder auf, und begann dann in erhabenem Geiſtesauf⸗ 
ſchwung: „Nun ift des Menfhen Sohn verklärt, und Gott 
ift verffärt in ihm; ift Gott verfläret in ihm, fo wird ihn 
Gott auch verflären in ihm felbft, und wird ihn bald ver 
klären!“ 

Judas ging bin. Mit ſchauerlicher Bedeutſamkeit bemerkt bie 
Geſchichte: „Und es war Nacht.“ Ja, Nacht von außen und von 
innen. Wir erblidlen den Beweinenswerthen jebt ganz unter die Ge 
walt der finftern Mächte verkauft, und zum Allerentfeglichften gerüſtet. 
Denn was hat er vor, was foll gefchehen? Ein lichtſcheues Nacht⸗ 
gefpenft ſchickt fih an, rachefchnaubend die Sonne auszulöfchen, Die 
feine Schwärze ihm beleuchtet. Ein wahnftnniger Zitan unternimmts, 
in dem Heiligen Iſraels den Thron der fittlichen Weltordnung wmzus 
ftürzen, damit die Sünde binfort nicht mehr erzittern müffe. Ein vom 
Pfeil feines Gewiffens Verwundeter ift darüber aus, das allgemeine 
und perfönliche Gewiſſen, welches in Ehrifto erfchien, und den lie 
theilsfprüchen des individuellen erft das göttliche Siegel aufdrüdi, 
in feinem Blute zu erfliden und aus der Welt hinwegzutilgen. Seht, 
Dergleichen iſt's, wozu Judas jebt, ob auch mit verworrenem und halb⸗ 
foren Bewußtſein nur, fi gürtet. Die unheimliche Macht, der er 
anheimgefallen, reißt ihn im Wirbel mit fih fort; und in feiner 
Gewalt ftehet ed nicht mehr, wie er wandele und feinen Gang richte, 


2. 
- Judas, Judas, wäreft du Deines Stempels der einzige ges 
blieben! Aber Die Zahl deiner Brüder, in unfern Zagen zumal, heißt 
Legion. Nicht zwar waren diefe deine Sinnesgenofien Apoftel einft, 
wie Du. Aber wie du athmeten auch fie die Luft des Evangeliums, 
und fahen, wie du, von den Strahlen des ewigen Morgenfterns 
fi) angefchienen. Sie wurden getauft, wie du; fie wuchfen, ges 
tränft mit den Anfchauungen der göttlichen Wahrheit, auf, und fagten 
am Zage ihrer Confirmation, mehr oder minder bewußt, in feierlichkter 
Weife fi dem Herrn und feinem Reiche zu. Aber, untreu dem heis 
ligen Gelübde, verfielen fie mit der innerften Richtung ihres Herzens 
dem Gotte Diefer Welt; und zu ihrem Ideale erhub ſich, flatt des 
göttlichen Licht⸗ und Friedensreiches, ein anderes, in welchem das 


Judas Iſcharioth. 145 


Fleiſch in fchrankenfreier Bewegung zu feiner vollen Befriedigung 
gelangen follte, Diefem Reiche jagten und jagen fie nad. Aber 
nun vertritt Einer ihmen den Weg zu ihrem Ziele. Das ift der Heis 
lige auf dem Stuhle Davids, mit feiner Macht, „Chriſtenthum“ 
genaunt. Der fordert Kreuzigung des Fleifches fammt Lüften und 
Begierden, unbedingte Unterwerfung unter Gottes Gebot, unausgefeß- 
tes Streben nad) Gottveräßnlihung; und fchüßt den Beſitz, heiligt die 
Ehe, friedigt die Familie ein, und flucht wie dem Aufruhr, dem Meins 
eid und jeglichem Lug und Zrug, fo der Unzucht, der Schlemmeret, 
umd jedem Verſtoß gegen die fittliche Weltordnung, als deren Träger 
und Anwalt Er ſich Darftellt. Und fie, Die dagegen ihre Gefüfte zum 
Weltgeſetz erheben möchten, fühlen in ihrem Gewiffen mehr oder min- 
der alle noch das Gewicht feiner Forderungen, wie den Stachel feiner 
Zlüche, und find, aud ohne es einzugeftehn, innerlich genöthigt, den 
Barnungen und Weiſungen des Chriftentbums, in welchem fich die 
abfolute und unabweislihe Wahrheit vor ihnen geltend macht, wider 
fih ſelber Recht zu geben. Dies aber erfüllt fie mit Verbitterung, 
umd entzündet in ihnen den Abgrundsfunfen eines geheimen Haſſes 
gegen das Evangelium und deſſen Kern und Stern, den Herrn, 
Denn fie begehren, was nicht taugt, und wollen Dabei doch uns 
gerichtet fein und bleiben. So werden fie denn zu Himmels⸗ 
flärmern, und gehen in das Eoloffale Wagniß des Satans ein, der 
Macht und Gründung Gottes im Chriftenthume den Krieg zu erflären, 
md die ganze Welt chriftlich fittlicher Anfchauungen in das Riefen- 
grab eines gottess und unfterblichfeitsfeugnerifchen Materialismus ber 
graben zu wollen. Sie zimmern für Jeſus das Kreuz eines Schwärs 
mers, für fein Evangelium den Mumienfarg einer fogenannten „Antis 
quirung“, für feine ganze Kirche die Pilatustreppe, über deren 
Stufen diefelbe vom Schauplap der Wirklichkeit in ein Reich der 
Schatten niederfteige; und erneuern den YJudasverrath an dem Herrn 
um die Dreißig-Silberlings-Beute eines erhofften Weltreichs, in dem 
an der vergiftenden Milch einer vergänglichen Erdenluft binnen Kurzem 
jedes Bewußtfein von einer höheren Menſchenbeſtimmung für immer er- 
fterben fol. Horcht euch nur um, wie unverholen ſchon aus dem Lager 
der Belt heraus das teuflifche Feldgefchrei ertönt: „Hinweg mit Jeſu 
und dem Wort von feinem Kreuze!” a, haben nicht felbit Laute 
fhon unfer Ohr zerriffen, wie das entjeßliche: „Fluch dem alten 
Gotte!“ umd Zofingen unfer Herz empört, welche die Begriffe: Bots 
| 10 


146 Der Vorhol. 


tesfurcht, Tugend, Sitte, Keufchheit, ja Alles, was Gebot und Verbot 
heißt, als dem Reiche verjährter Hirngefpinnfie anheimgefallen profia- 
miren? Grfcheinungen, wie fie uns heute begegnen, fah im folcher 
antichriftifchen Reife und ſolcher Maffenhaftigleit die Welt noch nie. 
In taufend gefteigerten Gegenbildern fteht der Verräther Judas, got 
teömörderifchen Hafles voll, wieder auf dem Plane; und wenn ein 
Lehrartikel der heil. Schrift zu dieſer unferer Zeit feine haudgreifliche 
Beftätigung findet, Dann iſt es derjenige von der Eriftenz einer Obrig- 
feit der Finfterni und eines Reiches fatanifcher Abgrundsmächte. Jeßt 
erfüllt fich, was der Seher Johannes prophetifch zeugte: „Der Teufel 
hat einen großen Zorn, fintemal er weiß, Daß er nur wenig Zeit hat.“ 
Die Pfingften der Hölle find erfüllt. Wie einen Feuer⸗ md Schwefel 
regen gießt fie ihren Geift über die Menfchheit aus, und ihre Schild 
träger und Apoftel wachfen ihr wie Pilze aus der Erde, 

Sehe ſich denn ein Jeder vor, Daß nicht auch er mit jener Taufe 
getaufet werde. Wer nicht heute fhon für den Herrn fich entſchei⸗ 
det, der kann morgen bereitö wider ihn fiehn und mit Dem Fahnen 
des Satans ziehn. Die Neutralität ift ein verlorener Poſten. 
Wer halbwege nur in die herrfchende Richtung unfrer Tage eingeht, 
der endet, ehe er ſich's verfieht, der beften Vorfäge obnerachtet, die er 
faßte, im Judas haſſe, d. h. im Neb des Teufels; und wer dem 
Zeitgeifte auch nur eine Fingerfpige darreicht, Darf ficher darauf rech⸗ 
nen, daß ihm bald die ganze Hand genommen fein wird. 

Zum Herm darum, eilends zum Herrn! Mit Leib und Seele als 
„ganze Opfer“ ihm ums bingegeben! Heute noch fleht uns die Zu 
flucht feiner Wunden offen; aber vielleicht fchon morgen nicht mehr. 
Auf denn, bringen wir in fie unfre Seelen in Sicherheit, und fenfgen 
wir aus der Tiefe unſres Herzens: 


Behäte, guter Hirte, 

Mich vor des Satans Strid, 

Und zeuch mich, wo ich irrte, 

Schnell an Dein Herz zurüd! 

O, ſchleuß in beine Hände 

Mich, Rode im Winde, ein, 

Und laß mich Hiß an’8 Ende 

Ganz, ganz dein eigen fein. Amen. — 


— U} | U ( ) 


Der Dqgerul 147 


XIV. 
Der Weheruf. 





Bevor Iftael, an den Grenzen des gelobten Landes angelangt, die 
legteren wirklich überfchreiten durfte, hatte es noch fchwere Kämpfe zu 
beftehn, aber auch in Jehova's Namen furchtbare Gerichte über feine 
und des Herrn Feinde zu vollziehn. 

So geſchah ed ımter Anderm, daß jenes Volk fi ihm entgegen- 
ftemmte, von welchem der Herr einft zu Abraham fagte: „Die Miffes 
that der Amoriter ift noch nicht alle.“ Sept war das Maaß ihrer 
Sünden voll. Wie lange hatte der Herr diefe blinden Heiden mit 
unermmüdlicher Geduld getragen! Wie wiederholt und ernftlich fie ges 
warnt! Wie reiche Gelegenheit, Ihn, den allein wahren Gott, zu erken⸗ 
wen, ihnen dargeboten! Aber fie hatten ihr Herz verhärtet., Nun war 
die göttliche Langmuth ber ihnen erfchöpft, und die Stunde der Ders 
geltung für fie berbeigelommen. Der Herr gab fie in Iſraels Hand, 
und Iſrael ſchlug fie mit des Schwertes Schärfe, daß von dem vers 
meſſenen Heere nicht Einer übrig blieb. 

Ein Gleiches widerfuhr nah 4 Mof. 21, 1—3 dem Könige Arad 
und feinen Ramaniterhaufen, die fi) ebenfalls wie ein flarrender Lans 
zenwald dem heranziehenden Wanderzuge Iſraels in die Straße ſcho⸗ 
ben, und ihm den Eingang in das Land der Verheißung abzufchneis 
den drobten. Iſrael fchrie zum Herm, und Gott erhörte die Stimme 
feines Volls. Die Feinde wurden niedergeworfen, die Gefangenen 
gebannt, d. i. dem Tode geweiht, und ihre Städte zerflört und dem 
Erdboden gleich gemacht, Und der Drt, wo Sfrael den Sieg erfocht, 
hieß fortan zu ewiger Erinnerung, daß Gott fih nicht ſpotten laſſe, 
„Harma“, d. i. Bann⸗ und Fluchſtatt. 

Solcher Harma's, ſolcher Denkmale Seines richterlichen Ernſtes 
hat Gott gar manche aufgerichtet in der Welt. Wir kommen auch 
hente zu einem ſolchen. Laſſe uns die Gnade von einem Dornbuſch 
eine Segenstraube brechen! — 


10® 


148 Der Verhoſ. 


Matth. 26, 24. 

Des Menſchen Sohn gebet zwar dahin, wie von ihm geſchrieben fehet; doch wehe 
dem Menſchen, durch welchen des Menſchen Sohn verrafben wird. Es wäre ihm beſ⸗ 
fer, daß derfelbige Menſch nie geboren wäre. 

Dies die Grabſchrift, welche der Herr felbft feinem unglückſeligen 
Jünger Judas fegte. Die Worte haben ſchauerlichen Klang. Wie 
Gefchmetter der Gerichtspofaune hallen fie Durch unfre Mitte. Weichen 
wir ihnen nicht aus, fondern nehmen wir fie treu und tief zu Her⸗ 
zen; denn fie enthalten einen Gnadenruf, und verfehren fich für 
uns in ein donnerlautes „Eile aus Sodom, und errette Deine 
Geele!* 

Den Weheruf Jeſu über feinen Verräther machen wir am Ges 
genſtand unfrer Betrachtung, und nachdem wir zuerft Die Schauer 
Diefes Rufes angefchaut, verftändigen wir uns zum Andern über 
die Grenzen feiner Anwendbarkeit aufuns und unfre Zeits 
genoffen, 

Was gefchrieben fteht, ward uns „zur Lehre, zur Strafe, zur Beh 
ferung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit” gefchrieben. Möge dies 
heute in jedes Einzelnen Erfahrung fi) bewahrheiten! Gott walte 
es in Gnaden! 

1. 

Wenn Jemand mid, fragen wollte, welchen Ausfpruch ich für den 
erfchütterndften und fchredenvolliten des ganzen Bibelbuchs erachtete, 
fo würde ich mic) auf die Antwort nicht lange zu befinnen brauchen. 
Ich wiefe weder hin auf das Wort 5 Mofe 27, 26: „Verflucht fei 
Jedermann, der nicht hält Alles, was gefchrieben ftehet im Buche des 
Geſetzes;“ noch auf das Zeugniß oh. 3, 36: „Wer an den Sohn 
Gottes nicht glaubt, der wird das Leben nicht fehn, fondern der Zorn 
Gottes bleibet über ihm." Nicht einmal erinnerte ich an das nieder 
fhmetternde Wort des Apofteld Paulus zu Bar⸗Jehu: „O du Kind 
des Zeufels, voll aller Lift und Schalfheit*, noch an die Weherufe 
des Herm felbft über die Phariſäer und Schriftgelehrten Matth. 23. 
Ich führete vielmehr den Fragenden geradesweges zu unfrer heutigen 
Tertesftelle, und wäre feines Zugeftändniffes gewiß, daß hier der 
furchtbarſte aller Donner rolle, die bin und wieder auch die Friedens 
harmonie des Evangeliums unterbrehen. Wie Manchem, der umvers 
fehrt am Sinai vorbeigelommen, ift bier das Herz zerfprumgen und 
der Schrei nad) Gnade abgenöthigt worden! 


Der Wehernf. 149 


Hört, hit! „Wehe dem Menfchen, Durch welchen des Men: 
Then Sohn verrathen wird. Es wäre demfelbigen Men- 
Then beffer, daB er nie geboren wäre!" Mein Gott, welde 
Redel Bon wannen tönen diefe Verzweiflung gebärenden Worte zu 
uns herüber? — Wohl, dies erwägt zuerft, und die Worte wer⸗ 
den beginnen, ihre Schauer vor euch zu entfalten. O, daß ein Ans 
drer fie ſpraͤche, als der, auf defien Lippen wir fie wirklich finden! 
Daß fie aus unfres Gleichen Eines, aus eines Sterblichen, aus eines 
menfchlihen ‘Propheten, aus eines armen Sünders Munde kämen! 
Dann bliebe noch einiger Raum für allerlei Betrachtungen, welche 
den ſchreckensvollen Ausspruch in etwa zu mildern vermöchten, und wir 
dürften uns berechtigt glauben, von dem Graufenhaften feines Ins 
halts wenigftens etwas abzuziehn, und es auf Rechnung der flammen⸗ 
den Entrüftung des Sprechenden, oder feiner wohlmeinenden Abficht zu 
übertragen, durch den erfchütternden Ernft feiner Worte den Sünder 
möglicherweife von feinem frevelnden Vorhaben noch zurüdzudonnern. 
Aber nım iſt e8 Jeſus, aus deffen Munde der Weheruf erfchallt; der 
König der Wahrheit ift’s, der barmıherzige Sünderfreumd; und nicht aus⸗ 
fprechen Täßt es fich, welch’ ein ungeheures Gewicht, und welchen fürdhe 
terlichen Nachdruck diefer Umftand jenem Worte leiht. Denn nım vers 
nehmen wir in dem „Es wäre dDiefem Menfchen beffer* ja nicht 
die Stimme. der Letdenfchaft, fondern die Stimme Defjen, der mit 
vollem Rechte von fich fagen Eonnte: „Sch bin fanftmüthig und von 
Herzen demüthig.“ Nun fchilt und tobt bier nicht ein blinder 
Zorn, der fich felber nicht bewußt ift, was er ausftößt; fondern es 
verlautet bier nun das befonnene Zeugniß eines Mannes, dem Das 
eigne Herz aus taufend Wunden darüber blutet, daß er ſolch Urtheil 
über feiner Bertrauten einen fällen muß. Nun richtet bier nicht ein 
Menſch, der gewohnt ift, mit Vebertreibungen zu verkehren; fondern 
der richtet hier, welcher fih die „Wahrheit felber nannte, und am 
Keunſchheit und Zucht der Rede nicht feines Gleichen fand auf Erden, 
Und nicht iſts ein Kurzfichtiger nun, noch ein dem Irrthum Unter⸗ 
worfener, gleich uns, den wir bier fprechen hören; fondern es geht das 
entfegliche Wort aus dem Munde des Unfehlbaren, von welchem ges 
ſchrieben fteht: „Er bedurfte nicht, daß Jemand Zeugniß gebe von 
einem Menfchen; denn er wußte wol, was im Menfchen war." a, 
Das fürchterliche Anathema fpricht Der Mann, deſſen Gefichtstreis Zeit 
und Ewigkeit umfchrieb, deſſen Geifteshlid Himmel und Hölle durch⸗ 


150 Der Becher. 


reichte, und den, als dem zukünftigen Richter der Lebendigen und ber 
Zodten, jedes Einzelnen Leben und Gefchid bis über Tod ımd Grab 
hinaus bloß und entdedt vor Augen lag. Diefer, und fein Andrer, 
ift’s, der von Judas Iſcharioth bezeuget: „E8 wäre dDemfelbigen 
Menſchen beſſer, daß er nie geboren wäre.” Großer Gott, 
nun muß es ja auch fo fein, umd jener grauenbafte Spruch faun umn 
nicht eine einzige Sylbe mehr zu viel enthalten. O Schauer und 
Schrecken ohne Gleichen! Wer erbebt hier nicht, ald ob er die Hölle 
ſchon vor fi offen ſähe?! — 

„Aber,“ höre ich fragen, „warum wurde er geboren, wenn er beffer 
ungeboren geblieben wäre?” — D Freunde, fragt lieber nicht alſo. Mit 
ſolchen Fragen werdet ihr das Beängftigende jenes Wortes nur noch 
fleigern. — „Es mag fein,“ fahrt ihr fort; „aber wir koͤnnen nicht 
anders, fondern müffen aufs neue fragen: Barum ließ ihn Gott 
geboren werden?" — — Was erwiedere ih? — Hört den Her: „Des 
Menihen Sohn gehet zwar dahin, wie von ihm gefchries 
ben fteht,“ (er erfüllt fein Schickſal nad) feines himmliſchen Baters 
Rath und Borfag,) „aber wehe dem Menſchen, durch welchen er 
verrathen wird!" — Merkt ihr des Herm Abficht bei Diefen Bor 
ten? Dffenbar geht fie dahin, die ganze Schuld des Berraths als eine 
frei gehäufte lediglich auf Zudas fallen zu lafien; Gott den Allmaͤchti⸗ 
gen dagegen als fchlechthin fchuldfrei an dem Handel md im keiner⸗ 
lei Beziehung mitwirfend an demſelben zu rechtfertigen. — „Freilich,“ 
werft ihr ein, „find aud wir gar weit davon entfernt, beftreiten zu 
wollen, Daß dem entarteten Sünger alle Gnade und Kraft zu Gebote- 
geftanden habe, dem Satan Widerftand zu leiften, und fich zum Herm 
zu befehren; aber der allwiffende Gott ſah doch voraus, daß er der 
Verſuchung nicht widerftehn, fondern in die Schlinge des Xeufels 
eingehn, und fomit der ewigen Verdummmiß verfallen werde" — — 
Ich antworte: „Allerdings ſah er dies voraus, und ließ es fogar in 
Prophetenfprüchen vorherverfündigen — —. „Bohlen dem,“ ruft 
ihr, „Da e8 dem Ewigen bewußt war, daß es jenem Menſchen beffer 
iwäre, er würde nicht geboren, warum verhinderte er nicht feine Ge⸗ 
burt? Warum wehrte er dem Schluffe des Ehebumdes nicht, dem er 
entiproß? Warum ſchlug er nicht des Judas Mutter, wie ex einft die 
Michal flug? Oder warım nahm er den kaum Geborenen nicht 
aus der Wiege wieder zu fih? Warum gönnte er ihm Rum uud 
Beit, bis zu ſolcher Berderbensreife ſich zu entwideln? Warm, 


Der Wehernf. 151 


warum that Dies Gott, da er ja allmächtig, und da er die Liebe 
if — — D Brüder, thut euern Fragen Einhalt. Befcheidet euch 
Die Tiefen der göttlihen Weltregierung ergründet fein menfchlicher 
Geift. Ein verfiegeltes Geheimniß bleibt es uns, wie der alllies 
bende Gott auch Menfchen könne geboren werden laffen, deren Lebens- 
fragen Er kraft feiner Allwiffenheit in die Abgründe einer ewigen 
Derdummniß fich verlieren ſieht. Wir nehmen daraus nur ab, daß 
Gott, der Uinerforfchliche, anders lieben müfle, als ein Menſch liebt, 
diefer elende Wurm, der von einer heiligen Liebe nicht weiß, von 
einer Liebe, die mit der Gerechtigkeit Hand in Hand geht, feine 
Ahnung hat. Ueberdies bedenkt: Wo bliebe das Reich der Frei⸗ 
beit, wenn Gott zwingend verhindern wollte, daß Jemand ſich felbft 
verderbe, und alſo verloren gehe? Was würde aus dem Glanze Sei⸗ 
nes Thrones, wenn Er, um nur nicht ftrafen zu müflen, die Objekte 
feiner vergeltenden Gerechtigkeit befeitigte, oder ihre freithätige Ent⸗ 
widlung gewaltiam hemmte? Endlich laßt euch darüber feine Sorge 
kommen, wie der Ewige einft über die einzelnen Alte feines Welt 
regiments ſich werde verantworten können; fondern haltet euch verfi« 
chert, daß Er an dem großen Offenbarungstage durch Enthüllung Seis 
ner Führungen und Wege, Alles, was Ddem hat, nöthigen wird, ans 
betend in die Worte Mofis einzuftimmen: „Der Herr tft ein Fels; 
feine Berte find unfträflih; denn alle feine Wege find 
Recht, Treu ift Gott, und kein Böſes an ihm; gerecht und 
ftomm ift er!“ 

Gehen wir nın in den Richterausfpruch Jeſu über feinen Berräther 
näher ein, und laffen wir denfelben alle feine Schreden vor und ent 
falten. Ein „Wehe“! fchidt ihm der Herr voran; und wo Ehriftus 
„Wehe“! ruft, fpriht im Himmel und auf Erden Niemand mehr 
wit Erfolg ein „Friede mit dir!“ oder „Heil!“ — „ES wäre 
demfelbigen Menſchen beffer,“ begin der Herr. Dem „Mens 
fen’! — Ungewohnter Ausdrud im Munde des guten Hirten! So 
nennt er fonft die armen Sünder nicht. Jene Bezeichnung hat etwas 
Begwerfendes, und Abſchiedslaut tönt durch fie hindurch. Judas geht 
den Heiland nichts mehr an. Jeſus entläßt ihn aus dem Kreife der 
Seinen, und betrachtet ihn fortan als einen Fremdling. O wie 
ſchauerlich dies und wie zermalmend! Wo will er nun hin, der Uns 
glücfelige, nachdem der Einzige, der ihn noch retten koͤnnte, ſich von 
ihm Iosgefagt? Helfe Gott, daß der Friedefürſt für uns einen für 


154 Der Bordel. 


ich aber tüchtig bin, iſt dies: ich kann fagen: Wer fo md fo ſich Ik, 
bat Grund, um feine Seele beiorgt au fein. Ber Diefe umd jene Reh 
male mit Judas fbeilt, tbeilt auch mit ihm Die Fluchſentenz des Ham, 
Ihr fragt mit banger Spannung, welche diefe Signaturen fein?! Beh 
an, ich führe fie flüchtig an euch vorüber. Bejpiegelt euch in iful 

Vorab laßt euch bedeuten, daß eine äußere Unfträflichfeit auch v 
feinen Grund zu dem berubigenden Gedunfen gibt, ihr gehört ale 
nen nicht, welchen es beiter wäre, fie wären nie geboren worden. Sl 
nicht außer Acht: auch Judas batte äußerlich Die Welt verlafien, u 
mit der Mitch der göttlichen Wahrheit groß gefäugt, lebte nadmell 
ununterbrochen unter Kindern Gottes, wurde von Denfelben argles di 


ein Bruder anerkannt, betete und faitete mit ihnen, gehörte um ıı 


mittelbaren Gefolge des himmlischen Friedensfürften, war deffen Ayehd 
und Vertrauter, half fein Wort verfünden, erlitt Schmach um Chi 
willen, vollbrachte gleih den andern im Namen Jeſu Thaten m 
Wunder, und — trog alledem wäre e8 „ibm beſſer gewefen, et 
wäre nie geboren worden.” O beherzigts, Geliebte, und hikk 
euch, eure Chrbarfeit, eure Gottesdienite, eure dhriftliche Grfemnteik, 
euern guten Namen bei Den Gläubigen, und was deß mehr ift, ſche 


für eine zuverläffige Schanze zu erachten, binter der ihr vor den Gb | 


lenflammen gefichert würet. 

Nun aber fehret eure Blide in euer Inneres, und ftehet mir, ade 
vielmehr Dem, in Deflen Namen ich zu euch fpreche, Rede und Aus 
wort. Es gibt Menjchen in der Welt, die den Mantel des Chrikes 
thums äußerlich um fi) werfen, um, wie Judas, einen Teufel dahinkr 
zu verbergen, Sie möchten, gefichert vor dem Richterblick der Belt, 
den Dämonen der Wolluft, des Geizes oder der Hoffarth dienen fie 
nen; und eben Darum verhüllen fie fi in die Larve des Chrifes 
thums. Ich Elopfe bei euch an und frage: Sind der Art Leute a 
in unfter Mitte? — Es gibt Menfchen, die, wie oft auch fchon ge 
wahrſchaut und gewedt, dennoch fid) Ehrifto nicht ergeben mochten, 
weil irgend eine geheime Schooßfünde, Die zu verdammen fie nich 
Muth zu finden wußten, fie gefangen hielt. Nun fröhnen fie diefe 
Sünde mit dumpfer Gewohnheitsruhe, und in der Länge der Jeit 
- wuchs ihre Schuld dermaßen an, Daß fie jebt eher zu allem Andern 
fi verftänden, als Dazu, mit Diefer Schuld frei an's Licht heraucpu⸗ 
treten. Sigen Solche etwa auch in dieſen Bänken? — Es gibt Leute, 
die, genau befehn, nur eine Sorge fennen, die eine, daß man ihnen 


Der Weheruf. 155 


hinter die Maske ſchauen, und entdecken möchte, daß fie nie belehrt 
geweſen feien, obwol fie dafür feit Jahren fchon gehalten wurden. Nun 
it ihnen die Heuchelei wie zum Inſtinkt geworden, und felbft uns 
bewußt find fie immer befchäftigt, ihre Worte, Blide, Mienen, wie 
ihr Thun zu Schleiern zu verweben, mit denen fie ihre wahre Geftalt 
wnziehen. Zählen wir folche Kinder des Scheins auch in unjern Reis 
ben? — Leute gibts, denen es fo oftmals ſchon gelungen ift, den 
Donner der Wahrheit, der an ihre Seele ſchlug, durch Troß oder abs 
fichtliche Zerftremmg und Selbftüberredung zu überwinden, daß fie num 
eine Fertigkeit in Entkräftung der göttlichen Gnaden⸗ und Geifles- 
züge erlangten, und gegen die erfchütterndften Schreden der Ewig⸗ 
feit eben jo bombenfeft, als gegen Die füßeften Lockungen der götts 
lichen Liebe unempfindlich geworden find. Finden fich folche vers 
panzerte Seelen unter uns? — Es gibt Leute, die, wenn fie viel 
leicht auch felbft mit einem geringen Abfall ihres Mammons an der 
Arche des Reiches Gottes bauen helfen, es dennoch mi Mißbehagen 
gewahren, wenn dieſes Neich gedeiht und Fortfchritte macht, 
und die bei Zärtlichleitsbezeugungen für den Herrn, wie die der 
Maria, mit Judas fprechen möchten: „Diefer Unrath wäre beffer ges 
fpart, und zu reelleren Zwecken verwendet worden.” 9a, dieſe Leute 
verfpüren fogar eine geheime Schadenfreude, wenn etwa das Mifs 
fionswerf, zu welchem fie möglicher Weife des Anftandes halber 
felber beigefteuert, in Ruͤckgang zu kommen, und überhaupt der Eifer 
für die Sache Gottes zu erfalten fcheint. Ich frage: Athmen folche 
falſchen Brüder in diefen Mauern? — Es gibt Leute, die in ſoweit 
von der Wahrheit des Evangeliums überwunden wurden, als fie ſich 
genöthigt fehen, derfelben in ihrem Gewiffen Zeugniß zu geben; aber 
dies wider ihren Willen und zu ihrem Verdruß; weßhalb fie, fo oft fie 
etwas hören oder leſen, was den Gedanken in ihnen nährt, daß man 
auch ohne Ehriftum, von deſſen Heilsordnung fie ſich gerne ent 
bunden fähen, den Himmel ererben könne, ein innres WBohlbehagen 
fühle. Sind ſolche Menſchen unter euch? — Unterfucht die Gründe 
eures Weſens, und wiffet: wer zu der einen oder andern der eben bes 
zeichneten Menjchenklaffen ſich zählen muß, von dem ſage ih — nicht, 
daß es ihm beſſer wäre, er wäre nie geboren worden; wohl aber, daß 
e8 im Neich der Möglichkeiten liege, e8 wäre ihm Solches wirklich 
beffer. Er hat rund zu der Bejorgniß, daß jene fchauerliche Grab⸗ 
ſchrift son dem Leishenftein des Judas einſt auf den feinen über⸗ 


156 Der Vorhoſ. 


gehen könne. D Freunde, wenn ich mir denke, daß vielleicht anch eure 
Wiege beffer ein TZodtenfarg gewefen wäre; daß die Hebamme in 
Dir und dir ach! einen Höllenbrand einft in die Arme deiner Mutter 
fegte; daß eure Eltern mehr Urfache gehabt hätten, eure Geburtöftunde 
mit Weinen als mit Frohloden zu begrüßen; daß das Waſſer der hei⸗ 
ligen Taufe an euch vergeudet ward, und gleichfam nur zum Spott 
über euch dahinfloß; daß, während man freudiger Hoffnungen voll euer 
erftes Zeit beging, euere Namen ftatt in das Bud, des Lebens in 
dasjenige des Todes eingetragen wurden: — wenn ich mir Solches 
vorftelle, fo will mir vor Entfeßen das Blut in den Adern gefrieren. 
Nein, nein, ich fage nicht, daß es wirklich alfo ſei; aber möglich iſt 
e8, daß es auch euch befier wäre, ihr wäret nie geboren worden. Und 
daß ihr nur Grund habt, an eine folhe Möglichfeit zu glauben, 
fehmettert euch das nicht fchon wie ein Donnerfchlag damteder? 

Ja, ihr bebt, ihr fteht beftürzt. Laßt mich's wenigftens vorans 
feßen, daß dem alfo fei. Denn wenn ſich's anders verhielte, und ik 
gähnen könntet umter folchen Wahrheitsdonnen, oder gar mit fatz 
nifhem Trotze fie verlachen; wahrlich, fo fehlte nicht mehr viel, ich 
fpräche geradezu von euch im Namen Gottes: „ES wäre diefen 
Menfchen beffer, daB fie nie geboren wären!” — Doc ver 
hüte Gott, daß ich die Grenzen meiner Befugniß überfchreite! Den 
Samen Abrahams zu beunruhigen, bin ich nicht ermächtigt, und mit 
Jeruſalem, wie tief e8 darniederliege, foll ich „nicht anders, denn 
freundlich” reden. Ich weiß, es gibt mehr, als eine Seele in unfter 
Mitte, die das Schredwort über Judas nicht angeht, ob fie gleich 
darum forget, daß es fie treffen koͤnnte. Laßt mich auch Diefe Seelen 
mit flüchtigen Zügen euch kenntlich machen, damit Keiner zuge, der zu 
frohloden und Gott für feine Gnade zu preifen berechtigt iſt. 

Bon denen unter uns, die mit Paulus jauchzen innen: „Ich weiß, 
an welchen ich glaube,” rede ich nicht. Dieſe im Leben der 
Gnade feft Gewurzelten und durch den heiligen Geiſt Verfiegelten wär 
den lächeln, wenn ich mich bemühen wollte, ihnen erft zu beweifen, 
daß auf fie jenes Wort keine Anwendung erleide. Was ich ihnen 
fagen würde, zeugte ihnen längft ein Anderer. An euch aber richte 
fih meine Rede, Befümmerte ihr, und von Zweifeln hin und her Ge⸗ 
worfene, bei denen Die Frage noch fchwebt, ob ihr eure Geburts 
ftunde fegnen dürft, oder fie zu verwuͤnſchen Urfache habe, Seid 
ſtille! Ich weiß um euern Jammer. Nichts entfcheidet noch der 


Der Behernf. 157 


Umftand, dag ihr weder Glauben, noch Liebe, noch Kraft der Heili⸗ 
gung in euch verfpürt, und daß ihr euch täglich noch als Fehlende und 
Strauchelnde ertappt. Bitter ift es, fich fo erfinden muͤſſen; aber nicht 
wahr, Dies eben ift auch euer Schmerz, und euer größter, daß es fo 
traurig um euch flehe? Nicht wahr, Begehrenswertheres ſchwebt euch 
vor der Seele nichts, als Daß auch ihr in voller Wahrheit mit der 
Braut im Hohenliede möchtet fagen Lönnen: „Mein Freund ift mein, 
und ich bin fein, der unter den Roſen weidet?” Nicht wahr, wenn 
als Bedingung diefes Glücks euch auferlegt würde, das Kreuz in feis 
ner .empfindfichften Geftalt dem Herrn nachzutragen, und vor aller 
Bet, enerer Schuld geftändig, euch felbft an den Pranger zu ftels 
fen: ihr wäret unweigerlich dazu entfchloffen? Nicht wahr, ihr gäbet 
euer Liehftes darum hin, daß ihr euch Chrifti getröften, und Seiner 
Gnade euch rühmen könntet? O antwortet „Ja“ auf diefe Fragen, 
umd ich erkläre euch im Namen defien, der „das Verlangen der Elens 
den erhört”: Euch trifft der Weheruf über Judas nicht, fondern euch 
gült die frohe Botſchaft, daß ihr die Stunde benedeien dürft, in 
der ihr einft das Xicht der Welt erblicktet. 

O, es it gut, daß ihr geboren wurdet! Zu großen Dingen feid 
ihr auserfehn. Ihr follt Gott dem Herm zu Leuchtern feiner Gnade 
dienen. Mit euch gedenkt er, als mit Gefäßen der Herrlichkeit, feinen 
Tempel zu ſchmücken. Euch begehrt er vor Himmel, Erde und Hölle 
als Zeugen defien aufzuftellen, was das Kreuzesblut vermag. Zu Säns 
gern hat er euch erforen, Ihm und dem Lamme das große Halle 
Inja anzuftimmen. Als ihr geboren wurdet, fanden freumdliche Engel 
am eurer Wiege. Ueber eurem Haupte flüfterte eine erhabene Stimme: 
„Ich babe dich je und je geliehet!” Eure Eltern drüdten in euch) 
einen Himmelserben an ihre Bruft. Eine göttliche Vermächtnißakte 
flel euch in den Schooß, als das Wafler der Taufe eure Stim bes 
nebte. Ihr tratet in dieſes Thränenthal nur herein, um mit rajchem 
Schritt daffelbe zu durchmefjen, und dann in dem „Jeruſalem da dros 
ben* die bleibende Stadt zu finden. Der König aller Könige fchrieb 
den Namen, den man euch gab, in Sein Lebensbuch. Die Gerech⸗ 
tigfeit feines Sohnes war das erfte Gewand, das er euch umwarf; 
uud das letzte, mit dem er euch ſchmücken wird, wird das Kichtfleid 
der bimmlifchen Verklärung fein. Wie dem, daß es nicht gut fein 
ſollte, daß ihr geboren wurdet? Wäre es doch fchmerzlich zu befla- 
gen, won ihr in der Reihe der Wefen fehltet! Denn dann tönte einft 


158 Der Vorhoſ. 


eine Stimme weniger in dem großen Jubelchore am Throne Gut, 
tes, umd eine Perle funfelte weniger in den Diadem des him 
fifhen Friedensfürften. Darum dreimal Heil euch, DaB ihr da feib! 
Troß allen Elends, in welchem ihr noch ſchmachtet, preifet deu Her! 
Wir preifen ihn mit euch aus froh bewegtem Herzen. 

Ihr Andern aber, die ihr noch gleichgültig am Kreuze Immannel 
porüberfchreitet, oder gar dem heiligen Geifte widerfirebt, der „um 
die Sünde“ euch „ftraft“, umd zu Jeſu euch weifen will, was fage 
ich fehließlih euh? — Hört, hört! Euch Täute ich heine mit ben 
ernften, berzerfchütternden Glockenpulſen des alten Kirchengefanges: 

Ach, ihrer Menſch, wach auf, wach auf, 

Halt ein in deiner Sünden Lauf, 

Auf, wandle um dein Leben! 

Wach auf, denn es if hohe Zeit, 

Dich übereilt die Gwigfeit, 

Dir deinen Lohn zu geben ! 

Bielleiht ift heut der letzte Tag; 

Mer weiß doch, wann man fterben mag?! — Amen. — 


—.s— 


XV, 
Der Gang zum Oelberg. 


In weiten Kreifen hat die feltfame Vorftellung Raum gefunden, 
als ob der Glaube der Kirche höchftens am der Lehre der Apos 
ftel, teinesweges aber an derjenigen des Herrn Jeſu felber feine 
Stuͤtze habe. Ich begreife in der That nicht, wie man zu emer fo 
völlig ungegründeten Anficht gelangen fonnte, da ich in allen apofles 
liſchen Sendfchreiben nichts gewahre, was nicht wenigſtens als treis 
bender Keim auch in irgend einem Ausfpruche des großen Meifter 
fhon enthalten wäre. Schon im Blick auf die Einheit dee Lehre 
der Apoftel mit feiner eigenen hätte der Herr mit voller Wahrheit 
fprechen dürfen, wie er Luk. 10, 16 mit einer andern Beziehung ſpricht: 
„Wer euch höret, der höret mich!“ Was bie Apoſtel predigen 


Der Gang zum Oelberg. 159 


von Des Menſchen Fall und Fluch, von der Nothwendigkeit einer Er⸗ 
Hung, von der Gottheit des fleifchgewordenen Wortes, von der ver- 
föhnenden Kraft feines ftellvertretenden Leidens und Sterbens, von 
der Rechtfertigung durch den Glauben allein, von Buße, Wiedergeburt 
und ewigem Leben, das hat laut den Evangelien er ſelbſt fchon Alles 
moor gepredigt. Wir hören aus Seinem Munde ſchon, daß „was 
vom Fleiſch geboren, Fleiſch fei,” daß „Er und der Vater eins,* 
daß „alle Gewalt im Himmel und auf Erden Ihm gegeben,” daß „Er 
getonmen fei, fein Leben zu geben zum Löfegeld für Viele,” daß „Nies 
wand zum Vater komme als durch ihn,“ daß „wer an Ihn nicht glaube, 
das Leben nicht ſehen,“ daß Er einft den letzten Richterfpruch über 
alle Menſchen fprechen, und feinen Gläubigen den Himmel öffnen und 
das Erbtheil der Heiligen im Licht befcheiden, feine Verächter dage⸗ 
gen zum ewigen Fener verdammen werde, Und was er mit Worten 
nicht predigte, bezeugte er nachdrüdficher durch die That, indem Er 
die Rath⸗ und Zroftbedürftigen auf Sich vertröftete, die Mühfeligen 
uud Beladenen auf Seinen Namen hoffen hieß, den Uebertretern 
ihre Sünden vergab; — und wie Er fonft thatſächlich von Sich 
zu zeugen pflegte. Auf Schritt und Zritt beurfundete er unwillfürs 
lich Sein innerftes Bewußtfein wie von der Hoheit Seiner Perfon, 
und dem Zwecke Seiner Sendung, fo von feiner Mittlerftellung für 
die fündige Welt und der Heilsbedeutung feiner biutigen Marter; und 
Dies Alles zum fchlagenden Beweife, daß, was Die Apoftel Iehrten, nur 
ans dem Schatze Seiner Lichtgedanfen gefchöpft war. Bon dem Allen 
und aufs nene zu überzeugen, gewährt uns der Geſchichtsabſchnitt 
willtommene Gelegenheit, der unfrer heutigen Betrachtung vorliegt, und 
in welchem wir den Herrn den erfien Fuß auf feine eigentliche Opfer 
Araße fegen fehen. 


Matth. 26, 30 — 32. 

Und da fie ben Lobgeſang geſprochen hatten, gingen fie hinaus an ben Oelberg. 
Da ſprach Jeſus zu ihnen: In biefer Nacht werdet ihr euch Alle ärgern an wir; 
denn es fiehet gefchrieben: Ich werde den Hirten ſchlagen, und die Schafe der Heerbe 
werben fih zerſtreuen. Wenn ich aber auferftehe, will ich vor euch hingehn in Galilän. 


| Wenige Worte, aber ein reicher Inhalt. Sie erfchließen ums die 
Tiefen des Herzens Iefu, und enthüllen uns das Bewußtfein, mit 
weichen: ex feinen Leiden enigegengeht, In dieſes Heiligthum einges 


160 . Der Bordel. 


führt zu werden, muß uns vom allerhöchften Getwichte fein. Denn wicht, 
wie diefer oder jener den Herrn verfteht, fondern wie der Herr ſich 
felber weiß, das entfcheidet die Frage, für wen wir ihn zu Halten, 
und welche Bedeutung wir feinem Werke beizumefien haben. Es gikt 
fi) aber jenes Sein Selbftbewußtfein in unferm Texte als ein Drei» 
faches fund, und zwar zuerft als ein Bewußtſein von feiner 
amtlihen Stellung; fodann als ein Bewußtfein von der 
Bedeutung feiner Leiden; und endlich als ein Bewußtfein 
von feinem Siege darnach. Gehen wir tiefer in die Sache ein, 
und kroͤne der Herr unfre Betrachtung mit feinem Segen! 


1. 

Ein feierliher Moment iſt's, bei welchem unfre Gefchichte anhebt. 
Der Herr Jeſus bat fo eben die heilige Stiftung feiner Liebe, das 
Abendmahl, eingefegt, und ſtimmt nun nach Gewohnheit des Paſſa⸗ 
feftes in der Stille der Nacht mit feinen Jüůngern das „Hallel“, 
oder den großen Lobgeſang an. Diefer Gefang befand aus den Pfals 
men 115— 118, Zum erftenmale begegnet der Herr und fingend; 
denn eine andre Deutung läßt das Wort des griechifchen Grundterxtes 
nicht zu. Der Heiland ertheilt hiedurch dem gemeinfamen Gefange 
in feiner Kirche für immer die Weihe, in koͤſtlich Geſchenk des 
Himmels an die Erde, der Gefang, diefe Sprache des Gefühle, die 
jer Odem der erhöhten Stimmung, diefer Flügel des bewegten Ge⸗ 
müths! In dem Dienfte des Heiligthums aufgenonmen, wie wohls 
thätig und fegenbringend ift feine Macht! Wer erfuhr es nicht ſchon, 
wie er dann uns über die graue Sphäre des Alltagsiebens hoch hin⸗ 
auszutragen, fo wunderthätig bis in die Vorhöfe Des Himmels uns 
zu entrüden, fo mächtig das Herz und zu erweitern und zerfchmels 
zen, und den Gram uns zu verfcheuchen und die Zeffeln der Sor⸗ 
gen zu zerfprengen vermag? Und Größeres vermag er noch, denn 
dies, wenn der Geift von Oben feinen Hauch mit ihm vermifcht. 
Zaufendmal hat er wieder Frieden geitiftet mitten im Hader, und den 
Satanas gebannt und feine Anfchläge zu nichte gemacht. Ja, er iſt 
hingeweht wie Frühlingsthaumind über erftarrte Winterfluren, und bat 
fteinerne Herzen wie Wachs zerrinnen, und für Saaten der Ewigkeit 
urbar und empfänglich gemacht. — Der Herr der Herrlichkeit fins 
gend mit den Seinen! O wäre dem David, als er jene Palmen 
einft auf's Pergament warf, eine Ahnung davon gelommen, Daß den⸗ 
jelben die hohe Ehre widerfahren werde, von den holdfeligen. Lippen - 


Der Gang zum Delberg. 161 


Deffen felber angeftimmt zu werden, der feiner Lieder erhabenfter 
Jahalt und feines Lebens ganze Hoffnung war; er hätte wol vor 
freudiger Beftürzung den Griffel feiner Hand entfinfen fehen. — 
Welch' Siegel aber drüdt der Herr auf jene Lieder als auf wirkliche 
Ergüſſe des heiligen Geiſtes, indem er felbft, und zwar in der 
feterlichften Stunde feines Erdenwallens, diefelben fingend fich an- 
eignet. Würde er, zumal in jenem Moment, fie gefungen haben, wenn 
fie ihm nicht Tauteres Gotteswort enthalten hätten? So erfcheint 
denn auch Diefer Belang des Herrn als ein mächtiges Zeugniß für die 
göttliche Eingebung der heil. Schrift. Wahrlich, nur in Seine Zuß- 
flapfen tretet ihr, wenn ihr mit unbedingtem Vertrauen an diefes Wort 
euch hingebt. Und follte. nicht dies Bewußtfein fchon höchſt ermu⸗ 
thigend für euch fein, und jeden neu auftauchenden Zweifel bald wie- 
der niederichlagen können? — O Brüder, wer jenem ftillen Nacht⸗ 
gefange hätte lauſchen Dürfen! Gewiß Tagen die heiligen Engel mit 
berchendem Schweigen in den Wolkenfenftern. Du aber, o Menfchheit, 
vernahmft in dieſen Zönen das Wiegen: und Weihelied deiner ewigen 
Erlöfung! 

Millionen ſchon hatten in Iſrael in den taufend Jahren feit Da- 
vid nad) dem Paflahmahl das große „Hallel” gefungen. Manche, 
wie die Propheten und die Erleuchteteren im Volk, gewiß mit ties 
fer Rührumg und feuriger Inbrunft. Aber mit Empfindungen, wie 
die, womit der Herr Jeſus es fang, fimmte noch Niemand dafjelbe 
an: denn die vier Palmen bandelten von Ihm felbft, dem wahren 
Dfterlamm, und von feinem Priefter- und Mittlerthume. Seine Er- 
lebniffe ımd Empfindungen, Seine Marter, Kämpfe und Triumphe 
gaben jenen Liedern erft die volle Wirklichkeit. Der 115te Pfalm 
rähmt die Segnungen der göttlichen Gnade, denen durch die Vermitt⸗ 
fung des Meſſias das Strombette zur Sünderwelt gegraben werden 
follte. Im 116ten Pfalm hebt der Mittler felbft Die Schleier von 
den fchauerlichen Abgründen blutiger Paſſion, Denen er fi für Die 
Sünder überantworten werde, „Stride des Todes“, heißt e8 dafelbft, 
„batten mich umfangen, und Ungft der Hölle Hatte mid getroffen.” 
Amgleich aber. preifet das Lied die herrliche Errettung, die er nad) Er⸗ 
duldung jener Marter erfahren follte: „Du baft meine Seele aus dem 
Tode gerifien, mein Auge von den Thränen, meinen Zuß vom Gleiten. 
Ich werde wandeln vor dem Herrn im Lande der Lebendigen.” Der 
117te Palm enthält eine Aufforderung an Die Völker, mit Halleluja 

11 


162 Der Vorhof. 


die ewige Gnade zu verherrlichen, die ihnen aus des göttlichen Hohen⸗ 
priefters Werk erwachſen fe. Der 118te Pſalm faßt das vorher Bes 
zeugte noch einmal in eine Summe zufammen; und zwar zuerft das 
Kreuz: „Sie umgeben mich wie Bienen, fie dämpfen wie ein Feuer 
in Domen, man ftößt mich, daß ich fallen foll;” dann des Mittlers 
Vertrauen: „Der Herr ift mit mir, darum fürchte ich mich nicht; 
der Herr ift meine Macht und mein Pfalm; ich werde nicht fterben, 
fondern leben und des Herrn Werke verfündigen;”” — dann die Er- 
rettung: „In der Angſt rief ich den Herm an, und der Herr erhörte 
mich und gab mir Raum;“ — hierauf das aus feinem Opfer er- 
wachfene Heil: „Man finget mit Jauchzen vom Heil in den Hütten 
der Gerechten: die Rechte des Herrn ift erhöht, die Nechte des Herrn 
behält den Sieg. Thuet mir auf die Thore der Gerechtigkeit, daß ich 
hineingehe und dem Herrn danke. Dies (nämlich diefer freie Zutritt) 
iR das Thor des Herm; auch die Gerechten werden dahinein gehn; 
— und endlich die fieghafte und Alles überwindende Macht feines 
Gnadenreichs auf Erden: „Der Stein, den die Bauleute verworfen 
haben, ift zum Edfjtein geworden. Das tft vom Herrn gefchehn und 
it ein Wunder vor unfern Augen.” 

Seht, lauter Züge zum Bilde des zukünftigen Meſſias; lauter Hin- 
deutungen auf Seine Erlebniffe und Sein Werl! Und Der, in welchem 
diefes Alles feine volle Verwirklichung finden follte, war nun erfchie- 
nen, und fein Zuß rubte bereits im Thal der Erde. Der Herr Jeſus 
erihaute, wie in dem Spiegel des Mefftanifchen Weiſſagungswortes 
überhaupt, fo auch in dem jener Pafiahpfalmen fein eigen Bild, 
und fang die heiligen Strophen mit dem vollen, Haren Bewußtſein 
feiner Hohenpriefter, Heilands⸗ und Mittierftellung. Rah dem Ges 
fange „ging er hinaus an den Delberg.* Großer, verhängniß- 
voller, folgenreicher Gang Dies! Wir rufen: „Erde, die er dem Fluche 
entreißen will, füffe Seine Füßel Hölle, wider die er den Hamifch 
angelegt, erzittere! Himmel, dem er eine neue Bevölkerung zu erwerben 
auszieht, neige Dich nieder, und finune über die Höhe, Breite und Tiefe 
feines Werkes!" — Dort gebt er hin. DO, was Alles Iaftet auf Ihm 
in Diefem Augenblid? Die Schuld von Jahrtauſenden, die Zukunft 
der Welt, das Heil von Millionen! Er gehet hin, um in feiner eignen 
Perſon das mit Blut bethaute und befruchtete Saatkorn eines neuen 
Hönmels und einer neuen Erde zu pflanzen. Wehe, wohin gingen 
wir, hätte Er nicht Diefen Gang für uns gethau! Unſer Leben wäre 


Der Gang zum Delberg. 163 


eine Fahrt zum Hochgericht; unfre Zukunft verlöre fih in ein maus _ 
loſchliches Feuer. Es war Ihm dies bewußt. Seine Aufgabe ftand 
ihm allaugenblidtich in ihrer ganzen Größe Har vor der Seele, Ebenfo 
far aber ſchwebte auch der hochherrliche Erfolg feines Werks ihm vor, 
Er erfaßte fich felbft auf Schritt und Tritt als den, der vom Bater 
geſendet fei, die durch die Sünde aufgeriffene Kluft zwifchen Gott und 
der Kreatur, dem Himmel und der Erde wieder auszufüllen. War Er, 
daß ich menfchlich rede, Derjenige, als den er fich wußte, dennoch nicht, 
fondern bildete Er ſich nur ein, es zu fein, fo würde ihn doch dieſe 
großartige Einbildung ſchon als den Sohn Gottes, wenn auch als 
den kranken, als den phantafirenden verratben haben: denn in 
das Herz eines bloßen Menſchen konnte jene erhabene Idee einer 
Gotiverföhnung nimmer fommen. Und daß vollends ein bloßer Menſch 
im Stande gewefen fein follte, diefe Idee mit fo Eonfequenter Ruhe, 
wie Zefus es that, ein ganzes Leben hindurch feitzuhalten, und all 
fein Reden, Thun und Laffen zu derfelben in Beziehung zu feßen, ift 
gar erft fhlechthin undenkbar. Ich kenne Jemanden, der mit der 
gewaltfam behaupteten Vorausſetzung an die evangelifche Gefchichte hers 
antrat, der Herr Jeſus fei — der Herr vergebe die Wiederholung des 
Ausdruds! — nur ein wohlmeinender Schwärmer geweſen. Im Wege 
unwiderftehlicher Nöthigung gelangte aber der Mann zu der feften, uns 
umftößfichen Weberzeugung, daß, angenommen felbft, Jeſus habe geirrt 
und geträumt, fein Adamsfohn, fondern immer nur ein übermenfch« 
licher, ja allein der Herr vom Himmel fo habe träumen und phantafiren 
können. Und wer wird die Wahrheit in Diefem Schluß verfennen? 
2. 

Zurüd zum Zerte. Das Bewußtfein unſres Herm will ſich noch 
weiter vor ums erfchließen. Dort wandelt er im Geleite feiner Jünger 
durch die ftille Nacht dahin; fie alle von den feierlichen Borgäns 
gen, die fie eben in jenem Saale zu Jeruſalem erlebten, noch) tief bes 
wegt, und hoch erhoben durch die wie aus dem Himmel hernieder . 
tönenden Worte, welche fie aus feinem holdfeligen Munde dort ver 
nahmen. Da bridt der Herr das gedanfenvolle Schweigen, und 
fpricht zu nicht geringer Beftürzung feiner Lieben: „In dieſer Nacht 
werdet ihr euch alle an mir ärgern; denn es fiehet ges 
ſchrieben: Ich werde den Hirten fhlagen und die Schafe 
der Heerde werden fich zerftreuen,” — Schwer wiegende, ges 
haltwolle Wortel Der Herr bezeichnet in ihnen den Befichtspuntt, 

11 


164 Der Vorhof. 


aus welchem Er felbft die ihm bevorftehende Marter anfteht. Er 
weiß genau um die Leiden, die ihm nahen. „In dieſer Nadıt,* 
fpricht er. O heilige Nacht, aus deren Schooße und, wenn auch mit 
blutigem Lichte, die hellften Hoffnungs- und Zrofteöfterne aufgegangen! 
Der Herr erfennt feine Paffion als eine unbedingte Nothwendig- 
feit. Wenn Er fie dafür nicht angefehen hätte, wie leicht wäre es 
Ihm geweien, ſich derfelben unter dem Schleier der einfamen Nacht 
zu entziehen! Aber frei gibt er ſich ihr hin; denn während er fpricht: 
„Sn diefer Naht“, fehreitet er ſchon mit feftem Gange feiner erften 
PMarterftätte, dem Garten Gethfemane, entgegen. Mit klarem Blick er- 
kennt er feiner Leiden Bedeutung und Zwed; denn „Es fteht ge- 
ſchrieben:“ fpricht er, „Ich werde den Hirten ſchlagen und 
die Schafe der Heerde werden fich zerftreuen.” Aus Sa- 
charja 13, 7 find dieſe Worte entlehnt. Hier leſen wir: „Schwert, 
mache dich auf über meinen Hirten und über den Mann, 
Der mir der Nächfte ift, fpricht der Herr Zebaoth. Schlage 
den Hirten, fo wird die Heerde fich zerfireuen, fo will ich 
meine Hand kehren zu den Kleinen.’ — Diefe Stelle deutet uns 
der Herr in feinem Ausſpruch. Der Kern ihres Inhalts ift Diefer: 
„ch, der Herr Zebaoth, werde fehlagen mit dem Schwerte der Ge 
rechtigleit meinen Hirten, den Mann, der mir der Nächfte ift, (d. i. 
den Meſſias,) und die Schafe der Heerde (feine Jünger, Freunde nd 
Bertrauten,) werden fich zerftreuen.” „So ſteht's gefchrieben,“ fagt 
der Heiland, „und wie's gefchrieben fteht, wird's nun kommen.“ Was 
Jeſus in Mofe und den Propheten Tiefet, gilt Ihm, ihr feht e8 bier 
aufs neue, unbefehn bis zu den unfcheinbarften Beitandtheilen hin, 
als vom heiligen Geifte eingegebenes untrügliches Gotteswort. Ihm 
ift dieſes Wort unbedingt entfcheidend; Ihm macht es in allen Fäl- 
Ien dem Hader ein Ende, Diejenigen, die in unfern Tagen nur von 
einem Worte Gottes in der Bibel, flatt von der Bibel als dem 
Worte Gottes wiffen mögen, feßen fich vermeffen und keck über den 
König der Wahrheit hinaus. Wir wollen nicht fagen, daß fie nicht 
dennoch Kinder Gottes feien, und des ewigen Lebens theilhaftig wer: 
den koͤnnten; denn zu ihren Gunften fagt die Schrift, daB ſchon „felig 
werden folle, wer nur den Namen des Herrn anruft”. Aber nicht 
minder heißt e8 auch zu ihrer Warnung, und leuchtet wie eine bes 
denkliche Flammenſchrift an ihrer Wand: „So Jemand davon thut 
von den Worten Diefes Buches der Weiffagung, dem wird 


Der Gang zum Delberg. 165 


Gott abthun fein Zheil vom Holze des Kebens, und von 
der heiligen Stadt, und von dem, das in dieſem Bude 
gefchrieben ſteht.“ 

Uebrigens vermefjen ſich in unfern Tagen auch in einem andern umd 
fogar weſentlichern Punkte noch felbft Gläubige, namentlich der 
borgeblih gebildeteren Kreife, an evangelifcher Einficht Jeſum 
jelbft überbieten zu wollen. Sie behaupten, die hergebrachte kirch⸗ 
liche Lehre von der blutigen Stellvertretung des Mittlers, fofern dar⸗ 
unter ein Schuld» und Strafetragen, ja ein Erdulden des Zornes 
Gottes verftanden werde, fei al8 ungegründet aufzugeben. Die her 
koͤmmliche juridifche oder prozeß⸗ und gerichtsmäßige Anfchauung fet 
als zu finmlich und der Vernunft widerftrebend von der Betrachtung 
feiner Paffion zu entfernen. PBaffionspredigten, in denen noch nad 
alter Weiſe der leidende Ehriftus als für unfre Sünden haftend, 
ja als an unfrer Stelle Fluch erduldend, Strafe abtras 
gend, und damit der göttlichen Strafgerechtigkeit für die 
Sünder genugtbuend dargeftellt werde, ftünden mit den Ergeb» 
nifjen einer fortgefchrittenen Schriftforfchung nicht mehr in Einklang. 
So fagen fie, und doch geht diefe fogenannte „juridifche* oder 
„richterliche“ Anfchauung von der Marter Jeſu unverkennbar durch 
die ganze heilige Schrift hindurch, und begegnet uns nicht allein 
fhon in den Weiffagungen und dem ganzen vorbildlichen Opferweſen 
des alten ZTeftaments, fondern ift auch die Anfchauung fänmtlicher 
Apoftel, die bald uns zurufen: „Gott rechnete den Sünden ihre 
Sünde nicht zu, fondern er hat den, der von feiner Sünde wußte, 
für uns zur Sünde gemacht“; bald bezeugen: „Ehriftus bat und ers 
löfet vom Fluche des Geſetzes, da er ward ein Fluch für ung; denn 
e8 fteht geichrieben: „Werflucht ift, der am Holze hängt”. — Und was 
fehwerer wiegt als diefes Alles, — obwol auch die Apoſtel nicht aus 
fich, fondern aus dem Geiſte Gottes reden, — ift der Umſtand, daß 
auch der Herr Zefus felbft feine andre Anfchauung von feinem Leiden 
hatte, als eben die ſe. Beweis hiefür haben wir, vieler andern Auss 
fprüche nicht zu gedenken, an dem Worte in unferm Text. Jeſus Pit 
bier unzweideutig und entfchieden einen Prophetenſpruch auf ſich, in 
welchem der allmächtige Gott als Richter auftritt, und in der Rüſtung 
nicht feiner Liebe, fondern feiner Gerechtigkeit erfcheint. ‘Der Hoch⸗ 
erhabene gebietet dem Schwerte, daß es der Scheide entfahre. Er 
iſt es, Der Das Schwert zuckt, und nicht etwa Kaiphas, Pilatus, die 


166 Der Border. 


Juden oder die heidnifchen Söldner. Nein, Er, der Herr Zebaoth 
ſelbſt. Und wen fchlägt er mit dem Schwerte? „Ich will den Hirten 
fhlagen, * fpricht er, „den Dann, der mir der Nächfte ift,“ d. h. mei⸗ 
nen Gefalbten. Bon diefem prophetifhen Bilde fagt nun Jeſus 
ganz ausdrüdfich, daß es in Ihm feine Erfülhmg finden werde. Sid 
ftellt er alfo dar al8 den von dem richterlichen Gott Gefchlagenen. Aus 
welchem Grunde er von Gott gefchlagen wurde, erhellt genugfam aus 
andern Stellen. Er trat, die Sünde büßend und fühnend für uns 
ein. Er ließ das unwiederrufliche „Verflucht fei Jedermann, der nicht 
bleibet in alle dem, das gefchrieben fteht im Buche des Geſetzes, daß 
er e8 thue,“ im Wege der Stellvertretung zur Ehre Gottes, zur Wie 
Derherftellung der Majeftät des Geſetzes, und zu unſrer Freifprechung 
md Erlöfung an Sich eine Wahrheit werden. So, und nicht anders, 
muß die Sache aufzufaffen fein, oder die ganze Paffionsgefchichte wird 
zum büftern Labyrinthe. Es muß fi fo verhalten, oder hunderte 
von Schriftſprüchen ftehn als unauflösliche Räthfehvorte vor und. Es 
muß, oder das fchauerliche Gefchi des Heiligen in Sfrael hallt wie 
ein gellender Mißlaut durch die Menfchengefchichte, und flellt das Vor⸗ 
bandenfein einer göttlichen Vorfehung und Weltregierung durchaus in 
Frage. Ja, e8 muß, e8 muß, oder der Herr vom Himmel bat flatt 
Bahrheit Saat des Irrwahns gefäet: denn Er fprah: „Es erfüllt 
fich jebt an mir, was gefchrieben fteht: Ich, ſpricht der Herr 
Zebaoth, werde den Hirten fchlagen.” — „Mber die Vers 
nunft — —?“ OD, der Herr wußte wol, was die Vernunft dazu 
fagen werde; darum fprach er: „In Diefer Nacht werdet ihr euch 
Alle an mir ärgern." Die Vernunft irrt, und vernimmt von den 
göttlichen Dingen nichts, fo lange das Herz nicht zur Einficht, zur 
lebendigen Einſicht feiner wahren Bedürfniffe gelangte. Werde du 
nur erſt zum heilöbegierigen Zöllner oder Schächer, mit wie fo ganz 
anderm Klange wird dir dann das „Ich werde den Hirten fehlagen“ 
entgegen tönen! Dann weißt du: fchlagen muß der Allmäcıtige. Es 
fagt dir's der Richter in deiner Bruft, es bezeugt dir's dein vom Todes⸗ 
ſchlaf erwachtes Gewiffen. Was man dir vorreden mag von Gottes 
allgemeiner Freundlichkeit, Barmherzigkeit und Liebe, du bleibft dabei: 
„Schlagen muß er." So tief und feurig ift dir dies hinfort in 
dein Bewußtſein gefchrieben, daß auch ein Engel vom Himmel dich daran 
nicht mehr irre machen wird. Gott ift heilig, gerecht und wahr, und 
bu ein Rebell wider ihn und ein Frevler vor feinem Angeſicht. Bei 


Der Gang zum Delberg. 167 


Diefem Sape verbleibft du, und hoͤrſt fchon die Donner feines Zorkes 
rollen über deinem Haupt; und nichts in der Welt bringt dich von 
Dem Gedanken wieder ab, daß es einer Genugthumg bedürfe, wen 
Da Sünder felig werden folleft. Zönt unter diefen Erwägungen und 
Empfindungen dann das Wort di an: „Sch werde den Hirten 
ſchlagen!“ o welch' füßer Friedensglockenklang wird's für dich ſein! 
Selige Wendung, die jetzt in deiner Lage eintritt! Du ſuchſt den 
Hirten auf, der an deiner Statt geſchlagen ward, und findeſt ihn in 
dem blutigen Buͤrgen in Gethſemane, auf Gabbatha, am Kreuze. Du 
umklammerſt ihn mit allen Ranken deines innigften Vertrauens, und 
bezeugfi e8 Jedem, der es hören will, daß du feinen Zroft im Les 
ben und im Sterben haben würdeft, wäre der Sohn Gottes nicht 
im wirklich gerichtlichen Sinne ftellvertretend für dich eingetreten. — 
Täglich bewahrheitet ſich's aufs neue, daB das Evangelium dem bes 
dürfnißlofen Menfchen eine Thorheit dünkt; an dem Bedürftigen aber 
als eine Kraft Gottes ſich erweilt, und mithin die Erkenntniß auf 
dieſem Gebiete nicht vom Berftande, fondern lediglich vom Herzen, 
und zwar von dem durch den heiligen Geiſt erleuchteten und im Schuld⸗ 
gefühl zerbrochenen Herzen ausgeht. Der natürliche Menfch verninmmt 
mm einmal, wie die Schrift fagt, von den göttlichen Dingen nichts; 
es ift ihm eine Thorheit und er kann es nicht erfennen: denn es muß 
geiftlich gerichtet fein. Wer an der Lehre von dem fluchtragenden Got⸗ 
teslamme Anftoß nimmt, beurfundet damit nur, daß er, wie gläubig 
er im liebrigen auch fei, vom Weſen und der Verdammlichkeit der 
Sünde wenigftens noch fehr feichte und oberflächliche Begriffe hege. 


3. 

Das Wort des Herm: „Es fteht geichrieben: Ich werde den Hir⸗ 
ten fchlagen“, hat uns alfo audy das Bewußtfein des Herrn von ber 
wahren Bedeutung feiner Leiden fonnenhell beleuchtet. Es kann us 
darım fein Ausruf: „Sch muß mich noch, mit einer Taufe taufen laf⸗ 
fen, und wie ift mir fo bange, bis fie vollzogen werde,“ eben jo wenig 
mehr, wie fein nachmaliges Angfigebet: „Vater, iſt's möglich, jo gehe 
dDiefer Kelch an mir vorüber" ein Räthfel fein. Freilich hat die Liebe 
des Baters den „eingebornen Sohn“ feinen Augenblid verlaffen. 
Jeſus blieb der Gegenftand Seines höchſten Wohlgefallens ımd Sets 
ner zärtlichften Zuneigung. Aber die Erfahrung und Empfindung der 
väterlichen Liebe follte ihm zeitweilig entzogen werden, umd Dagegen 
Gnupfindungen eines non Bott Berlaffenen au deren Stelle 


168 Per Borbof. 


treten. In’ die Hölle follte er hinab, und hinein in alle Anfechtungs⸗ 
gluten des Satans und feiner finfteren Rotten; und eben Davor hat 
Ihn gefchaudert und gegrauft. Durch das Dunkel diefes beffemmen- 
den Bewußtfeins aber ergoffen fich zugleich verflärend die morgenroͤth⸗ 
lichen Strahlen eines andern erheiternderen Wiſſens, des Wiſſens um 
den Triumph, der nad dem Kampfe Seiner harre. Auch dieſes Bes 
wirßtfein gibt der Herr zu Tage, und zwar in den Worten: „Wenn 
ich aber auferftehe, fo will ih vor eu hingehn in Gali— 
läa.“ Bewundert hier zupörderft die Treue des quten Hirten. Zus 
erft fagt ers den Seinen ausdrüdlich vorher: „In diefer Nacht 
werdet ihr eu Alle an mir ärgern.” Welche zarte Fürforge 
für fie beurfundet er hiedurch fchon! Es vermochte ja num das Aer⸗ 
gerniß nicht mehr zu weit zu greifen. Wenn die Xeiden über den 
Meifter hereinbrachen, mußten fie fi fagen: „Er wußte, Daß es da 
hin mit ihm kommen werde, und dennoch ging Er freiwillig foldyer 
Baffion entgegen. Folglich mußte e8 ja wol unerläßlich zur Vollen⸗ 
Dung feines Werks gehören, daß er Ddiefen und jenen Marten ſich 
unterzog.“ — Der Herr geht aber weiter noch, und eröffnet ihnen, 
daß in feinen Leiden nur die heil. Schrift und fomit der Rath 
ſchluß Gottes fih erfülle. Welch’ einen mächtigen Stab für Die 
Tage der Trauer gab er ihnen auch damit fürforglih in die Hand: 
einen Stab, der fie freilich allein nicht völlig aufrecht zu erhalten ver⸗ 
mochte, aber doch vor einem gänzlichen Schiffbruch am Glauben fie 
ſicher ftellte. Und num fagt er ihnen endlich, die Schafe der Heerde 
würden fich zwar zerftreuen, aber darum doch fo nach wie vor feine 
Schafe bleiben, und ihrer Untreue wegen nicht verftoßen werden. 
Er fagt ihnen dies, indem er ihnen eröffnet, daß er, nachdem er aus 
allen feinen Martern triumphirend werde hervorgegangen fein, und 
jelbft den Tod überwunden habe, fie wieder in Frieden und Freude 
um fi fammeln werde. O, welch' ein Troft lag darin für fie, und 
welch' eine Glaubensftärfung und Ermuthigung namentlih auch für 
die Stunde, da nad) eingetretener Zerftreuung die Kunde fie erreichen 
follte, Daß der fchmählicy von ihnen Aufgegebene und Berlaffene wirk⸗ 
lich wieder da fei, und als Sieger über alle feine Zeinde auf dem 
Plane ſtehe. Da war es denn nicht noth, daß fle fich entfegten; 
fondern fie durften ſich mehr unbedenklich der fügen Hoffmung übers 
fafien, er werde ihnen nicht vergelten nach ihren Werfen, fondern Alles 
thnen verzeihen und fie liebend wieder um fi vereinigen, Seht, fo 


Der Gang zum Delberg. 169° 


waltet feine mütterlihe Sorgfalt nicht in der Gegenwart der Seinen 
bloß, fondern auch ſchon in der Zukunft ihres Lebens, und bahnt 
auch da fchon Alles an, und bereitet vor, was Unheil verhüten, und 
Heil und Segen bringen muß. O wie wohl ift man geborgen, wenn 
man erft unter Seinem Hirtenftabe fteht! Gefchehen kann es, daß 
man auch dann noch einmal wieder an Ihm ſich ärgere, ja, für eine 
Weile von Ihm weiche, und ſich in das Eigene zurüd verliere. Aber 
Er laͤßt uns nicht mehr in der Irre, fondern fucht uns wieder auf; 
denn allen feinen Schafen gilt das Wort; „Sie werden nimmermehr 
umlommen, und Niemand wird fie aus meiner Hand reißen.” 
„Benn ich aber auferftehe,“ fpricht der Herr; buchſtaͤblich: 
„Nachdem ich werde auferftanden fein.“ Hier blickt er alfo über das 
Angftmeer der ihm bevoritehenden Paſſion in freudigfter Zuverficht bis 
auf den Triumph darnach hinaus. “Daß er das jenfeitige Ufer, wo der 
Delzweig des Sieges ihm winkt, erreichen werde, ift ihm gewiß. Er 
fagt nicht: „wenn,“ fondern: „nachdem ich werde auferftanden fein.“ 
Er gedenft an den alten, verheißungsvollen Prophetenfpruh: „Wenn 
er fein Leben zum Schuldopfer gegeben haben wird, wird er in die 
Länge leben,” Wer in folhem Erfaffen der göttlichen Zufage feinen 
Zußftapfen zu folgen weiß, hat das Geheimniß gefunden, wie man 
mitten der Brandung fchon fein „Land! Land!“ frohloden, und mit⸗ 
ten im Kampfe Siegeslieder fingen kann. Ja, heraus aus der ängfts 
lichen Stellung, in der man nur anfleht, was vor Augen ift, und wie 
ein Spielball den Berechnungen der Vernunft fih überläßt! Beide 
Fuͤße vielmehr auf den hohen und unwandelbaren Felſen des Wortes 
des allmächtigen Gottes geftellt! Wie ficher und Tieblich ift dann woh⸗ 
nen, felbft wenn Nacht uns umgraut, und Sturm und Wetter uns ums 
toben. Da wird man gewahr, es umhülle die Wolke, die uns aͤng⸗ 
fligt, nur vorübergehend einen Theil unfres Lebenshimmels; denn der 
entferntere Horizont ift heiter, und der noch entlegnere verheißt nad) 
allen Nächten einen Tag, an dem die Sonne nicht mehr untergeht. — 
„Nachdem ich werde auferftanden fein, will ich vor euch hers 
gehn nah Galiläa.“ Galiläa alfo der Sammelplatz. Galilaͤa das 
Land der Wiedervereinigung und des Wiederfehens. Dort einft ans 
gelangt, hat er feine Marterkelche mehr zu leeren, und die Seinen 
werden nicht mehr an ihm irre werden. Nicht ift er dann mehr der 
„Mann der Schmerzen“; fondern in Majeftät und Siegesherrlichkeit 
gehuͤllt, tritt ex feinen Lieben entgegen, und grüßt fie mit dem Friedens⸗ 


170 Der Vorhoſ. 


gruße des neuen Lebens. — „Ich gehe vor euch her nach Gali⸗ 
läa.“ Sa, auch für uns, wem wir zwifchen den Zeilen zu leſen 
wifien, liegt etwas in diefen Worten, — „Nachdem ich werde anf- 
erfianden fein,” Gewiß, auch die Auferftehung wird nicht verzies 
ben, deren wir barren: die endliche Erhebung Seined Reiche aus 
tiefer Schmach, der fleggefrönte Hervortritt Chriſti aus langer Nachts 
umbüllung. Bielleiht erfolgt fie bald. Wenn er feine Feinde zum 
Scemel feiner Füße wird gelegt, feine Auserwählten aus den vier 
Winden herzugerufen und gefammelt, und den Satan gebimden und 
in den Abgrund verfchloffen haben wird, dann ziehen auch wir in 
das Galiläa des Friedens und der Freude ein, wo wir Ihn, an 
den wir glaubten, ob wir ihn gleich nicht fahen, von Angeficht zu 
Angeficht fchauen, und mit Jubelpfalmen des Entzüdens Ihn begrü- 
Ben werden, Erleben wir aber den Anbruch dieſer Siegesperiode 
feines Reichs auf Erden nicht, o fo kennen wir ein anderes Galiläe, 
wohin er ums vorangezogen, und welches uns allerdings wol näher 
liegen mag, als jenes. Ich meine das Galiläa, wo täglich der müden 
Pilger fo Manche Anker werfen; das Galilda, wo die Hand fih be 
wegt, welche von den Augen begnadigter Anlömmlinge die legte Thräne 
trocknet; das Balilän, wo ſtets aufs neue das Lied begimmet von dem 
Lamme, das erwürget ward, und dem Blute, in welchen man feine 
Kleider wuſch und helle machte. D du Galiläa da droben, Land der 
völligen Bereinigung mit dem, der unfre Xiebe ift, wie erhebt uns ſchon 
die bloße Erinnrung an dic) während der Wallfahrt Durch dieſes Pils 
gerthal! Du Galiläa jenfeitS der Wolfen, wie felig iſt, wem aud zu 
deinen ewig grünen Auen und fonnigen Hügeln Jeſus voranging, 
um ihm die Stätte zu bereiten! — — „Wohl felig,* fagt ihr; „wenn 
man nur auch wüßte, Daß man dort einft wirklich Ianden werde!" — 
Wißt ihr Dies noch nicht, geliebte Brüder, o, was fäumt ihr dann, 
von dem Herm es euch verfichern zu laffen? Ueberall und zu allen 
Stunden neigt er euch fein Ohr; zuverläffig aber da, wo fein heilis 
ges Bundesmahl bereitet fteht. Ja, bier ift auch ein Stücklein Des 
Galiläa, wohin er vor euch hergegangen, um dafelbft mit euch ſich zu 
vereinigen. O, er wartet eurer ſchon mit feinem geheimnißvollen Brod 
und feinem Segenskelche! Er will e8 euch urkundlich zu wiſſen thun, 
daß auch ihr ihn einft von Angeftcht fchauen werdet. Mit einem Bors 
ſchmack diefes Schauens will er euch begnadigen, Kommt deun, ſchöpfet 
Gnade um Gnade aus feiner Fülle, werdet feiner Gegenwart felig ge 


Der Gang sum Oelberg 171 


wiß, und ſprechet, wenn ihr dieſe Stätte wieder verlaſſet, mit Dem 
imbelnden Sänger: 

D, angenehme Angenblide, 

Drin fi die füße Hoffnung regt, 

Daß eink auch ums, zum ew’gen Glüde, 

Die benedeite Stunde fchlägt, 

Da wir zu den vollend’ten Scharen, 

Wo's „heilig, heilig, heilig!= tönt, 

Erlaubniß kriegen, heimzufahren, 

Und den zu fehn, der und verfühnt! — 


D, welche Freud’ und welche Wonne, 

Welch' unausſprechlich heller Schein 

Bon aller Himmel Himmel Sonne 

Wird über unferm Haupte fein, 

Wenn wir das neue Lieb mitfingen, 

Mo Gott ſich ſichtbar offenbart, 

Und Ruhm und Preis und Ehre bringen 
Dem Lamme, das erwürget ward. — Amen. 


— I 000 — 


xVI 
Das Nachtgeſpraͤch. 





Einen tiefen Blid wirft der Apoftel in das Herz des Herm Jeſu, 
wenn er Hebr. 12, 2 von ihm bezeugt, Er habe „um der ihm vors 
gehaltenen Freude willen das Kreuz erduldet, und die 
Schande nicht geadhtet.* _ 

Ueberaus getroften Muthes, ja, unter Pfalmengefang, fahen wir den 
Harn in jener verhängnißvollen Nacht Jeruſalem verlafien. Was 
fonnte es fein, als eben jene ihm in Yusficht gefiellte Freude, Die 
ihn befähigte, fo harmlos die blutige Opferftraße zu betreten? 

Denkt euch die Lage, in welcher der Heiland damals ſich befand, 
Wie es auch euch wol widerfahren kann, daß eine gefürdhtete ſchwere 
Zufunft plöglich in einer Klarheit vor eure Seele tritt, als wäre fie 
fhon Gegenwart geworden; fo, nur in beftinumteren Unriſſen, als je 


112 | Der Borhof, 


ein Menſch ein Zukunftsbild geſchaut, und nicht im Lichte der Wahr: 
fheinlichleit nur, fondern in dem der Gewißheit, ſchwebten dem 
Heilande damals alle die Schredden vor, die ſchon in den nächften 
Stunden ihn umgeben follten. Wie fih zu Zeiten, ehe ihr es euch 
verfeht, ganze Züge düfterer Zrauerbilder, feien es Zodtenfärge, oder 
Dornenkränze der Erniedrigung, oder Bettelftäbe der Armuth, oder 
was fonft es fei, ſchreckend am eurer Phantafte vorüberdrängen können; 
fo tauchten in grellfter Färbung vor Seinem Geifte alle die Schauer 
des Hohn, der Entwürdigung und Mißhandlung auf, denen er nach 
dem Rathe Gottes jetzt entgegenging. Euch pflegt ſich's in folchen 
Stunden banger Ahnung wie Gebirgslaft über Geift und Gemüth zu 
lagern. Der Herr fühlt auf feinem Oelbergsgange fein Herz erwei- 
tert, und findet durch die Schatten der Schredigebilde, die ihn um- 
grauen, den Weg zu der fonnigen Höhe volllommenfter Getroftheit. 
Euch fieht man in ähnlichen Zeiten ſtumm, umflorten Blicks, in euch 
felbft verfunfen und fehwermuthsvoll dahingehn. Den’ Herrn hören 
wir in einem jener Paffah-Pfalmen, die er anftimmt, faft jubelnd 
fprehen: „Du bift mein Gott, und ich danke Dir; mein Gott, 
ich will dich preiſen!“ — Unerhört dies, und übermenfhlih! Wo- 
ber diefe Freudigkeit in ſolchem Augenblide? Seine menfchliche Natur 
frohloct nicht, fondern fpriht: „SH muß mih noch mit einer 
Taufe taufen laffen; und wie ift mir fo bange, bis fie 
vollendet werde!” Es frohlodt aber in Jeſu der Eifer um die 
Ehre Gottes: denn der Grundton feines innerften Gemüthes lautet: 
„Deinen Willen, mein Gott, thue ich gern, und dein Ge- 
ſetz babe ih in meinem Herzen!" 8 frohlodt in Ihm Die 
Hoffnung, dag Er binnen Kurzem den Erzfeind Gotted und der 
Menfchheit erlegt, und die Werke des Teufeld zerftört jehen werde. 
Was aber vor Allem die Schauer des nahenden Todesfampfes Ihm 
verfüßt, und feliglih Ihn frohlocken macht, das ift die Liebe zu dem 
armen Sündervolfe, deſſen Erlöfungsftunde jeßt gefchlagen hat. Der 
Gedanke, dag Er „Sein Leben für Seine Schafe laſſe,“ 
ſtrahlt, alle Wolfen zerftreuend, wie ein freundlicher Morgenftern am 
Himmel feined Bewußtfeind. Daß Er mit feinem Blute Hoͤllenwuͤr⸗ 
Dige von ihrer Schuld befreien, mit feiner durchgrabenen Hand Ber- 
fluchte vom Untergange retten, und im grauenvollen Schmude feiner 
Dornenkrone den Sündern Kronen des Lebens erwerben werde: das 
iſt die „Ihm vorgehaltene Freude,“ die Ihm Flügel gibt, und 


Das Rachtgeſpraͤch. 173 


feine Heilandsfeele Angeſichts der Hölle und des Todes zu Halleluja's 
ftimmt. Denkt welche Liebe! — Bon ihr werden wir heute noch ein 
Weiteres hören, 


Matthãus 26, 31—35. Marcu⸗ 14, 27 -31. $urcas 22, 31 -38. 


Der Herr aber ſprach: Simon, Simon, ſiehe, der Satanas hat euer begehret; 
daß er euch moͤchte ſichten, wie den Waizen. Ich habe aber für dich gebeten, daß dein 
Glaube nicht aufhoͤre. Und wenn du dermaleins dich belehreſt, fo ftärfe deine Bruder. 
Er ſprach aber zu ihm: Herr, ich bin bereit, mit dir in'ßs Gefängniß und in den Tod 
zu gehn. Gr aber ſprach: Ich fage dir, Petrus, der Hahn wird heute nicht Trähen, 
ebe denn du dreimal verleugnet haft, daß du mich fenneft. Und er ſprach zu ihnen: 
Sp oft id; euch gefandt habe ohne Beutel, ohne Taſche und ohne Schuhe, habt ihr 
auch je Mangel gehabt? Sie fprachen: Nie feinen. Da ſprach er zu ihnen: Aber 
nun, wer einen Beutel bat, der nehme ihn, defgleichen auch die Tafche. Wer aber 
nicht dat, verkaufe fein Kleid, und Taufe ein Schwert. Denn ich fage euch: Es muß 
auch noch dad vollendet werden an mir, dad gefchrieben ſtehet: Er ift unter die Uebel⸗ 
thäter gerechnet. Denn was von mir gefagt ift, das hat ein Ende. Sie fpradhen aber: 
Herr, fiehe, hier find zwei Schwerter. Er aber ſprach zu ihnen: Es ift genug. — 

„Ich hatte viel Bekuͤmmerniß in meinem Herzen; aber deine Trös 
flungen ergögen meine Seele.” So mörhte man Angefichts des eben 
verlefenen Abfchnitts mit dem Sänger des Yaften Pſalms fprechen. 
Welch' ein Herz, das Herz unfered Heilandes! Welche fürforgliche 
Liebe des guten Hirten für feine Lämmer, wie fie bier ſich fundgibt! 
Ja, wie eine Henne ihre Küchlein umter ihre Zügel, fo verfammelt er 
feine Erlöften unter den Fittig feiner Barmherzigkeit. O wie forgens 
frei und unbefümmert mag man feine Straße ziehn, wenn man nur 
das Eine weiß, daß man Ihm angehöre! — 

Ein köftlicher Gegenftand, der fi) unfrer heutigen Betrachtung dar⸗ 
beut! Es ift das Mutterherz des großen Sünderfreunded. Laßt uns 
fehen, wie daffelbe in feiner Unterredung mit Simon Petrus, 
und fodann in feinem Zuruf an die sänger insgefammt, ſich 
und enthüllt. — 

Daß ſich in unſrer Betrachtung ein reicher Duell der Slaubensftärs 
fung und des Friedens und eröffne, walte der Her! — 

1. 

Der Lobgefang ift gefungen, und die Opferftraße zum Delberg ans 
getreten. Seht, dort wandelt der Priefter Gottes, von feinen elf Ver⸗ 
trauten umgeben. Schweigende Nacht ift um fie her. Seine Sede 
ergeht fich in Todesgedanfen. Näher und näher Drängen feine Lies 


174 Der Vorhoſ. 


ben fih an ihn heran, wie man zu thun pflegt, wenn der Augens 
bil der Trennung von einem geliebten Menſchen herbei gefommen 
tft, und Abfchiedswehmuth das ſchwerer athmende Gemüth umfängt. 
Dem einen und andern unter ihnen bebt ſchon das Kinn, fchinmert 
die Thräne ſchon am Wimper; und immer farger und einfilbiger wird 
die Unterredimg. Schon treten längere Paufen gänzlihen Verſtum⸗ 
mens ein. Da öffnet Jeſus den Mund, Was wird Er zu fagen 
haben? Wir denken, ed Eönne vor der Hand nichts Anderes ihn bes 
ſchaͤftigen, als die fchwere Zrübfal, der er entgegengehe. Aber wir 
irren. Der Gedanke an fich und die ihm bevorftehende Marter tritt 
tief in den Hintergrund zurüd. Was weit mehr ihn bewegt, find Ges 
Daufen der Liebe und Mutterforge für feine Heerde. „Simon, 
Simon,” beginnt er, indem er den Mann, der als der traurigfte er- 
ſcheint, und zunächft an ihn fich anfchmiegt, mit wehmüthigem Ernfte 
anſchaut, „der Satanas hateurer begehrt, daß er euch fichte, 
wie den Waizen.” Welche Nede dies, Doppelt fchauerlich und er: 
fhütternd durch die nächtliche Zeit, in welcher, und Die lmftände, 
unter denen fie Dahertönt! In dem Augenblide, da den Juͤngern ihre 
einige Hülfe und ihr Schild genommen werden foll, wird ihnen der 
Heranzug des furdhtbarften aller Feinde angekündigt. Der Herr drüdt 
fh wunderfam und in hohem Maße Beftürzung erregend aus, „Der 
Satan, fagt er, „bat eurer zur Sichtung begehrt,“ d. h. „her⸗ 
ausgefordert hat er euch, Anfpruch auf euch gemacht, fich euch er: 
beten, daß er feine Macht an euch erzeige.* Und allerdings verhielt 
ſich's ſo. Die Gefchichte Hiobs follte fih erneuern. Der Fürft der 
Finſterniß reflamirte die ihm entriffenen Beuten, werdächtigte fie, und 
machte fein Eigenthumsrecht an fie geltend, indem er fich erbot, den 
thatſächlichen Beweis zu führen, daß e8 mit ihrer ganzen Gottes 
furcht nichts, und ihre Belehrung nur Schein und Taͤuſchung 
gewefen fei. Und ihr wißt, der Herr geftattet?8 dem Böfewicht je⸗ 
zuweilen, Daß er bis zu einem gewiffen Punkte an den Erlöfeten ans 
fechtend feine Kraft verſuche. Er thut's, theils, um auch den Geis 
ftern der Hölle die Unüberwindlichkeit derer, die Ihm fich ans 
vertrauten, fund werden zu laffen, und dadurd Seinen Namen zu 
verherrlichen; theils, um Seine Kinder im Schmelztiegel ſolcher An- 
fechtungen wie Gold zu Täutern, und die dem eigenen Leben nad 
Vernichteten tiefer in die Gemeinfchaft Seines Lebens hereinzuziehn. 
Ein Prüfungsfeuer diefer Art follte nun auch um die Jünger entbren⸗ 


Das Rachigeſpraͤch. 175 


nen, Der Mörder von Anfang hatte gleichfam die Wette vorgeſchla⸗ 
gen, daß er, wenn ihm Raum gegeben werde, fie zum völligen Abfall 
bringen werde. Die Waffe zu diefem Apoftelfturze hofft er in der 
unendlichen Erniedrigung und Schmach zu finden, welcher der Meifter 
entgegenzog. Diefer aber weiß um den wüſten Anfchlag, und ſieht 
den höllifchen Geier ſchon über den Häuptern feiner Lieben freifen. Er 
darf es ihnen nicht verfchweigen, Damit der Ueberfall fie nicht überrafche; 
und fo fpricht Er denn zu ihnen, nachdrücklich wahrfchauend, und den 
Simon, auf den es der Arge worzugsweife abgefehen hatte, fonderfich 
in's Auge faffend, ja ihn mit Namen nennend: „Simon, Simon, 
der Satanas hat euer begehrt, daß er euch ſichte, wie den 
Waizen.“ — Nun wiffen fied. Möchten fie nur jede Sylbe diefer 
Nede zu Herzen nehmen. Warnung und Troft find hier wunderbar 
gemiſcht. Wie der „Waizen“, fagt er, würden fie „geſichtet“ werden: 
eine Operation, bei der befanntlich nur die Spreu dahinftiebt, wäh⸗ 
rend die edle Frucht zurückbleibt. Der Erfolg wird alfo ein Beils 
famer, er wird nur Reinigung und Läuterung fein; aber Dies 
freilich nicht nad) des Teufels Plan und Anſchlag, fondern lediglich 
Durch Vermittlung der göttlichen Gnade. Beruhigende Ausfiht! Der 
Stärkere wird über den Starken kommen, und ihn entwaffnen. Frei⸗ 
fih unterliegend haben fie geflegt, die Gefichteten; aber fo wußten 
fie denn auch um fo gründlicher, wem ihres Sieges Kranz gebühre, 

Doc hört den Herrn weiter. Noch tiefer öffnet fi) vor uns fein 
großes Mutterherz. Nachdem er die erfhütternde Warnung ausge⸗ 
fprochen, blit er die Jünger freundlih an, und, ald ob er fagen 
wollte: „Erſchreckt nicht allzuſehr,“ fpricht er zu Simon: „Ich aber 
habe für dich gebeten, daß dein Glaube nicht aufhöre.“ 
D fagt, wo ift ein Seelenfreund, ein Hüter und ein Hirt, wie Er! 
Das Evangelium geleitet uns oft auf den Schaupla Seiner Thaten 
und Wunder. Nicht felten Lüftet e8 ums auch die Schleier von feinem 
ftilleren Umgangsleben mit feinen Vertrauten, und erfchließt uns die 
beiligen Stätten, wo Er des Priefteramtes pflegt. Hier aber vers 
gönnt es und auch einmal einen Blick in die Einfamfeit Seines Käms 
merleins hinein; und zu wie innigem Danke find wir ihm naments 
lich für dieſen Dienft verpflichtet! Kaum daß der Herr von ferne 
die Berfuchungswogen infonderheit wider Petrus fich heranwälzen 
gefehn, hatte er die Stille gefucht, und den ſchwer bedrohten Juͤnger 
betend der Hut und Bewahrung feines himmliſchen Vatersanbefohlen. 


176 Der Vorhof. 


Daß Simons Glaube im Anfehtungsfturme „nicht aufhöre”, da⸗ 
hin zielte fein Gebet. O, läßt fich eine mütterlichere Fürſorge denken, 
als fie ſich hier uns darftellt? Der glüdliche Simon! — Aber wäh- 
net nicht, es habe Simon nur, als ein vor andern Gläubigen Aus⸗ 
erwählter, ſolcher Liebe ſich getröften dürfen. Laufchet nur in das 
befannte hohepriefterliche Gebet Johannes 17 hinein, und überzeugt 
euch eined Andern. Welche Klänge, die von da zu uns berübertönen! 
Hört: „Vater, erhalte fie in deinem Namen, die du mir 
gegeben haft, daß fie eins feien, gleih wie wir.” Hört: 
„Ih bitte nicht, Daß du fie von der Welt nehmeſt, fondern 
daß du fie bewahreft vor dem Uebel.” Hört: „Ich in ihnen, 
und du, Vater, in mir, auf daß fie volllommen feien in 
Eins, und die Welt erkenne, daß du mid gefandt haft, 
und liebeft fie, gleichwie Du mich liebeft."— Nicht wahr, herz⸗ 
erhebende Gebeteslaute dies? — „Ya,“ denkt ihr, „gälten fie nur auch 
uns; aber er betet ja für feine näch ſten Sünger nur.” — Glaubt 
ihr dies? DO, dann hört weiter: „Sch bitte nicht allein für fie, 
fondern für Alle, fo Dur ihr Wort an mid gläubig wer- 
den, auf Daß fie Alle Eins feien, gleih wie du, Bater, 
in mir und ich in dir.” — Set werdet ihr ja zufrieden fein. — 
Und gedenkt ihr, wer dort für uns betet? Er iſt's, deflen Gebete 
alle mit dem, wenn auch nicht immer ausgefprochenen, Wort bes 
Hinnen: „Water, ich Danke dir, Daß du mich erhöret haft,“ 
und zu Dem ein für alle Mal der Bater gefprochen hat: „Heifche 
von mir, und Ih gewähre dir's!“ — Seht, fo hat der Glau⸗ 
be, den der Geift in uns wirkte, an der Fürbitte Zefu die Bürgſchaft 
feines ewigen Beftehens. Beftürmt, angefochten und erfhüttert kann 
er werden; aber nicht ausgelöfcht noch vernichtet. Simon follte diefes 
wiffen, damit er an foldhem Bewußtfein eine Wehr und Waffe hätte, 
wenn num der Kampf für ihn entbrennen würde. Im Fall des Un: 
terliegens aber follte dies Bewußtfein ihm den Stab und Steden 
reichen, an dem er über den Abgrund der Verzweiflung fi glüd- 
lich hinüberſchwänge. Allerdings hat Petrus in dem Momente, da die 
Berjuchung daherbraufte, von dem theuerwerthen Worte keinen Gebrauch 
gemacht. Simon wankte, ftraudhelte, ja, erlag. Wie wird aber nad) 
dem Falle der Gedanke ihn aufgerichtet und getröftet haben: „Es ift 
mit Dir noch nicht gar aus! — Der Herr betete ja für Dich, daß dein 
Glaube nicht aufhöre, fondern daß der Same Gottes bei Dir bleibe.“ 


Das Rachtgeſpraͤch. 177 


„Ich habe für Dich gebeten,“ fpricht der Herr, „daß dein 
Glaube nicht aufhoͤre.“ Und wie fpricht er weiter? Ach, faft ift’s 
zu viel, zu viel auf einmal, was Er von den Ziefen Seiner herz 
lihen Barmherzigkeit uns entichleiert. — Vielleicht meinte bisher der 
Eine und Andre von euch, es rede der Herr nur darum fo liebevoll 
zu Simon, weil er ſich zu ihm verfehen habe, er werde den Kampf 
befiehen und Zreue beweifen. Aber nein; der Herr weiß, daß Pe 
trus fallen wird. Er ſieht ſchon den Treubrüchigen, den Berleug- 
nenden in ihm. „Und dennoch kann er fich fo huldreich gegen ihn 
bezeigen?” — „O, nur um fo mehr! — €8 ergeht ihm wie einer 
Mutter, deren Herz gerade dann erft recht in Zärtlichkeit zu ihrem 
Kinde entbrennt, wenn fie den Xiebling in Gefahr fieht. “Daß nur 
fein Simon nicht verzweifle nach dem Zall, fondern zur rechten Zeit 
wieder Muth gewinne, zu Ihm, dem guten Hirten, fich zurückzuwenden, 
das ift des Meifters einzige Sorge; und auf diefen Zweck der retten 
den Liebe find alle feine Reden fein berechnet. Hierauf berechnet 
ift auch das Wort fürforglichfter Leutfeligkeit: „Und wenn du di 
dermaleins befebreft, fo ftärfe deine Brüder!“ — — O 
Simon, hörft du, hörſt du? Welch’ reicher Inhalt in diefen wenigen 
Lauten! — „Wenn du dermaleins dich befehreft.”" — Fallen alſo 
wirft du; du wirft verfchlagen werden. Simon, bangt Dich nicht? Bes 
ginnt nicht Alles, was in Dir ift, zu zittern? — Nein, dem armen 
Jünger bleibt ein Räthfel, was da der Herr zwar andeutungsweife 
mr, jedoch verftändlich genug ihm vorherverkündet. Er verfteht es 
nicht, weil er eher des Himmels Einfturz für möglich halten würde, 
als daß er jemals feinen Herrn werde verleugnen können. Nun im⸗ 
merhin, willft du es denn nicht faflen, verbiendeter Jünger, fo beachte 
wenigſtens den mächtigen Troſt, den hier für die Thränentage, da dir 
Hülfe noth fein wird, der Herr dir darreicht. O, wie wird dir derfelbe 
noch einmal zu ftatten Eommen! — , Wenn du Dermaleins Did bes 
kehreſt.“ Alfo auch nach der betrübten Niederlage darfft du wieder⸗ 
kommen; er geftattet dir's hiemit. Du wirft auch nach dem Treubruch 
deines Hirten dich neu getröften, und feiner Heerde Dich wieder zuge⸗ 
fellen dürfen. Ya, zu Mehrerem wirft du noch ermächtigt fein. „Wenn 
du Dich dermaleins befehreft, fo ftärfe Deine Brüder.* Alfo fein 
Apoſtel follft du bleiben, und auch ferner feine Laͤmmer weiden! — 
D Simon, fannft du folche Huld ermefien? Sinfft du nicht nieder, 
die Züße ſolch eines Herm zu küſſen? — — Rein, Simon würdigt 

12 


178 Der Borkel. . 


die Erharmung in jenem Worte nicht. Für den Augenblid hat er 
nichts an diefem füßen Zuſpruch; ja ahnet nicht einmal, was ihm 
derfelbe fol. Es werde ja niemals, denkt er, dahin mit ihm kommen, 
daß er fid) noch einmal befehren müffe; denn er müßte ja dann zuvor 
ein Abtrünniger geworden fein. Und „einen Abtrünnigen,” denkt 
‘er, „wird der Heiland nie an mir erfinden!” — „So wäre denn das 
troftvolle Wort des Herrn für Simon in den Wind geredet geweien?“ 
— D nit doch! Simon hats vernommen; und liegt’8 einftweilen 
auch noch fehlummernd und wirkungslos im Schrein feines Gedächt- 
niſſes, jo wird der Tag ſchon kommen, da e8 erwachen und als ein 
unbezahlbarer Schag feine Zinfen tragen wird. ‘Der Heiland tft felbft 
nicht fo erpicht darauf, wie wir, daß er alfobald die Wirkung feiner 
Worte ſchaue. Er hat Geduld, und weiß, es bringe ein jegliches Ge⸗ 
wächs feine Frucht „zu feiner Zeit“. Es ift ja begreiflih, daß 
unſer Simon das Fährgeld, welches der Herr ihm fchon vor der An- 
Tunft bei dem Strome in die Hand gelegt, erft dann wird fchägen 
fernen, wenn fchon die Waſſerwoge feinen Fuß befpülen wird. Laßt 
fie nur erft daherraufchen, die Angfts und Zrübfalsflut; o, wie wird 
er dann den Gottesgrofchen fegnen, den er eine Zeitlang unbewußt 
in feiner Reiſetaſche trug! 

. „Wenn du dich dermaleins befehreft, fo ftärfe deine Brü- 
der.” Bermag man doc faum an dieſen Worten fid) fatt zu hören. 
Faſt ſcheint's, als hätte Simon dur den Fall erft zu einem rechten 
Apoftel werden follen. Und im Grunde war dem auch fo; denn wie 
hätte es fonft gefchehen fünnen, daß Gott Die Niederlage zuließ? Die 
erfte und wejentlichite Eigenfchaft eines Herolds des Evangeliums ift 
und bleibt ein gründlich zerbrocyenes, gebeugtes und gedemüthigtes 
Herz; und Gott kann einer Gemeine kaum etwas Heilfameres erzeigen, 
als wenn er den Hirten Derfelben zu einem recht armen Sünder macht. 
Erfi, wenn man felbit der Schächersgnade als folcher theilhaftig 
und froh geworden, it man im Stande, „die Brüder zu ftärfen.* 
Wenn man felbit erft lebendig erfuhr, daß man nichts vermöge ohne 
Ehriftum, Durch Ihn aber Alles, wird man ein wahrer Evanges 
Lift, der nicht mehr unerträgliche Laften auferlegt, welche er felbft mit 
feinem Finger anrührt, fondern linde und fanft einherfährt, wie Der 
felbft, der da kam, nicht „das zerftußene Rohr zu zerbrechen und ben 
glinmenden Docht auszulöfchen”; fondern „die muͤden Herzen zu etz 
quiden und Die firauchelnden Kniee wieder aufzurichten.“ — 


% 


Des Ratigelpräß, 179 


Simon geht auf des Herm Rede nicht ein. „Herr,“ ruft er, un 
wirfch faft, als widerführe ihm eine Unbilde, „wenn fie fi Alle 
an Dir ärgern, fo doch ich nicht! Ich bin bereit, mit dir 
in's Gefängniß und in den Zod zu gehn!“ — Der lieben 
würdige Mann! Freilich ſteckt er alles Selbftvertrauens voll; aber 
nichtödeftoweniger flammt eine Inbrunft für feinen Meifter aus ihm 
heraus, won der ich nur wünfchen kann, daß fie auch uns durchglühte. 
Keine Selbftüberhebung ift erträglicher und verzeihlicher zugleich, 
als Diejenige, welche eine folche Begeifterung für den Heiland zu 
ihrem Grunde hat. O, wie war dem Jünger zu Muthe auf jenem 
Delbergögange! Wie glomm und gohr und wogte es in feinem In⸗ 
nern! Nein, nie noch hatte er es fo gefühlt, wie lieb er Jeſum habe, 
als eben jeßt, da die Zrennungsftunde nahte. Und gerade in Diefem 
Momente höchften Gefühlsauffhwunges hört er feinen Meifter die Bes 
forgniß äußern, er möge treulos von ihm weichen können. „Wie, 
denkt er, „Lönnte das jemals möglich werden? — Nabbi, verfenne 
deinen Simon nicht!” — „Auch Bande und Tod,“ fpricht er, „wer⸗ 
den mich von dir nicht ſcheiden!“ Mit diefer Berficherung war es 
ihm ein heiliger Emft. Aber ach, er verfprah zu viel, — „Wars 
um?“ fragt ihr ftugend. „Hatte nicht Jeſus für ihn gebetet, daß fein 
Glaube nicht aufhöre?“ — Wohl hatte er das; und wenn Petrus 
darauf fein Vertrauen gegründet hätte, fo würde er immerhin uners 
fchütterlihe Treue bis in den Zod haben geloben dürfen. Aber Simon 
troßte auf feine eigne Kraft, und wollte fagen: „Meine Liebe ges 
wäbhrleiftet dir's, Daß ich Dich nicht verleugnen werde;” und eben Dies 
ward des Jüngers Unglück. O Simon, es ift das menjchliche Herz 
ein troßig und verzagtes Ding, und auf morfche Krüden lehnt fich, 
wer auf fein Fühlen und Empfinden fid verläßt. Du aber weißt 
dies noch nicht, wirft es jedoch fpäterhin erfahren. O nimmer auf 
eigne Koften was verheißen, wie geiftlich reich umd ſtark man fich auch 
glauben mag! Nimmer den Fuß über Bord gefeßt, fo lange der Herr 
nicht fein „Komm!“ uns zurief und feine helfende Hand uns ent 
gegenſtreckte! — Wer aber auf den ftarken Arm Immanuels fi 
flügt, und in Seiner Gnade feine Stärke fucht, der fpreche freudiger 
noch, als Simon: „Ich bin bereit, Herr, mit dir in den Tod zu gehn!“ 
Der Herr wird ihn mit feinem Glauben nicht ſchamroth werden laffen, 
fondern ihm felbft auf brandenden Meereswogen feften Grund bereiten, 

Kaum daß Simon in aller Arglofigleit feine heroiſche Derfiherumg 

12 


180 Dear Bordel. 


ausgefprochen hat, vernimmt er aus Dem Munde des Herm die zweite 
Warnung. Der Herr ſagt's ihm jet mit dürren Worten heraus, was 
ihn bedrohe. „Petrus,“ fpricht er, „ich fage Dir, der Hahn 
wird heute nicht frühen, ehe Denn du Dreimal verleugnet 
habeft, daß du mich kenneſt!“ Welch' ein Wächternuf Dies! 
Welch' ein Pofaunenftoß in Simons Seele! Aber Simon weift ihn 
im Gefühle feines Tiebewarmen Herzens von fih ab. — „Sei ohne 
Sorge, Herr! * denkt er. „Ich follte Dich verleugnen? — Rein, dein 
Simon verleugnet dich nicht! — Er ftirbt mit Dir, wenn e8 fein muß; 
aber Dich verleugnen? — Nimmer, nimmer!” — So Petrus. Daß 
Er nicht anders denken werde, fah der Herr voraus. „Aber wozu 
denn die Warnung?“ — Ich habe ſchon gefagt, Daß es mit Derfelben 
im Grunde mehr auf die Wiederaufrichtung des Gefallenen, als 
anf die Stärkung des Kämpfenden abgefehen war. Nach der Ber: 
lengnung follte Simon zu fi) felber ſprechen: „Sieh, der Meifter 
hat dir's vorausgefagt, was dir jetzt widerfahren ift. Er fah es fom- 
men, und warnte did. Ob Er aber gleich erfannte, du werdeft die 
Warnung in den Wind fchlagen, verftieß er dich doch nicht, fondern 
redete nach wie vor zu Dir wie liebreih, wie Teutfelig!“ — So 
follte er fagen, und an diefen Erinnerungen zu feiner Zeit fid) wieder 
erheben und ermuthigen. Den Hahn aber beftellte ihm der Herr zum 
Weder und Bußprediger, der mit feinem Morgenrufe zur rechten 
Stunde den Gefallenen aus dem Taumel wieder zu fich felber brin- 
gen, und die Thräne der Zerfnirfchung ihm entlocken follte. Gebt, 
fo erftredte fich die mütterliche Fürforge des Heilandes noch weit über 
die Anfechtung und den Kampf hinaus, und bereitete fchon die Heil- 
mittel für die Wunden nad) Fall und Niederlage. DO, mit wie vielem 
Grunde darf Er jagen: „Ich will euch tröften, wie einen feine Mutter 
troͤſtet;“ und wie großen Anlaß haben wir, bei ſolchem Blicke in fein 
weites Mutterherz auszurufen: „Seine Liebe ift ftärker, denn der Tod, 
md fefter, als die Hölle. Ihre Glut ift feurig, und eine Flamme 
des Herrn!“ — 
2. 

- Nachdem der Herr mit Simon fertig ift und alle Veranftaltungen 
zur Wiederaufrichtung des geliebten Jüngers in der Stunde der Beu⸗ 
gung und des Weinens getroffen hat, wendet er ſich zu den Juͤngern 
insgemein; und ac, welche Blicke in fein Heilandsherz müſſen auch 
dieſe Verhandlungen uns eröffnen! Die Jünger hatten ihre Lehrjahre 


Das Raqtgeſpraͤch. 38 


nun beendet, und die Zeit war vor der Thür, da fte In der Finſterniß 
diefer Welt ihre Lichter leuchten Taffen, und von Sturm und Drang, 
Tumult und Streit umtobt, das Panier des Kreuzes unter den Völkern 
der Erde entrollen ſollten. Jeſus fteht im Begriffe, e8 ihnen ange 
fagen. Und wie thut er dies? Wieder fo mütterlich, fo forgfam, fo 
zart und liebend, Daß Einem das Herz Darüber jauchzen möchte, „Sagt 
Doch,“ beginnt er, „als ich euch entfandte ohne Beutel, ohne 
Taſche, ohne Schuhe, (d. h. mit ausdrüdlihem Verbote, dergiek 
hen mitzimehmen,) habt ihr da je an irgend etwas Mangel 
gehabt?" Die Gefragten befinnen fi: „Gebrach es uns irgend 
einmal am Nothwendigen? Litten wir wirklih Mangel?“ Aber nehm, 
fie erinnern ſich ſolchen Falles nicht, fondern müffen zur Ehre des 
Herrn freudig befennen: „Herr, niemals!” Der Herr war mit 
ihnen verfahren, wie er gewöhnlich mit feinen Kindern zu verfahren 
pflegt, die er in der Zeit ihrer erften Liebe gar fänftiglich Teitet umd 
in Gängelbanden mütterlich zarter Huld und Milde gehen läffet. Alles 
gibt, Alles gewährt er ihnen, nicht allein was, fondern aud) wie fie 
begehren, und zwar in der Abficht, fie nur einmal erſt recht an ſich 
zu gewöhnen, ihnen einen unauslöfchlichen Eindrud von der Lieblich⸗ 
feit feines Friedensreiches für Die weitere Lebensreife mit auf den 
Weg zu geben, und ihnen den leßten Zweifel zu benehmen, daß er fie 
wirklich angenommen und in fein Herz gefchloffen habe. 

Wie aber fährt der Here nad) dem fo wahr und kindlich dankbar 
ausgefprochenen „Niemals * feiner Jünger fort? Dan ift geneigt, 
zu denfen, er werde fagen: „So forget denn auch ferner nicht; denn 
wie ihr's bisher erfahren, gleicher Weiſe wird es fortgehn.” — Aber 
nicht alfo. Vielmehr eröffnet er ihnen gerade umgekehrt, daß fie tm 
Zukunft nicht felten auch andere Erfahrungen machen würden. „Seht“, 
fpricht er, den Gegenfaß gegen das „Bisher“ ftark betonend, umd 
nicht etwa blos in Die nächftlommenden drei Tage, fondern in den 
ganzen nachmaligen Berufs: und Pilgergang der Apoftel hinüberden⸗ 
tend, „wer einen Beutel bat, der nehme ihn, desgleichen 
aud die Taſche. Wer aber nicht hat, (nämlich weder Beutel 
noch Tafche, welche erforderlichen Zalls für das gleich zu nennende 
noch Unentbehrlichere hinzugeben wären,) der verkaufe fein Kleid, 
(das Allernöthigftel) und kaufe ein Schwert!” — Wie haben wir 
und dies Wort zu deuten? Im Allgemeinen kündet er Damit den Juͤn⸗ 
gern unverholen eine Zutunft des Kauspfes, der Gefahr, der Reth und 


182 Der Borhof. 


wielfacher Bebrängniß an, worauf fie bei Zeiten fich zu rüften und ge- 
foßt zu machen hätten. Zeftiglich aber, — dies ift feine Meinung, — 
möchten fie alsdann auf Ihn vertrauen, den fie ja als einen treuen 
Rothhelfer und Beiftand hätten kennen lernen. Zugleich gibt er ihnen 
Deutlich zu verftehn, daß fie fich hinfort auf eine fo augenfällige Wun⸗ 
Derleitung, wie fie fie bisher während ihrer Kinderübung erfahren 
hätten, nicht allzuficher mehr Rechnung machen dürften, indem ſich ihr 
Leben fortan mehr in den Geleifen des Gewöhnlichen bewegen, und 
Die Unmittelbarkeit, in welcher feither die Hand der ewigen Liebe 
fle getragen und gepflegt, einer Bermittlung der göttlichen Hülfe- 
letftung Platz machen werde, die Glauben verlange. Da werde es 
denn gelten, neben dem Aufſehen zur Höhe und dem Gebet auch die 
ordentlichen Verſorgungs⸗, Schuß- und Hüfsmittel, die ihnen zu 
Gebote ftänden, in Anwendung zu bringen. „Wer einen Beutel und 
eine Tasche hat, der werfe fie nicht weg, fondern nehme fie ımd halte 
fie zu Rath. Männliche Entfchloffenheit, Vorficht und Auge Berechnung 
find nicht mehr zu verfchmähen, fondern in Bewegung zu feßen und 
zu gebrauchen. Ja, wer nicht hat, verfaufe fein Kleid, und faufe für 
den Erlös ein Schwert!” — „Ein Schwert?” fragt ihr ſtutzend. 
„Ein geiftliches doch wol nur? — Das Schwert des Wortes etwa 
oder des Glaubens Schwert?” — Nein, Freunde, an geiftliche Waf⸗ 
fen denkt der Heiland bei dem Schwert fo wenig, wie bei dem Beutel 
amd der Taſche an ein geiftliches Reiſegeräthe. Es geht aber auch 
feine Meinung nicht etwa dahin, als follten die Jünger mit Schwer- 
tern im eigentlichen Sinne des Wortes fich verfehen; fondern feine 
Rede ift fprichwörtlicher Natur, und befagt in ftark bezeichnender Weiſe: 
„Euer künftiger Berufsweg wird euch in Verhältniffe und Lagen führen, 
Da ihr eure Seele in den Händen tragen und in entfchloffenfter Ge- 
genwehr um eure Freiheit und euer Leben werdet kämpfen müſſen!“ 

Dann aber, als ob der Herr fagen wollte: „Verwundert euch dep 
nicht, was ich eben euch eröffne; denn der Jünger ift nicht über dem 
Meifter, und was wider mic) ift, das wird auch wider eud) fein,” er- 
innert er fie daran, daß nun auch Sein eigner Weg in die äußerfte 
Schmach und Drangfal fi verlieren werde; und fpricht, mit einem 
Grund angebenden „Denn“ beginnend: „Denn ich fage euch: Es 
muß auch noch das vollendet werden an mir, das geſchrie— 
ben ftehet: Er ift unter die Uebelthäter gerechnet. Denn 
was von mir gefagt ift, das bat ein Ende“ Der Herr bezieht 


Das Sactgeip. 183 
fih hier auf das 53ſte Kapitel des Propheten Jefaias, und namentlich 
auf den 12ten Ders defielben, und bezeugt ausdrüdlih, was da von 
dem „Knecht Jehova's“ gefchrieben ftehe, Daß er „Vieler Sins 
ben tragen, für die Uebelthäter in’s Mittel treten, und 
durch Gehorſam und tiefe Dpferleiden fein Volk gerecht 
machen und ewig erlöfen werde,“ das fei von Ihm geſagt. 
Hiemit hat er denn zuoörderft über Die einzig richtige Deutung des 
genannten Kapitels in göttlicher Vollmacht den letzten Zweifel zerftreut, 
Bon Ihm Handels; von Seiner Perfon, von Seinem Werl, vor 
Seinem Reid, Sodann hat er in jenem Ausſpruch den Seinigen eine 
hellleuchtende Fackel für das räthfelvolle Dunkel feiner bevorſtehenden 
Baffion in die Hand gegeben; und endlich ihnen fein Reich als ein 
Kreuzreich bezeichnet, deſſen Angehörige fich in diefer argen Welt 
kaum eines Beffern würden zu verfehen haben, als es Ihm felbft zu 
Theil geworden fei, Ihm, der zulegt noch bis in den Tod am Holz 
des Fluchs hinein den „Uebelthätern“ gleich gerechnet werden, und 
wie ein „Fegopfer“, verfpien und ausgeftoßen, die Welt verlaffen werde, 

Was meint aber der Herr mit den folgenden Worten: „Denn maß 
von mir gefchrieben ift, das hat ein Ende?” — Gewiß nicht 
Dafjelbe, was er mit den vorhergehenden fagen wollte: „Es muß auch 
noch das vollendet werden an mir, das gefchrieben ftehet.” Unverkenn⸗ 
bar fieht der Herr da wieder auf die den Jüngern vorhin gegebene 
Mahnung zurüd; und der feinen Worten zu Grunde liegenden Ge⸗ 
danken find fonderlih dreie. Zuerſt will er fagen: „Für mich ſollt 
ihr euch nicht wappnen, mich nicht vertheidigen wollen; denn ich babe 
als das Gotteslamm einem vorweltlichen Rathſchluſſe zufolge die wir 
zugemefjenen Leiden als folche, Die zu eurer Verſoͤhnung unerläßlich 
erfordert werden, in hingebender Geduld auf mich zu nehmen.” So⸗ 
dann: „Das Maaß derjenigen Marter, durch welche eure Erlöfung 
bedingt ift, erfchöpft fih in meiner Baffion; darum mögt ihr als 
die mit Einem Opfer in Ewigfeit Bollendeten getroften Muthes eurer 
Zukunft entgegengehn.” Und endlich: „Was immer ihr in Zukunft 
werdet zu erleiden haben, zu eurer Berföhnung erletdet Ihr nichts 
mehr, indem, was zur Büßung der Sünde und zur Zilgung 
der Schuld erduldet werden mußte, fih auf mein Haupt zuſam⸗ 
menbhäuft, und alfo in mir ein Ende hat. Wenn ihr noch fürder 
leidet, fo leidet ihr nur zu eurer Läuterung; und euch fteht es zu, 
was mir nicht ziemt, für euer Leben ımd deſſen Erhaltung zum Dienft 


184 ‚Der Borbof. 


der Liebe für die Brüder, zur Nothwehr euch zu rüften, und erforder- 
lichen Zalls mit allen erlaubten Mitteln euch zu ſchützen und zu wehren.” 
“ Dies des Herm Meinung. Die Sünger aber faffen den Meifter 
nicht, fondern deuten fih fein Wort, wie Petrus dies nachmals mit 
der That zu Tage legt, ald eine Aufforderung an fie, ihn mit mate⸗ 
rieller Gewalt gegen feine Feinde in Schuß zu nehmen. Mit diefer 
Borausfegung halten fle ihm die ehernen Schwerter hin, womit ihrer 
zween, und unter diefen Simon, nad Gewohnheit wandernder Ga⸗ 
filäer bewaffnet waren, und fprechen, allerdings wohlmeinend, aber mit 
findifhem Unverftand: „Siehe, Herr, hier find zwei Schwer: 
ter!” — „Es ift genug!” erwiedert der Meifter, wehmüthig ab⸗ 
brechend. „Laſſen wir für jeßt die Sache ruhn,“ will er fagen; „im 
Fortgange eurer Erlebniffe wird euch das Verſtändniß meiner Worte 
Thon befjer aufgehn.” — — 

Nun fagt, Freunde, was e8 wol Rührenderes und Herzerhebenderes 
gibt, als die mehr denn mütterliche Umſicht und Fürforglichkeit, womit 
der Herr hier den Seinen ſchon für die fpätere Zukunft ihres Lebens 
Alles mit auf den Weg zu geben ſich bemüht, was ihnen zur rechten 
Stunde Rath, Halt und Troft gewähren könnte. Freilich wiffen fie 
noch nicht, was für einen koͤſtlichen Schag fie an dem Allen mit fich 
nehmen. Sie tragen denfelben noch in allerlei Mißverftändniffe ver- 
hüllt in ihrer „Taſche“. Zu feiner Zeit aber wird ſich das geiftfiche 
Bandergeräthe fchon in feinem Werthe geltend machen und feine Dienfte 
leiften, und fie werden anbeten die Liebe, die vor der Gefahr fo 
forglich mit allen Schußmitteln wider Aergemiß, Zweifel und Verwir⸗ 
tung fie ausgeftattet. Es ift aber der Herr im Laufe der Sahrhunderte 
nicht ein Andrer geworden, al8 der er damals war. „Jeſus Chris 
ftus, geftern, heute und derfelbige aud in Ewigkeit!” — 
Zreuen wir uns deß, vertrauen auch wir und unbedingt Ihm an, und 
fingen wir, mit jenem Weihe an Seines Kleided Saum uns hängend, 
und mit der Sulamithin uns lehnend auf Seine Schultern: 


Es fei mir nur dad Eine, Mas mag dann noch mich fhreden, 
O Iefu, feft bewußt: Für den ſolch' Herze ſchlägt, 

Ich ruhe als der Deine Den ſolche Flügel deien, 

Berföhnt an deiner Bruſt. Und ſolche Liebe trägt? Amen. — 





2 


Dans Deilige. . 


nnd 


XVII. 
Gethſemane. 





Kampf und Sieg. 


Es begegnet uns im alten Teſtamente ein ſinnbildlich tieferer Auf⸗ 
tritt nicht, als derjenige iſt, in welchem wir (1 Moſes 32) den Alt 
vater Jakob mit dem Engel Jehova ringen fehen. Wir treffen den 
vor feinem Bruder Eſau flüchtigen auf dem nördlichen Ufer des Flüß- 
hend Jabok, wo er, von feines Herzens Noth gedrängt, nachdem 
er fein Gefolge über den Bach voraus gefendet, einfam und allein, 
um im Gebet vor Gott fich zu ergießen, zurüc geblieben if. Da ge 
fhieht es, daß, ſcheinbar in feindfeliger Abficht, eine hehre Mans 
neögeftalt, in der der Patriarch alsbald den Gott der Erſchei— 
nung, den ewigen Sohn erkennt, fi) ihm nähert, und in demfel- 
ben Momente auch ſchon ihn angreift, und ihn niederzuringen trachtet. 
Jakob, von dem Bewußtfein durcydrungen, daß er e8 hier mit Dem 
zu thun habe, der fein einiger Troft und feine lete Zuflucht fei, 
geht unter Gebet und, wie Hofen berichtet, vielen Thränen den uns 
gleihen Kampf mit dem Erhabenen ein, und ift feft entfchloffen, ob 
es ihm auch das Leben Eoften follte, nicht zu weichen, bis des Ges 
beimnißvollen Zorn über ihn, den Sünder, fi) in Gnade verwandelt 
habe, Während des Kampfes aber rührt der Herr, zum Beweife ſei⸗ 
ner Uebermacht, dem kühnen Streiter das Gelenk feiner Hüfte an; und 
fofort ift ihm daſſelbe verrentt, und er fühlt, wie er zu ſinken ber 
inne. Se tiefer aber den Erzvater jetzt das Gefühl feiner Nichtigkeit 
und Ohnmacht durchdringt, um fo flürmifcher nimmt er Die freie 
Gnade des Herrn in Anſpruch; und je weniger die eigenen Füße 
ihn mehr tragen wollen, um fo frampfhafter umsfchlingt er mit beiden 
Armen als feine einige und letzte Stuͤtze den Hals feines wunderbas 


188 Das Heilige. 


ren Gegners. Gegen ſolch Andringen eines zerfnirfchten und um Er- 
barmen bettelnden Sünders fann der Herr aber nicht mehr an. Dem 
Glauben einer lauterlichen Kindeseinfalt hat Er ein für alle Mal 
fih hingegeben. Er deutet dies felbft durch die an Jakob gerichtete 
- Bitte an: „Laß mich gehn; denn die Morgenröthe bricht 
an." Iſt's nicht, als wollte er fagen: „Jetzt haft du mich übermodit. 
Ih bin fortan abhängig von dir, und bin dein Gefangener.“ 
Zugleich entlodt er dem Erzvater mit jenem Worte, allen Betern nad) 
ihm zum Vorbilde und zum Zrofte, die rüdhaltlofefte Kundgebung 
feiner jedes Bedenkens fi entfchlagenden Kindeszuverficht zu der 
göttlichen Barmherzigkeit. „Ich laſſe dich nicht, * fpricht Jakob, 
„Du fegneft mich denn!” Wo fchreiendes Hülfsbedürfnig auf 
der einen, und unbedingtes Vertrauen zur Gnade auf der anderen 
Seite das Herz bis zu dieſer Sprache demüthiger Kühnheit drängt, 
da fieht der Herr feine Luft, und ift geneigt, dem Flehenden Alles 
zu gewähren, was er begehret. — „Wie heißeft Du?” fragt der Herr. 
— , Jakob“, antwortet der Patriarch in tiefer Beugung; denn diefer 
fein Name, verdeutfcht „Ueberlifter“, erinnert ihn am feine Sünder: 
ſchuld. Der Herr aber fährt fort: „Niht Jakob mehr, fondern 
Iſrael (d. i. Gotteskämpfer) follft du heißen; denn du haft 
mit Gott, und (weil nämlich Gott fortan mit Dir und auf deiner 
Seite ift, wirft du auch deine fterblihen Gegner überwinden) mit 
Menſchen gekämpft, und bift obgelegen.“ 

Der Kampf Jakobs war wenigftens theilmweife und in feinen 
allgemeinften Umriffen ein Vorbild jenes andern und un- 
gleich bedeutungsreicheren Kampfes, deffen wir heute Zeugen fein wer- 
den. Ich meine den Kampf Immanuels mit feinem himmliſchen Bater 
in Gethfemane. Doc indem ich mich anfchide, die Vergleichungs⸗ 
punkte zwifchen dem Schatten und dem Gegenbilde aufzufuchen, 
ſchwindet jener mir immer tiefer in den Hintergrund zurüd, und das 
Entfprechende in demfelben erftredt ſich kaum auf etwas mehr, als auf 
Die Hingebung und Inbrunft, womit hier wie dort der Gebetesfampf 
gekämpft wird. Der Delbergsfampf fteht einzig da in feiner Art. — 
Keine andere Begebenheit der Weltgefchichte tft ihm an Wefen, Zwed 
und Großartigkeit der Bedeutung, wie des Erfolges, zu vergleichen. 
Davon werden wir uns heute näher überzeugen, Sei der Herr nicht 
ferne von uns mit feinem Geiſtel — 





Geihfemane. 188 


Matthãus 26, 36—46. Marcus 14, 32—42. Sucas 22, 39—46. 
Johannes 18, 1. 


Da kam Iefus mit ihnen zu einem Hofe, ber hieß Gethfemane, da war ein Ger 
ten, darein ging Jeſus und feine Jünger. Judas aber, der ihn verrieth, wußte deu 
Ort auch; denn Jeſus verfammelte fi oft dafelbft mit feinen Jüngern. Und als er 
dahin fam, fprad er zu feinen Jüngern: feget euch bier, bis daß ic) dorthin gehe 
und bete; und betet, auf daß ihr nicht in Anfechtimg falle. Und nahm zu fi Bes 
trum, und Jalobum, und Iohannem, die ziween Söhne Zebebäi, und fing un zu trau⸗ 
ern, und zu zittern und zu zagen. Da ſprach Iefus zu ihnen: Meine Seele ift be⸗ 
trübt bis in den Tod; bleibet hier und wachet mit mir. Und ging hin ein wenig, 
und riß fi) von ihnen bei einem Steinwurf, fnieete nieder und fiel auf fein Anger 
fit auf die Erde und betete, daß, fo e8 möglidy wäre, die Stunde vorüberginge; 
und ſprach: Abba, mein Vater, es ift dir Alles möglich; willſt du, fo überhebe mid 
dieſes Kelchs, und nimm ihn von mir; doch nicht, was ich will, fondern was du 
willſt! — Und er fam zu feinen Iüngern, und fand ſie fhlafend, und ſprach zu 
Petro: Simon, ſchlaͤfſft du? vermoͤchteſt du denn nicht eine Stunde mit mir zu wa⸗ 
hen? Wachet und betet, dag ihr nicht in Anfechtung fallet; der Geiſt ift wikig, aber- 
das Fleiſch ift ſchwwach. Zum andern Mal ging er wieder bin, betete und ſprach Die 
felbigen Worte: Mein Bater, iſt's nicht möglih, daß diefer Kelch von mir gehe, ih 
trinte ihn denn, fo geſchehe dein Wille. Und er fam wieder und fand fie abermals 
fhlafend vor Tranrigfeit, und ihre Augen waren voll Schlafs, und mußten nidht, 
was fie ihm antworteten. Und er ließ fie und ging abermals bin, nnd betete zum 
dritten Mal, und redete diefelbigen Worte. Und ed fam, daß er mit Dem Tode rang, 
und betete heftiger. Es war aber fein Schweiß wie Blutstropfen, die fielen auf die 
Erde. Es erſchien ihm aber ein Engel vom Himmel und färfte ihn. Und er Rand 
anf vou dem Gebet und lam zum dritten Mal zu feinen Jüngern, und- ſprach zu 
ihnen: Ach wollet ihr nnn fchlafen und ruhen? es ift genug: flehe, die Stunde ift 
bie, baß des Menſchen Sohn in der Sünder Hände überantwortet wird, Stehet 
auf, laſſet und von hinnen gehn; fiehe, der mich verräth, it nahe. — 

Das Heiligthum der Paffion bat fih vor uns aufgethan. Das 
große Opferwerk nimmt feinen Anfang. Sehet dort den Priefter und 
das Lamm; den Brandopferaltar und drauf das Feuer Gottes, Brüs 
der, welch' ein Auftritt! Wer ergründet hier die Tiefen? Wer Iöft 
von dieſen Geheimniffen die Siegel? Wahrlich, bier ift mehr, als 
Abrahams Opfer auf Morijah, als Jakobs nächtlicher Gottes 
fampf und als Mofis Gefiht beim Berge Horeb. „Hier flarrt der 
Geiſter Schaar; die Seraphinen bededen. hier mit Flügeln ihr Ges 
fiht!" Heiliges Dunkel, das Gethfemane umgraut! Wie fänden wir 
uns je darin zurecht, leuchtete uns die Fackel Gottes nicht voran? — 
Schauervolle Räthfelwelt, die uns bier umgibt! Wie gelangten wir 
zu ihrer Deutung, reichte uns nicht Jehova durd feine Dolmet⸗ 
fcher, die Propheten und Apoftel, dazu die Schlüffel? — 


192 Dad Heilige. 


als etwas nur aus feinem eigenen Innern Entfpringendes, ſondern 
als ein in pofitivner Weife von Außen ber über ihn Hereinbre- 
chendes anfehe, und angefehen wiflen wolle. Als ein Berhängniß 
fteht e8 vor Ihm, was feiner wartet. Einer Wetterwolfe gleich fieht 
Er's bruͤtend über feinem Haupte bangen. 

„Sitzet ihr hier, auf daß ich hingehe.” Dies war die 
Sprache feines ganzen Lebens, und iſts noch heute Man könnte 
das Wort ald Wahlſpruch unter Sein Bildniß fchreiben: „Sißet 
ihr hier, auf daß ich hingehe!“ So ſprach er im Anbeginn 
ſchon, als einft die Barmberzigfeit und Gerechtigkeit Gottes mit ein⸗ 
ander zu Rathe gingen, was aus uns armen Sündern werden folle, 
und, als — laßt mich von unergründlichen göttlichen Dingen einmal 
menſchlich ftammen, — die Liebe uns gern begnadigen wollte, 
aber die Heiligkeit nicht durfte, weil fie verdammen und verwerfen 
mußte. Da war Er es, der fih in’s Mittel warf. „Sibet ihr 
bier,” fprach er, auf Daß ich hingehe und laffe mein Leben 
für die Lämmer!” — As er nachmals den Himmel zerriß und 
unfer Zodesthal betrat, um für uns „alle Gerechtigkeit zu erfüllen,” 
fprach er abermals, und zwar jebt zu uns: „Sißet ihr, auf dag 
ich hingehe, und gehorchend und leidend euch vertrete?” Und fiehe, 
dies blieb feine Lofung bis diefe Stunde. Allewege will er für ung 
gehn, wir follen ſitzen; Er arbeiten, wir ruhen; Er fchaffen, wir 
genießen; Er für uns kämpfen, wir Giegeslieder fingen. Wo Er 
feine Kinder fi) mühen fieht, in Streit oder Angft, in Sorgen oder 
Zweifeln, da ift Er bald zur Hand, und fpridt: „Siget ihr nur, 
und werft alle eure Sorgen auf mid, legt euch auf meinen Schultern 
fill zur Ruhe, und laßt mich hingehn, Daß ich für euch forge!“ 
Und wenn Er uns dies felbft in die umdunkelte Seele raunt, und 
das füße Geheimniß uns verftchen lehrt, wie Er Alles für uns thun 
wolle: ftreiten und forgen, ringen und fiegen, wirfen und beten: o 
weich" ein Feiern, welch” ein Raften, zu dem Dann das müde Herze 
eingebt! Zwar ringen und lümpfen Dann aud wir noch fort; aber 
mit Siegeögewißheit gefchieht es, und mit tiefem Herzensfrieden. Wir 
wiffen, wer au unfrer Seite ftebt, und Daß uns nichts mehr jcheiden 
Bine von der Liebe Gottes, 

Die Jünger, der Beifung ihres Meiſters geborſam, laſſen fich beim 
Ciagange des Gehäftes nieder, während Er ſelbſt, nachdem Gr feinen 
dee Vertrunteften, dem Petrus, Johannes und Jakobus gewinft, Da 


Geibfemane. 193 


fie Ihm folgen möchten, tiefer in das Gebüfch des Gartens vorgeht. 
Um der Zukunft feiner Kirche willen Tiegt Ihm daran, Augenzeus 
gen der verhängnißvollen Begebenheit zu haben. Zugleich bewegt 
Ihn zur Mithinzuziehung jenes Jungerkleeblatts das rein menſch⸗ 
liche Bedürfnig nad) tröftlicher Liebesgemeinfchaft umter dem Ihm bes 
vorftehenden Kampfe. Wie thut es wohl, in Stunden der Anfech⸗ 
tung von gleichgefinnten Freunden fich umgeben wiffen, Die mit un 
machen, mit uns beten, und Schäße der Ermuthigung aus dem Worte 
Gottes, wie aus dem Gebiete ihrer eignen geiftlichen Erfahrungen uns 
Darzureichen haben! Wie kann uns dies den Kampf erleichtern und 
verfüßen; während die Einſamkeit das Grauen zu fteigern, und 
neben der wirklich vorhandenen Noth auch noch den Schredbildern 
der Bhantafie die Pforten zu öffnen pflegt! — Dem Herrn Chrifto 
aber blieb kein rein menfchliches Bedürfnig fremd. — In Allem 
ward Er uns gleich, ausgenommen in der Sünde, 


2. 


Durch den Garten Eden fang die Stimme: „Adam, wo bift du 
und Adam verbarg ſich zitternd hinter den Bäumen des Gartens, 
Diefelbe Stimme des nachfragenden und fuchenden Gottes durch⸗ 
hallt, getragen von ähnlicher Abfiht, den Garten Gethfemane; aber 
der „andere Adam“ entzieht fi) der Stimme des Rufenden nicht; 
fondern fchreitet dem Erhabenen, der vor Sein Angeficht ihn fordert, 
mit einem entfchloffenen „Hie bin ich“ entgegen. Folgen wir Ihm 
in das nächtliche Dunkel. Welche Schauer aber, die wir jebt fi 
um Ihn entfalten ſehen! Es find uns lauter wohlbelannte Perfonen, 
mit denen wir hier zufammentreffen; aber wie haben fie ihre Geftalt 
gewandelt! Alles verhüllt ſich, Alles wird unkenntlicd in Gethſemane; 
und von Moment zu Moment fteigert fih im Anſchauen diefer ‘Dinge 
unfres eigenen Herzens Noth und Bangen. 

- Der ewige Vater iſts, der bier waltet; aber was bleibt uns 
übrig, als Angefichts Seiner mit Hiob auszurufen: „Gott ift groß 
und unbekannt, und Dunkel ift unter feinen Füßen!” Sein einiger 
über Alles geliebter Sohn erfcheint vor ihm in einer Lage, daß der 
Stein fi) über ihn erbarmen möchte, aber bei Ihm, der Doch zu 
Zion fpradh: „Und ob auch ein Weib ihres Kindleins vergäße, fo 
vergeffe ich doch deiner nicht,” fcheint kein Erbarmen mehr zu fein. 
Wird man doch verfucht, mit David in den Schrei des Entiehens 
13 


184 Das Heilige. 


auszubrehen: „Hat denn Gott aufgehört, gnädig zu fein, und feine 
Barmherzigkeit vor Zorn verfchloffen?” Denn ſchaut nur, welche Scene! 
Ein um das andre Mal wirft fih der Sohn der Liebe mit heißem 
Flehn an des Vaters Herz; aber fein Ohr laufcht vergebens nad) 
einem gewährenden „Amen“ aus der Höhe. Da ift nicht Stimme, 
noch Antwort, noch Aufmerfen, als ob der Ewige feine Zufage: 
„Rufe mich am in der Noth, fo will ich Did) erreiten und du follft 
mich preifen!” im Grimm zurüdgenonmen, und für jeden Audern 
wohl, nur für Den fein Herz mehr hätte, der doch vor Grundlegung 
der Welt ſchon in Seinem Schooße war. Der Schauerteldy geht an 
dem bebenden Duflder nicht vorüber; vielmehr wird der Trank von 
einem Augenblide zum andern bitterer. — Lauter tönt die Klage des 
Ringenden; andringender wird fein Gebet und Zlehen. Aber die Höhe 
fehweigt, und der Himmel fcheint taufendfach verriegelt. Wohl naht 
zuletzt der heiligen Engel einer; aber warum doch ftatt des unmit⸗ 
telbar tröftenden Hereintritts des Vaters ein Engel nur? Erſcheint 
es nicht faft wie eine Ironie, Daß zu des Schöpfers Stärkung 
ein. Geſchöpf entjendet wird? — Und was war Das für eine Stär- 
fung, welche nur eine gefteigerte Bedrängniß zur Folge hatte? Denn 
„nun erft”, lefen wir, „Fam es, daß Jeſus mit dem Tode 
rang, und betete heftiger, und es ward fein Schweiß 
wie Blutstropfen, Die fielen auf die Erde.” Großer 
Gott! Welche Schatten und Schauer in Gethjemane! Ya, der Vater 
waltet bier, aber im Dunkel wohnend: ein tief Berhüllter, ein Uns 
befaunter, [heinbar im ſchneidendſten Widerfpruche mit fich felbft, 
und von den Zrümmern feiner eigenen Verheißungen und Betheurun- 
gen umgeben. 

Und nun die Blide auf den Sohn geridtet! O fagt, wer Fennt 
Ihn wieder? In ein undurdhdringliches Gewebe von üngftigenden 
Näthfeln und Widerfprüchen fehen wir auch Ihn verhält. Er ift 
der Mann, den Jeremias beftürzt im Geift erblidte, und mit den 
Worten fchüdert: „In feinem Innerften iſt ihm das Herz zerfchlagen 
und alle feine Gebeine erbeben,” — Er ift der Dabingefchmetterte, 
welcher im Pfalme von fich zeugte: „Ich bin ein Wurm und fein 
Menſch.“ Er kündigte fih an als den, der die Welt erlöfen werde; 
und wer erfcheint der Erlöfung bedürftiger, als er ſelbſt? Gr 
trägt den hohen Titel eines „Zriedensfürften”; und wo war je 
mals Einer an Frieden ärmer, ala Er es iſt? Seht nur, wie ex 


Gethſemane. 195 


„unftät und flüchtig” bald Gott feinen Vater, bald arme Menfchen 
finder um ein Labfal für feine zagende Seele angeht; aber nicht 
findet, was er fucht, fondern unerquict aufs neue zu erzittern und 
zu beben genötbigt wird. Sein Auge ift voller Thränen, fein Mund 
voll Klage und Gefchrei, und ach! fein Herz ſchmachtet in einer Kelter, 
die ihm den blutigen Angftfchweiß aus den Adern preßt! O, ift das 
der Held, der einft die Stärke der Schwachen, der Zroft der Trauern⸗ 
den, der Wankenden Hort, und der Schild der Streitenden war? Iſt 
das der Heilige in Iſrael, der weiland auf Alles gefaßt, ja mit Freu⸗ 
digkeit Daherrief: „Siehe, ich komme; deinen Willen, mein Gott, thue 
ih gern, und dein Geſetz habe ich in meinem Herzen?“ Ich frage 
wiederholt: Wer kennt Ihn wieder in diefem Elendeften der Elenden, 
und wer erſchaut in diefem zerfnicten Rohr und bebenden Wurm noch 
den „Schönften der Menfchenkinder*? 

Und num feht endlich auch feine Jünger an, die das Maaß der 
Unbegreiflifeiten voll machen. Während ihr Meifter in uners 
hörten Beängftigungen mit dem Zode ringt, fehen wir fie, und noch 
dazu die drei Auserlefenften der Kleinen Freundes: Schar, fehlaftruns 
fen, ja übermannt vom Schlafe, am Boden liegen. Er weit fie 
mit der faft flehentlichen Bitte, daß fie nur eine kleine Weile mit ihm 
wachen möchten; aber fie, als ginge er fie nichts mehr an, entichluns 
mern aufs neue, und überlaffen den Meifter feinen Aengften. Und 
in ihrer Zahl befindet fih auch der, der da fprah: „Und wenn fle 
fih Alle an dir ärgern, fo doch ich nicht, und ob ich auch mit Dir 
fterben müßte*; umd ebenfo der, welcher als der Lieblingsfünger 
einft an Jeſu Bruft lag; und der, welcher einft ein fo entfchloßs 
nes „Ja“ auf des Meifters Frage hatte: „Könnt ihr den Kelch 
auch trinken, den ich trinken werde, und euch taufen Iaffen mit der 
Zaufe, da ich mit getanfet werde?" — Ach erfehet hier, was e8 mit der 
Treue der armen Menfchenkinder auf fih hat! Treu it Einer nur; 
und nur auf Einen iſt Verlaß in allen Fällen; und Einer fhläft 
und fhlummert nimmer bei der Seinen Noth: Der, um welchen her 
Alles fchlief in jener bangen Nacht; nur feine Feinde nicht. — 
Wie aber konnten Angefihts jenes erſchütternden Schaufpiels die 
Fünger fchlafen? — Ya, wie konnten fie? Muß man nicht annehs 
men, e8 fet dies mit natürlichen Dingen nicht zugegangen? Drängt 
fih Einem bier nicht gewaltfam der Gedanke an eine Einwirkung uns 
heimliche finſterer Mächte auf? Ihr feht, nach allen Seiten bin 

13* 


196 Das Heilige. 


iR man in Gethfemane von Schauern umringt, und es kann Einem 
werden, als träumte man bei wachendem Zuflande grauenhafte Fieber: 
träume, oder als wären ed nur Zrug- und Schredgefichte, Die man in 
einem Delirium an fich vorüberfchweben ſehe. — 

3. 

Doc vergegenwärtigen wir uns den Verlauf des Delbergsfam- 
pfes näher. Kaum, daß Jeſus mit den Dreien einige Schritte in 
Das Didicht des Gartens vorgedrungen, „hub er (alfo vor ihren 
Augen ſchon) zu zittern und zuzagen an.“ Mit Diefem „er hub 
an“ gibt die Gefchichte uns einen Wink, daß jebt etwas bis dahin 
Unerhörtes über Ihn gefommen fei; zugleich aber bezeichnet fie damit 
die ihn ergreifende Roth als eine nad) befonmener Vorkehrung in 
freiem Entſchluß von ihm übernommene; Ihn felbft aber als einen 
Mann, der, wie ein Ausleger treffend bemerkt, „unter Dem Leiden etwas 
thue, und unter dem Thun etwas leide.” „Zu trauern und zu 
zagen begann er.” Eine mausoſprechliche Schwermuth ergriff feine 
Seele; eine geheimnißvolle Angft umlagerte fein Gemüth. Marcus 
bringt nad) der ihm eigenthümlichen, die heiligen Scenen mehr in's 
Einzelne ausmalenden und veranfchaulichenden Darftellungsweije auch 
Die Art des Trauerns Jefu unfrer Ahnung näher, indem er fagt, Je⸗ 
ſus habe angefangen, „Sich zu entfegen.“ — Er bedient ſich im 
Grundtert eines Wortes, weldyes ein plößliches Mark und Bein durch⸗ 
fehütterndes Erfchreden vor irgend einem Grauen erregenden Gegen: 
flande anzeigt. Unverkennbar beabfichtigt der Evangelift, damit anzu: 
deuten, daß bie Urſache des Erzitterns Jeſu nicht in Anfchauungen 
und Erwägungen feiner Seele nur, fondern zugleich in Erfcheinun: 
gen zu fuchen fei, die von Außen her auf ihn eingedrungen. Es 
näherte fid) ihm ein Etwas, das feine Nerven zu zerreißen, ja, deſſen 
Anblick das Blut ihm in den Adern zu erflarren drohte, 

Schon gleich nad) dem erſten Angſtaufalle wendet er fich zu den 
Dreien mit der feinen innerften Gemüthszuftand tief beleuchtenden 
Aeußerung: „Meine Seele ift betrübt bis in den Tod." — 
Gewiß ſchließt fi der Sinn diefer Klage in dem Gedanken nicht ab: 
„Ich bin flerbenstraurig; die Angft bedroht mein Leben;“ obwol die 
Worte allerdings auch dDiefes, ja dieſes zunächft befagen. Nach Diefer 
Bedeutung ſchon eröffnen fie uns in die Tiefen der Seelenleiden des 
Mittlers einen um fo erfchütterndern Blick, je weniger bei den Reden 
Defien, der die Wahrheit felber ift, auch mur von ferne an Ueber: 


Gethſemane. 197 


treibungen gedacht werden darf. Das Betruͤbtſein bis in den Tod 
bezeichnet aber nicht blos Das Maaß, fondern zugleich die Art und 
das Wefen feiner Bedrängniß. Wir Tefen fpäter, es fet dahin ge- 
fommen, daß er „mit dem Tode rang;“ und allerdings war es der 
der fündlofen Natur des Herrn als etwas Fremdes und Widers 
ſprechendes entgegentretende Tod an fich fchon, vor welchem ein 
geheimes Grauen ihn erfaßte. Nicht war jedoch, was ihn erfchüt- 
terte, der durch Die Gnade verfüßte Tod, der nur Die Bande des 
Leibes löſt, um die Seele in ihre Heimath einzuführen; fondern der 
Zod, der „der Sünde Sold“ heißet; der Tod, der als Fluch 
auftritt; Der Tod, „deſſen Gewalt“ nach apoftolifchem Ausſpruch, 
„der Zeufel hat“, und der als König der Schreden dem tiefoer- 
fhuldeten. Adamsfohne das Licht der Augen austöfcht, um e8 zu feinem 
Entjegen erft vor den Schranken des jenfeitigen Gerichts, und dann 
in den ewigen Wüften ihm wieder anzuzünden. In Diefes Todes 
Grauen fühlt fi) der Bürge hineinverfeßt, und dies nicht im Wege 
der Anſchauung nur, fondern zugleich in demjenigen einer geheims 
nißvollen Aneignung. Man fage, was man wolle, ohne ein Feſt⸗ 
halten an dem Begriffe der Stellvertretung findet man fich in dem 
Dunfel des Delberglampfes nimmer zurecht. Eine bloße Bor ftellung 
des Sündertodes, von welchem Ehriftus die Menfchheit zu erlöfen kam, 
hätte den Heiligen in Iſrael fo zermalmend nicht erfaffen können. Er 
kam in ungleih nähere Berührung mit jenem „legten Feind“. 
Er leerte den Becher ſeiner Schrecken. 

Beachtet nun, bis zu welcher Spitze ſeine Noth ſich ſteigert. it 
jenem offnen Geftändniß: „Meine Seele ift betrübt bis in den 
Tod,” eilt er wie Einer, dem in feiner Hinfälligfeit auch Die geringfte 
Stüße und Labung hoch willlommen ift, zu den drei Freunden zurüd, 
und fpricht zu ihnen, nicht mehr wie ein Herr zu feinen Dienern, ſon⸗ 
dern wie ein Bedrängter und Zroftbedürftiger zu feinen etwa zur Hülfes 
leiftung befühigten Brüdern: „Bleibet hier und wadhet mit mir! *. 
„Verlaſſet mid) nicht,” will er fagen; „eure Nähe ift mir tröſtlich.“ 
Er bezeichnet mithin nicht fie, fondern fich als den Beklagenswerthen, 
„Bleibet hier!" — In welcher graufen Umgebung muß er fi) bes 
funden haben, daß ſchon der Anblick diefer armen gebrechlichen Jünger 
ihm fo erwünfcht und wohlthuend erfcheinen kann! „Bleibet hier]? 
— Bie hätte er alfo bitten koͤnnen, hätte er den Himmel über fih offen 
gefehn, und an der Bruft des Vaters ſich gebettet gefühlt, Wachet 


198 Das Heilige. 


mit mir! * fügt er hinzu. Diefer Ausruf bezeichnet faft noch fchärfer 
und umfaſſender den Nothſtand feiner Seele, als das Bleibet!“ 
Zunähft ift das „Bacher!“ freilich Mahnung an die Seinen, in 
diefer Stunde der Anfechtung auf ihrer Hut zu fein; zugleich aber 
nimmt der Herr damit ihre Zheilnahme für fi in Anſpruch, und bittet 
um ihr Mitleid. Ob gar auch um ihre Fürbittet Ich wage es 
nicht zu behaupten. Gewiß aber ſtand des Herm Zuß niemals noch 
weder vorher noch nachher in einem tiefern Grunde der Erniedri- 
gung, ald eben bier im Garten Gethjemane. 

Kaum daß Er jene Worte zu den Seinen geſprochen hat, reißt er 
ſich wieder unftät und in gewaltiamer Bewegung von ihnen los, und 
verliert fi) aufs neue einen Steinwurf weit in das Innere des Gar- 
tens. Hier fehen wir ihn nun zum Staube niederfinken, auf feine 
Kniee zuerft, dann gar auf fein Angefiht; und nun ringt ſich aus 
feinem fturmbewegten Innern zum erften Male der flehentliche Seufzer 
los: „Abba, mein Bater, es ift Dir Alles möglih. Willſt 
Dun, fo überbebe mich dieſes Kelchs, und nimm ihn von 
mir. Doch nicht wie ih will, fondern wie du will!" — 
Habt ihr's vernommen? Ja, er wäre des Kelchs, den er eben trinken 
fol, und deſſen Inhalt zu entfeßlich ift, gern überhoben; denn wicht 
ein fühllofer Stein, fondern ein wirklicher, jeder Schmerzensempfün- 
dung fähiger Menſch iſt's, der in ihm leidet. Aber er begehrt die 
Verſchonung lediglich unter der bei Ihm fich immer won felbft ver- 
fiehenden Vorausſetzung, daß diefelbe mit des Vaters Rath und Willen 
vereinbar fe. „Wenn es möglich if,“ fpricht er; meint jedod) 
nit: möglih überhaupt, wie er denn das Wort vorausfchidt: 
„Dir ift Alles möglich,” und damit fagen will: „Wie, daß du nicht 
auch Diefer Roth mich follteft entrücden können?” fondern denkt nur 
an eine bedingte Möglichkeit innerhalb der Grenzen des Endzweds, 
zu welchem Er erfchienen fei. — „Wie aber,“ fo höre ich einwer⸗ 
fen, „Chriftus kann noch fragen, ob die Erldfung der Menfchheit 
auch ohne Kreuz, Blutvergießen und Tod zu Stande kommen fön- 
nen?" — DO nicht doc), lieben Brüder. Die Frage des Herm bes 
ſchraͤnkt fi) nur auf das gegenwärtige Grauen, auf den Gethſema⸗ 
ne's⸗Kelch. — „Aber auch darnach mußte er erft fragen?“ — 
Laßt euch Das nicht befremden, meine Lieben; vielmehr mahne dieſer 
Umftand eudy auf neue Daran, daß die Selbftentäußerung des Sohnes 
Gottes weſentlich mit darin beftand, daß er bis zu einer gewiffen 


Gethſemane 190 


Grenze auch des Gebrauchs feiner göttlichen Vollkommenheiten über- 
haupt, ımd feiner unbefchränkten göttlichen Allwiſſenheit insbeſondere 
fi) begab, und dadurch in Die Lage ſich verfeßte, mit und einen Weg 
des Glaubens wandeln, und, nach apoftolifchem Ausſpruch, „an dem, 
das er litt, Gehorfam erlernen” zu Tönnen. 

Mit der ganzen Macht heiliger Inbrunft und Findlicher Ergebumg 
flug das Gebet des göttlichen Dulders an die Pforten des Thron 
ſaals Gottes an; aber kein Wiederhall kehrte von dort zurüd, Der 
Himmel verharrt in tiefem Schweigen. Da fährt der Beter mit fteis 
gender Beängſtigung vom Boden auf, eilt auf8 neue zu feinen Jun⸗ 
gern, findet fie aber — wer vermag’s zu faffen? — in tiefen Schlaf 
verfimten. Haſtig weckt er fe, umd fpricht mit wehmüthigem Grnfte, 
zunächft zu Petro: „Simon, fhläfeft du? Vermöchteſt du 
denn nicht eine Stunde mit mir zu wachen?" — Zermalmende 
Frage für den ünger, der fo hoch fich vermeffen und den Mund son 
Betheurungen der Treue bis in den Zod, fo voll genommen hatte! 
— Und nad) diefem richtet er an die Drei zufammen den erſchuͤttern⸗ 

den Warnungsruf: „Wachet und betet, daß ihr nicht in Ans 
fechtung fallet; der Geift ift willig, aber das Fleiſch ift 
ſchwach.“ Was ihn diesmal zu den Jüngern zurüdführte, war neben 
dem Troftbedürfnig feiner beaͤngſtigten Seele der Eifer feiner mütters 
lich fürforglichen Liebe für fie, die fammt ihm ein bedenklicher Zauber 
freis umgab. „Die Stunde der Finſterniß,“ auf die er fräher 
warnend hingedeutet, war jebt herbeigefommen. „Der Fürſt diefer 
Belt" hatte in voller Rüftung den Plan befchritten. Die Hölle ſah 
jetzt für ihre Handftreiche alle Schranken ſich geöffnet. Die räthfelhafte 
Betaͤubung und Hinfälligkeit der Jünger kündet ſich ſchon als eine 
Wirkung des unheimlichen Luftfreifes an, in dem fie athmen. Da galt 
es denn wol, alle Kräfte des Geiftes und Gemuͤths zuſammen zu raffeır, 
um nicht der Verfuchung zu Aergerniß, Unglaube und Abfall zu erliegen. 
Denn das Wort „hineingerathen” bezeichnet bier fo viel als „in 
die Berfuchungsftride fi) verwideln”. Das „ Bacher!” fchliept Al⸗ 
larmruf in fi zur Nüchternheit und Vorſicht, und Warnnng vor der 
Verkennung der drohenden Gefahr. Das „Betet!” ift Feldherrnfignat 
zur Rüftung, Befcheidung in das Zeughaus Jehova's, und Ladung zur 
Quelle aller Kraft mıd Hülfe: der Gnade Gottes. Das „Der Geiſt 
if willig, aber das Zleifch iſt ſchwach,“ darf nicht ale Ent 
ſchal digung für die Schlaſtrunkenen gedeutet werden; ſondern iſt 


200 Das Heilige. 


nur als nähere Begründung des Mahnrufs aufzufaffen. Der Herr will 
fügen: „Vertrauet euern frommen Entichließuugen wicht. Eure fün- 
Dige und fo leicht zu berüdende Natur bedurf, zumal wenn unheim⸗ 
licher Einfluß von Außen herzutritt, viel jlürferer Zügel!” — Bon 
einem „willigen Geijte” kann übrigens, beiläufig bemerft, nicht im 
Bid auf alle Menichen, jondern nur, jofern es fih von Gläubi- 
gen handelt, die Rede fein, weßhalb denn auch jener Wädhterruf des 
Herm nur ihnen güt. Ob der Herr, wie Manche meinen, die Worte 
„der Geift ift willig, aber das Fleiſch it ſchwach,“ auch auf 
fich ſelb ſt bezogen habe, in welchem Falle ans dem Worte „Sieifch“ 
allerdings der Begriff des Sündlichen hinwegzudenlen wäre, ſteht 
fehr in Frage. Ich wenigftens möchte Bedenfen tragen, es zu glauben. 
Wiederum eilt der Herr in dus Tidicht des Gehöftes zurüd, und 
zum andern Tale verlautet, in etwas verinderter Geftalt nur, Das 
brünftige Gebet: „Mein Vater, iſt es nit möglich, daß dies 
fer Kelch von mir gebe, ich trinke ihn Denn, fo geſchehe 
dein Wille.“ — „Eindringlicher“ noch, meldet der Evangeliften 
einer, habe er dieſes zweite Mal gebetet; doch will er damit nicht etwa 
fagen, ex babe ungeftümer um die Verſchonung gefleht, dem zu⸗ 
vor; ſondern im Gegentheil habe er, nachdem er binter dem Schweigen 
feines himmlischen Baters ſchon die Berneinung feiner nur fragen 
den Bitte gewittert babe, fich mit vermehrtem Kraftaufıwande nur noch 
tiefer in den Glaubensgehorfam hinein zu leiden und hinein zu kaͤmpfen 
ſich bemüht. Sein inneres Grauen war übrigens Dabei in fortwährender 
Steigerung begriffen. Nachdem er vom Gebete aufgeftanden, fuchte 
er abermals feine Jünger; fand fie aber neuerdings ſchlafen d. Sie 
fpliefen „vor Traurigkeit“, meldet die Geſchichte; — ımd wie 
ram und Kummer auch die Lebensgeifter lähmen und binden 
Sönmen, haben wir felbft wol fchon erfahren; — „und ihre Augen 
waren voll Schlafs.” Und da er abermals fie weckte, „wußten fie 
in ihrer Betäubung nicht, was fle ihm antworteten.” — Zum dritten 
Male z0g fi num der Herr in jeine Einjamfeit zurüd, ſank wieder 
zum Staube, und betete diefelben Worte. Da — o, was begibt ſich? 
— Ein Engel Gottes fchwebt zu dem Ringenden herab, und nähert 
Rd ihm, um „ihn zu ſtärken“. Diefe unerwartete Erjcheimung eis 
ned himmlifchen Weſens mußte dem Herrn, der ſich bisher mit feinen 
Innern Anfhauungen nur in die düftere Sphäre fündiger Menfchen 
amd verworfener Dämonen eingelerkert fa, an und für fih ſchon zu 


Geihfemane. 201 


nicht geringem Troſt gereichen. Was aber der leuchtende Bote dem 
göttlichen Dulder überbrachte, war nicht etwa die Kunde, daß der Va⸗ 
ter gewillt fei, die Bitte um Verſchonung ihm zu gewähren, fondern, 
wenn er überhaupt mit einer Botfchaft kam, nur die erneute ausdrüd: 
liche Eröffnung, daß der große Erlöfungspian die Wegnahme des Oel⸗ 
bergsfelches nicht geſtatte. Das Wahrfcheinlichite indeffen ift, daß 
e8 mit der Engelfendung blos auf eine Lörperlich=feelifche Staͤrkung 
und Reubelebung des bis auf den innerften Lebensgrund Erfchütterten 
abgefehn war, Damit er bei dem legten und ſchwerſten Aft des Kampfes 
wenigftens dem Leibe nad nicht erläge. Denn gleich nad) des Engels 
Rückkehr „Lam es, Daß Jeſus mit dem Tode rang, und betete 
heftiger. Es war aber fein Schweiß wie Blutstropfen, 
Die fielen auf die Erde.” Welch’ eine Erfcheinung! Nur von 
einem Menfchen noch, von Karl IX. von Frankreich, der die Partfer 
Bluthochzeit auf dem Gewiffen hatte, will man behaupten, daß andy 
er auf feinem Sterbebette unter den Anlagen des Richters in feiner 
Bruft, im buchftäblichen Sinne des Wortes blutigen Angſtſchweiß 
vergofien habe. Denkt, jener Mörder Taufender von Gliedern Chriftt, 
und Chriftus, der Heilige Gottes felbft, in gleichem Falle! Wer 
entfeßt fi) hier nicht; aber wen geht bier nicht zugleich in dem dun⸗ 
felften und graufenerregendften Momente des Delberglampfes eine 
daͤmmernde Ahnung von dem Weſen und der Bedeutung der Paffton 
Inmanuels auf? Toch hievon ein Weiteres in unfrer nädftfolgens 
den Betrachtung. 
4. 
Wenden wir uns für heute nur noch ein Mal jenem geheimnißvollen 
Gebete zu, an welchem weniger die Belt, als der Glaube der Gläus 
bigen fo oft fich ftoßen will, Bald nemlich weiß man's mit der Liebe 
des Herrn nicht zu vereinen, bald nicht mit feiner Unterthänigkeit ums 
u des Vaters Rathſchluß, bald mit feiner Allwiſſenheit nicht, noch 
mit feinen“ früheren in fo großer Ruhe und Gefaßtheit ausgefproche- 
nen Vorherverfündigungen der ihm bevorftehenden Leiden, daß er num 
plöglich eine Befreiung von eben dDiefen Leiden begehren koönne; 
und wenn man auf Einwände Diefer Art erwiedert, Daß die Seele Jeſu 
während des Delberglampfes als in einem Zuftande göttlich gemollter 
ſchwerer Verdunklung befangen zu denken fei, fo wird entgegnet, daß 
Doch die Klarheit und Innigkeit, womit er nad) wie vor zu Gott als 
feinem Vater rede, keineswegs auf eine ſolche Verdunlelung ſchließen 


22 Das Heilige. 


laſſe. So fcheinen fi) denn allerdings mmauflösliche Raͤthſel und 
Widerſprüche hier vor und aufzuthürmen; doch wird fi das Dunkel 
fichten, wenn wir Folgendes in Erwägung ziehen: 

Was zunörderft den aus der vorausgeſetzten Allwiffenheit des Herrn 
entuommenen Zweifel anbelangt, jo wiederholen wir, was wir vorhin 
berührten. Die Selbftentäußerung des ewigen Sohnes beftand we⸗ 
fentlih darin, daß er ſich des unbeſchränkten Gebrauchs aller 
feiner göttlichen Eigenfchaften, mithin auch der genannten, für Die Zeit 
feines Erdenwandeld begab, und aus der über Raum und Zeit erha⸗ 
benen Ewigleit in die Form des Zeit- und Raumlebens eintrat, um 
auch an feinem Theile, gleich wie wir, den Weg des Glaubensges 
horſams zu wandeln, und in demfelben zu unferm Haupte, Hohen⸗ 
priefter und Mittler fich zu vollenden. Ald „der Knecht Jehova's“, 
mit welchem Namen die altteftamentliche Offenbarung ihn bezeichnet, 
mußte er dienen, nicht gebieten; Unterthänigfeit „lernen“, 
nicht herrſchen; kämpfen, nicht über allen Kämpfen in ſtolzer Ruhe 
thronen. Wie hätte dies aber für den Gottgleichen ohne eine 
Selbftbegrenzung möglich werden koͤmen? Alle feine Kämpfe und 
Prüfungen wären dann nur Scheinlämpfe und Scheinprüfungen ges 
weien, und nicht wirkliche. Er hörte feinen Augenblid auf, wahr⸗ 
baftiger Gott, und im Vollbefike aller göttlichen Bolllommenbeiten 
zu fein; aber Er enthielt fi des Gebrauchs derfelben in foweit, 
als fein himmlifcher Vater Ihm denfelben nicht geftattete. — 

Zum Andern ift zu beachten, daß der Herr in Gethſemane nicht 
um Abwehr der über ihn verhängten Zodesleiden überhaupt, fons 
dern nur um Wegnahme des gegenwärtigen befondern Grauens 
bittet. Wie hätte Er, der den von feinem Paffionsgange ihn abmah⸗ 
nenden Juͤnger mit jenem darmmiederfchmetternden: „Hebe dich hinter 
mich, du Satan, denn du meineft nicht, was göttlich if“, zurückwies, 
jetzt ſelbſt das dem Nathichluffe Gottes Widerftreitende —* löns 
nen? Er fragt nur, ob es möglich fei, daß diefer Kelch an ihm 
vorübergebe, und meint den Kelch allein, deſſen Bitterkeiten und 
Schrecken ex eben koſtete. 

Daß Ehriftus während feines Kampfes Gott noch als feinen Bater 
weiß, hat nichts Befremdliches, und widerfpricht der Annahme nicht, 
daß Er am Delberge den Kelch des göttlichen Berichtes für unfre 
Sünden leerte, Denn nur noch durch Den Glauben Gott als ſei⸗ 
wen Bater wifen, ımd Ihn als Bater gegenwärtig fühlen, und im 


Gethſemane | 203 


Genuffe feiner Liebeshuld Ihn erfahren, tft zweierlei. Allerdings 
rang fih Jeſu Geift in tiefem Glaubenskampfe zum tröftlichen Kin- 
Desbewußtfein immer wieder durch; aber was fein feelifcher Menſch 
empfand, war nur Fluch, Entfremdung und Berwerfung. 

Der Zweifel endlich, ob Das Dranggebet des Herrn mit feiner Suͤn⸗ 
derliebe, fowie mit feiner Unterthänigfeit unter den väterlichen Rath⸗ 
ſchluß in Einklang ftehe, ermangelt vollends jedes Grundes. Jeſu 
Liebe wie fein Gehorfam feiern gerade in Gethſemane ihren glängend- 
fien Zriumph. Er wendet fi) an den Vater ja mit der Frage nur, 
ob es unbefchadet des Werkes der Erlöfung gefchehen könne, daß Dies 
fer Kelh an ihm vorübergehe. Denn daß er mur diefe bedingte 
Möglichkeit im Auge babe, und nicht die Allmacht Gottes überhaupt 
zu feiner Errettung in Anſpruch nehme, gibt er, um jedem fünftigen 
Mißverſtaͤndniß vorzubeugen, ſelbſt ſchon unzweideutig durch das feis 
ner Frage vorausgefchidte: „Vater, es ift Dir Alles möglich“, 
zu erkennen. „Das“, will er fagen, „weiß ih wol, daß, ſobald 
du willfi, mein Kampf geendet iſt; aber wirft Du es wol⸗ 
len können, obne daß die Rettung der Sünder dadurd 
vereitelt werde? Wenn nicht, dann, Vater, weife mich mit 
meiner Bitte ab. Ach trinke dann den Kelch bis auf Die 
Hefen!” — Nicht anders aber, als wie mit feiner Liebe, verhält 
fih’8 mit feinem Gehorfam gegen feinen Bater. Richt einen Augen⸗ 
bli® hieß feines innerften Weſens Lofung anders, als: „Nicht wie 
ih, fondern wie du willft, Vater!” Wollte fih in unfünd- 
licher Schwachheit der menfhlich feelifche Wille in ihm dawider 
ftreuben, fo erfaßte denſelben fogleih der Wille des Geiſtes und 
übermochte ihn mit dem Rufe der entichiedenften Hingebung: „Abba, 
dein Wille gefchehe, nicht der meinel” — Freilich mußte diefer 
Ruf wie eine Siegesbeute der in ihrem Notbitande widerftreben- 
den Natur abgerungen werden; und nur in ähnlicher Weife, wie 
ein vom Sturm erfaßtes Schiff zwar feſt und unverwandt nad) der 
Richtung des Magnets, doch nicht fo geraden und gleichen Zaufes, wie 
zur Zeit der Meeresftille, dem Hafen entgegenfteuert, Drang der Geiſtes⸗ 
wille Jeſu in den Willen Gottes ein. So lange ihm die unbedingte 
Nothwendigkeit der Delbergsmarter noch in Frage ſtand, wurde fein, 
Herz wie von brandenden Wogen hin und her geworfen. Sobald 
ihm aber aus dem andauernden Schweigen des himmlischen Vaters 
fhon die Gewißheit wurde, Daß Die Welt nicht anders zu erlöfen fet, 


204 Das Heilige. 


denn durch eine vollftändige Leerung and) dieſes Kelches, geſtattete 
er dem leidesflüchtigen Menfchen in ſich auch nicht einen Laut mehr, 
fondern vollzog mit einem: „Mein Vater, iſt's nicht möglich, 
daß dieſer Kelch an mir vorübergebe, ich trinke ihn denn, 
fo gefhehe dein Wille,” den großen Opferaft der rüdhaltlofeften 
und kindlich willigften Hingabe feines ganzen Ich an den väterlichen 
Rathſchluß. 
5 


Der Schreckenskelch ward bis auf den Grund geleert. Der Her 
erhebt fih vom Staube, und eilt zurüd zu feinen Jüngern. Die ganze 
Art feines jeßigen Auftretens ift bis auf Haltung, Blick und Zon der 
Stimme eine wefentlich veränderte, und deutet auf Ermuthigung, Er⸗ 
mannung und Siegsbewußtfein. Man fiehf8: trummphirend geht er 
aus dem Kampf hervor, und iſt gerüftet und gegürtet für alles noch 

Zukünftige. „Schlafet denn immerhin und ruhet,“ begumt er 
mit wehnmüithig ftrafendem Ernfte; „es ift genng!” — „Um meinet- 
willen,” will er fagen, „iſts nicht mehr noth, Daß ihr wachet. Ich 
bedarf eures Beiftandes nicht mehr. Mein Kampf ift Durchgelämpft.” 
— Was aber will der Zufab: „ES ift genug”? Was Anderes, 
als: „Es wird euch fortan das Schlummern ſchon vergehn.” Diefe 
Deutung fordern die unmittelbar darauf folgenden Worte: „Siehe, die 
Stunde ift bie; des Menfchen Sohn wird überantwortet in der Sün- 
der Hände.” — „Seht“, will der Heiland fagen, „geht's an den Leib 
und an des Leibes Freiheit; wer wird da noch an Schlafen denken?” 
Er weiß, welche Stumde ihm geichlagen hat. Nicht ohne Grauen, 
doch feiner Empfindungen Herr, geht er der Ueberantwortung in die 
Hände der „Sünder“, denen er fi mit Diefem Ansdrud umver: 
fennbar als den Heiligen gegenüber ftellt, feften Schrittes entgegen. 
„Stehet auf!” Tautet der nur tapfere Entichloffenheit athmende 
Schluß feiner Worte. „Laſſet uns gehn“, führt er fort; „ſiehe, 
der mid) verräth, ift nahe!” — Welch' einen verhängnißvollen 
Aufbruch fignalifirt Diefes: „Laflet uns gehn!” Der Held in Sfrael 
zeucht hin, Tod, Teufel und Hölle für uns in ihren ftärfften Schanzen 
anzugreifen und zu überwinden. Beugen wir Ihm anbetungsvoll das 
Knie, und geben Ihm mit Halleluja’s das Geleite! 


Gethſemane. 205 


So ift denn die geheimnißvollfte Gefchichte, welche die Welt gefehn, 
mit ihren ergreifenden Zügen an unferm Blicke worübergegangen; und 
wen unter und hätte ſich das ˖ Gefühl nicht aufgedrängt, daß zur Loͤ⸗ 
fung ihrer Räthfel Die Schlüffel nicht reihen, welche menſchliche 
Geelenfunde und an die Hand gibt, In feinem Märtyrerthume der 
Welt findet fi) etwas dem Delbergfampfe auch nur von ferne Ent 
ſprechendes. Daß wirs hier vielmehr mit einem Leiden einziger Art 
zu thun haben, Tiegt auf der Hand, Aber ich möchte fügen: das wis 
derfpruch8volle Dunkel Gethfemane's fett, fobald es feinen Gipfelpunkt 
erreicht, fi felbit in Licht und Klarheit, und erzeugt mit Nothwen⸗ 
digkeit den Gedanken an Stellvertretung, Genugthuung, Opfer. 
Nur an dem leitenden Faden Diefer Begriffe finden wir uns in jenem 
Irrgewinde zurecht. Gehen wir demſelben, den nicht menfchliche Will 
für z0g, fondern den Gotted Wort und in Die Hand legt, gläubig 
nach, jo entdeden wir, wo Anfangs nur Schauer und Aengfte unfer 
Herz ergriffen, die firömende Quelle unferes ewigen Friedens, umd 
enden damit, daß wir frohbewegt die Worte des alten befannten Lie 
des zu Den unfern machen: 


Im Garten ward die Todesfrucht gepflüdt, 

Im Garten ward das hoͤchſte Gut verloren; 

Und Dun haft einen Garten dir erforen, 

Mo Du dem Rachſchwert Gottes mich entrüdt. 

Hier wurdeft Du in Traurigfeit verfenkt, 

Mit Furcht und Schreden um und um befangen, 

Daß ich von Allen, was mich nagt und Fränft, 

In Deiner Angſt Befreiung möcht’ erlangen. — Amen. 


206 Das Heifige. 


XVIII. 
Gethſemane. 





Bedeutuung und Frucht. 


Ein tiefes Wort begegnet uns Hebr. 5, 7—8. Der Apoftel han⸗ 
delt von dem Priefterthume Jeſu Ehrifti, und fagt von dem Herm: 
„Da er in den Tagen feines Fleifhes Gebet und Flehen 
mit ftarfem Gefchrei und Thränen geopfert hat zu dem, 
der ihn aus dem Tode erretten konnte, und ift erhöret wor- 
den von dem Grauen, hat er, wiewol er der Sohn war, 
an dem, das er litt, Sehorfam gelernt.” Unverkennbar ſieht 
der Apoftel hier auf den Delbergskampf zurüd, und bezeichnet Das 
ausdrücklich, was Jeſus dort erduldete und vollzog, als Opferwerk. 
Nach des Apoftels Anfchauung rang der Herr am Oelberge in Todes⸗ 
noth, wie er denn auch die Errettung „vom Tode” als das Ziel 
feines Flehens darſtellt. Es konnte aber der Tod, mit welchem dort 
der göttliche Dulder kämpfte, nicht derjenige fein, der mit erlöfender 
Hand die Seele aus dem Kerker des Leibes frei macht, um fie als 
willfommener Friedensbote in die felige Gemeinfchaft Gottes einzus 
führen, fondern nur der, deffen Gewalt „der Teufel” hat, und wel- 
cher, von der Gemeinjchaft Gottes trennend, als Fluch und Sold der 
Sünde auf der Menfchheit laſtet. Der Apoftel fagt, Chriſtus fei er- 
hört worden von der „Eulabeia«, d. i. von der Furcht und dem 
Grauen vor Gott. Es verfteht fi) mithin won jelbft, daß Diefe 
„Eulabeia« nicht al8 Devotion und findlihe Ehrfurdt, fondern als 
Schauder und Erfhreden vor der Majeftät des Dreimalheili⸗ 
gen in der Höhe aufzufaffen ift; denn von Erhörung kann nur im 
Blick auf eben folche Angſt die Rede fein. Die väterliche Erhörung 
trat aber erft ein, nachdem Chriſtus „an feinem Leiden Gehor— 
fam gelernt,“ d. h. mit feinem: „Nicht wie ich, fondern wie 
du willft, Vater!“ auch zur Hinnahme dieſes Kelches mit unbe- 
dingter Willigkeit fi) verftanden hatte, Unter feinen Geufzern und 
Thränen opferte der Herr Sich felbft als Das Lamm, das ſtellver⸗ 


Gethſemane. %7 


tretend für die Sünder zur Schlachtbant des Berichtes ging. — „Des 
Berichtes?" — Merdingg! — „Er ift aus der Angft und dem 
Gericht genommen,” fprach weiffagend von Ihm fchon der Prophet 
Jeſaias Kap. 53, 8. 

Ich babe jenes apoftolifche Wort vorausgejendet, um mit demfelben 
die Beleuchtung des heiligen Dunkels einzuleiten, in weldyes die heu⸗ 
fige gottesdienftliche Stunde und zum zweitenmale einführt. Es wers 
den ums jedoch noch hellere Xichter fcheinen, und zu der Ueberzeugung 
uns nöthigen, daß die enangelifche Kirche, als Dollmeticherin der 
Schrift, auch bei der Entzifferung des Geheimniffes der Seelenleiden 
Jeſu das Richtige getroffen hat, — 


Matthãus 26, 36—46. Marcus 14, 32—42. £uras 22, 39 46. 
Iohannes 18, 1. 


Sch geftehe, daß ich, fo oft mir die Aufgabe wird, in das Heilig 
thum Gethſemane's euch einzuführen, eines gemwiffen Bangens und 
Zagens mic) nicht erwehren fann. Mir ifi’s, als ftände auch an die 
fes Gartens Pforte ein Eherub, der, wenn auch nicht mit flammen⸗ 
dem Schwert, fo doch mit abwehrender Hand und feierlich ernflem 
Blick uns den Zugang unterfagen, und mit verftärktem Nachdrud die 
Worte des Herrn wiederholen wollte: „Sitzet ihr hier, und lafs 
fet Ihn hingehn, daß er bete!” — Immer wandelt ein Gefühl 
mid) an, als ob ſich's nicht gegieme, den Sohn des Tebendigen Gottes 
in feinen geheimften Verhandlungen mit feinem himmlifchen Vater zu 
belaufchen. Immer raunt eine innere Stimme mir zu, ed wage ein 
fündiges Auge zu viel, indem es ſich unterfange, in eine Scene hineln 
zu ſchauen, wo der Herr vom Himmel in einer Berlafienheit und 
Ohnmacht erjcheint, die Ihn den elendeften unter den Elenden gleich 
ftellt, Weberdies weiß ich, daß ihr, fo oft wir dieſer Opferftätte nahen, 
zu euerm Prediger die Erwartung hegt, daß er in Ziefen euch einweihe, 
an deren Abhange ihn felber fchwindelt; daß er euch Nüthfel Löfe, am 
deren völliger Entzifferung dieffeitö der Ewigkeit ex von vornherein vers 
zweifeln muß; daß er Geheimmifje euch deute, nach deren Entfiegelung 
feine eigene Seele vergebens ſchmachtet, und Schleier hebe, die ſich 
ihm, je öfter er fie zu lüften verfucht, nur um fo mehr zu verdichten 
fcheinen. Aber das Evangelium legte uns einmal die geheimmißvolle 
Geſchichte zur Betrachtung vor, und fo muͤſſen wir in deren heiliges 


208 Dab Heilige. 

Dunkel hinein, und zu erfaffen fuchen, was in ihr menfchlicher Erfaſ⸗ 
fung fi) bequemt. Und ift deffen auch nur äußerſt wenig, fo ift die 
ſes Wenige doch Gottlob! gerade das Weſentlichere ımd der Kern 
der Gefchichte. Dringen wir denn in Hoffnung auf das Geleit des 
heil. Geiftes zu dieſem Kerne Durch, und reden mit einander zuerft von 
der Bedeutung und dann von der Frucht der Delbergsleiden, 


1. 


Die Gethfemane’sgefchichte ift uns mit ihren einzelnen Schauerfcenen 
gegenwärtig, Sind wir nicht befugt, Stellung und Berrichtung, im 
‚der uns der Heiland dort begegnet, als eine ganz außergewöhn- 
liche, übermenfchlidhe und einzigartige uns zu denken, fo 
Ichließe man doch die Pforte jenes verhängnißvollen Gartens zu, und 
entziehe den Heiligen Iſraels, wenn man feine und feines Baters 
Ehre retten will, den Bliden der Welt. Haben wird am Delberge 
mit Jeſu nur als mit. einem Propheten zu thun, fo erleidet fein 
Prophetenthum dafelbft den vollftändigften Schiffbruch, indem dann der 
Annahme nicht mehr zu wehren ift, daß er felbft an feiner Lehre irre 
geworden fein, und für diefelbe zu fterben, den Muth verloren haben 
müſſe. Will er in Gethfemane nur als Vorbild einer unbedingten 
Gottergebung betrachtet fein, fo müſſen wir fagen, daß er diefen 
Iweck faum erreichte, da ein Stephanus, und wie mancher Blutzeuge 
fonft, in der legten Noth unendlich größer erfchienen, als der Zit- 
ternde dort mit dem Blutſchweiß, und dem Angftgebete, daß der Kelch 
an ihm vorübergehe. Gilt es, dort Jefum nur für einen Mann zu neh⸗ 
men, der mit feinem Beifpiele und die Wahrheit befiegeln wollte, daß 
Gott der Herr zur Stunde der Bedrängniß den Seinen mit feiner 
Hülfe und feinem Trofte am allernächften fei, fo drängt fich uns wie- 
der die Frage auf, wo folche beruhigende Thatſache dort zu Zage 
trete, da ja das grelle Gegentheil fi) erzeige, und der heilige Dul- 
der in Gottverlaffenheit verſchmachte? Wollte Er endlich in Gethfes 
mane als ein Zeuge jenes die Welt überwindenden Friedens gelten, 
der von dem Gerechten nimmer weiche, fondern in alle Nothftände 
ihn hineinbegleite, fo fehen wir uns felbft auch nach ſolchem Zeugniß 
dort vergebens um: denn ftatt Friede überfällt den Heiligen Gottes 
eine Angft, wie die Angft eines ſchuldbeladenen Miffethäters, 
macht ihn unftät und flüchtig, und gibt ihm das Anfehn eines ſogar 
von der Verzweiflung nicht mehr weit Entfernten. 


Gethfemane. 209 


. So müflen wir e8 denn in Gethfemane noch mit etwas weſentlich 
Anderem zu thun haben, als mit alle dem, was ich eben nannte, oder. 
Gethfemane ift das Grab der Herrlichkeit unfres Herm. Kämpfte er 
am Delberge ähnlichen Kampf nur, wie alle Blutzeugen des Himmels 
reichs vor und nad) ihm ihn gekämpft, fo find die Schüler über dem 
Meifter, und letzterer erfcheint durch jene tief verdunfelt. Aller Glaube 
an das Walten eines heiligen und gerechten Gotteswillens in der Welt 
ift zu einem Wahn geftempelt, falls wir an das Leiden Jeſu feinen 
andern Maßſtab, als den eines gewöhnlichen Prüfungs - und Läu⸗ 
terungsleidens legen dürfen. Es fhürzt der Himmel ein, die Ordnung. 
göttlicher Weltregierung fteht vernichtet, und um das Chriſtenthum 
iſtss für immer gefchehn, wenn die heilige Schrift uns etwa nöthigt, 
Jeſu Keldy dem Wefen nad) dem Kelche eines Hiob, Jeremias, Paulus 
und Anderer gleich zu achten. 

Aber wife, Daß der Delbergs-Kämpfer in unfern Augen durch fein 
Zittern und Zagen nichts verliert. Bis zu welchem Grade er auch die 
Zaffıng verloren zu haben fcheint, wir werden darum an ihm nicht 
irre. Uns fößt es nicht, daß wir ihn mit der Heftigfeit eines außer 
ſich ſelbſt Gefegten von feinen Züngern fich Iosreigen fehn, und dann 
zum Staube hingefunfen ihn wimmern hören: „Meine Seele ift bes 
trübt bis in den Tod!“ Gelbft fein dreimal angftvoll hingefeufztes: 
„Vater, iſt's möglich, fo überhebe mich diefes Kelches;“ und feine Zus 
fluhtnahme zu den ſchwachen Juͤngern, fowie fein Gefuch an fie, daß 
fie nur eine Stunde zu feinem Zrofte mit ihm wachen möchten; ja 
fogar der blutige Angſtſchweiß, der aus feinen Adern quillt, umd 
tropfenweife von feiner heiligen Stim zum Staube niederthaut; — 
in welche Beftürzung dieſes Alles uns auch verfeßen mag, welche 
Trauer es über unfre Seele hereinführt, wie bis in's innerfte Mark 
es uns erfchüttert: zum Aergerniß gereicht es uns nicht, und läßt 
uns an unferm Glauben nicht Schiffbruch Teiden. Laut aufſchluchzen 
möchten wir beim Anblick folcher Erniedrigung des Schönften der Men⸗ 
ſchenkinder; aber nicht fchütteln wir bedenklich das Haupt, noch fchreien 
wir, an jeder Löfung verzagend: „Hier ift ein Labyrinth; wer zeigt 
den Ausweg?!" Wir Iaffen foldhe Sprache denen, die an einen 
Gottmenſchen, an die Nothwendigfeit eines Mittlerthums, umd 
am eine Stellvertretung des Bürgen für die Sünder nicht glaus 
ben mögen. Daß dieſe hier im Zinftern tappen, und ihr Chriſten⸗ 
thum an den Klippen des Delbergs-Evangeliums ‚zerfchellen fehn, tft 

14 


210 Das Heilige. 


begreiflih. Uns leuchten helle Sterne über dem Dunkel Gethſemane's. 
Wir befipen den Schlüffel zu den Geheimniffen und Tiefen ſeiner 
Schauer. „Und diefer Schlüffel wäre?” — Das in den mannigfel- 
tigften Ausdrucdsformen die ganze heilige Schrift Durchtönende Offen- 
barungdwort: „Gott hat den, der von feiner Sünde wußte, 
für uns (d. i. an unſrer Statt,) zur Sünde gemadt, auf daß 
wir in ihm würden die Gerechtigkeit Gottes.” Go lange die 
Mittlerftellung Zefu verfannt wird, bleibt die Begebenheit Gethſe⸗ 
mane's ein tiefverfiegeltes Geheimniß. Alle Berfuche, Die Delbergs- 
paffion anders, als durch den großen evangelifchen Grumdartifel von 
feiner hohenpriefterlichen Vertretung zu erflären, find gefcheitert, und 
‚werden ewig fcheitern. Nur beim Scheine der heiligen Zadel, welche 
der Geift der Wahrheit in jenem Artifel uns angezündet, wird in je 
nem erfchütternden Ereigniß Alles licht und Mar. Die fchreiendften 
Gegenſätze gleichen fi) aus, und das Befremdlichfte und fcheinbar 
Unbegreiflichfte Löft fi und erfcheint volllommen in der Ordnung. 
Es will der göttliche Dulder in Gethfemane nicht als das, was er 
iſt an und für fi, fondern in feinen geheimnißvollen Beziehungen zu 
dem Gefchlechte der Sünder erfaßt und gewürdigt fein. Ex tritt hier 
auf als „andrer Adam”, als der Vertreter der dem Fluch vers 
fallenen Welt, al8 der Bürge, „auf welden Gott“, nad) des 
Propheten Ausdrud, „alle unfre Sünden warf.” Bernehmet: 
drei Urſachen liegen dem Seelenleiden Jeſu zu Grunde, und Die 
eine ift jchauriger, als ‚die andre, 

Es ift jene Marter zuvörderſt Sündengrauen, Entfeßen über 
den Greuel unjrer Miffethat, Bußkampf. Die Uebertretungen, wel 
he ihm göttlich „zugerechnet“ find, auf daß er fie flellvertretend 
büße, Drängen ſich in grellfter Beleuchtung in feinen Geſichtskreis. 
Er jchaut fie; aber anders, als in feiner Verbüfterung ein Menfd 
fie fieht. In ihrer nadten, ungefchminkten Geftalt, in ihrer unfäglich 
verabfcheuungsmwürdigen Natur, in ihrer bis in die Ewigkeit hinein 
verwüftenden Kraft treten fle vor fein heilige8 Auge. Er fieht in der 
Sünde den Abfall von dem allmächtigen Gott, die fredhe Auflehnung 
gegen die ewige Majeftät, die wüfte Empörung gegen Gottes Willen 
und Gefeß, und überfchaut zugleich in einem Blicke alle Die entfeß- 
lichen Früchte und Ausgeburten der Sinde un Fluch, im Zude und 
in der endlufen Berdammniß. Wie, daß die reine Jeſusſeele ſolchem 
Geſichte gegenüber nicht hätte erzittern, wie, daß nicht ein namenlos 


Gethſemane 211 


ſer Abſchen und ein Schauder fie hätte ergreifen ſollen, von welchem 
wir, Die mit der Sünde fo tief verwachſenen Menfchenkinder, faum eine 
Ahnung baden? Man denke nur: die perjönliche Heiligfeit ſelbſt mits 
ten in den Pfuhl des Weltwerderbens hineingeftellt! Läßt ſich's nicht 
denfen, wie der vom Vater Ihm zugefendete fündenreine Himmelshote 
nur ſchweigend in einen fo grauenvollen Anfchauungsfreis herein 
zu treten brauchte, um den Herrn fchon durch fein bloßes Erfcheinen 
hoch zu erlaben und zu erquiden? — Doch verhehlen wird uns nicht, 
daß Jeſu Zittern und Jagen am Delberg immer noch ein unauflösbares 
Räthiel bliebe, wenn wir Ihn uns nicht in einem noch nähern Vers 
haältniß zu unfern Sünden, als dasjenige einer bloßen Anſchauung 
und Dergegenwärtigung ift, vorftellen dürften, Aber wir Dürfen dies 
nicht nur, fondern werden fogar Durch die Schrift dazu genöthigt. 
Mit Recht zwar behauptet man, daß der Erlöfer ftellvertretend die uns 
zuerfannte Strafe nur dann habe zu erleiden vermocht, wenn er auch 
ein Gewiſſen von unfern Sünden hätte haben können. Das perſoöͤn⸗ 
fihe Schuldbewußtfein, diefer Wurm im Marl des Lebens, macht 
allerdings erft die Strafe zur Strafe, und bildet deren eigentliches 
Weſen und innerften brennenden Kernpunkt. Glaubt man mın aber, 
die Lehre von der Genugthuung Ehrifti aus dem Grunde beftreiten 
zu können, weil Ehriftus ein Heiliger gewefen, und es fomit widers 
fprechend und unmöglich fei, daß er in feinem Innern gleich einem 
Mebertreter das Verdammungsurtheil des Geſetzes habe empfinden koͤn⸗ 
nen, fo macht man fich mindeftens eines fehr voreiligen und vermeſſe⸗ 
nen Berfahrens ſchuldig. Dan läßt dabei die übernatürliche und ges 
heimnißvolle Einigung außer Acht, in welche der Gottmenfch als der 
andre Adam und unfer Haupt mit und einging, und vermöge Deren 
er zwar nicht unfere Sündigleit, — er blieb der Mafellofe nach 
wie vor, — wohl aber unfer Schuldgefühl fammt deſſen Schreden 
in fih aufnahm. Ihr fragt befremdet, wie dies thunlich gewefen fei? 
Es findet fih, allerdings nur entfernt, Entfprechendes felbft in uns 
fern eignen menfchlichen Berhältniffen und Zufländen. Schon natärs 
liche Liebe und Verbrüderung find im Stande, Sympathieen zu 
begründen, vermöge deren, frei von allem egoiftifchen Beweggrund, ein 
Bater feines Sohnes, ein Freund feines Freundes DVergehungen und 
Fehle dergeftalt fi „gu Gemüthe ziehen“ kann, daß er Darunter wie 
unter eigenen trauern, fenfzen, ja zerfnirfchten Herzens ſich beugen, 
und mit Gott um Gnade ringen muß. Vergegenwaͤrtigt euch nun, wenn 
14 


212 Te Greg. 


üp’o vermägs, abieben? und ven feiner willen Berpieberm mi 
dem Geihleht ter Sünder, die Enerzie Der Siehe ud des *8 
fübls, weit Chriſtus in und mud unire Juitinde ſich werienfie; nd 

es wird euerm Beariit ichen niler Ireten, wie Gr, obwol der Heilig 
in Ach, unite aa ai — 


der ad 
neh auf einem andern um? intimeren Wege, als auf dem einer bie? 
gegenſtaͤndlichen Bergegemwärtiauma, ımier Schultbewußtiein ih eu⸗ 
eignete. Ihr werdet es mm fañen, wie er ichen im den meſſiauiſchen 
Palmen ausrıfen konnte: „Meine Sünden baben mid ergriffen; 
meine Miñnſetbaten geben mir über mein Haupt. Ich verfinfe im tie 
fen Schlamm, da fein Gnmd it. Errene mich aus dem Kotb, da 
ich nicht verfinke.“ It es ums uber geſtattet, wie es dies wirllich 
iſt, der Vorftellung Raum zu geben, daß der beilige, nur in der Liebe 
Gottes athmende Jeius nicht etwa in einem düften Traume nut, 
in welchem aud) wir zu Zeiten unter einer fremden Schuld, wie unter 
einer eignen bis zu einem Angſtſchweiß erichudern können, ſondern 
real mit unfem Sünden in eine je nabe Berbindung eingegangen 
fei; wie kann uns dann jein Derbalten am Oelberge noch irgend Bm 
der nehmen? Das Rütbiel jeines Grauens, Zitterns ımd Zagens iſt 
gelöft. Die Getbiemmednoth it nichts Anderes, als Sündennotb, 
Bußſchmerz, Erſchrecken vor der richterlihen Majeſtät des heili- 
gen Gottes, in unferm Namen erduldet, an unfrer Statt geichmedit 
und ausgefofte. Reue it es, umd zwar die Reue, die der Größe 
unfrer Sünde volllommen entipricht, und die Er priefterlich dem ewis 
gen Bater für uns darbringt. 

- Reben der Berabfcheuungswürdigfeit der Suͤnde empfindet der Herr 
der Sünde Fluch; und hierin erblidt ihr den zweiten Erkflärungss 
grumd für feine Delbergs-Schreden. Gr füblt fi) al8 einen Gerich- 
teten vor Gott. Was es heiße: von Gott gefchieden, feiner Huld 
serluftig, aus feiner Liebe entlaffen, und ein Kind des Zornes fein, 
das ſchmeckte er fo tief, fo innerlich, fo lebendig, als ob er felber in 
jenen: Lagen fich befände, Auf den Stufen folder Empfindungen fteigt 


Gethſemane. 212 


er hinunter in der Verdammten Noth, und in jene Hoͤllenſchauer, wo 
die Meſſiasklage des 22. Pſalms ihre wirkliche Erfüllung findet: „Set 
nicht ferne von mir, denn Angft ift nahe, und es ift bier fein Helfer. 
— Meine Kraft ift vertrodinet wie eine Scherbe, und meine Zunge 
Hebet an meinem Gaumen: und du legeft mich in des Todes Staub.“ 
— Zu dem Bewußtfein, daß Gott nach wie vor fein Vater fei, — 
wie Er dies denn auch wirklich war, und felbftredend auch nicht einen 
Augenblid dem Sohne feines Wohlgefallens in der That gezürnt hat, 
— vermag er durch die Fluth der gegentheiligen Eindrüde und Ems 
pfindungen nur mit dem nadten Glauben fich- hindurchzuringen, 
Seine Seele wird von der Gnadennähe Gottes nichts gewahr, fon 
dern ſchmeckt nur Angft und Bein der Verlaffenheit. Ach, Der Anblick 
des freundlichen Vaterangefichtes war fein Himmel, das Innewerden 
der väterlichen Huld feine ganze Seligkeit. Aber nım flieht er jenes 
in dunkle Wolfen verhüllt, und ftatt trauter Annäherung erfährt er 
nur ein fremdes Zurüdtreten feines Gottes. Es follte indeß auch 
dieſer bitterfte Tropfen des Fluchkelchs ihm nicht erlaffen fein, Damit 
das „Er lud auf fih unfre Schmerzen“ in weiteftem Umfange 
zur Erfüllung füme, Auch der Himmelsfriede feines Herzens gehörte 
mit zu den Dingen, die er als Loͤſegeld für unfre Seelen priefterlich 
opfern mußte. Wundert's euch drum noch, daß, als fein Leiden ſelbſt 
bis zu Diefer innern Beraubung fi fteigern follte, die Frage 
nad) der Möglichkeit des Vorübergangs des Kelches mit verftärkter 
Lebendigkeit fi) aus ihm losrang? 

Der dritte Grund der bittern Seelennoth des Herrn am Delberg 
ift in der gefallenen Geifterwelt zu fuchen. Daß der Satan bei deit 
Schrecken Gethſemane's fich weſentlich mitwirfend erzeigte, fteht außer 
Zweifel. Der Heiland felbft deutet darauf hin fowol mit den ängft 
lichen Worten: „Jetzt fommt der Fürft dieſer Welt; als mit 
der Eröffnung: „ Yebt ift die Macht der Finſterniß;“ und fein 
wiederholter Aufruf an die von unheimlicher Schlaftrunfenheit befalles 
nen Zünger: „Wachet und betet, daß ihr nit in Anfechtung 
fallet;“ läßt uns vollends darüber keinen Zweifel, in was für einer 
Umgebung und Atmofphäre. diefelben in jenen Momenten ſich befuns 
den. Die Mächte der Hölle find gegen den Herrn der Herrlichkeit 
losgelaffen. Es ift ihnen geftattet, alle ihre Xifl, Gewalt und Kunft 
wider ihn in's Feld zu ftellen. Keine Schranke tft ihnen mehr’ gezos 
gen; fein „Bis hieher und- nicht weiter!“ aus der Höhe ſteckt ihnen 


214 Das Heilige. 


Grenze mehr und Ziel. Sie haben offne, freie Bahn. Können fie 
Die gerechte Seele des Heiligen Iſtaels bis zur Verzweiflung treiben, 
fo mögen fie es thun. Vermögen fie bis zum Zode ibn zu aͤngſtigen 
und zu foltern, Niemand wehrt es ihnen; hier flieht Er. Sie mögen 
an ihm erproben, was fie lönnen. Kein Helfer ſteht ihm mitlämpfend 
zur Seite. Er muß felber zufehn, wie er fi behaupte. Entſetzlich 
ingt, was ich fage; aber der unfere Strafen tragen wollte, durfte 
auch dem Geſchicke nicht entgehn, den Gewalten des Abgrunds ſich 
preisgegeben zu fehn. Was Diefe mit ihm vorgenommen haben, 
wird uns nicht ausdrüdlich gemeldet; aber gewiß ift, daß fie ihm 
aufs fürchterlichfte zugefeßt, und bald mit Graufen erregenden Biflo- 
ven, die fie ihm vorgezaubert, bald mit empörenden Läfterımgen, in 
Denen fie fich vor ihm ergoſſen, bald mit lügenhaften Zuflüfterungen, 
Durch die fie ihm das Verhalten feines Baters gegen ihn zu verdaͤch⸗ 
tigen fi bemühten, bald mit verfänglichen Abmahnımgen von Dem 
Werke der Sünder-Erlöfung, dem er ſich unterzogen, oder womit fonft 
es war, ihn gefoltert haben, Genug, wenn je der Glaube unſres Herm, 
fowie ſejne Geduld, feine Treue und feine Beharrlichleit in dem übers 
nommenen Werke auf glühende Proben kamen, dann unter den Feuer 
pfeilen des Böfewichts, die in Gethfemane auf ihn eindrangen. Hier 
wurde die Meffinsklage des 18ten Pfalms eine Wahrheit: „Es um⸗ 
fingen mid) des Todes Bande, und die Bäche Belinls erfchredtten mid. 
— Bande umfingen mich, und Todesſchrecken haben mich über⸗ 
waͤltigt.“ 

So hat ſich denn die Nacht Gethſemane's, wenn auch dämmernd 
nur, vor uns gelichtet. Die Beziehung des Delbergsgartens zum 
Garten Eden, welcher Ießtere hier fein graufes Gegenbild ſindet, ift 
unverlennbar. Während im Paradiefe der erfle Adam fchuldios im 
Schooße der göttlichen Liebe ruhte, und friedfum, ald „Kind vom 
Haufe” mit Jehova und feinen heiligen Engeln verfehste, fehen wir 
im Garten Gethſemane den andern Adam unter erdrüdender Schul 
denlaſt zagend zu Boden finken, in Gottverlaffenheit verſchmachten, 
und in der Geſellſchaft finfterer Abgrundsgeifter zuſammenſchaudern. 
Wie deutlich ftellt ſichs in diefem Gegenſatz heraus, daß, was dort 
verbrochen, hier gebüßt, was Dort verfchuldet, hier bezahlt wird; und 
wie laut zeugt fomit die Gefchichte ſelbſt fhon für Die Wahrheit, 
daß Chriſtus im der Eigenfihaft eines genugthuenden Bürgen ah 
verſoͤhnenden Gtellpertseigre: gelitten habe. 


Gethſemane. 215 


2. 

Nachdem ſich uns das Geheimniß der Urſachen wie der Natur 
der Oelbergsleiden Jeſu, ſoweit es hienieden möglich iſt, erſchloſſen 
hat, gilt es jetzt, nach der Segensfrucht zu fragen, welche uns dar⸗ 
aus erwachſen iſt. Freilich iſt der Kampf in Gethſemane nicht in ſei⸗ 
ner Vereinzelung, ſondern nur in ſeiner unzertrennlichen Verbin⸗ 
dung mit dem Ganzen der Paſſion und des Prieſterwerkes Jeſu als 
Heil wirkend aufzufaſſen. Nichtsdeſtoweniger ſehen wir auf jeder ein⸗ 
zelnen Stufe der Marter Jeſu irgend eine beſondere Seite des 
erwirkten Heils in vorzugsweiſe helles Licht geſtellt; und je nachdem 
wir in der einen oder andern Rage uns befinden, und diefes oder jenes 
Zroftes bedürftig find, Iadet uns bald die eine, bald die andre Sta⸗ 
tion feiner Kreuzeöftraße mit befonderen Winken in ihre Friedens⸗ 
ſchatten. 

Nach Gethſemane zunächſt, geliebte Brüder, wenn es uns beklommen 
werden will in einer Welt, in der der Egoismus herrſcht, und, was 
noch von Liebe übrig ift, bis auf den legten Funken in ſelbſtiſchem 
Geſuch und Wefen auch noch zu verglimmen droht! Der Liebende, 
den wir Dort am Delberg für uns ringen fehen, bleibt uns; und wie 
it Er uns fo treu, fo innig und lauter zugethan! Welch' ein Preis, 
den er fih’8 hat koſten laſſen, um uns Unwürdige unferm Elende zu 
entheben, und uns für alle Ewigkeit zu bergen! — O Liebe des 
Blntbräutigams! Wie geht uns beim bloßen Anblid deiner Schöne 
ſchon das Herz auf, Wie iſt's beglüdend fchon, anfhauend und bes 
trachtend nur aus der liebenrmen Welt zu deinem Bilde flüchten! 
— Und nun gar in deinem Licht ſich ſonnen, in deinem Schooße 
ſich gebettet wiffen: o dieſe ftille Seligfeit im Thal der Wallfahrt, 
dDiefer Himmel auf Erden! — Liebe, ftärker denn der Tod, und fefter, 
denn die Hölle, entweidhe nimmer aus unferm Gefichtsfreis! Get du 
das Geſtirn, das Tag und Nacht uns Teuchte; und je ſchärfer in der 
Stemdlingsfchaft hienieden die Luft der Eigen ſucht uns anmeht, nm 
defto heller entfalte du vor unferm Geiftesauge Die holdfeligen Strah⸗ 
Ien deiner Himmelsfchönel — 

Nach Gethſemane, Freunde, wenn ſich's uns in Frage ftellen will, 
weſſen die Welt fei: ob Ehrifti, daß Er fie zum Tempel Gottes 
weihe, oder ob Fraft der Sünde umd des Verhängniffes göttlicher Ge⸗ 
sechtigfeit der finfteen Gewalten, durch dexen Liſt, Betrug und Macht 
fie maͤhlig einem gaͤnzlichen und ewigen Berberben ewsgegenueifet &s 


215 Das Heilige. 


find Zeiten über die Erde hingegangen, deren Thatfachen auch den 
Gläubigen eine freudige Bejahung der erftern jener Fragen fehr er: 
ſchwerten. Und ob nicht auch heute wieder Das Zepter der Weltherr- 
[haft mehr einem Andern, ald dem Könige der Wahrheit, ſich zuzu- 
neigen fcheine, überlaffe ich eurer Entfcheiding. Gewiß ift, Daß unter 
‚dem Lärm der augenblidlich vorherrſchenden gefellichaftlichen und reli- 
giöſen Tageslofungen nicht Wenigen wirklich wieder der Muth entfal- 
Ien, der Glaube wanken will. Seid etwa auch ihr von denen, die 
fi) der ängftlichen Frage nicht mehr erwehren können, ob nicht Ehriftus 
wirklich feiner fchlieglichen Entthbronung, Ehrifti Evangelium und 
Reich dem BVerfcehwinden von der Erde nahe fein? In dieſem Falle 
Tommt nad) Gethfemane, und Iernet hier wieder euer Haupt erheben! 
Hier feht ihr den enticheidenden Kampf um den Befiß der Welt ent: 
brannt. — Ehriftus ſoll fie. haben; aber es hat und behält fie ewig 
ein Andrer, wenn der Herr vom Himmel die Probe nicht befteht, fon- 
dern weich und wanfend wird in der Verfuchungshike. Doc fchaut, 
wie er fieggefrönt aus der Delbergichlacht hervorging, der Gottesheld! 
Richt einen Augenblick wich fein Heiliger Wille von der geraden 
Richtung auf das von Gott Gewollte ab; und hätte ihn der Rath⸗ 
ſchluß Gottes zur Welterlöfung in zehn Höllen flatt in eine binab- 
gewiefen, er hätte fich, fobald er e8 als Gottes Rath erkannte, un: 
weigerlih auch in fie hinabgeftürzt. So errang er fich Eraft feines 
untadelig vollbrachten Vertreterwerks den gegründetiten und ausfchließ- 
lichen Anfpruh auf die Welt. Ihm gehört fie; Ihm that der Va⸗ 
ter laut der Schrift alle Dinge unter feine Füße. Und ift dies, wie 
der Apoftel bemerkt, auch noch nicht offenbar, fo ift es doch eine 
Thatſache, die ſich vor feinem Widerfpruch zu fürchten braucht. Das 
Regiment des widerchriftifchen Geiftes, wie keck er feine Fahne auch 
entfalte, it nur Zwifchenherrfehaft. Still und geräufchlos, aber 
unglaublich ficher, verfolgt der rechtmäßige Erbe feinen Welteroberungs- 
plan. Wie manche Höhen, die fich wider ihn erhoben, warf er bereits 
Darnieder! Wie manche Befeftigungen, fcheinbar unbezwinglich wider 
Ihn aufgethürmt, fchlug Er in Trümmer! Er wird's aud) ferner thun, 
und auch die legten Schangen, die wider ihn aufgeworfen wurden, aus 
dem Wege zu räumen wiffen. Vor Seiner weltbeglüdenden Standarte 
werden heut oder morgen alle andern, welche Farben und Embleme 
fie tragen mögen, fi) neigen müffen, und für feinen legten Sieg liegt 
das Jubellied ſchon fertig im Archive Gottes, und es lautet: „Nun 


Gethſemane. 217 
find die Reiche dieſer Welt unſres Gottes und feines 
Ehriftus worden!“ 

Nach Gethfemane, Geliebte, wenn ihr am Scheidewege fteht, 
nicht wiffend, ob ihr euch Gott, oder der Sünde zu Dienft ergeben 
jollt! Gethſemane wird's euch wieder zu Harem Bewußtfein bringen, 
was Sünde ſei. Seht Jeſum an. Er that nicht Sünde, fondern 
übernahm nur fremde. Wie ergeht es ihm? „Seht ift Die Macht 
der Finfterniß,” fprach er. Er ift den Abgrundsmächten überwie- 
fen. Wie fallen fie über ihn ber! Wie foltern fie feine heilige Seele! 
— Gräßlihe Umgebung! — Namenlofe Schauer! — Aber wiffet, 
was Ihn für eine Weile nur gepeinigt, das droht euch ewig. — 
Denkt, ewig in die Gefellichaft, in die Gewalt und unter die Geis 
Bein der Höllenmächte gebannt fein! Gibt es einen gräßlichern Ges 
danken, als diefen? — Jeſus betet: „Laß diefen Kelch an mir 
vorübergehn!"” Keine Antwort wird ihm zu heil! — Er ringt 
die Hände: „Iſt's denn nicht möglich, Vater?“ — Sein Be 
fcheid tönt Ihm entgegen. — Gott achtet auf die Stimme dieſes 
Beters nicht; und Jeſus ift doch ein Schuldner nur für Andere, 
Ihr ſeid's, ein Jeglicher, für die eigene Perfon, und werdet einft 
um eurer ſelbſt willen dem Fluche verfallen. Und ob ihr mit dem 
reichen Manne im Evangelio wimmern werdet um einen fühlenden 
Tropfen für die brennende Zunge; Gott wird für euch fein Ohr, 
fein Herz mehr haben. Der Himmel ift über euch ehern; die Kluft 
zwifchen euch und den Seligen unüberfteiglih. — Seht Jeſum zas 
gen. Er fühlt den Stachel der Uebertretungen, die auf ihm laften, 
Nur zugerechnete Miffethaten find es, umd nicht eigne; und den⸗ 
noch prefien fie ihm den Blutfhweiß aus den Adern, und entzüns 
den ein verzehrend Feuer in feiner Bruſt. Schließt aus Seinen 
Marten, was einft euch die Sünde ausgebären wird, wenn fie, nur 
zu fpät, in ihrem wahren Weſen vor euerm Bewußtfein fich ent 
fhleiert, und dann jener Wurm in eurer Seele fein Gefchäft begimnt, 
der jeßt noch in euch fchlummert, oder nur je und dann in leiferem 
Nagen fein Dafein fundgibt; ich meine den Wurm der Reue, die 
feine Seligfeit mehr wirkt; den Wurm der hoffnungslofen Gewiſſens⸗ 
angft und der vollendeten Verzweiflung. Ad, wenn ihr dann heus 
fen werdet: „Hätte ich doch Dies und das gethan!“ wird's nicht mehr 
feommen, weil die kurze Gnadenfrift vergeudet ward, Wenn ihr nun 
ſelbſt voll peinigenden Erſtaunens über.euern Jergang bei Leibes Leben 


1 Das Heilige. 


die Hände zufammenfchlagt, wird's umſonſt fein; Denn das Heitlsjahr 
ift verfloffen. — Dem ringenden Heiland erfchien ein Engel, ihn zu 
ftärken. Ihr werdet nur das Hohngelächter der Zeufel hören. Jeſus 
ging aus dem Grauen flegreich und gekrönt hervor. Ihr werdet darin 
ftedden bleiben, und nur mit Dormen eines flechenden Höllenfpottes 
euch gekrönt erbliden. — Den Dulder Gethfemane's hielt der Glaube 
aufrecht, daß ihn troß dem und jenem der Vater dennoch liebe, Ihr 
werdet wifjen, daß Gott euch hafle, und Ihn wieder haffen, obwol 
ihr durch foldhen Haß euern Jammer nur vollenden werdet. Ihr 
werdet Blut darob ſchwitzen, daß Gott eud) von Seinem Angeficht ver- 
ftoßen habe, und Doch dem Ewigen nur fluchen koͤnnen, flatt euch vor 
Ihm zu beugen. — Seht, Dies trägt die Sinde aus. Wohlen, ihr 
Miffethäter, grobe oder feine, Spötter, Läfterer, Lügner, Fleiſches⸗ 
fnechte, Ehebrecher, Geizige, Egoiften, Verächter Gottes, Verleugner 
Jeſu, Verſchmaͤher feines Heils: Schaut's an dem, der ein Fluch ge 
worden für fein Voll, wie Gott der Herr die Sünde anfleht, und 
was für die Sünder die Ewigkeit in ihrem Schooße trägt! Wenn 
Solches irgendwo zur Erfcheinung kommt, dann in Gethſemane. Hie⸗ 
ber denn, wer noch am Scheidewege ſchwankt! Hier, denke ich, wird 
die Wahl nicht ſchwer. Links gähnt der Abgrund; rechts winkt die 
Krone! Die Sünde gebiert den Tod; der Gerechtigkeit Frucht if 
Sriede und Leben! — 

Hört femer! Nach Gethſemane, Brüder, wenn Feuerzeichen nahen⸗ 
der Gerichte am Horizont der Erde Teuchten! — Mich dunkt, an fels 
hen Zeichen ift fein Mangel mehr. Jener Adler mit den drei- 
fahen Weheruf, den Johannes fah, Treift über unſern Häuptern. 
Dumpfes Bangen erfüllt Millionen Herzen, und der Freude ſtockt je 
länger je mehr der Athen. Wetter des Feuereifers Gottes brüten in 
der Luft. Und iſt's ein Wunder, wenn endlich der Sonuenfchein der 
Langmuth ſich verfinftert? Eine Lange, lange Gnadenfriſt flieht ver- 
Hagend wider und vor Gottes Thron, und nennt als die Früͤchte, 
welche unjer Gejchlecht unter dem „Stabe Sanft“ getragen habe, unfern 
Undank für die empfangenen Segnungen, unfern Abfall vom Evang 
lium, unfre Gottvergeffenheit, und unfern Leichtfinn, und was Alles 
fonft noch! — Ach Herr, gehe wit deinen Knechten und deinen Maͤg⸗ 
den nicht in's Gericht! — Doch, voll, fo ſcheint's, iſt die Miſſethat 
der Amoriter. Es fuche fich zu bergen, wer kann; und wer könnte 
nicht, wenn ex nur wollte. — „Aber wohin?“ — Nach Gethfemume, 


Gethſemane 219 


Brüder! Da erblidt ihr das Gotteslanm, das der Welt Sünde trägt. 
„Serufalem”, fprach er einſt, „wie oft habe ich dich verfammeln wol 
Ien, wie eine Henne ihre Küchlein verfammelt unter ihre Zlügel; aber 
ihr wolltet nidhtl* — Er fpricht Aehnliches heute auch zu ung. Ach, 
dag nur der Schluß jener Worte uns nicht treifel ‘Daß wir Doch 
„wollten“ und bedächten, was zu unferm Frieden dient] Kommt zu 
Ihm! Ber an Ihn glaubt," wird nicht gerichtet. Was Dir genom⸗ 
men würde, bift du Jeſu eigen, fo bleibt dir Gott. Ob du von 
der Erde verfioßen würdeft, was wäre e8? Der Himmel bleibt dir; 
ihn ann dir Niemand rauben. — Unter Jeſu Flügeln ift die Frei⸗ 
ſtatt, in welche feine verderbende Gewalt mehr eindringt. Hier ums 
zudt Dich fein Blig der göttlichen Gerechtigkeit; hier ift den Feuers 
pfeilen des Böfewichts ihr tödtlich Gift entzogen; hier verklärt fich, 
was die Welt als Strafe trifft, in heilſame und treu gemeinte 
Züchtigung; uud wenn da Draußen der Berzweiflungsruf erfchallt: 
„Zr Berge, fullet über uns, und ihr Hügel, bededet uns;“ fo bes 
feligt hier das wohlbegründete friedfame Bewußtſein, daß Der, wel 
her auf des Himmels Wollen baherfährt, um einem Jeglichen zu ges 
ben nach feinen Werken, derfelbe fei, der, nachdem er und entfündigte, 
in deu Schmud feiner eignen Gerechtigkeit uns hüllte, und unfer 
Freund und Bruder wurde, 

Nah Gethſemane endlih, wenn der Sturm der Anfechtung uns 
umwbrauft, und der Satan umbergeht wie ein brüllender Xöwe, und 
fucht, wen es verfchlinge, Schon if} er auf dem Plan, der Böfewicht, 
Seine Geſchoſſe umſchwirren uns won allen Seiten. Gefährliche Tage, 
in denen wir ftehn: diefe Tage des großen Abfalls, des fräftigen Irr⸗ 
thums, und taufendfältiger Verlodung zur Verleugnung Gottes und 
feiner Ordnungen, Rechte und Gebote. Wie Wenige find es, die von 
dem Strome des herrfchenden Zeitgeiftes nicht mit fortgeriffen werden; 
md wie viel Glaubensfchwäche, Geiftesiahmbeit, Friedensarmuth und 
Entmuthigung gibt fich felbft in den Kreifen der Gläubigen, der From⸗ 
men, kund! Wie vermehren fich hier die Klagen über innere Berdunfes 
fung, in der man fich befinde, über Zweifel, von welchen man geängftigt 
werde, über Täfterliche Gedanken und Phantafien, deren man fich nicht 
entfchlagen könne! Lauter Zeichen, DaB der alte böfe Feind es jet gar 
ernftlich meint, und wie die Schrift fagt, „einen großen Zorn“ hat, 
Drum, wer ſich geborgen fehn will, trage fein Zelt nach Gethſemane! 
Richt allein begegnen wir hier einem Genofien unfrer Kämpfe, ber 


220 Das Heilige. 


ms den Weg zum Siege zeigt; nicht allein tönt hier ermunternd der 
Allarmruf uns an: „Wachet und betet, daß ihr nicht in An— 
fehtung fallet;” hier erneuert fi) uns zugleih, wie faum irgend 
fonft wo, das Bewußtfein, daß „der Fürft diefer Welt gerich- 
tet iſt,“ daß jeder Rechtsanſpruch der Hölle an uns erlofch, und, 
was der Arge wider unſern Willen noch Greuliches in Einfällen oder 
Bildern durch unfre Seele jagt, auf feinen Kopf fommt, und nicht 
auf den unfern mehr, indem es für die Bußfertigen länaft in dem 
Blutfchweiße Immanuels feine Sühne fand, und nach Gottes Willen 
für und nur eine läuternde Wirkung haben darf. Diefer Glaube 
aber ift der Sieg, der den Abgrundsfürften fhon überwunden hat. 


Seht denn, wie Gethfemane, im rechten Lichte angefchaut, für ums 
zum Elim, die Oelbergsſchlucht mit ihren Schauern zum ftillen Frie⸗ 
densgrunde fich verflärt, Innerhalb dieſes Geheges ift wirffich Ber- 
gung vor dem richterlichen „Adam, wo bift du?” In diefem Garten 
fprudelt die nie mehr verfiegende Quelle der neuen Paradiefesftröme. 
Wie viele Taufende geängfteter Seelen gingen hier aus dem Kampf: 
gewühl der Welt fchon in die Sabbathruhe Gottes ein! Auch ung 
ftehn die Pforten diefer heiligen Freiftatt offen. Kommt, treten wir 
ehrerbietig in diefelbe ein, und athmen wir ihre Friedenslüftel O füßer 
Trank, womit der Kelch der Bitterfeiten, den Jeſus leerte, jegt für 
uns gefüllt iſt! Wohlauf, trinken wir durch den Glauben feinen 
Himmelswein mit vollen Zügen, und lernen wir in feliger Erfahrung 
mit dem Sänger fprechen: 


D Herr, Du haft au meinen Frieden 
Geſucht in jener finftern Nacht; 

Du Haft, von Allen abgeſchieden, 

Für mid gebetet und gewagt. 

Wie ſollt' ich nicht daran gedenken, 
Und aller Orten, wo ih geb’, 

Die Biide meiner Augen lenken 
Hinuͤber nad) Gethfemane? — Amen. 


Der UNeberſal 221 
XIX. 
Der’ Ueberfall. 


„Führe uns nidht in Verſuchung!“ lehrt uns der Herr Malth. 
6, 13 beten. Es hat ſchon Mancher ſtutzend vor dieſer Bitte geſtan⸗ 
den, weil er fie nicht ſogleich mit dem Worte des Apoſtels Jakobus 
in Cintlang zu bringen wußte, daß Gott, wie er ſelber unverſuchbar 
ſei, auchh RNiemanden zum Böſen verſuchen koͤnne. Und allerdings 
iſt die Sache damit nicht abgethan, daß man die Bitte willkürlich in 
ein „Laß uns der Verſuchung nicht erliegen, ſondern errette uns aus 
derſelben,“ hinüberdeutet. Die folgende Bitte enthält die ſen Ge⸗ 
danken, möge nun unter dem „Böſen“ das Uebel, oder der Urhe⸗ 
ber deſſelben, der Teufel, verſtanden werden. Gewiß war es nicht 
die Abſicht des Herrn, und zum Hinwegbitten aller und jeder Prüs 
fung anzuleiten. Die Anfechtung ift zu unferm Wachsthum am innern 
Leben unentbehrlich. Im Ziegel der Zrübfal werden „die Kinder Levi 
geläutert wie das Silber." Was und den Sinn der fraglichen Bitte 
verdunkelt, ift das Wörtlein „führe“, welche allerdings theils auf 
Gott den Schein wirft, als könne er und auf glatte Steige leiten, das 
mit wir ftrauchelten, theils zu der Frage reizt, ob denn dem himmli⸗ 
fhen Vater eins der wefentlichften Erziehungsmittel für und aus der 
Hand genommen werden folle. Doch wiffet, wenn unfere Ueberfeßung 
das grundtextliche Wort flatt mit „führe“, buchftäblicher und richtiger 
mit „gib“ oder „fchleudre nicht hinein“ verdolmetfcht hätte, fo wäre 
allen Scrupeln von vornherein vorgebeugt gewefen. Gott, dem Hei 
figen und Gerechten, fteht es volllommen zu, uns Sünder in einem 
richterlichen Alte allen Anfechtungen und Ueberfällen der höllifchen 
Mächte hülflos zu überlaffen. Nun lehrt aber der Herr und den 
Bater darum anflehn, daß er von diefem feinem Nechte abftehn, und 
mit folhem Gerichte und gnädig verfchonen wolle. Nimmermehr 
aber würde er uns zu folcher Bitte angeleitet haben, gölte es, Gott 
damit einen Alt reiner Willkür zugumuthen. Das Geſuch, zu dem 
er und ermuthigt, hat zu feiner Borausfegung und zu feinem Grunde 
die große und geheimnißvolle Thatfache, daß er, Ehriftus, ſich 


222 Das Heilige. 


felbft am unfrer Stelle von der ridhterlichen Gerechtigkeit Gottes als 
len Berfuchungsflammen beiftandslos überweifen Tieß. — Kommt, 
Geliebte, und feten wir auf8 neue Zeugen, wie der Herr Sefus die 
tiefe und unmandelbare Grundvefte legt, auf welcher fußend wir jeßt 
unfer: „Gib uns nicht hinein in die Verſuchung!“ fpre 
hen dürfen. Werden wir aber zugleich zu unferer Warnung an dem 
Exempel des verlorenen Süngers uns bewußt, daß troß der geleifte- 
ten Genugthuung Ehrifti die Möglichkeit, von Gott richterlich in Die 
Derfuhung hingegeben zu werden, nad) wie vor fortbeftehel — 


Matthäus 26, 47. Marcus 14, 43. Ich. 18, 2—9. 


Und alsbald, ba er noch redete, fiehe, da kam Judas, ber Zwoͤlſen einer, (da er 
zu ſich genommen hatte die Schaar, und der Hohenpriefter und Pharifäer Diener) 
und mit ihm eine große Schear mit Schwertern und mit Stangen, mit Fadeln, und 
Lampen und mit Waffen, von ben Hobenprieftern und Schriftgelehrten und Aelteſten 
des Bolt. Und Judas ging vor ihnen ber. Als nun Iefus wußte Alles, was ihm 
begegnen follte, ging er hinaus und ſprach zu ihnen: Wen ſuchet ihr? Sie antwor⸗ 
teten ihm: Iefum von Nazareth. Jeſus fpricht zu ihnen: Ich bin'ß! Judas aber, 
der ihn verrieth, and auch dei ihnen. Als nun Iefus zu ihnen ſprach: Ich biurt, 
wichen fie zurüd, und fielen zu Boden. Da fragte er fie abermald: Wen fnchet ihr? 
Sie aber fprahen: Jeſum von Razareth. Jeſus antwortete: Ich babe es euch ge⸗ 
fast, daß ih es fei; ſuchet ihr denn mich, fo laſſet diefe gehn, auf daß das Wort er- 
hr würde, welches er fagte: Ich babe derer feinen verloren, bie du mir gegeben 


Aus feinem Seelenfampfe fiegreich hervorgegangen, gürtet ſich der 
göttliche Dulder, den Domenpfad feiner leiblichen Zräbfal anzu⸗ 
treten. Bon vornherein haben wir nun feftzuhalten, daß unter dem 
änßeren Leiden nicht nur das innere fortgeht, fondern jenes überhaupt 
nur als ein in die Erfcheinung tretender Reflex ungleich wefentlicherer 
verborgener Zuftände und Lagen aufzufaffen tft. Seine Gefangen- 
nehmung, feine Abführung vor die Schranken des Gerichts, feine Bers 
urtheilung durch den hohen Rath, fein Gang zum Bintgerüfte u. |. w.; 
e3 find nur ſymboliſche Abjchattungen unendlich erheblicherer Vorgänge, 
die hinter den Schleiern in dem Berhältniffe des Mittlerd zu Gott, 
dem Richter der Lebendigen und der Todten fich ereignen. Wer aus 
dieſem Gefihtspunkte die einzelnen Paffionsfcenen nicht anzufchauen 
verfteht, durchdringt diefelben nicht, und wird ftih in dem Irrgewinde 
der Leidensgefchichte nimmer zurecht zu finden wiſſen. 


Der Ueberſal 238 


Bir treffen den Herrn heute feinen Verräthern und Haͤſchern ge 
genüber, und ſehen uns Anlaß geboten, zuerft die Dypferbereitfnaft 
des Sünderbürgen, dann die Majeftät des Sohnes Gottes, 
und endlich die Treue des auten Hirten in Ihm anzubeten. 

Neige der Geift der Wahrheit ſich zu uns nieder, und dente ex 
uns die Geheimfchrift unferes Textes! — 


1. 

Roch umgrant uns jene verhängnißpolle Nacht, von der für tan⸗ 
fende der unferen noch heute gilt, was damals ber Here mit warnen⸗ 
dem Ernſte zu feinen Jüngern fagte: „In Diefer Nacht werdet ihr euch 
alle an mir ärgern!” Eben erft hat der Heiland fi) vom Stanbe 
aufgerichtet, als ſchon wieder eine neue Schredensfcene ſich vorbes 
reitet. Ehe man ſich's verfieht, leuchten im düftern Buſchwerk des 
Thalgrundes Laternen und Fackeln auf, uud, hinfchleichend am Ufer 
des Kidrons, nähert fi, einer tüdifchen Riefenfchlange gleich, eine 
mit Schwertem, Stangen und Knütteln bewaffnete Meutererbande, 
Was diefelbe im Schilde führt, wißt ihr. Die gewaltige Rüftung, 
in die fie ſich geworfen, ift theils Maske mur, durch welche die 
Sache den Schein gewinnen fol, als fahnde man auf einen gefaͤhr⸗ 
lihen Empoͤrer und Rebellen; theils verräth fich in ihr eine die 
Widerfacher wirklich begleitende geheimnißoolle Furcht und Sorge, 
fie möchten am Ende doch, fie wiſſen ſelbſt nicht, auf was für eine, 
unvorhergefehene Gegen wehr ftoßen, Die beim Vollmondſcheine 
fo überflüffigen Fackeln und Laternen beleuchten ebenfalls nur die Ges 
wiffensfchauer, von denen ihr Inneres erfüllt tft. Zugleich aber mode 
ten die Feinde damit, wider ihre befiere Ueberzeugung, die erheuchelte 
Kundgebung bezweden, e8 werde der zu Verhaftende als ein nunmehr 
wohl felbft an feiner Sache Berzagender, mır in Schlupfwinteln 
und Verſtecken aufzufuchen fein. Kaum je ging irgendwo mit fo 
viel teuflifcher Bosheit, Gemeinheit und Tücke fo viel innere Gefhlas 
genheit, Feigheit und Ohnmacht verpaart, als fie in dieſer Mörder 
horde uns begegnet. Eine rechte Höllenbande iffs, mit der wire 
bier zu thun haben; die Leibwacht des Satans! — 

Laffen wir es uns nicht verdrießen, Diefelbe etwas näher zu muftern, 
Zuerft erbliden wir hier die Priefter, die Pfleger des Heiligthums. 
Was haben fe wider Jefum? Dies, dag er ihnen ihre flolgen Herr⸗ 
ſcherſitze untergräbt, die angemaßte falfche Glorie ihnen abftreift, das 
Tyrannenzepter fiber die Gewiſſen des armen Volles ihnen aus den 


224 Das Heilige.. 


Händen windet, ihre. weichen Pfühle umftürzt, Die Renten und Zehn⸗ 
ten ihnen fchmälert, und ihnen die Zumuthung macht, fi) mit erlö- 
fungsbedürftigen Zöllnern und Sündern in gleiche Reihe zu ftellen. 
Diefes Alles daͤuchte den hochmüthigen und herrichfüchtigen Mam⸗ 
monsdienern unerträglich, und eben daher ihre Erbitterung gegen den 
Herrn der Herrlichkeit; und daher aud) der Haß unzähliger unferer 
Zeitgenoffen gegen Jeſum. Alle Ehriftusfeindfchaft ift bei Licht 
befehn nichts, als das ſich Bäumen des Leviathans der ftolgen, eigen- 
gerechten, dem Dienfte der Welt ergebenen Menfchennatur gegen ein 
Wort, welches Selbftverleugnung und Kreuzigung des Zleifches fammt 
Lüften und Begierden an die Spibe feiner Forderungen ftellt. — Re 
ben den Prieftern gewahren wir die Pharifäer, diefe blinden Leiter 
der Blinden, die Repräfentanten der wahnwißigen Einbildung auf ei⸗ 
genes Verdienft, und. daher auch des Widerwillens gegen eine Lehre, 
die, wie fie jeden Menfchen zum Delinquenten ftempelt, nur eine Se⸗ 
figfeit aus Gnaden in Ausficht ftellt, und auch dem Frömmſten als 
Begenftand feines Rühmens vor Gott lediglich eine freigefchenkte, fremde 
Gerechtigkeit übrig läßt, Wie begreiflich, daß ſich dieſe Menfchen an 
einem Meifter ärgerten, der die „Wiedergeburt“ zur Lebensbedin- 
gung für Alle erhob, und der, wie er in feine Fahne die Lofung fchrieb: 
„Des Menfchen Sohn ift nicht gefommen, daB er ihm dienen laffe, fons 
dern daß er diene;” ſo den Seinen eröffnete, er „heilige fich felbft für 
fie,’ und laut in die Welt hinaus rief: „Ich bin der Weg, die Wahr: 
beit und das Leben; Niemand kommt zum Vater, denn durch mich!“ 
Doch gehn wir in ung felbft, und fragen und, ob es, fo lange der Geift 
unfere FZinfterniß nicht erhellte, auch uns behage, Daß wir Nichts fein 
follen, die Gnade aber Alles? Ob es uns beffer, als jenen Söhnen 
Gamalield munde, unfere Rechtfertigung vor Gott ausfchlieglih auf 
das Blut des Lammes gegründet zu fehn, und wir uns darum von 
Natur an dem Friedensfürften minder ärgern, als jene? — Id) zweifle, 
daß diefe Frage fich zu unfern Gunften entfcheiden werde. Von Haus 
aus wohnt in uns Allen der Phariſäer. — In den Schriftge⸗ 
lehrten, welche in dritter Stelle die Rotte bilden, prägt ſich neben 
der geiftlichen Herrfchfucht der Weisheitsdpünfel aus. Was Wun- 
der, daß ſich auch Diefe unter den Verſchworenen wider Jeſum be= 
treffen laffen? Ihnen, den eigentlichen Gelehrten des Volkes, wurde 
zugemuthet, fich wieder mit dem Volke auf die Schülerbanf, umd 
zwar zu den Füßen dieſes Rabbi von Nazareth herabzulafien! Sie 


Der Ueberjall. 225 


follten dies, die Meifter Ifraels, die angeſtaunt und bewundert zu des 
Volles Häupten fagen! Wie hätte ſolch' Anfinnen die eingebildes 
ten Herren anders, als aufs Außerfte entrüften und empören können? 
Blieb aber nicht bis heute des Herrn Spruch in Kraft: „Den Klugen 
iſts verborgen; und nicht minder des Apoftels: „Nicht viele Weiſe 
nach dem Fleiſche find erwählt?” Bei den Schriftgelehrten kam 
zu der allgemeinen Abneigung gegen Jefum, wie fie jedem von dem 
angeſtammten Dunkel nod nicht genefenen Menfchenherzen eigen ift, 
noch der verhaltene Verdruß über die zahlreichen Niederlagen und Bes 
ſchaͤmungen hinzu, die fie, fo oft fie mit Jefu anzubinden gewagt, Ans 
gefichts des Volls erlitten hatten. Wie ſiegreich hatte Er fie jedes; 
mal aus dem Felde gefhlagen! Wie die Verſchmitzten in ihrer Klug⸗ 
beit erhaſcht! Wie mit Denfelben Sclingen, die fie Ihm gelegt, 
fie gefangen zu nehmen, fie damn öffentlich zur Schau zu ftellen und 
im Zriumphe aufzuführen gewußt! Dies aber war e8 eben, was fie 
Ihm nicht mehr vergeben konnten. Und nachdem ihnen die Waffen 
ihrer Sophiftereien aus den Händen gefchlagen waren, waren fie nicht 
zu geiftig noch zu vornehm mehr, um nun auch Diejenigen des gemein« 
ften Verraths und der rohften Gewaltthat für angemeffen und brauch⸗ 
bar zu erachten. D, ſpreche man uns doch nicht von einem „Geis 
ftesadel” des natürlichen Menfchen. Es gibt einen ‘Preis, um den er, 
welcher Stufe verfeinerter Sitte und Bildung er auch immer einzumehs 
men fih rühmt, auch diefen Rubm unbedenklich losſchlägt. — Uns 
ter dem Befehle der genannten Nädelsführer gehn, minder ſchuldig 
zwar, jedoch nichts weniger als entfchuldigt, die Rathsdiener, 
diefe blinden Werkzeuge ihrer Oberen, und Dann die aufgebotenen 
Söldlinge der römischen Tempelwache. Leuten dieſer Klaffe ges 
ziemt e8 zwar, dem Commandoworte ihrer Vorgeſetzten unbedingt zu 
gehorchen; doch find auch fie nicht umzurechnungsfähige Mafchinen, 
fondern ebenfowol, wie alle Anden, Gott, dem höchſten Richter, 
für ihr fittliches Verhalten vermtwortlihde Menſchen, deren Gehors 
fam in dem befannten: „Man muß Gott mehr geboren, denn 
den Menſchen,“ feine Begrenzung findet, und denen es bars 
um in dem vorliegenden Falle obgelegen hätte, den Zod unter dem 
Henkerbeile dem zweideutigen Ruhme vorzuziehn, im ruchlofeften aller 
Attentate ihre Schuldigfeit gethan zu haben. Doch willen fie zum 
größten Theile nicht, was fie thun. Verwerflicher, als fie, erfcheint der 
verächtliche Troß derjenigen, die um Geld und Gunft freuvillig fich der 
15 


226 Dad Heilige. 


Bande angeichlofien haben. Diefe feigen Schmeichler und Menſchen⸗ 
Inechte, denen es ein Geringes ift, um einen Blick der Huld von hohem 
Bönnerauge zehnmal ihrem Gewiſſen in’8 Angeficht zu fchlagen, erinnern 
uns an euch, ihr feilen Nachbeterfchaaren in unfrer Mitte, Die ihr, 
weil Diefer oder Jener, zu denen ihr in Abhängigkeitsverhälmniffen 
fteht, fo oder fo denkt, urtheilt und redet, auch nicht anders zu den⸗ 
fen und zu reden euch unterfteht, und die Niederträchtigfeit bis zu 
dem Punkte treibt, euer felbitftändiges Urtheil felbft im Bereiche der 
höchften Lebensinterefien um die fchledhteften Preife von der Welt zu 
veräußern. Wehe über euch, ihr unmürdiges Gefindel! Wäre nur 
eure Zahl auch unter uns nicht Legion! Die Meiften, die nicht glaus 
ben, treten mit ihrem Unglauben knechtiſch nur fremden Meinungen 
nach, und haben in fchmählicher Unterthänigkeit unter Fleiſch und Blut, 
und um irgend eines erbärmlichen zeitlichen Vortheils willen, des herr: 
lichen Vorrechts ſich begeben, wenigftend Da, wo e8 die ewigen Ans 
gelegenheiten gilt, mit eigenen Augen zu fehn, und frei nad Gottes 
Rath allein ihren Weg zu wählen. — Dod einen Blid noch auf 
die Häfcherrotte. Wer wandelt düftern Angefichtes und wirren Blicks 
an ihrer Spike? Der Mann tief in den Mantel verbüllt, und mit 
dem Gepräge mehr einer erzwungenen als natürlichen Entſchloſſenheit 
in feiner Haltung, wer ift er? — Ad, wir erkennen ihn. Bor diefer 
Erſcheinung erfchauert uns das Herz, und will ung das Blut in den 
Adern gefrieren. Das „verlorene Kind“ ift’s, von dem ſchon ein 
Sahrtaufend zuvor gefchrieben ward: „Der mein Brod iffet, der tritt 
mid mit Füßen.“ Es ift der Menfch des Unheils, der feine Jeſus⸗ 
jüngerfhaft nur trägt, wie die giftige Natter ihre fchillernde Haut. Der 
Heuchler, der in feinem Apoftelamte ſteckt, wie ein mörderifcher Dolch 
in vergoldeter Scheide. Die Sünde ift jetzt in ihm vollendet und das 
Berderben zu feiner Reife gediehen. Berbittert, verdüftert und verlogen 
bis auf feinen innerften Wefensgrund, haßt er Zefum jept, wie die Fin- 
flerniß das Licht haft. Ueber den Zeitpunkt, da er noch gelaffenern Sin- 
nes mit Jeſu hätte brechen, und dann, ohne fich weiter um ihm zu füm- 
mern, feine Straße ziehen können, it er hinaus. Er hat jebt einer dä- 
monifhen Empörung gegen Ihn ald gegen fein anderes Gewiffen 
in ſich Raum gegeben. Er ift wider Ihn als gegen einen ſchonungs⸗ 
loſen Richter entbrannt, durch deſſen bloße Heiligkeit, Lauterfeit und 
Liebe Er ſich fchon in feiner eigenen Tücke, Heuchelei und Liebesleere 
verdammt fühlt, Peinlich beengt fand er fich Länger fchon in Jeſu 


Der Meberfall. 227 


Nabe, Wie konnte e8 anders fein? Das Geflügel der Naht erträgt 
das Licht der Sonne nicht. Bei dem befannten Auftritte in Bethas 
nien trat feine innere Berftimmung gegen Jefum in eine neue Ents 
wicklungsſtufe ein. Hier wurde ihm, wie ihr wißt, der lebte Zweifel 
benommen, daß er von dem Herrn durchſchaut, und in feinen geheis 
men Zrevlergängen erhafcht fei. Statt aber diefen verhängnißvollen 
Moment zu feinem Heile auszubeuten, und feinen verderbten alten 
Menfchen ſchonungslos dem Feuer eines aufrichtigen Selbftgerichtes 
zu übergeben, damit aus feiner Ajche ein neuer aus Gott geborener 
Menſch erſtehen könne, lieh er fatanifchen Einflüfterungen fein Ohr, 
und hoffte in unfäglichem Wahnwig dadurch ſich und feine Ehre ret⸗ 
ten zu können, daß er, flatt dem heil. Geifte, dem Geifte des Grim⸗ 
mes und der Erbittrung fid) überließ, und dem Manne tödtliche Rache 
fhwur, der ihm doch Anderes nichts zu Leide gethan, als daß er ihm 
in's Herz gefehen hatte. Nein, mit der Begierde nad) den dreis 
Big Süberfcherben mißt fi der Quell des Judasverraths nicht aus, 
Derſelbe ift dDämonifcherer Natur, und will viel tiefer gefucht fein. 
Der unglüdfelige Jünger trank fehon von dem Grimme, der die Vers 
dammten in der Hölle ftachelt, unabläffig wider Den, der fie richtete, 
und welchen fie das Zeugniß geben müffen, daß alle feine Gerichte 
gerecht feien, Fluch und Läfterung zu ſchäumen. Ach, ein Zunfe von 
diefem Grimm findet ſich überall in der menfchlichen Natur als ſol⸗ 
her. So oft der Herr Miene macht, mit der Fadel feiner Wahrheit 
in die Ziefe ihrer Finfterniß hinabzuleuchten, regt fich Die verborgene 
Natter. Das natürliche Herz erträgt den Störer feines faulen Frie⸗ 
dens nicht; und fo muß denn der einige Seligmacyer der Sünder von 
Denen felbft, die er zu retten kam, mit Grüßen fich bewillfommt hös 
ren, wie jener rebellifchen Bürger Gruß: „Wir wollen nicht, Daß Dies 
fer über uns berrfche,” und wie der Gruß der Gergefener: „Gehe 
hin, und weiche von unfern Grenzen!‘ 
Seht, fo ſchaut aus der wider den Herrn der Herrlichkeit verfchwos 
renen Schaar ein Spiegelbild der Menſchheit und an, wie fie 
in ihrem innerften Kerne von Natur beichaffen if. Wer in dem 
einen der Parteigänger jener Horde ſich nicht wiederfindet, wird 
Züge feines Bildes in irgend einem andern entdeden. Ein fo vers 
derbtes Geſchlecht aber hat die Seligfeit verwirkt und iſt des Todes 
fhuldig, oder das göttliche Geſetz müßte eine Lüge, und Gerechtigs 
feit und Gericht nicht die „Veſten des Stuhles Gott “ fein. Nichts 
15 | 


228 Dus Heilige. 


ift aber in der Welt gewiffer, als daß der Fluch auf unferm Scheis 
tel ruht, und wir der Hölle verfallen find, wenn uns nit, auf Grund 
einer vorab geleifteten Genugthuung, Barmherzigkeit wiederfährt, 
und Gnade vor Recht zu Theil wird. Doc zur Stelle ift Er, der 
dieſe Genugthuung zu Stand und Weſen bringen wird. Kommt, und 
ſchauen wir Ihn an, und fallen beten und jubelnd in feine Arme! — 


„Stebetauf, laffet uns von innen gehn; fiehe, der mid 
verräth, ift nahe!” — Hört diefen nur Muth und Entſchloſſenheit 
athmenden Aufruf! Bon wannen tönt er? Bon denfelben Lippen, von 
weldyen eben erft das Noth= und Dranggebet: „Iſt's möglich, fo 
gehe dDiefer Kelch an mir vorüber,” zum Himmel aufftieg. Dort 
fhreitet er her, der herrliche Leberwinder. Wie an Leib und Seele 
geftählt, geht er aus dem Feuer des Delberglampfes hervor. Aus ſei⸗ 
ner ganzen Haltung fpricht nichts, als Klarheit, Ermannung und er: 
habene Ruhe. Sobald er inne geworden, wer den Gethfemanes: 
kelch ihm reichte,, hat er ihn mit unbedingter Willigfeit geleert, und 
weiß hinfort, daß, was Ihm noch an Schauern und Schrecken aufs 
behalten fei, ebenfowol, wie der Gethfemanesbecher, den unerläßlichen 
Bedingungen beigehöre, an welche die Vollendung des großen Retters 
werks geknüpft ſei. Diefes Bewußtſein macht feinen Zritt auf der 
blutigen Marterftraße gewiß. Was irgend Arges ihm noch bevor: 
ſteht, erfennt er mit klarem Blide als einen Ausflug des väterlichen 
Rathſchluſſes. Er fpricht das „Stebet auf und laffet uns von 
binnen gehn,” zunächit als ein beherztes „Wohlan!” darin er den 
Jüngern die veränderte Gemüthslage zur Anfchauung bringen will, in 
der er fich gegenwärtig befinde. Sodann aber richtet Er’s an fte als 
einen Sammelruf; denn es Tiegt Ihm daran, daß fie bei feiner 
Verhaftung ſämmtlich zugegen feien, damit fie nachmals der Welt als 
Augenzeugen verkünden könnten, wie ihr Meifter nicht als ein Ue⸗ 
berwundener, fondern frei den Händen feiner Feinde fich überlies 
fert babe. 

Schaut, was fi) begibt. Bevor noch die Häfcherrotte ihn erreicht, 
wandelt er derfelben mehrere Schritte feft entgegen, und anders, als 
unfer Stammpater im Paradieſe nach dem Zall, der auf das „Adam, 
wo bift du?” Verſtecke fuchte, tritt er wie mit offnem Viſir vor die 
Schaarwäͤchter hin, und richtet an fie die einfache, aber für die Meu⸗ 
terer tief: befchämende, weil Das Lügnerifche ihres ganzen Verfahrens 


Der Ueberfall. | 29 


und namentlich ihres Friegerifchen Aufwandes gegen Ihn enthüllende 
Stage: „Wen fuchet ihr?” Diefes „Wen,“ wie fchlug es die Häs 
fher! Es hätte heilwirkend für fie werden können, wenn fle demfel- 
ben nur einen Augenblid befonnenen Nachdenkens hätten ſchenken wols 
len. Uber fie waren fchon zu fehr darin geübt, Hafen und Angeln 
diefer Gattung mit leichter Mühe zu verwinden; und fehiete ſich 
auch ihr Gewiſſen etwa an, Befcheid zu thun auf folche Frage, fo 
verftanden ſie's, dafjelbe mit den Trommelwirbeln der keckſten Lug⸗ 
und Zrugfophismen zu betäuben. Doc die Welt follte erfahren, daß 
der Herr nicht etwa nur aus Verſehn, fondern abfichtlich, weil er der 
Gerechte und Heilige in Ifrael war, zur Schlachtbanf geführt worden 
fei; und auch aus diefem Grunde fragte der Heiland: „Wen ſu⸗ 
het ihr?” Die Antwort der Bande lautete beftimmt und Har: „Je⸗ 
fum von Nazareth!” Hiemit war die Blutſchuld der Schwar, ja 
der Menschheit, die durch jene vertreten ward, Eonftatirt. Frei⸗ 
lich bezeichneten die Verräther den Herm liftig genug mit einem Ti⸗ 
tel, der ihnen, wäre er der einzige gewejen, unter welchen fie Yes 
fum fannten, wenigftens einen Schein von Berechtigung dazu gelies 
ben hätten, Ihn für einen falfchen Propheten zu halten, und ale 
einen ſolchen ihn zu ergreifen; indem ja Nazareth allerdings der 
Ort nicht war, von wannen die Prophezeihung den Meſſias kom 
men ließ. Aber gar wohl kannten fie Ihn auch als den Sprößling 
des Stammes Davids von Bethlehem, auf welhen Micha, und als 
den Sriedenskönig, auf welchen Sacharja hingedeutet hatte. Das 
durch aber, daß fie über dieſes ihr befferes Bewußtfein vorfäglich den 
Schleier der Selbftbelügung warfen, fleigerten, ja vollendeten fie ihr 
Verbrechen. Es machen's die heutigen EChriftusfeinde nicht viel ans 
ders, als ihre jüdischen Vorgänger. Auch fie fehlagen ſich mit Abficht 
alles das aus dem Sinne, was ihre Oppofition gegen den Herrn der 
Herrlichkeit etwa Tähmen könnte. Sie fhließen vor der prophetifchen 
Signatur, die auch fie auf Jeſu Stirne nicht verfennen können, fo 
wie vor der glorreichen Siegsgefchichte feines Reichs gefliffentlich die 
Augen, und gebehrden fih, als träte Er eben erft aus Nazareth 
bervor, und hätte zum Erweife feiner Gottmenfchheit fein weiteres Zeuge 
niß, als nur fein eigenes, oder feiner Jünger Wort. — Trotz dieſes 
ihres großartig Teichtfertigen und Tügnerifhen Verfahrens aber fehlfs 
ihnen doch an einem windigen Troſſe nicht, der ihnen treugehorfamft 
nachtritt und in unzähligen Fällen nicht ahnt, Daß der dem Geifte nach 


230 Das Heilige. 

wieder auferflandene Judas an ihrer Spike geht, und fle commandirt 
md leitet. Nachdem die Häfcher mit ihrem „Jeſum von Nazareth” 
ihre Nbficht zu Tage gegeben, fpricht der Herr mit der erhabenen 
Ruhe des göttlichen Mittlers, der nicht allein, wie die Gefihichte mel- 
det, „Alles wußte, was ihm begegnen follte,” fondern auch des Grun⸗ 
des, des Ausgangs, und des legten Ergebniffes von diefem Allen ſich 
Har bewußt war: „Ich bin es!” — Großes, bedeutungsvolles Wort! 
So oft e8 ertönte, ging es mit der gewaltigften Wirkung verpaart. 
„Ich bin's!“ rief er, auf den Meereswogen wandelnd, feinen be 
flürzten Süngern zu, und wie auf diefen Laut der tobende Seeſturm 
augenblicklich verftummte, fo ergoß ſich alfobald ein Strom des Arie 
dens und der freude in die Herzen der felig Ueberrafchten. „Ich 
bin's!“ fprach Er zu der Samariterin beim Jakobsbrunnen, und fofort 
lieg das Weib ihren Waflereimer ftehn, und eilte als die erfte Evan- 
geliftin in der Samariter Grenzen zurüd nad) Sichem. „Ich bin’s!“ 
bezeugte Er, wie wir fpäter vernehmen werden, vor den Schranken 
des hohen Rathes, und das Bewußtſein, daß Er es wirklich fei, 
flug im Innern feiner Richter fo mächtig durch, daß ſich der Ho- 
hepriefter nur vermittelt des Bühnenftreich8 feiner Kleiderzerfetzung 
aus der peinvollften DBerlegenheit zu retten wußte. Und was begibt 
fih auf fein: „Ich bin's!“ an unferm Orte? Die Schergenrotte, 
wie ſie's vernimmt, ftußt, wankt, taumelt zurüd, und finkt wie von 
einem unfichtbaren Blitz getroffen, ja wie von einem Allmachtshauche 
umgeblafen, fofort zu Boden. Was fo gewaltig fie ergriff, war un- 
leugbar ſchon der tiefe Eindrud der Heiligkeit und Unfhuld Jeſu, 
von dem fie in diefem Momente überwältigt wurden. Das eben fo 
majeſtätiſche, als fchlichte „Ich bin's!“ rief das gewaltfam niederge- 
haltene Bewußtfein von Seiner übermenfchlichen Herrlichkeit mit vol- 
fer Stärke wieder in ihnen hervor. Doch hätte diefe geiftige Er- 
ſchütterung allein wol nicht vermocht, die Rotte Mann für Mann wie 
durch einen Zauberfchlag auch Leiblich in den Staub zu ſtrecken, wenn 
nicht mit dem „Sch bin's!“ zugleich ein Akt göttlidyer Allmacht 
verpaart gegangen wäre. Der Herr ſchlug die Horde nieder, theils 
um damit in eindringlichfter Weife ihr karges „Jeſum von Naza— 
reth“ zur Lüge zu ftempeln, und dem abfichtlich zurücgedrängten hoͤ⸗ 
ben Wiffen von Ihm in ihrem Innern wieder Raum zu fchaffen; 
theils, um der Welt auch ein thatſächliches Zeugniß zu hinterlafr 
fen, daß er nicht aus Nöthigung und Ohnmacht, fondern in Folge 


Der Ueherfall. 231 


freiefter Entfchließung ein Opfer für fie geworden fe. Da 
liegen fie zu feinen Füßen, die vermeffenen Meuterer, von einem 
Klange feiner Lippen bingefchmettert. Und was hätte Ihn jetzt gehin« 
dert, triumphirend über ihre Hälfe einherzufchreiten, und, nachdem er 
fie bleibend an den Boden feitgebannt, unverfehrt und ungefährdet 
davon zu gehn? Aber Er bezweckt nichts, als eine Kundgebung feiner 
Majeftät und feiner Unabhängigkeit von aller Greatur; und nachdem er 
diefe Abficht glänzend erreicht, vergönnt er den Niedergeworfenen, fich 
wieder zu erheben. Wie fie aber dort am Staube liegen, bezeichnen 
fie euch Kindern des Unglaubens die Lage, in der man einft euch alle 
erbliden wird. Die Huldigung, die ihr hienieden dem Herrn vers 
fagtet, wird Er fich zu feiner Zeit ſchon zu erzwingen wiſſen. Das 
Knie, das ihr mit freier Liebe Ihm nicht beugen wolltet, wird einft 
die Schauer der Verzweiflung zum Staube nöthigen. Dreimal wehe 
euch, wird der Herr auch dann noch als die Widerftrebenden euch fin- 
den, wann nicht mehr Palmzweig und Hirtenftab, fondern Richtſchwert 
und Wage die Embleme Seiner Erfcheinung bilden werden. Bon 
dem Zittern und Zagen, welches euch dann beim Klange feines „Ich 
bin's!“ ergreifen wird, gibt es fein Wiederauflommen und fein Ers 
holen mehr. Glaubt Ihm darım, daß Er es ift, fo Tange fein „Ich 
bin's“ mit der Betonung der lockenden Liebe euch noch antönt. Wollt 
ihr's Ihm auf fein bloßes Wort nicht glauben, glaubt’ um des ge 
waltigen Infiegels willen, das Er diefem Worte felber aufgedrüdt, O, 
reichtet ihr Ihm nur einmal, daß ich menschlich rede, auf Probe eure 
Hand, wie bald erflänge als Wiederhall feines „Ich bin's!“ ein fe 
figes „Zürwahr! du bift es!“ durch euer Inneres. Beftürzung 
würfe dann wol aud euch zu Boden, aber Beftürzung darüber 
nur, daß ihr erft jebt, daß ihr fo fpät, daß ihr nicht fehon von 
euerm erften Athemzuge an euch Ihm ergabet. 

„Ben fuhet ihr? — — „Sch bin's!“ — Brüder, es ift uns 
neftattet, daS eine wie das andere dieſer beiden Jefusworte in dem 
umfaffendften Sinne auszudeuten, Wen oder was euer verborgen 
ſtes Herzensbedürfniß immer fuchen mag: Er iſt's. Ergreifet Ihm, 
und ihr feid am Ziele. Sucht ihr einen Mittler, der euch vor Gott 
vertrete, einen Friedensfürften, der den Sturm bedräue in eurer Bruſt, 
einen Freund, deſſen Gemeinfchaft jede andre euch entbehrlich mache, 
oder einen verläffigen Steuermann am Ruder eurer Lebensbarke: „IK 
bin's!“ ruft der Manu von Nazareth, und iſt bereit, feine Verſicherung 


232 Das Heilige. 


mit der That zu befiegeln. Und Er ift mehr noch, als jenes Alles. 
Wird gefragt, wer jeder Noth die Bitterkeit, der Sünde die Macht, 
‚der Hölle den Sieg, dem Tode den Stachel raube: „Ich bin es!“ 
ſpricht Er, und durch achtzehn Jahrhunderte hindurch antwortet das 
Zeugnig Millionen Heiliger: „Du biſt's, und ift außer dir fein Hei- 
land!” Sn diefem Ehore fehle auch unfre Stimme nicht. Winden 
wir uns aus der heillofen Umgarnung eines ungläubigen Zeitgeiftes 
heraus! Bedarf es doch Faum etwas mehr, als eines unbefangenen 
Blicks auf den Davidsfohn, wie Er im Evangelium feine Herrlichkeit 
entfaltet, und man wird, wenn das Herz nur an einer Gtelle noch 
für göttliche Größe empfänglich ift, fi) unmiderftehlich gedrungen füh- 
Ien, mit einem anbetenden „Du biſt es“ zu feinen Füßen hinzuſinken. 
| Ä 3 
* Nachdem fih die Schaar mit Jeſu Genehmigung wieder erhoben 
hat, richtet Er aufs neue an fie die Frage: „Wen fudhet ihr?“ 
Diesmal begleitete diefelbe eine zermalmende Ironie. Wie wenn Ei- 
ner, den man etwa für einen Landftreicher gehalten, und als Solchen 
verhaftet hätte, vor feinen Häfchern yplöglich den EZöniglihen Stern 
auf feiner Bruft enthüllte, und gelaffen zu diefen ſpräche: „Auf wen 
fahndet ihr? * ähnlich hat fidy’8 mit dem „Wen fuhet ihr?” des 
Herrn. Hier ift nur mehr, als ein menfchlicher König. Die Meu- 
terer find’8 eben zu feinen Füßen gewahr geworden. So verwan- 
delt fid) das wiederholte „Wen ſuchet ihr?” jet in gallenbittern 
Spott für fie; denn welche Thorheit, daß ein Strohhalm an einem 
Feuer, ein Zunfe an einer Meeresbrandung fich zu vergreifen wagt! 
— Ich fehe, wie fie den Stachel der erneuerten Frage in ihrem Ges 
wiffen fühlen. Sie ftehen befhämt. Der Nichter ihres Herzens ver- 
urtheilt fie als Ruchlofe und zugleich als Narren. Nichtsdeftoweniger 
bringen fie'8 fertig, den Eindrud der Wahrheit abermals in fich zu 
überwinden, und geben, diesmal mehanifch nur, wie eine ausges 
theilte Parole, Diefelbe Antwort: „Jeſum von Nazareth.” Das 
erfte Mal trat dieſes „Iefum von Nazareth“ noch mit dem Accente 
einer gewiſſen Friegerifchen Barfchheit und Keckheit auf; jebt kommt 
e8 Heinlaut und betonungslos heraus, und zeugt von einer innern 
Geſchlagenheit, Die erft wieder einem gewiſſen Troße Raum gibt, 
nachdem der Herr fich frei ihren Händen überantwortet hat. 

„Ich habe es euch gefagt,” fährt Jeſus fort, „Daß ich es fei; 
ſuchet ihr denn mich, fo Laffet Diefe gehn,“ Hört Diefe füßen 


Der Ueberfall. 233 


und verheißungsvollen Laute! O, wie der Heiland in allen feinen 
Ständen, audy den fchredensvollften, die volllommenfte Klarheit ſich zu 
bewahren, und mit der Sorge um die Vollendung des ihm übertra- 
genen Erlöfungswerkes im Großen und Ganzen, überall aud) diejenige 
für das Ihm anvertraute Einzelne und Geringe zu vereinen wußte! 
Während er zu. feinem verhängnißvollen Opfergange ſich gürtet, vergißt 
er in feiner anbetungswürdigen Hirtentreue nicht, vorab feine Jün⸗ 
ger vor den bevorftehenden Anfechtungsftürmen zu bergen. „Suchet 
ihr mich,” fpricht er, „fo laffet dieſe gehn;“ legt aber in diefes 
Wort zugleich, wie dies feine Gewohnheit ift, einen über deffen nächfte 
Bedeutung weit hinausreichenden großen Allgemeinfinn. In Dems 
jenigen, was er zu Gunften feiner Elfe bier beanfprucht, fpiegelt fich 
der Segen für eine Welt. Nichtsdeftoweniger verfährt unfer Evanges 
lift ganz richtig, wenn er jenen Ausfpruch in erfter Reihe den Apofteln 
zueignet, und ihn mit dem Zuſatz begleitet: „Auf Daß das Wort 
erfüllet würde, welches er fagte: Ich habe derer feinen vers 
Ioren, die du mir gegeben haft.“ In feinem hohepriefterlichen 
Gebete Zoh. 17, 12 ſprach der Herr diefes Wort; nur fügte er dort 
mit tiefem Weh hinzu: „Ohne das verlorne Kind, auf Daß die 
Schrift erfüllet würde"; ein Wort, das der Evangelift, wir bes 
greifen, aus welchen Gründen, an unferm Orte übergeht. Nicht Mits 
leid nur hält ihn ab, das Verdammungsurtheil über den Armen, den er 
uns hier perfönlich vorführt, zu wiederholen, fordern zugleich eine zarte, 
in tiefer Wehmuth wurzelnde Sorge, e8 möchte den Schein gewinnen, 
als wolle er, der Berichterftatter, über den beflagenswerthen Mitapo⸗ 
fiel felbftgefällig fich erheben, während er fich doc, mit aufrichtiger 
Zerknirſchung tief und Mar bewußt ift, wie fein Herz nicht minder, 
als Judä Herz, von Natur zu allem Böfen geneigt fei, und er es le 
Diglich der bewahrenden Gnade zu danken habe, daß er nicht felber 
zum Berräther wurde. 

„Suchet ihr mich, fo laffet diefe gehn.” Zreffend und wahr 
bemerkt bei diefen Worten ein Schriftausleger, e8 habe einen Grund 
feiner Schilichkeit gehabt, daß Jeſus nicht gefprochen: „Meine Ans 
haͤnger“, oder „meine Jünger, fondem nur fo unbeftimmt, jedoch 
bindeutend auf dieſelben: „Dieſe“. Denn wo er fie mit den ers 
ftern Namen bezeichnet hätte, fo würde dies für Leute, wie diejenigen, 
aus welchen die Schaar beftand, fo viel geheißen haben, als „meine 
Barteigenoffen”, und zwar in einem Sinne, dem er Borfchub zu 


234 Das Heilige. 


thun fich Hiten mußte. In der Bedeutung, in der die Welt es zu 
verftehen pflegt, war der Herr fein Barteihbaupt, und wollte auch 
den leifeften Schein vermeiden, als ob er ein folches wäre. Uebri- 
gens bedurfte e8 zur Bergung feiner Jünger nur jenes einfachen, aber 
mit Nahdrud ausgefprochenen „Laſſet dDiefe gehn!“ Nicht Bitte 
war dieſes Wort, fondern Eöniglicher Befehl; zugleich aber Win 
für die Jünger felbft, was jeßt zu thun fe. Es war Signal zu ei 
nem einftweiligen Rüdzug für fie von feinen Marterftätten. Wäre 
nur Simon Petrus auch diefem treuen Hirtenwinfe gefolgt! Die 
Armen waren ja dem Anfechtungsfturme, der jetzt hereinbrach, noch 
nicht gemachten. Mehr oder minder würden fie ficher alle, ob auch 
vorübergehend nur, am Glauben Schiffbruch gelitten haben, wenn 
fie dem Meifter auf feinen fernern Erniedrigungsgängen hätten folgen 
wollen; der Gefahren, die außerdem ihre Freiheit, ja ihr Leben be- 
droht haben würden, nicht zu gedenken. Angebetet fei darum die für: 
forgliche Umfiht und bewundrungswürdige Befonnenheit und Ruhe, 
mit der wir den Herm in einem Momente, in welchem der trefflichite 
der Menfchen nicht mehr Raum gefunden haben würde, an etwas Ans 
deres, als an Sich feLbft zu denken, die Wohlfahrt und das Heil 
der Seinen auf dem Herzen tragen, und fo mütterlich vor dem na⸗ 
henden Orkane fie ficher ftellen fehen. Ueberfehn wir aber auch nicht 
den reichen Troftesinhaft, der in jenem Zuge für die Gläubigen aller 
Zeiten insgemein befchloffen ruht. Das „Suchet ihr mid, fo laf- 
fet dDiefe gehn“ bat der Herr für und auch noch zu andern Rotten, 
als zu denen Dort gefprochen. Er ſprach's nach dem tieferen All 
gemeinfinn feiner Rede auch zu Hölle, Zod und Zeufel; und Ihn 
haben fie wirklich gefucht, erfaßt, darnieder geftredt. Aber denen zu 
Gut, die des Glaubens an Ihn find, haben fie an Ihm ihre Macht 
für immer erfhöpft, und ihren Stachel in Ihm zurückgelaſſen. Und 
fofern uns die feindlichen Gewalten heute irgend etwas mehr noch 
wollen, als uns fichten, prüfen, oder läutern, zieht ihnen das 
„Laſſet dieſe gehn” eine unüberfteigliche Schranke. Verderben 
fönnen fie und, die wir in Ehrifto find, um ewig nicht mehr. An 
jenem von einer vollgültigen Genugthuung getragenen: „Zaffet dieſe 
gehen” haben wir einen Freibrief, der uns bis in das himmliſche 
Jeruſalem hinüber ein ficheres Geleite verbürgt. Halten wir darım 
Diefes Dokument in Ehen; denn das Siegel Gottes ftrahlt und dar⸗ 
ms enigegen. . 


2 
Der Judatkuß 235 


Wohl uns denn bei dem Bräutigam umferer Seelen! Wir haben 
nicht blos Alles an ihm, was wir bedürfen, fondern überfchwänglich 
mehr noch, als die Nothdurft erfordert. Selig die fühn und hershaft 
Glaubenden! Sobald wir unter Jeſu Flügeln geborgen ruhn, Tiegt 
das Reich der Sorgen hinter uns, und nichts kann uns die Berech⸗ 
figung mehr ftreitig machen, in den alten Sang tief innerer Befrie⸗ 
digung einzuftimmen : 

Hab’ ih Di in meinem Herzen, 
Brunnen aller Gütigfeit, 

So empfind’ ich feine Schmerzen 

Selbſt im letzten Kampf und Streit: 

Ich verberge mich in Did; 

Kein Feind fann verleken mid). 

Mer fi birgt in Deine Wunden, 

Der hat glüdlich überwunden. Amen. — 


—eotdior—— 


XX. 
Der Judaskuß. 





Das wunderſame Vorſpiel des Lebens Jeſu, wie es, einer Luftſpie⸗ 
gelung vergleichbar, in dem Lebensgange feines königlichen Ahnherrn 
David ſich uns darſtellt, fuͤhrt ſogar auch die lebendigen Typen der 
hervorragendern Perſoͤnlichkeiten der evangeliſchen Geſchichte am 
uns vorüber, und zeigt und z. B., wie in Jonathan einen Johan⸗ 
nes, in Abifai einen Petrus, in Saul einen Herodes, fo m 
Ahitophel einen Judas. Abitophel fland, wie wir willen, dem 
Könige als fein erfter Staatsrath vor Andern nahe, und genoB das 
unbedingte Vertrauen feines Herm. „Wenn Ahitophel einen Rath 
ertheilte,” fagt die Gefchichte, „das war, als hätte man Gott um et 
was gefragt.” Aber dieſe bevorzugte Stellung wurde Dem felbftfüchtigen 
und von unbegrenztem Ehrgeize geftachelten Menſchen zu Strid und 
Falle. Nach immer höhern Dingen trachtend, fühlte er fi) bald ſo⸗ 
gar auch Durch die Stellung, die er als erfter Diener der Koue ein- 


® 

nahm, nicht mehr befriedigt. War es doch immer noch eine Diener- 
Stellung. Als nun Abfalom den Schild der Empörung gegen feinen 
eignen Vater erhob, da warf, in der Hoffnung mit dem ausgebroche- 
nen Aufruhrfturme, wer weiß, bis zu welcher Höhe der Macht und 
Herrlichkeit hinan zu fleuern, aud Ahitophel die Maske der Schein- 
heifigfeit, fanımt derjenigen feiner erheuchelten Treue und Ergebenhett 
gegen David ab, und ſchlug fich in himmelfchreiendem Undank auf die 
Seite der Meuterer. Der Herr aber wußte den Nichtswürdigen in 
feiner Klugheit zu erhaſchen. „Er fchidte es aljo,“ meldet die Ge 
ſchichte, „Daß der Rath Ahitophels vernichtet wurde.” Sobald aber 
der Berräther feine berrfchfüchtigen Anfchläge fcheitern und ſich in die⸗ 
ſem Schiffbrudy von Gott gerichtet fah, erfaßte ihn die Verzweif⸗ 
fung, und des Lebens überdrüffig, fattelte er feinen Efel, zog heim 
in feine Stadt, beſchickte ſein Haus, und machte feinem Leben durch 
den Strid ein Ende, — Doch hiervon haben wir früher bereit3 ge⸗ 
redet. 

Als eine dem Ahitophel ähnliche Erfcheinung begegnet uns in der 
Gefchichte Davids Joab, der Sohn Zeruja, ein Mann des glühend- 
fien Ehrgeizes und der ungezügeltiten Herrfehfucht. Blieb er in dem 
Aufruhr Abfaloms feinem Könige und Herrn aud) treu, fo fchloß er 
fi) doch nachmals dem Kronprätendenten Adonia an. — Seine Ju: 
dasnatur trat aber fonderlih in feinem Handel mit Amafa zu 
Tage. Diefem hatte der König die Anwartfchaft auf die Oberfeld: 
herrnwürde verliehen. Das ertrug ein Joab nicht. Er glaubte fid) 
Dadurh an feiner Ehre auf das empfindlichfte gekränkt. Amafa 
war fortan der Gegenitand feines bitterften Hafjes, und wie er ihn 
aus dem Wege räume, Der Gedanke, der ihn Zag und Nacht beichäf: 
tigte. Bald genug fand er Gelegenheit, feinen geheimen Mordplan 
auszuführen. Amafa, mit einer königlichen Miffion betraut, begegnet 
ihm bei dem großen Stein zu Gibeon. Joab, feiner anfichtig ges 
worden, eilt, wie 2 Sam. 20, 9 u. 10 berichtet wird, unter der Maske 
der Freundfchaft auf ihn zu, beut ihm mit einem „Geht's dir wohl, 
mein Bruder?” erheuchelten Zriedensgruß, umarmt ihn, und ftößt, 
während er ihn mit der rechten Hand beim Bart faßt, um ihn zu 
füffen, mit der linken das heimlich gezogene Schwert ihm in den 
Leib, daß fein Eingeweide herausquoll und mit feinem Blute fih auf 
Die Erde fehüttete, und er auf der Stelle des Todes erblich. 

Entſetzlich iſt es, Daß wir Veranlaffung haben, mit der Erinnrung 


> 
Der Judatluß 237 


an fo treubrüchige Buben, wie die genannten, eine Betrachtung ein 
zuleiten, deren Mittelpunkt ein Bertrauter des Koͤniges aller Könige, 
ein Apoftel ift. Aber wir haben fi. — Möge es dem Herrn gefal 
Ien, die Betrachtung, zu der wir fhreiten, wie zur Mehrumg unfres 
Abſcheus wider die Sünde überhaupt, fo infonderheit zur Verfchärfnug 
unfrer Wachſamkeit über das eigene fo leicht zu berüdende und 
zu verftridende Herz gereichen laſſen! — 


Matth. 26, 48—50. Marc. 14, 44. 45. Sur. 22, 48. 

Und fein Berräther hatte ihnen ein Zeichen gegeben und gefagt: Welchen ich füfe 
fen werde, der iſt's, den greifet, und führt ihn gewiß. Und ba er lam, nahete er fi 
zu Jeſu umd trat alfobald zu ihm, ihn zu Füllen, und ſprach: Gegrüßet feift du, Rabbi! 
und Füffete ihn. Jeſus aber fprah zu ihm: Wein Freund, warum bift du gelom⸗ 
men? — Juda, verräthft du des Menfhen Sohn mit einem Kuß? 


Gibt e8 einen erfchütterndern und herzergreifendern Auftritt, als den 
verlefenen? Wo begegneten fich je das unbedingt Gute und das voll 
endete Böfe, der Himmel und die Hölle in unverdedtern und fchneis 
dendern Gegenfäßen, ald hier? Das befchauende Herz droht den 
gewaltigen Eindrüden, welche e8 von dem Ueberſchwange göttlicher 
Liebe auf der einen, und der Zülle fatanifcher Bosheit auf der ans 
dern Seite bier empfängt, fchier zu erliegen. Eine Scheidefcene 
iſtss, vor der wir ſtehen, und zwar der traurigften und verhängniß- 
vollften eine, welche die Welt gefehn bat. Jeſus und fein Apoftel 
Judas gehn für immer auseinander. Kommt, ſehen wir zuvörderft, 
wie diefe Trennung vor ſich gebt; und vernehmen wir dann 
das Lebewohl, das der Herr dem unglüdfeligen Jünger 
nachruft. 

Diene unſre Erwägung uns zum Sporne, von ganzem Herzen an 
den ums hinzugeben, der unfre einige Zuflucht vor dem Zorn, deffen 
Scheidebrief dagegen nichts Anderes, als eine Anweifung auf Die 
ewige Berdammniß ift. 


1. 

Noch einmal richten wir den Blick auf die Schaar, die wir an 
der Schwelle des Delbergsgartens den Herrn überfallen ſahen. So 
eben hat fie fih aus dem Staube, in den das „Ach bin's!“ Des 
Herm fie niederwarf, wieder aufgerichtet. Unter den Dahingefchmets 
terten war auch Judas. Man follte denken, diefe erneuerte Offen 


% 
238 Das Heilige. 


barung der Majeftät Jeſu werde das verlorene Kind endlich wie ein 
leptes Noth⸗ umd Feuerzeichen von feinem Berrätherwege haben ab» 
ſchrecken muͤſſen. Und wer weiß auch, wozu es, ob auch aus fnechtis 
fer Furcht nur, mit ihm gekommen voäre, wenn er jet nicht von 
Zeugen umgeben gewejen, und mit feiner fogenannten Ehre dabei 
nicht in's Gedränge gerathen wäre. Er hatte aber einmal die Ans 
führerrolfe übernommen; und als weld’ ein Schwächling würde 
er in den Augen feiner hohen Gönner und Helfershelfer erichienen 
fein, hätte er diefelbe nicht entfchloffen dDurchgefpielt! Schauerliche 
Berblendung, aus der Konſequenz auch im Böfen eine Tugend 
machen zu wollen! Judas fachte die vielleicht auf Angenblide ge- 
Dimpfte Flamme feiner Erbitterung gegen den Herrn dadurch in ſei⸗ 
nem Herzen wieder an, daß er ſich die bekannten Vorgänge bei der 
Salbung zu Bethanien und dem letzten Abendmahle in Jerufalem im’s 
Gedächtniß zurüdrief.e Genug, mit einem, freilich mehr erzwungenen, 
als wirklich vorhandenen Heldenmuthe fteht er dort an der Spiße der 
Meutererbande wieder vor uns. Ein erheuchelte® „VBorwärts!? Tiegt 
in feiner Haltung; aus feinen ſcheuen Blicken aber, wie aus Dem 
frampfhaft verbiffenen Munde und dem unruhigen Muslkelſpiele des 
blaſſen Angefihts fpricht etwas Anderes. Doch er hat fein Wort ver: 
pfändet, und den Vertrag mit dem Teufel abgefhlofien. Das Vers 
rätherzeichen muß erfolgen. Die Hölle rechnet auf ihn, und würde 
um feinen Preis auf den Triumph verzichten, den Nazarener durch 
einen feiner eignen Apoftel fi in die Hände gefpielt zu fehen. — 
Seiner Bertrauteften einer alfo wird fein Verräther! — Man hat 
von dieſer fchauerlichen Thatfache taufendmal gelefen und gehört; und 
doch, fo oft man ſich's wieder vorfagt, fteht man aufs neue beftärzt, 
als vernähme man's zum erften Male. O, was diefer Judas uns 
ferm Herzen zu fchaffen macht! Welche fchauerliche Räthfel = Erfchei- 
nımg fchreitet in feiner Perfon durch die evangelifche Geſchichte! 
Welche Aufgaben überweifet er der Seelenkunde zur Löſung, und in 
welch” Gedränge bringt er und nicht blos mit unferer Dogmatik, 
fondern felbft mit unferm Glauben! 
Bevor wir in feinem Berrätherfuffe die reife Höllenfrucht feines in- 
nern Verderbens anfchauen, werfen wir noch einmal einen flüchtigen 
Kückblick auf den Entwidelungsgang feines inmern Lebens. Zu feiner 
Biege treten wir im Geift. Zu Carioth erblicdt ein Söhnlein das 
Licht der Welt, Vater und Mutter heigen’s mit Sreuden willlommen. 


der Indadtuß. 239 
Bielleicht Iefen fie an feiner Wiege arglos einen Pfalm; den 103ten etwa 
oder den 128ften. Doc) wehe, dieſe wären nicht die rechten. Leſen folls 
ten fie — ach, wenn fie es ahnten, — Pſalm 41, und drin die Worte: 
„Auch mein Freund, dem ich) vertraute, der mein Brod aß, tritt mic) mit 
Füßen ;” Iefen Pfalm 109, und da die Worte: „Seiner Tage müflen 
wenig werden, und fein Amt und Bisthum müfle ein Anderer empfans 
gen. Er wollte den Fluch, der wird ihm auch kommen; er wollte Des 
Segens nicht, fo wird er auch fern von ihm bleiben; und er zog am 
den Fluch wie ein Hemd, und der Fluch tft in fein Inwendiges de 
fommen wie Waſſer, und wie eine geriebene Salbe in feine Gebeine.“ 
Diefe Palmen follten fie recitiren, und dazu, ach! ein Stüd des 22ften. 
D, wenn fie e8 wüßten, daß das die Lieder feien für dieſe Wiege! 
— Das Kind wird in den Tempel gebracht, dem Priefter übergeben, 
mit dem Sakrament verfehn. Ach, was will dies Kind im Heiligthum 
des Herm?! An ihm wird das Saframent nicht haften. Was fteht 
gefchrieben Pfalm 69? „Seine Behaufung müfje wilfte werden und 
es fei Niemand, der darinnen wohne.” Und was leſen wir Apoſtel⸗ 
geſch. 1, 20% Ach, was wir da Iefen, das fteht von dieſem Kinde 
gefchrieben! — Das Unglückskind! — Uns fchaudert. Seine Eltern 
wittern nichts, Wie follten fie etwas ahnen? Der Knabe waͤchſt ges 
deihlich auf. Er ift der ftillern, der ernfteren und der vielverfprechens 
den einer. Er zeigt mancherlei Anlagen, und felbit, wie man zu fagen 
pflegt, Anlagen zur Religion. Wäre er ein gewöhnlicher Menfch 
geweien, wie wäre er in den auserlefenen Kreis der Apoftel hinein, 
gerathen? Nachdem Jeſus aufgetreten, ſcheint Judas, an menſch⸗ 
lihem Maßftabe gemeflen, vor Andern befähigt, deſſen großartige 
Zwede fördern zu helfen. Er bietet fi) dem Meifter an, ımd Gott 
der Herr vertritt ihm die Straße nicht, fondern läßt ihn herzu. ‘Der 
Helland nimmt ihn gehorfam als einen vom Vater ihm Gegebenen 
unter feine Flügel, und macht ihn fogar zum Zührer ihrer gemeins 
fchaftlihen Kaffe Run ift Judas ein Ehrift, und mehr als dies. 
Niemand weiß von ihm anders, al8 daß er ein wahrer Jünger, ein 
andächtiger und hochbegabter Menſch, und jedenfalls ein bedeutender 
Charakter fei. Nur der Herr Jeſus durchſchaut ihn bald, und findet 
in feinem Innern noch etwas Anderes. Er gewahrt in ihm eine böfe 
Wurzel, die aber in unſerm Herzen auch gefunden wird, und fomit 
nicht gerade etwas Außergewöhnliches ift. Geiz tft die Wurzel, und 
zwar Das Wort in feiner weiteren Bedentung genommen: Geldgeiz 


240 Das Heilige. 


und Ehrgeiz; mit einem Worte: Egoismus, d. i. die allen na⸗ 
tärlichen Menfchen gemeinjame fündfiche Richtung auf die ausfchließ- 
fiche Befriedigung, Erhebung und Verherrlichung des eignen Ich. Was 
den Judas in die Gemeinfchaft mit Jeſu führte, war höchft wahrfchein- 
lich mit die Hoffnung, im Reiche dieſes wunderthätigen Meifters eins 
mal eine Rolle zu fpielen. An böfem Zündftoff fehlte es mithin in 
Indä Innerem nicht, Den erften Verfuchungsfunfen wirft die Kaffe 
in fein Herz. Judas wird ein Dieb, Er vergreift fich an dem frem⸗ 
den Gut ein Mal, und abermals, und wieder, und — er verfchweigt 
ed. Mein Gott, warum befennt er’s nicht und thut nicht Buße? Ya, 
daß er dies nicht thut, wird eben fein Unheil. Aber geftände er, fo 
wäre ja feine Ehre dahin, und fein Gelddurft bliebe ungeftillt. So 
bleibt die Laft auf feinem Gewiſſen liegen. Bon Stund an ift fein 
Berhältniß zu Jeſu ein verändertes. Die Gegenwart des Heiligen 
wird ihm unbequem; denn wie ein heller Spiegel wirft feine Reinheit 
die eigne Schwärze ihm zurüd. Aber wenn er dieſe feine Schwärze 
erfennt, warum beugt er fid) nicht, und entrinnt dem Fluche? Ja, daß 
er dies eben nicht thut, ift unfer Kummer und fein Fluch. Um kei⸗ 
nen Preis gäbe er fein Inneres bloß. Es mochte manchmal des Herm 
Wort ihm wie ein Donner in's Gewiffen fchlagen; aber er überwand 
des Wortes Wucht, und gewann eine immer größere Hebung in fol- 
hem Ueberwinden. Er argwöhnte manchmal, daß Jeſus ihn miß⸗ 
traue; aber dann fchmeichelte er fid) mit der Hoffnung, er könne ein 
Wort, einen Blid des Meifters falfch gedeutet haben. Doc) der Arg- 
wohn reicht fchon hin, fein Herz dem Herm Jeſu zu entfremden, ja 
ſchon eine gewiffe Bitterfeit gegen Ihn ihm einzuflößen. Endlich, 
bei Gelegenheit der Salbung in Maria’8 Haufe, wird's dem Judas 
fonnenflar, der Herr habe wirklich ihn ergründet. Verhängnißvoller 
Moment! Was begibt fih? Alle Gift- und Geiferblafen in Judas 
Herzen ergießen ſich. — Wie, und noch thut er nicht Buße? Nein, 
er entbrennt vielmehr in wilden Rachedurft gegen den, der ihn zu 
durchſchauen, und noch dazu vor den andern Juüngern bloßzuftel- 
len wagte. Mein Gott, warum fchlägt er nicht noch an feine Bruft, 
und errettet feine Seele? — Ach, Brüder, er it fhon des Satans 
Beute, und flürzt, -ftatt Buße zu thun, jetzt durch die Nacht dahin zu 
den Hohenprieftern, um, ihr wißt wozu, ſich ihnen anzubieten. Nichts- 
deftoweniger wagt er fih noch einmal in die Nähe Jefu und den 
Apoftelkreis zurüd, Wozu das? Etwa um jept Belenntnig abzulegen, 


Der Inbaikuf. Bat 


and reumüthig fein Inneres zu erfchliegen? — Hofft es nicht. Ba 
die Larve eines Unfchuldigen vermummt tritt er daher, und fegt ſich, 
als wäre nichts gefchehn, mit den Uebrigen zu Tiſche. Da ſpricht 
Jeſus ernft und feierlich: „Wahrlich, ich fage euch, Einer unter auch 
wird mid) verrathen.“ Und die Jünger fragen nach der Reihe, ums 
endlich beitürzt: „Herr, bin ich es, Herr, bin ich es?“ Nur Eine 
fragt nicht mit, fondern taftet mit erheuchelter Unbefangenheit in bie 
Schüffel. Da lüftet Jeſus den Schleier ganz, und fpricht: „Der die 
Hand mit mir in die Schüffel taucht, der wird mich verrathen.? — 
Run entgegnet Judas halb troßig, halb verzagt: „Bin ich es, Rabbit? 
— „Du fageft es“, fpriht Jeſus. Denkt, weld’ ein Augenblick! 
Was gibt ed nun? Sinkt Judas erfchüttert Ihm zu Füßen und ſchreit 
um Erbarmung? — Nein; vielmehr fährt jegt der Satan vollends 
in ihn. Mein Gott, warum thut er denn nicht noch Buße? — Ad, 
daß er auch jetzt noch fein Herz verhärtet, ift eben fein Untergang. 
Er Schlägt in feinem Wahnfinn eher Alles in die Schanze, als fein 
Ich. Statt zur Buße fich zu bequemen, eilt er, mit Höllenplänen 
fchwanger, durch die finftere Nacht dahin, und fiehet den Meiſter erft 
in dem Diomente wieder, in welchem er demfelben heute als der Füh⸗ 
rer jener Meutererbande begegnet. Er ift nun ganz des Abgrundéfür⸗ 
fin. Schauerlicher Entwidlungsgang! Bor Allem darum jo ſchauer⸗ 
lich, weil Judas von Haus aus fein Böfewicht vor andern, fondern ein 
Menſch war wie wir, derfelben Natur mit uns theilhaftig. Er machte 
nur fein Ich zu feinem Gott, und das in bleibender, bebarrlis 
her Weile. Hörts, ihr Mammonstnechte, ehe auch euch der Satan 
gänzlich hinnimmt! — Er wollte mit feinem verborgenften Herzens 
grunde nicht an's Licht. Vernehmt's, ihr verftodten Pharifäer, umd 
erzittert. — Er fcheute vor dem Gedanken zurüd, als ein um Gnade 
bettelnder Sünder zu Jeſu Füßen zu erjcheinen. Ihr eigengerech⸗ 
ten, ungebeugten Geifter, nehmt e8 zu Herzen und fahrt zufammen! 
Er gedachte fich lieber durchzulügen, als ſich bloßzugeben. Merite, 
ihr übertündten Gräber, daß dies der Weg zur Hölle iſt! Gs 
verdroß ihn und erfüllte ihn mit Unmuth, wenn Jefu Blid und Wort 
ihm in's Gewiffen fuhr. Erſchreckt vor eurem Stande, wenn es euch 
auch alfo ergeht! Es kochte allmälig ein giftiger Brodel von Grimm, 
von Widerwillen ımd bittrer Galle gegen Jeſum in ihm auf. Ad, we 
dergleichen ſich entzündet, da tft des Teufels Werk ſchon weit gediehen. 
Ya, wo man, ob auch feiner Sünde überführt, dennoch fein. armer 
16 


ar Oad Heilige. 


Sünder fein, noch Jeſum für fein Eins und Alles halten will, Da 
it dem Teufel breite, ebene Bahn gemacht, und es fteht bie Hölle da 
ſchon ſperrweit offen! — 

Aber konnte Judas überhaupt noch felig werden, nachdem fein Uns 
tergang getveiffagt war? O Brüder, fein Untergang wäre nie geweiflagt 
worden, hätte Gott vorausgefehn, daß Judas das ihm dargebotene Heil 
ergreifen werde. — Aber mußte nicht jetzt die Schrift erfüllet werden, 
nachdem fie einmal des Judas 2008 verkündet hatte? — Sie mußte 
freilich, wie Jeſus felbft bezeugt; aber des Judas Schuld wird das 
durch nicht vermindert. — Wäre es denn jenem Menfchen nicht befier 
geweſen, er wäre nie geboren worden? — Allerdings, viel beffer, wie 
Dies Jeſus felbft bezeugt. Aber fand es denn nicht bei Gott, die 
Geburt des Unglüdfeligen zu verbinden? — Welche Frage! Was 
follte bei Gott unmöglid) fein? — Aber warum, du Grundbarmherziger, 
ließeſt du ihn doch das Licht der Welt erbliden?! — Sa, fragt nur 
fo; eure Frage kehrt als Echo zu euch zurüd. — Und warım, nad 
dem er geboren war, verſetzteſt du, Gott aller Gnade, ihn in die Nähe 
deines Sohnes, in deffen Lichte er nur zum Zode reifte? — Ya, fragt 
ur; euer Warum verhallt in den Firmen der Ewigkeit. — Und du, 
leutfeligfter der Menfchenfinder, Zefu, warum vertrauteft du gerade 
ibm, dem verfuchungsfähigften der Zwölfe, den Beutel m? — DO, 
laſſet ab von eurem Fragen, lieben Brüder! Hienieden ſchweigt der 
Hünmel über euren „Warums“. Einſt wird er Antwort geben. Wollt 
ihr aber hier ſchon Antwort, fo hört; aus Gottes Wort tönt fie 
euch entgegen, und lautet: „Schaffet mit Furcht und Zittern, 
daß ihr felig werdet!” Hiernach thut. Im Uebrigen die Hand 
auf den Mund gelegt, und feit vertraut, daß Gott gerecht fei in allen 
feinen Gerichten, und heilig in allen feinen Wegen! — 

Doch zurüd zu dem Schredensauftritt in unferm Texte! Es ift 
wahr, durch das freie Hervortreten Jeſu und feine majeftätifche Selbft⸗ 
offenbarung war das verabredete Verrätherzeichen überflüffig geworden. 
Nichtödeftoweniger verftand fich Die Rotte nicht Dazu, dem Judas dass 
felbe zu erlaffen, nachdem ed mit den dreißig Süberlingen bezahlt 
worden war, und weil's Den Meuterern zu einer Art Gewiflenserleich- 
terung gereichen konnte. „Löfe dein Wort!“ winkten ihre Blicke ihm 
zu; und Judas, theils um ſich die Ehre feines erheuchelten Helden 
thums zu reiten, theils um den entmuthigenden Eindrud zu vers 
Inugen, den das. niederfchmetterude Machtwort des Meifters in ibm 


Der Tudebtut. 2 


hervorgerufen, theil® auch, um in fchwächlicher Feigheit durch das mit 
ſchmeichleriſchem Gruß verfnüpfte Liebes zeichen wu möglich den Arm 
des Heiligen in Iſrael gegen ſich zu ent waffnen, — (denn er zitterte 
innerlich vor Seinem Zorn, und das zu den Häfchern gefprochene: 
„Greifet ihn, führet ihn ficher, * erfcheint nur als Ausfluß feiner Furcht 
und Sorge, und nicht, wie Manche e8 haben deuten wollen, als $ros 
nie, die den Sinn gehabt hätte: „Es wird euch doch nicht gerathen; 
in zu halten,“ — fchreitet er unter der Larve vertrauter Befreundung 
auf den Herm zu, bewilllommt ‚ihn mit der Formel herzlichen Wohl⸗ 
wollens: „Begrüßet feift du“, fpricht mit erheuchelter Zärtlichkett 
fein „Rabbi“, ımd wagt es, einer giftgefchwollenen Natter gleich, 
die aus einem Rofengehege hervorzifcht, die heiligen Kippen des Mew 
fchenfohnes unter dem Beifallsrufe der Hölle mit feinem Verrather⸗ 
kuſſe zu beflecken! — 
Dieſer Kuß iſt das Ruchloſeſte und Verabſcheuungswuͤrdigſte, was 
im finſtern Bereiche menſchlicher Suͤnde und Entartung je zu Tage trat. 
Auf dem Boden nicht etwa der teufliſchen, ſondern der menfds 
lihen Natur, ift, wen aud nicht ohne dämoniſche Einfläffe, 
denen jedoch mit freier Entfcheidung Raum gegeben war, jener Frevel 
erwachfen, und darum feiner ganzen Verruchtheit nah unferm Ges 
ſchlechte al8 ſolchem zuzurechnen. Er entfchleiert; als die voll 
ftändig erfchloffene Blüthe deffelden, den „Schlangenfamen“; 
den wir, gleichviel, ob er zur Entfaltung gelangte, oder noch unents 
widelt in uns [hlummere, ſämmtlich auf dem Grunde unfres We⸗ 
fens tragen. Uns Alle verdammt er; ftellt aber damit zugleich die 
unbedingte Nothwendigfeit einer Sühne, Vermittlung und Ges 
nugthuung zur Rettung unfrer Seelen außer Frage. Der Judaskuß 
bleibt im Gebiete der Moral der Schild mit dem Medufenantlig, vor 
welchem der Pelagianer mit feiner Theorie von des Menfchenherzens 
natürlicher Güte erflarren muß. Es ift jener. Kuß das unauslöfdke 
liche Brandmal an der Stirn der Menfchheit, durch das ihr ganzer 
Tugendſtolz das Gepräge des Wahnwitzes und der Lächerlichkeit erhält, 
Und möchte jener Kuß des Berräthers nur der einzige feiner Art ges 
blieben fein! Aber in geiftiger Weiſe hat Jeſus denfelben bis zu dies 
fer Stunde taufendfältig zu erleiden. Denn Ihn heuchlerifch mit dem 
Munde befennen, während man mit dem Wandel läfterlich ihn bloß» 
ftellt und verdächtigt; die Tugenden Seiner Menfchheit bis zum Him⸗ 
mel erheben, während man ihn feiner göttlichen Herrlichkeit ent⸗ 
16* 


244 Das Hellige. 


Heidet, und die Krone der überweltlichen Majeftät Ihm vom Haupte 
reißt; Ihm, wie das Gefchlecht diefer Zeit es vermag, begeifterte 
Hymnen und Oratorien fingen, während man außerhalb des Con⸗ 
certfanles fich nicht allein feines heiligen Namens fchämt, fondern in 
Wort und That fein Evangelium mit Füßen tritt: was ift dieſes AL 
le8 Anderes, als ein Judaskuß, mit dem man Sein Angeficht zu 
befleden ſich erfreht? Der Heiland ftirbt an folchem Kuſſe freilich 
nicht; du aber, der du einen foldhen Ihm zu bieten dich erfühnft, 
wirft daran fterben. Ruhm und Ehre, Hab und Gut, Gefundheit umd 
Leben verlieren, verfchlägt nicht viel, Für alles Diefes ift reicher Er⸗ 
ſatz vorhanden. Uber Zefum verlieren umd veräußern, ift der Tod 
und die Hölle: denn Er ift das Leben und die Seligleit und der 
lebendige Inbegriff alles Defien, was irgend Friede, Heil und Segen 
heißen darf. 


2. 

„Rabbi, Rabbil* So der Verräther. Zwei giftige Dolchſtiche 
in des Heiligen Herz! Er nimmt fie gelafien hin, und felbft den von 
der Hölle entzündeten Kuß wehrt er nicht von fih ab. Er weiß, 
warum er auch bier fi) Duldend hingiebt. War doch auch dieſes 
Herzeleid ein Tropfen des ihm zugemeflenen väterlichen Kelches, und 
fand Er doc) felbft auf dem Grunde dieſes fehauerlichen Vorgangs 
nur den Rathichluß des allmächtigen Gottes. Judas war des Satans 
und zugleich Gottes Werkzeug. Er wollte den Herrn feinen Feinden 
in die Hände fpielen, und der ewige Vater wollte ein Gleiches. 
Wunderbarer Einklang zwifchen Himmel und Hölle, dem Kabinet jen⸗ 
feits der Wolfen, und dein Abgrunde dDieffeits! Vollſte Ueberein- 
flimmung in der That; aber welche Kluft und Scheidung in der Ab; 
fit! Gott kannte das Verderbenskind ſchon lange; aber er zögerte, 
es zu zerfchmettern. Längft durchichaute Gott feinen ſchwarzen Anfchlag; 
aber er ſchloß ihm die Schranken nicht, fondern öffnete fie. Gott der 
Allfehende war Zeuge, wie er die Silberlinge aus der Priefter Häns 
den hinnahm; Doc, ließ er das Blutgeld in feiner Hand nicht eher 
glühend werden, bis der Verlorene den Berrath vollzogen hatte. Mit 
Einem Hauche feines Mundes hätte Gott den Greuelmenfchen vernichs 
ten Tönnen; aber er ließ ihn leben, bis derfelbe frevelnd fein Wort 
gelöft, und erft Dann fchleuderte er ihn hinunter in den Feuerpfuhl. 
Wie, fo waltete der heilige und gerechte Gott? — So waltete er! 
„Schwert*, fprach er, „mache Dich auf über meinen Hirten;* und ein 


Stück diefes Schwertes war auch Judas. — Aber war denn Gottes 
Zom gegen den Heiligen in Jfrael entbrannt? Wie mögt ihr fragem! 
Jeſus war umd blieb der Eingeliebte, an dem er Wohlgefallen hatte, 
Aber ein „Entweder Oder” lag bier vor, über welches, daß ich menſch⸗ 
li rede, Gott felber nicht hinweg zu kommen wußte. Entweder 
mußten wir dem Mörder von Anfang ewig preisgegeben werden, oder 
für und und an unſrer Stelle, Jeſus. Wie aber der Bater ſanmt 
dem Sohne dazu fam, zu Letz terem ſich zu entfchließen, darnadı fragt 
mich nicht. Daß Ihm fogar ein folder Zahlpreis nicht zu hoch er⸗ 
fdyien, um uns Sünder damit aus einer taufendmal verdienten Ver⸗ 
dammniß berauszufaufen, Dies überfteigt mein Berftändnig, wie das 
eure. Er fonnte und eben nicht verloren gehen fehn, fondern wollte 
und retten. Wir reden von Liebe hier, von Barmherzigkeit, 
von einem Dcean der Güte, von einem Abgrund der Erbars 
mung; aber alles dies ift mur ein armes Stammeln, ein Dürftiges 
Lallen von der unausfprechlich großen und mnausforfchlichen Sache. Im 
unfrer Sprache ift fein Wort, das auch nur einigermaßen die flam⸗ 
mende Inbrunft im Weſen Gottes würdig bezeichnete, aus welcher dies 
fer Retter: und Berföhnungsplan hervorging. Genug, „Gott warf alle 
unfre Sünden auf den Sohn,” und ſchrieb Ihm unfre Schulden zu, 
Damit wir Schuldner, aller Laſt entbürdet, auf Grund Seiner Zah⸗ 
lung, des Erbtheils der ewigen Wonne theilhaftig würden. 

Doch in die Geſchichte jebt den Blick zurüdigewendet, ımd auf 
das Verhalten des Herm gegen den Berräther unfer Augenmerf ges 
richtet! Eine Engelfanftmuth würde eine Probe, wie fie jene raffinirte 
Unthat Ihm bereitete, nicht beftanden haben. Hier aber ift mehr, 
als Sanftmuth, Leidfamkeit und Geduld eines Engels. Der Jüns 
gerkuß felbft ſchon gibt der uͤbermenſchlichen Sanftmuth des Herm 
Zeugniß; denn wie hätte der Apoſtat gerade dieſes Zeichen zum Ver⸗ 
rätherſignal erwählt, wäre er ſich nicht der Langmuth feines Meiſters 
als einer unbegrenzten bewußt geweſen? So mußte er mit demſel⸗ 
ben Kuſſe, durch welchen er Ihn den Henkern überwies, den Herrn 
preifen, und unfre Vorftellung von der unendlichen Herablaffung und 
Liebe, deren er Seitens des Meifters ſich zu erfreuen gehabt, nur ſtei⸗ 
gern, indem er ja nimmer fein Bubenſtück gerade in die Larve der 
Vertraulichkeit zu verhüllen gewagt haben würde, wenn ihn nicht Die 
taufendmal erprobte unendliche Leutfeligfeit des Meifterd Dazu ermu⸗ 


thigt hätte. Ach ja, daß ber. Berräther es wagen durfte, fo Ihm 


248 Dal Heilige. 


gu nahen, das beurkundet der Herr aufs neue theils durch feine lei⸗ 
Dendliche Hingebung an die erheuchelte Umarmung des Abtrünnigen, 
theils durch den Geiſt des Mitleids und der Milde, der fein letztes, 
ach fein Abfchiedswort an ihn, durchathmet. 

„Mein Freund“, beginnt der Herr mit wehmüthigem Exnfte, 
„warum bift du gelommen?* Wer hätte diefe Lindigfeit bier 
erwarten follen? Ein „Hebe dic; von mir, Satan”, oder ein „Daß 
du verdammt wäreft mit deinem Joabskuß, du übertündhtes Grab! * 
wäre hier viel mehr an feinem Orte gewefen. Statt deffen tönt uns 
eine Stimme an, wie eines noch einmal zärtlih um die Seele feines 
tief verirrten Kindes werbenden Vaters Stimme. Allerdings aber 
würde ein Ausbruch flammender Entrüftung für den Verräther fo vers 
nichtend nicht gewefen fein, wie es dieſer Hauch mitleidiger Liebe 
für ihn war. Das „Freund“, oder wie das grundtertliche Wort 
richtiger verdeutfcht wird, „Genoſſe“, führt ihm noch einmal die ganze 
bevorzugte Stellung vor, deren er als ein in den Kreis der Vertrau⸗ 
teften des Herrn Aufgenommener gewürdigt worden war, Diefe Ans 
rede gemahnte ihn an die taufendfachen Erweifungen unausfprechlicher 
Freundlichleit und Huld, mit denen er drei ganze Jahre hindurch in 
der unmittelbarften Nähe und treuften Hirtenpflege des Hofdfeligiten 
der. Menſchenkinder fich überjchüttet fah. Und wie hätte, wenn noch 
eine unverhärtete Stelle in feinem Herzen zurüdgeblieben wäre, diefe 
Rücerinnerung ihn ergreifen und zermalmen müffen! Es lag aber in 
der unverholenen Hindeutung des Herrn auf das Verhaͤltniß traulicher 
Genoſſenſchaft, in welchem Judas zu Ihm geftanden hatte, zugleich ein 
zerfchmetterndes Gericht für die Meuterer, welche der Führung eines 
Menſchen ſich anzuvertrauen nicht errötheten, den fie felbft in ihren 
Herzen als einen Auswürfling ohne Gleichen verachten mußten. Ein 
Ehrloſer, der ſich nicht entblödete, einen treuen Freund und Brod⸗ 
berrn, von dem er nur Wohlthaten genoffen, fo tüdifh und mit fo 
verruchtem Undank preiszugeben, ja mit Füßen zu treten, trug ihnen 
die Fahne voran, und theilte unter ihnen die Tagesloſung aus. 
Welche Erniedrigung lag darin für fie; welche Schmach und Schande! 
Doch der verhärteten Brut ging's in dem Augenblid nur um das Eine, 
Daß Jeſus falle, und feine ihnen fo verhaßte Sache den Zodesftoß 
empfange; und dieſes mörderifche Begehren nahm dergeftalt ihre ganze 
Seele ein, daß darin felbft für die Intereffen ihrer Ehre kein Raum 
mehr blieb. — „Genoffel “ fpricht der Herr, und fährt Daum fort: 


Der Judaltuß. 843 
„Zu was bift Du gekommen,“ oder: „wozu ftehft du hier?“ 
— Diefe Frage, obwol immer noch lockende Liebe athmend, treibt Dem 
Berräther den Stachel des dDurchbohrenden Vorwurfs noch tiefer ws 
Marl. Zugleich aber laͤßt fie noch einmal die nachdrucksvollſte Auf 
forderung an ihn ergehn, ſich jetzt in dieſem allerlegten Momente vor 
feinem fchließlichen und rettungslofen Anheimfall an die Höllenmächte 
noch auf fein unfelige8 Unterfangen zu befinnen. „Wozu bift dx 
da?" — ie ein ſchreckender Donner rollt diefes furchtbar inquifi⸗ 
torifche „Wozu“ Durch des Berräthers Herz. Im Nu ift fen Ge 
wiſſen von feinem Zodesfchlaf erwacht, und fühlt ſich wie von allmäch⸗ 
tiger Hand vor die Schranfen des Richterthrones Gottes fortgeriffen, 
Saft ift Dafjelbe, nothgedrungen, ſchon im Begriff, auf das „Wozu“ 
Befcheid zu thun, und zwar den wahren ımd ungefälſchten Bes 
ſcheid, der den Berräther zu einem Kinde des Fluchs und einem Erben 
der Verdammniß geftempelt haben würde. Aber wie Judas Diefen 
Durchbruch der Wahrheit in feinem Innern ſich vorbereiten fuͤhlt 
ſtemmt er ſich mit Macht gegen fein eignes Gewiſſen am, erſtickt das 
Wort des Geftändniffes gewaltſam auf des innern Richters Lippe, 
reiht dDiefem den Gifts und Zaubertrank erneueter Selbftbelügumg, 
und bringt's mit der Geläufigfeit eines in fo heillofer Kımft Erfaßs 
tenen und Geübten wirklich fertig, denfelben auch diesmal wieder 
zum Verſtummen zu nötbigen und zu betaͤuben. Da bleibt denn beik 
Herrn nichts weiter übrig, als nun auch noch den Schlag auf filme 
Herzensthüre fallen zu laſſen, welcher, wern es auch ihm nicht gelingt, 
fi heilwirfend Bahn zu brechen, dem Berräther die Stelle des Glok⸗ 
kenklangs vertritt, der ihm den Moment feiner vollendeten Todesreiſt 
und feiner ewigen VBerwerfung anzeigt. Der Herr nennt ihn jegt 
beim Namen, etwa, wie man einen Mondfüchtigen, den man nacht 
wandelnd einem Abgrunde entgegenfchreiten fieht, bevor er in denfelben 
hinabftürze, durch feines Namens Nennung aus feinem verhängnißents 
len Traume zu weden hofft. „Judas!“ ſpricht der Herr mit flarfer 
Betonung, als ob Er, damit zu feiner Rettung nichts umverfucht ges 
blieben fei, ihn auch noch bei feiner Ehre faffen und zu ihm fagen 
wollte: „Gedenkſt du denn nicht, wie du, benannt nad) dem edlen Kern⸗ 
und Fürſtenſtamme des ausermählten Volles, deſſen Zweig du biſt, 
von Kindheit auf durch die Bedeutung deines Namens ſchon zu einem 
Berherrlicher Gottes verordnet bift; und Du vermagft es, jeht fo 
zu mir zu kommen?“ — Jundas!“ fpricht der Herr. Und nachdem 


28 Dis Hellige. 

er den Mann genannt, bezeichrtet er num auch mit unverbrämten Wor⸗ 
sen feine That. Doc hören wir ihn auch jetzt noch in liebevollſter 
Netterabficht feiner Nede eine ſolche Wendung geben, als vermöchte 
& an die Möglichfeit des Vorhabens feines Jüngere wirklich noch 
nicht zu glauben. Daſſelbe immer noch ſchonungsvoll, und mit erneuer⸗ 
tem Aufruf an Das Gewiffen des unglüdjeligen Jüngers, in Frage 
ſtellend, fpricht er: „Berräthit du des Menfhen Sohn mit 
einem Kuß?“ — Jedes diefer Worte hat feinen Nachdruck. „Vers 
raͤthſt.“ — Furchtbares Wort, das nun endlich das Verbrechen in 
feiner Nacktheit hinftellt! — „Du. — Mein Bertrauter, der mein 
Brod aß, follteft Du folchen Frevels fähig fein? — „Des Menſchen 
Sohn.“ Ihn, der nur Liebes und Gutes dir erwies, aber einft 
nach Danield Zeugniß zum Gericht in des Himmels Wolken wieder: 
kehren wird, könntet du verrathen? — „Mit einem Kup.” — Mit 
‚dem Zeichen der Befreundung und der Liebe verräthft du ihn? 
— Judas, du fönnteft Liebe lügen, und Mord im Schilde füh— 
ren?“ Der Herr fragt’s, und Judas? — Ihr wißt, er hat in des 
Satans Kraft die Frage beantwortet mit jenem Verbrechen, das feinen 
Ramen zur fprüchwörtlichen Bezeichnung des Gräßlichften und Ders 
ruchteſten in der Welt geftempelt hat, und welches ihn, felbft mit dem 
Brandmal des göttlichen Fluchs an der Stirn, für ewige Zeiten als 
Schrederempel für die Menfchheit an den Pranger der Weltgefchichte 
Rellte. — Verräthſt du des Menfhen Sohn mit einem Kup?“ 
Dies alfo der Abfchiedsgruß, mit welchem der beflagenswerthe Jünger 
von dem einigen Retter der Sünder auf immer verlaffen wird. Wehe 
dem Unglüdfeligen! „Nun ift er unfer!“ trinmphirt die Hölle, und 
vom Himmel ber wird fein Einfpruch dawider laut. Ueber des Judas 
Haupt aber rollt wie dumpfer Donner jene Frage heute noch dahin. 
— Einst aber entfleidet fi das Wort feiner Fragenden Form, und 
verwandelt fi dann in ein richterlich nadtes „Du verrietheft des 
Menfhen Sohn mit einem Kuß!“ — 

Zief erfehüttert, Brüder, gehn wir heute auseinander. Laſſen wir 
aber, was wir angefchaut, zu feiner vollen Wirkung in uns kommen! 
Kein pharifäifches „Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin, wie jener 
dort,“ fchwäche diefe Wirkung! Wir find dem Keime nad, was er, 
umd können's, ehe wird uns verfehen, auch der Entfaltung nad 
fein, wofern wir uns nicht bei Zeiten unter die Hut der Gnade ftellen. 
DE Teufel hat nicht aufgehört, wie ein brüllender Löwe umberzugehn, 


Der Iubaituh. 249 
und zu fuchen, welchen er verfchlinge; und der Weg, der von der ex 
ften Entwidelungsftufe der Sünde zu der legten führt, ift, fo lange 
wir uns felbft gelafien find, oft ſchnell zurüdgelegt. Säumen wir dar 
um nicht, unfre Seele in Sicherheit zu bringen, und hüten wir unfer 
Herz, wie eine von Feinden ringsum befagerte Stadt gehütet wird, 
Suchen wir aber die Schubwehr da, wo fie allein zu finden ift: unter 
den Flügeln Ehrifti; und machen wir den Geufzer des erleuchteten 
Sängers zu dem unfern: 


Treib und an, 

Jeſn, daß wir immer flehn, 

Und an unfrer Kraft verzagen; 

Laß und ſtets die Feinde ſehn, 

Und die Seel’ in Händen tragen. 

Hilf und Kündlic) fort auf rechter Bahn; 
Treib und an! 


Nimm und ein, 

Jeſu, nimm und ein und auf: 
Rimm und ein in deine Wunden, 
Und nach wohlvollbrachtem Lauf 
Nimm und auf in legten Stunden, 
Daß wir in Dir völlig ſicher fein; 
Nimm und ein! — Am. — 


— — 
XXI. 
Schwert und Kelch. 





Als David auf jener ſchmach⸗ und drangſalsvollen Flucht vor ſeinem 
empoͤreriſchen Sohne nach Bahurim kam, ging, ſo berichtet die Ge⸗ 
fhichte 2 Sam. 16, 5—12, ein Mann daſelbſt heraus, vom Geſchlechte 
des Haufes Saul, der hieß Simei, und übergoß den gebeugten König, 
indem er zugleich mit Koth und Steinen nad ihm warf, mit einer 
Flut von Läfterungen und wilden Flüchen. Es gewährte dem fei- 
gen Buben feine geringe Luſt, auf dem verwundeten Königslöwen fo 
mit feinen Füßen jept herum zu treten, „Hinaus, hinaus aus dem 


250 Das Heilige. 


Lande; “ geiferte er, „hinaus, du Bluthund, du Iofer Maun, du Bes 
lials⸗Kind! Der Herr hat dir vergolten alles Blut des Hauſes Saul, 
daß du an feiner Statt bift König worden, Nun bat der Herr das 
Reich gegeben in die Hand deines Sohnes Abſalom; und fiehe, nım 
ſteckſt du in deinem Unglück; denn du bift ein Bluthund!“ — ‘David 
hoͤrts, leidet’s, fenkt fein Haupt und ſchweigt. Nicht aber aljo fein 
trener Paladin, Zerujas Sohn, Abifai. Dem beginnt das Blut 
zu fochen, und mit zornbligendem Auge zu feinem Gebieter gewandt, 
fpricht er, Die Hand an des Degens Knauf: „Sollte dieſer todte Hund 
meinem Herrn, dem Könige, fluchen? Ich will hin, und ihm den Kopf 
abbauen! „So recht!“ fprechen wir, „dieſer Ritter thut, wie ihm ges 
ziemt!“ Und Abifat geht nicht mit leeren Worten um. Indem er 
Spricht, hat er auch fchon fein Schwert gezückt, Aber da vertritt der 
König ihm den Weg, und entgegnet dem Grimmentbrannten: „Was 
babe ich mit euch zu fchaffen, ihr Kinder Zeruja? Lafjet ihn fluchen, 
denn der Herr hat's ihn geheißen: Fluche David! Wer kann nun fas 
gen: Warum thuft Du alfo?* — Und David fuhr fort zu Abifai und 
feinem ganzen Gefolge, und fpradh: „Siehe, mein Sohn, der mein 
Fleifh und Blut ift, ftehet mir nach meinem Leben; warum nicht auch 
jet der Benjaminite? Laſſet ihn gewähren, daß er fluche; denn der 
Herr hat's ihn geheißen. Vielleicht wird der Herr mein Elend anfehn, 
und mir mit Güte vergelten fein heutiges Fluchen.“ — So der König 
in unendlicher Beugung vor Gott, als aus deffen Hand er alle dieſe 
Schmad und Unbild als gerechte Heimfuchung für feine Miffethat 
bußfertig hinnimmt. Bedurfte es noch eines Zeugniffes für die Auf⸗ 
richtigkeit feiner Zerknirſchung, fo war daſſelbe in dieſem „Laffet ihn 
fluchen!“ reichlich gegeben. Simei fährt jegt nur um fo dreifter mit 
feinen Schmähungen und Steinwürfen fort. Der König aber läßt ſich's 
geduldig gefallen; denn „Herr, Deine Ruthe iſt's, die mich züchs 
tigt," denft er. 

Wie in unzähligen Momenten feines Lebens, fo erfcheint David 
auch hier wieder ald Schatte und Vorbild feines großen Sprößlings 
nad) dem Fleifche, des Sohnes Gottes, des Königs aller Könige. Wir 
nähern uns heute einem Auftritt, in welchem die ganze Scene bei Bas 
hurim, in größerem Mapftabe nur, fi) wiederholt. Simei, wie 
Abifai treten auch hier wieder auf; nur ift bier mehr, dem David, 
der König Iſraels. 


ie Ge 


Schwert ud Kell. 281 


Matthãus 26, 5i—5A. Mareus 14, 47. Sucas 22, 49 -31. 
Ishanncs 18, 10 u. il. 

Da aber fahen, bie um ihn waren, was ba werben wollte, ſprachen fie zu The: 
Herr, follen wir mit dem Schwerte barein ſchlagen? Und fiebe, einer aus denen, bie 
mit Jeſu waren und dabei flanden, Simon Betrud, hatte ein Schwert, und zog 8 
and, und redte die Hand aus, und ſchlug nach des Hohenpriefterö Knecht, und hieb 
ihm fein rechtes Ohr ab; und der Knecht hieß Malchus. Iefns aber antwortete und 
ſprach: Laffet mid fo lange. Und ſprach zu Petro: Stede dein Schwert an feinen 
Drt in die Scheide: denn wer bad Schwert nimmt, der ſoll durch'ß Schwert umfom- 
men. Sol ih den Kelch nicht trinfen, ben mir mein Bater gegeben hat? Oper 
meinft du, daß ich nicht Lönnte meinen Vater bitten, daß er mir zufchide mehr denn 
zwölf Begionen Engel? Wie würde aber die Schrift erfüllet? Es muß alſo u 
Und Er rührte fein Ohr an, und heilete ihn. 


Ein feltfamer Zwifchenaft unterbricht für einen Augenblid die eben⸗ 
mäßige Enwicklung der heiligen Baffionsgefchichte, und dient uns zu 
erneutem Zeugniß, wie fchwer es dem Gedanken des Menfchen wird, 
zu den Gedanken Gottes, wie fie namentlich im Werke der Erlöfung 
ſich entfalten, fich zu erheben. In unſrer heutigen Scene geſchieht et 
Schweriftreih, welcher, obwol von der allerbeiten Meinimg begleitet, 
dennoch gegen nichts Geringeres, ald gegen den Grund alles Hetis 
der Welt gerichtet ift. WBünfchen wir uns Glüd, daß die ewige Liebe 
ihre Wege geht, und unfern Beirath zu ihrem Thum nicht beanſprucht. 

Simons Schwert und Jeſu Kelch find die beiden Hauptute⸗ 
mente unfter heutigen Erwägung. Knuͤpfe an fie der Herr Den Segel; 
daß wir den falfchen von dem rechten Eifer fir die Sache Jeſu ums 
terfheiden lernen, und im Berftändnig des eigenften und innerfteit 
Weſens des Königreichs der Hünmel eine heilfame Förderung erfahren. 

1 


Nah dem mildsernften, aber um fo zermalmendern Worte an den 
Berräther öffnet nun der Herr den Meuterern die Schranken, und 
bietet ihnen willig feine Hände dar. Mit kinftlich heraufbeſchworner 
Entfhloffenheit dringen fie auf ihn ein. Entfeplicher Moment! Der 
Herr der Herrlichkeit einem Raubmörder gleich umzingelt und über⸗ 
fallen! Die Yünger fehen’s; aber diefer Anblick verſetzt fie außer fi. 
Wenn ihnen beim Verraͤtherkuſſe vor Grauen das Blut erftarrte, ſo 
beginnt e8 ihnen jet in den Adern zu fochen. Nein, daß es bis das 
bin Eomme, dürfen fie nicht dulden. „Herr,“ fprechen fie wie mit 
einem Munde, „follen wir mit dem Schwerte drein fchlas 
gen?" — Sie thuen wohl daran, daß fie erft fragen; aber Die Brage 


252 . Das Hellige. . 


tft freilich nur Form, und bewußtlos bingefprochener Gewohnheits⸗ 
laut. Denn indem fie diefelbe ansprechen, ertheilen fie fich auch 
ſchon felbft die Antwort; und ehe der Meifter auch nur zu einer 
Sylbe Zeit und Raum gewinnt, ift Petri Schwert fchon aus der 
Scheide, und der erfte Schlag der Gegenwehr gefallen. Wir verfies 
ben Simons Herz. Zu gewaltig wurmte den feurigen Jünger nod) 
das „In diefer Nacht — —“, welches der Herr auf dem Wege zum 
Delberg zu ihn gefprochen hatte. „Rabbi“, denkt er in flammender 
Liebesentrüftung, „ich Dich verleugnen? — Womit verfchuldete ich's, 
fo ſchwer von Dir verfannt zu fein? — Bift du nicht mein Eins und 
Alles? Und ich follte Dich verlaffen können? Wenn dir es denn nicht 
glauben wollteft, daß ich eher mit dir fterben würde, fo magft du es 
jegt erfahren!” — Er denkt's, und, unbezweifelt in dunkler, nur 
freilich allzublinder Rüderinnerung an des Meifters früheres Wort 
vom Schwerterfaufe, haut er mit dem gezüdten Stable blindlinge 
auf Die Rotte ein, und trifft dem Malchus, dem Knechte des Hohen⸗ 
prieſters, vielleicht einem vor Andern Iofen und Täfterlichen Buben, 
vielleicht aber auch der Schuldlofern einem, dergeftalt das rechte Ohr, 
Daß es nur noch an zarten Fafern auf feine Wange herabhing. „Wohl 
gethan, Simon!” möchten wir rufen. „Nur alfo fortgefahren! Die 
Belialskinder verdienen blutige Köpfe! Hättet ihr, feine Vertrauten, 
Diefem verruchten Attentate gegen euren Meifter kaltblütig zufehn kön⸗ 
nen, wir würden an eure Liebe nicht mehr haben glauben können!“ 
— So möchten wir fprehen, glückwünſchend dem Petrus zu feinem 
Handftreih. Wir fühlen die Iebhafteften Sympathieen für den ents 
ſchloſſenen Zünger, und möchten es den Andern ſchier zum Vorwurf 
machen, daß fie nicht gethan, wie er, und ihm nicht helfend beigefpruns 
gen. Aber hier wird uns einmal wieder Anlaß, an uns felbft uns 
bewußt zu werden, wie oft auch die feheinbar edelften Aufwallungen 
unferes natürlichen Herzens ſchnurſtracks wider Gottes Willen und 
Ordnung angeht. Was uns hier an Petrus als ein fo liebenswers 
ther Zug erfcheinen will, ift nur ein trübes Gemifh von Eigenheit, 
Bermeffenheit und Thorheit, und das Naturfeuer unfrer Begeifterung 
für Simons That hat gleichfalls nichts als Kurzfichtigkeit und Blind⸗ 
heit zu feiner Quelle. 

Unleugbar hatte eine feurige und aufrichtige Liebe an Petri That 
ihren wefentlichen Antheil; aber gewiß war es die Liebe nicht allein, 
weiche zu jenem Sitterftreiche Die Hand ihm führte. Mindeſtens ging 


Schwert and Kelch. 258 


es ihm in gleichem Maße um die Rettung der eignen Ehre, wie um 
die der Perfon feines Meifters; und es war die Deffentlichkeit 
gewiß feine geringe Stüße feines Heldenmuthe. Um den Lorbeer 
einer Preisrichter « Verfammlung, wie unfer Jünger dort fie vor fi 
hatte, pflegt Mancher ſchon etwas zu wagen und aufs Spiel zu ſetzen. 
Nur wagte Petrus bei feinem Streiche zu viel daran. Wäre es ihm 
mit feiner Frage: „Herr, follen wir mit dem Schwert drein ſchlagen?“ 
doch nur ein rechter Ernſt gewefen; gewiß hätte der Herr dieſelbe mit 
der Gegenfrage erwiedert: „Simon, willft du den Ruhm meiner Hins 
gebung mir beflecken? Legſt du es Darauf an, und der Verdaͤchtigung 
bloß zu ftellen, als feien wir doch nur ein politifcher Aufrührerhaufen? 
Beabfihtigft du, den WBiderfachern einen Grund der Rechtfertigung 
dafür zu leihen, daß fie bewaffnet zu uns kamen; und, Simon, 
willft du abermals zur Vereitlung des ganzen Erlöfungswerfed dem 
Satanas die Hände bieten?“ — So, oder Ähnlid würde der Herr 
gefprochen haben; denn allerdings war, wenn das, wozu Simon und 
feine für den Augenblid gleichfalls fchlagfertigen Mitapoftel den Ans 
lauf nahmen, wirklich ausgerichtet wurde, der Plan der Weltbefeligung 
durchkreuzt, indem alsdann das Lamm Gottes für und nicht zur 
Schlachtbank ging. Es war aber die große Wahrheit, daß eben in 
der Hinopferung des Gottmenfchen das Heil der Sünder wurzele, 
den lieben Männern immer noch ein tief verfchloffenes Geheimniß, 
und blieb es ihnen, bis der Pfingftgeift die fieben Siegel brach, und 
die heiligen Tiefen ihnen auffchloß. Und auch heute noch iſts allein 
der Geift, der hier das Beritändnig öffnet und das Raͤthſel loͤſt. 
Ohne ihn vernimmt man den Artilel von der Verfühnung im Blute 
Jeſu wol, und weig"ihn vielleicht gar predigend vor fich ber zu 
tragen; aber man befigt ihn nur als einen dürren Begriff, als eine 
dogmatifche Formel, als ein todtes Gedankending, und hat im 
Grunde nichts an ihm. Gründlih durchſchaut, ernftlich geglaubt, 
lebensträftig als Heils⸗ und Hoffnungsgrund erfaßt wird der Artikel 
erft, wenn ihn der Geift der Gnade dem zerbrochnen Herzen nahe 
bringt und deutet, 

Der Wirrwar, den Simon durch fein unbefonnenes Dareinfahren 
angerichtet hat, ift unbeſchreiblich. Die ganze Scene hat plößlich eine 
andere und fremde Geftalt gewonnen. Die Häfcher rüften fi, ihre 
Schwerter zuckend, nun ebenfalls zum Kampfe, und der heilige Boden 
der Paffion iſt zu einer Wahlſtatt umgewandelt, Es hätte ein ſchneiden⸗ 


8 Des Heilige. 


(merkte, ihr falfch empfindfamen Beftreiter der Begründung der To⸗ 
desftrafel) wer das Schwert nimmt, foll durch's Schwert 
umlommen!” Als Petrus fpäter wirklich zum Richtplag wandern 
mußte, wird er an diefes Wort mit Grauen zurüdgedacht, aber zu- 
gleich in feinem Herzen hoch aufgejubelt haben, Daß nur das Todes- 
uriheil der Menſchen ihn noch, treffen Eonnte, indem das des ridh- 
terlihen Gottes durch das Blut des Lammes ewig von ihm hins 
weggenommen war, Doc hört den Meifter weiter, „Soll ih den 
Kelch nicht trinken, den mir mein Bater gegeben hat? oder 
meineft du, Daß ich nicht Fönnte meinen Bater bitten, Daß 
er mir zufhide mehr, denn zwölf Legionen Engel? Wie 
wärde aber die Schrift erfüllet? Es muß alfo gehn!” — 
O weld ein tiefer und umfafjender Blick, der uns hier auf's neue in 
das erhabene Selbftbewußtfein des Herrn eröffnet wird! Wie weicht 
hier der Schleier feiner Knechtsgeſtalt zurück, und wie entfaltet ſich 
hier wieder vor uns, einem Blitz in finfterer Nacht vergleichbar, Die 
ganze Majeftät des eingeborenen Sohnes vom Vater! Auch in den 
dunfelften Emiederungstiefen bleibt Er, der er ift, und fteht mit fei- 
nem Wiffen von fich felbit allewege über dem Gegenfat des Scheins, 
der ihn umfangen hält. Ja, wenn er wollte, dürfte er, — gewiffer 
if ihm nichts, als Dies — nur heifchen, (dies ift der Begriff des 
Wortes im Grundtext,) und der Vater fendete ihm zu feinem Schuße 
„zwölf Legionen Engel”, (alſo für jeden Einzelnen der Heinen Gemein- 
ſchaft eine.) Daß der Herr dies ausfpricht, welche Befhämung liegt 
darin für Petrus, der da meinen Eonnte, daß der Meifter, wenn 
er nicht in den Riß fich für ihn werfe, verlaffen und hülflos ftehe. 
Dies fein thörichtes Meinen, wie empfindlich wird es durch das 
„Meineft du nicht?” beftrafl. Weiß Simon doch, daß fein Herr 
mit leeren Reden nicht zu verkehren pflegt, und daß er darım deffen 
Wort von der ihm zu Gebote ftehenden Himmelsmacht buchſtäblich 
zu nehmen habe. Und ihm konnte der Einfall kommen, er müffe 
Diefen Herrn al8 einen Wehrlofen von einer Handvoll armer Sterb- 
licher erretten! Welch ein Unglaube! Welche Verblendung! 

Aber hätte es in der That noch in der Macht des Herrn gelegen, 
durch Engelhülfe feinen Leiden ſich zu entziehen? Lnbezweifelt! Wie 
Er zur Uebernahme des großen Werkes fi) frei entfchloffen hatte, fo 
fonnte er auch jedweden Augenblid wieder frei und ungehindert davon 
abftehn, Jeder Gedanfe an Zwang und Nöthigung von Außen 


Schwert und Kell. 259 


her ift von dem Thun umd Leiden unfres Mittlers fern zu halten, 
Nun wüßte ich aber kaum einen Moment im Leben Sefu, da feine 
Sünderliebe herrlicher zu Zage getreten wäre, als in demjenigen, 
vor welchen wir eben ftehen. Eine Himmelsichaar, mächtig, eine 
Welt von Widerfachern in den Staub zu ftreden, fteht feines Winks 
gewärtig hinter dem Wolfenvorhang, und brennt vor Begierde, für 
Ihn einzutreten, und Ihn im Triumph aus der Gewalt der Gottlofen 
befreien zu Dürfen; und Er, der Mißhandelte und Bedrängte, verzich⸗ 
tet. auf ihre Hülfe, und wiederholt aufs neue, nur mit größerem Nach⸗ 
drud noch, weil es durch die That gefchieht, fein: „Dein Wille 
geſchehe, Vater, nicht der meine!" — „Es muß alfo gehen, * 
ipricht er. Beachtet's wohl dies fein erneuertes Zeugniß von der MM- 
umgänglichen Nothwendigkeit feiner Paſſion. — „Wie würde 
fonft die Schrift erfüllet,” fügt er hinzu. Moſis und der Pros 
pheten Wort ift feines Fußes Leuchte und das Licht auf feinem Wege, 
„Soll id den Kelch nicht trinken,” fragt er, „den mir mein 
Bater gegeben hat?" Großes, inhaltvolles Wort! Laßt uns bei 
demfelben einige Augenblide betrachtend verweilen. 

Was ift ein Kelch? — Ein Trinkgefäß, das fein beſtimmtes 
Maß, und in ſeinem Rande ſeine Grenze hat. Ihr wißt, zu ver⸗ 
ſchiedenen Malen ſprach der Heiland von dem Kelche, der ihm vers 
ordnet fei. Matth. 20 fragte er feine Jünger: „Vermoͤgt ihr aud) dem 
Kelch zu trinken, den ich trinken werde?“ Unter dem Kelche verftand 
er den ihm zugemefienen gallenbittern Trank feiner Paffion. — In 
Gethſemane hörten wir zu Anfang Ihn noch fragen, ob es nicht möge 
(ich fei, daß der Kelch an Ihm vorübergehe? An unferm Orte nennt 
Er ihn mit dem ungetrübteften Bewußtfein einen Kelh, „den ihm 
fein Bater gegeben“ habe. Was in dem Kelche war, wißt ihr, 
Alles enthielt er, was der Sünde halber Seitens der göttlichen Ge⸗ 
rechtigfeit uns zugemeffen werden mußte. In dem Kelche war ber 
ganze Fluch des unverbrüchlichen Geſetzes. Es waren in ihm alle 
Schrecken des Schuldgefühls, alle Schauer der ausgefuchteiten Anfech- 
tungen des Satans, alle Nöthen, die Leib und Seele treffen können. 
Es dunfelten darin die fürchterlichften Tropfen der Verlaffenheit von 
Gott, der Höllenangft, und eines mit dem Fluch belegten und in der 
Umgebung der finften Mächte zu erduldenden blutigen Todes. — 
Wie, und einen alfo gefüllten Kelch reicht Ihm der Vater? — Kein _ 
Andrer, als Er. Lernt bier verftehn, was das ift: „Der auch feines 

17* 


380 Das Heilige. 


eignen Sohnes nicht verſchonte, ſondern hat ihn für uns Alle dahin 
gegeben;“ was das iſt: „Gott warf alle unfre Sünden auf Ihn;“ 
was das ift: „Ich will den Hirten ſchlagen, und die Schafe der Heerde 
werden ſich zerftreuen; * was das ift: „Chriftus hat uns erlöfet vom 
Fluche des Gefeßes, da er ward ein Fluch für uns;“ und was das: 
„Gott hat den, der von feiner Sünde wußte, für uns zur Sünde 
gemacht!" Was alles dies bedeute, lernt's hier verftehen. Sieh, was 
von Jugend auf du mit deiner Gottvergeffenheit, deinem felbitfüchti- 
gen Thun und Zreiben, deinem Ungehorfan, deinem Hochmuth, dei: 
nem Weltfinn, deinen unfaubern Gelüften, deiner Heuchelei, Deiner 
Falſchheit, deiner Herzenshärtigfeit, Deinem Lug und Zrug: was, fage 
ich, mit dem Allem du dir zufammenhäufteft auf den Zag der Offen: 
barung feines heiligen und gerechten Zornes, das alles findet fid) 
in dieſem Kelch vereinigt, und gährt zu einem furchtbaren Todestrank 
darin zufammen. — „Soll ih diefen Kelh nicht trinfen?* 
fpricht der Herr. — Ja, trinf ihn, Jeſu; denn du trinfft ihn oder 
wir; und für uns hat der Kelch nicht Grund, nicht Boden: denn 
Ewigkeit ift unfres Fluches Maß. — „Soll id diefen Keld 
nit trinken?“ — Sa, leere ihn, Immanuel! Wir wollen dir da⸗ 
für die Füße füffen, und auf deinem heiligen Altare felbit die Opfer 
fein, die Dir ſich wihen. — Er leerte ihn. Kein Tropfen 
biteb für die Seinen darin zurüd. Die Genugthuung ift vollzogen, 
die Verföhnung in's Werk geftellt. Nichts VBerdammliches ift mehr an 
denen, die in Chrifto Jefu ſind. Fluch trifft fie nicht mehr, kann 
und darf fie nicht mehr treffen; denn „alle Strafe Tag auf ihm, auf 
Daß fie Frieden hätten“; und ihnen ift nichts geblieben, ald — das 
Halleluja. — 

ı Sa, wir find befugt, ſchon jet dies Halleluja anzuftimmen, obwol 
wir noch der ftreitenden Kirche angehören, und die triumphirende 
erft in der Ferne vor uns liegt. Das Wort: „Wir müffen durd) 
viel Trübfal zum Reiche Gottes eingehn,“ behält, fo lange wir im 
Thal der Thränen weilen, feine Geltung noch; aber als ein Se- 
genswort, und nicht mehr als ein Wort des Fluches. Die Bezeu- 
gung des Apofteld von „Leiden Chrifti, welche feiner Gemeine 
(freifih nicht mehr als Straf-, gefchweige ald Genugthuungs: 
leiden) übrig feien,” fteht immer noch in Kraft; aber in feinem 
bedenklihen Sinne Drei Kelche gehen in der Gemeine Jeſu 
um, Jeder Himmelserbe hat daraus feinen Trunk zu thun. Bitter, 


Schwert und Kell. 261 


bitter ift der Kelche Inhalt. Nichtsdeftoweniger dienen auch fie zum 
Zeugniß, wie Großes es und ausgetragen habe, daß der Herr Jeſus 
den Schauerkelch für uns geleert, den Ihm fein Vater darbot. Die 
uns hinterlaffenen Kelche find Feine Hochzeitsbecher; aber ihr Trank ift 
Heils- und Segenstranf. Der Wermuth des Gerichts ift aus 
ihnen verbannt, nachdem derielbe in den Gethfemane’ss, Gabbathas⸗ 
und Golgatha's⸗-Kelch übergegangen iſt. — 

Der erſte der fraglichen drei Kelche ift der der Buße, der Trau⸗ 
rigfeit um die Sünde, der Reue, die „Niemanden gereuet“. Er will 
getrunken fein, diefer Kelch. Ohne des Zöllners Schlag an die Bruft, 
ohne Magdalenens Schmerz, ohne Petri Thränen Fein Eingang in 
das Gnadenreih. „Thut Buße!“ hieß der erfte Glockenklang, mit 
dem der Hereintritt des neuen Teftamentes eingeläutet wurde, „hut 
Buße!“ der Anfang jeglicher Geiftes-Antwort auf die Frage: „Was 
fol ich thun, daß ich felig werde?" Die Buße ift die enge ‘Pforte 
zum Friedensreich. Des neuen Lebens Keim und Knospe ift die 
Buße. Erfenne die Sünde erit al8 Sünde, fo erfenneft du fie an 
Dir mit Grauen. Denn die Sünde ſcheidet dich von Gott und ift 
des Teufels Strid, der Hölle Mutterfchooß. Erkannteſt du aber erft 
die Sünde an dir ald Sünde, fo wirft, ehe du dich's verfiehit, auch 
Der die Schleier vor dir ab, außer welchem fein Heil zu finden tft. 
Drum, was vor Allem noth thut, tft Selbitgeriht, Sündentrauer, 
Buße! Nimm bin den Kelh! Es werden Dir von feinem Trank die 
Augen übergehn: denn ftatt der Süßigfeit des Wohlgefallens an dir 
ſelbſt, trintjt du daraus Die Galle des Gegentheild: ein Weh, das 
fein Harfenfpiel der Erde dir mehr verfcheucht; ein Leid, das Die 
die eitle Freude diefer Welt vergällt; eine Schwermuth, die Dich im 
Schwarme deiner leichten Freunde nicht mehr dauern läßt; ja die in 
die Einſamkeit did) drängt, und in den Thränenwinfe. Was aber 
tränfeft du aus dem Kelche erft, hätte Jefus den Seinigen nicht 
zuvor geleert! Du tränfit Verzweiflung dann, und Höllenangft, und 
Hoffnungstofigfeit. Er wäre für dich wie für und Alle Kains, 
Ahitophels und Iſcharioths Kelch. Nun aber it fein Trank 
gemifcht mit Gnadenhonig, mit Erlöfungstroft und der Verheißung 
ewiger Bergebung im Blut des Lammes. O, trinke ihn; Doc) ohne 
Händeringen jetzt! Zerſchmilz in ftiller, hoffnungsreicher Wehmuth; 
aber wehre dem Schrei des Zagens: „Meine Sünde iſt größer, denn 
daß fie mir könnte vergeben werden!” Hiezu Tiegt fein Grund mehr 


262 Das Heilige. 


vor. Du trinkſt an dem Kelch des Sündenfchmerzes jeht einen Se 
genokelch. Im Himmel ift Freude über dir, während du weinft; auf 
Erden jubeln die Kinder Gottes dir entgegen: Willkommen, Bruder! 
Der Satan fnirfcht mit den Zähnen, weil er dich nun laſſen muß; 
und ewige Liebesarme ftreden fich aus, dich zu umfangen. Warum 
braucht deine Buße nicht Verzweiflung mehr zu fein? Barum ift Dies 
fer bittre Kelch Dir jegt ein Held» und Hoffuungsfelh? Antwort: 
Jeſus büßte die ungefühnte Sünde, und du beweinft jet die 
gebüßte nur. Jeſus hatte Die unbezahlte Schuld auf fi, und 
ftand darum dem Bater als feinem Richter gegenüber; du bift um 
Deine Schuld betrübt, nachdem fie vollaus für dich bezahlt ward, 
und Gott dich nicht mehr richten Fanıı noch wird, — Freilih wird 
der Kelch der göttlichen Trauer nie ganz geleert, fo lange wir noch 
un Leibe des Todes wallen. Man fündigt wieder, und aufs neue 
weint Das Herz; aber an der Bruft der ewigen Liebe weint's, und uns 
ter der Thränen trocknenden Hand der göttlichen Erbarmung. 

Neben diefem erften Kelche geht ein andrer in Zion um; und 
auch diefer wird völlig nicht von uns hinweggenommen, bis der Kelch 
der himmliſchen Seligfeit uns gereicht wird. Es ift der Kelch des 
Sterbens nach dem Fleiſch, der Demüthigungen des alten Mens 
fihen, der Entwöhnung von den Brüften der Kreatur, der innern Ver: 
nichtigung, in deren Wege uns Chriſtus Alles werden foll in Allem, 
Auch aus dDiefem Kelche thut fo oder fo ein jeder Gläubige feinen 
Trunk. Paulus hatte feinen Pfahl im Fleifche, Petrus die gewiſſe 
Ausficht auf den blutigen Kreuzestod, Timotheus feufzte unter Lei 
besfchwachheit, Silas war mit Paulus ein Geächteter der Welt. — 
Du fchlägft mit Armuth und Nahrungsforgen did) herum; du wohnft, 
verfannt und ausgeftußen, einfiedlerartig unter deinen Brüdern; du 
weißt bei dem bejten Willen in deinen gefchäftlichen Unternehmungen 
auf feinen grünen Zweig zu kommen; du wirft wie Hiob Förperlich 
geplagt, oder haft wie Eli große Noth durch deine Kinder; Dich trifft 
in deinem Haufe ein nicht zu verfchmerzender Trauer» und Zodesfall 
nad) dem andern; du fiehft Dich in Verhältniffe gebannt, wo du dich 
nicht in deinem wahren Beruf, in deinem eigentlihen Elemente 
fühlt, und kannſt doch nicht Heraus; du — — Doch, wu wollten 
wir enden, gälte es, alle die bittern Tropfen namhaft zu machen, Die 
den Trank der „Trübfal“ bilden, Durch welche wir, wie die Schrift 
fagt, „zum Reiche Gottes eingehn müffen“ Habe ich doch die bit- 


Schwert und Kelch. 2303 


terften unter ihnen noch nicht einmal genannt; denn nichts fagte ich 
noch von den Anfechtungen des Teufels, von den Glaubensverdunb⸗ 
lungen, von der Berdorrung des innern Lebens, von der Entziehung 
des Beterdrangs, von der Zweifels⸗ und Zagensnoth, von der ſchmerz⸗ 
lichen Erfahrumg des innerlich ärmer, fündiger, gnadenbedürftiger Wet⸗ 
dens, ftatt reicher, heiliger und ftärfer; und von dem Zurüdfallen in 
die Stellung Römer 3, wo die Klage ertönt: „Ich elender Menſch, 
wer wird mich erlöfen vom Leibe diefes Todes!" Faßt aber alles Dies 
zufammen, und ihr fennt den zweiten unfrer Kelche. Ja, auch Dem, 
Brüder ımd Schweſtern in dem Herrn, bekommt ihr insgeſammt ze 
ichmeden. Aber getroft! Auch in ihm tft nicht Fluch, nicht Zorn, nicht 
Strafe mehr. Den Fluch trank der Bürge aus ihm heraus, und ſo 
wurde der Kelch zum Segens⸗ und Geneſungskelche. Durch alle jene 
Zeiden follt ihr nur mehr und mehr von euch felbft und diefer Wet 
gelöft, und tiefer mit dem Herrn Jeſu verbunden werden. Ihr follt 
dadurch an der Gnade euch genügen laſſen lernen, und in diejenigen 
Zagerftätten des Weges Gottes hineingeleitet werden, wo Er Selm 
Zreue, Seine Bewahrung, Sein Tröften und Tragen, Sein Aufbelfes 
durch verborgene Kräfte und fein freundlich Reden mit den Muͤden 
zur rechten Zeit, in handgreiflicher Weife an euch bethätigen kann. 
Seht, lauter Heiljamkeit in Abficht, Zweck ımd Frucht. Darım ent⸗ 
jhloffen nur geleert, was Gott euch eintränft! Die ewige Liebe if 
e8, die, Hand in Hand mit der himmlifchen Weisheit, Tropfen für 
Zropfen den Trank euch zumißt, Wie dort bei den Brüdern Yofepbe 
auf dem Grunde ihrer Säde der Schaß gefunden ward, fo findet ſich 
hier der Segen auf dem Boden des Kelchs der Bitterfeiten. „Di 
Zrübfal, wenn fie da ift, dünkt fie uns wicht Zreude, fondern Trau⸗ 
rigfeit zu fein; darnach aber wird fie geben eine friedfame Frucht 
der Gerechtigkeit denen, die Dadurch geübet find,“ 

Der dritte Kelch erfcheint als der fehauerlichfte von allen, und doch 
hat auch er alle feine Schauer verloren. An Niemandem geht auch) 
er vorüber; und wer weiß, wie bald er auch dir und mir kredenzt 
wird. Es grauft uns vor diefem Kelche, denn er kommt mit ſchwar⸗ 
zem Flor umhangen. Aber der Ehrift darf ihn ſchmücken mit Immer⸗ 
grün, und friedfam lächelnd ihn entgegennehmen. Es ift der Kelch 
der legten Stunde, der Abſchiedskelch, der Todeskelch. Aber 
auch er ift nicht mehr der Kelch, wie ihn die richterliche Gerechtigkeit 
nad dem Zall im Paradiefe mifchte, Nicht ift er mehr der Kelch, 


264 Das Heilige. " 

den Jeſus trant; denn für Ihn umfchloß er noch den Fluch. Jeſus 
ftarb den Tod, der der Sünde Sold ift, der in der Verlaſſenheit von 
Gott geftorben wird, umd den die Schreden des Gerichts umgrauen. 
Dafür fterben jegt hir, fofern wir Chriſti find, einen Zod, der die 
Müden zur Ruhe führt, dem Pilger die Reifekleider abnimmt, um ihn 
in's Baterhaus zu geleiten, ftatt des Dornenfranzes die Krone des 
Lebens uns um die Stine flicht, und uns auf ewig die Thränen von 
den Augen trodnet. Seht Stephanus, wie er, ohne eine Miene 
zu verziehen, den legten Schmerzensfeldh dahinnimmt. Seht Pau⸗ 
Ium, wie ihn nad) dem Durchgang durch den Zodesjordan dücrſtet, 
und er ausruft: „Ich Habe Luft, abzufcheiden und bei Chrifto zu 
fein!® Geht Simeon, wie er den Sterbensfelh als einen Jubel 
becherer greift und harmlos Daherjauchzt: „Nun Läffeft Du deinen Knecht 
mit Frieden fahren!“ Hört Johannes, wie er froblodt: „Wir find 
nun Gottes Kinder, und ift noch nicht erfchienen, was wir fein wers 
den. Bir wiſſen aber, wenn es erfcheinen wird, daß wir ihm gleich 
fein werden; denn wir werden Ihn fehen, wie er iſt.“ Wo find hier 
die Schredien des letzten Kelchs? Entſchwunden find fie, und der Kelch 
erfcheint nur noch mit Hoffnung und Frieden angefüllt. Das verduns 
fen wir Dem, der dem Tode die Macht genommen hat, und zu deſſen 
Ehren wir fortan triumphiren dürfen: „Tod, wo ift dein Stachel, 
Hölle, wo ift dein Sieg?!" — 

Seht, Freunde, fo trank aus allen Kelchen, die noch in Zion um 
gehn, der Bürge ftellvertretend den Fluch hinweg, und was den Geis 
nen darin zurüdblieb, ift, wie bitter e8 dem Fleiſch auch Dünfe, nur 
Heilstrank. Freuen wir uns deffen von ganzem Herzen, und be 
fennen wir gläubig und Danfbewegt mit dem Sänger: 


Der Kelch, den Du geleeret, 

Barg meine Angft und Roth; 

Das Web, dad Dich verzebret, 

Mir Sünder war's gedroht. 

Seitdem e8 Dich gefchlagen, 

Muß Trauben mir der Dorn, 

Die Diftel Zeigen tragen ; 

Und da, wo Andre zagen, 

Quillt mir des Friedens Born. — Amen. 


— 0 0 0 000— 


Gabe und Opfer, 265 


XXI. 
Gabe und Opfer. 





Ach weiß es, theure Brüder, warum fo viele unfrer Ehriften bei 
aller ihrer Glaͤubigkeit doch feinen rechten Frieden haben. Worin ihr 
unbefeftigtes, klagbares, lahmes und furchtiames Weſen feinen vors 
nehmſten Grund bat, mir ift es wohl bewußt. „Chriftus hat Fries 
den gemacht durch fein Blut,“ fpricht Paulus Coloffer 1, 205 
aber Diefes Blut, wie oft fie auch davon reden, oder reden hören, 
ft ihnen feiner überfchwänglichen Wirkung nach noch unbekannt; oder 
es gebricht ihnen an der Fähigkeit, für ſich felbft Davon Gebrauch zu 
machen. Die Seelen unfrer meiften Ehriften gleichen, zumal wenn 
Rott, an Mann geht, und etwa ein Glodenhall der nahen Ewigfeit 
an ihr Ohr fchlägt, dem immer bewegten, ruhelofen Meere, tiber defien 
Oberfläche die Sonne einige erwärmende Strahlen wohl verbreitet, 
aber bis auf deffen innerften Grund, wo es nächtig, alt und wüfte 
bleibt, fie nicht hinabreicht. — So ftreift auch über jene das Licht der 
Ehriftuss Erfenntniß Hin: obenhin berührend, aber nit durch⸗ 
dringend. Möge unfre heutige Betrachtung dazu gefegnet werden, 
uns Allen das Werk des großen Bürgen recht gründlich zu verflären, 
und feinen Heilswirfungen bis in die verborgenften Ziefen unferes 
Weſens Bahn zu machen. Wir beten darum. Spreche der Herr dazu 
fein Amen ! 


Matthäus 26, 55 u. 56, Marcus 14, 48 u. 49, Lucas 22, 52 u. 53. 


Zu der Stunde aber ſprach Iefus zu den Schaaren, und zu den Hohenprieflern 
und Haupfleuten des Tempels, und den Welteften, die über ihn gefommen waren: 
Ihr feid ausgegangen, als zu einem Mörder, mit Schwertern und mit Stangen, mid 
zu fangen. Bin ich doch täglich bei euch gefeffen und habe gelehret im Zempel, und 
ihr habt feine Hand an mid) gelegt und mich nicht gegriffen. Aber dies ift eure 
Stunde und die Macht der Finſterniß. Und das iſt Alles geicheben, daß erfüllet wür⸗ 
den die Schriften der Propheten. Da verließen ihn alle Jünger und flohen. Und e8 
war ein Züngling, der folgte ihm nad, der war mit Leinwand beffeidet auf der bio» 
fen Haut, und die Jünglinge griffen ihn. Er aber ließ die Leinwand fahren, und 
Roh Hof von ihnen, | 


964 Has Heilige. 


den Jeſus trank; dem für Ihn umfchloß er noch den Fluch. Jeſus 
ftarb den Tod, der der Sünde Sol ift, der in der Berlaffenheit von 
Gott geftorben wird, und den die Schreden des Gerichts umgrauen. 
Dafür fterben jeht wir, fofern wir Ehrifti find, einen Tod, der die 
Müden zur Ruhe führt, dem Pilger die Neifekleider abnimmt, um ihn 
ms Vaterhaus zu geleiten, ftatt des Dornenfranzes die Krone des 
Lebens uns um die Stirne flicht, und uns auf ewig die Thränen von 
den Augen trodnet. Seht Stephanus, wie er, ohne eine Miene 
zu verziehen, den lebten Schmerzenskelch dahinnimmt. Seht Pau⸗ 
Ium, wie ihn nad) dem Durchgang durch den Zodesjordan dürftet, 
und er ausruft: „Ich habe Luft, abzufcheiden und bei Chrifto zu 
fein!“ Seht Simeon, wie er den Sterbensfelh als einen Jubel⸗ 
becherer greift und harmlos daherjauchzt: „Nun Läffeft du deinen Knecht 
mit Frieden fahren!“ Hört Johannes, wie er frohlodt: „Wir find 
nun Gottes Kinder, und ift noch nicht erfchienen, was wir fein wer⸗ 
den. Wir wiffen aber, wenn es erfcheinen wird, daß wir ihm gleich 
fein werden; denn wir werden Ihn fehen, wie er ift.“ Wo find hier 
die Schrecken des letzten Kelchs? Entſchwunden find fie, und der Kelch 
erfcheint nur noch mit Hoffnung und Frieden angefüllt. Das verdun- 
fen wir Dem, der dem Tode die Macht genommen hat, und zu deffen 
Ehren wir fortan triumphiren dürfen: „Tod, wo ift dein Stadel, 
Hölle, wo ift dein Sieg?!" — 

Seht, Freunde, fo tranf aus allen Kelchen, die noch in Zion um⸗ 
gehn, der Bürge ftellvertretend den Fluch hinweg, und was den Gei- 
nen darin zurücbfieb, ift, wie bitter e8 dem Fleiſch auch dünke, nur 
Heilstrank. Freuen wir und deſſen von ganzem Herzen, und be- 
fennen wir gläubig und Danfbewegt mit dem Sänger: 


Der Kelch, den Du geleeret, 

Barg meine Angft und Roth; 

Das Weh, dad Dich verzebret, 

Mir Sünder war's gedroht. 

Seitdem e8 Dich geichlagen, 

Muß Trauben mir der Dorn, 

Die Diftel Zeigen tragen; 

Und da, wo Andre zagen, 

Quillt mir des Friedend Born. — Amen. 


— 0,0 0 0— 


Gabe und Opfer. 265 


XXI. 
Gabe und Opfer. 





Ich weiß ed, theure Brüder, warum fo viele unfrer Chriſten bei 
aller ihrer Gläubigfeit doch feinen rechten Frieden haben. Worin ihr 
unbefeftigtes, klagbares, lahmes und furchtſames Weſen feinen vor 
nehmſten Grund hat, mir tft es wohl bewußt. „Ehriftus hat Fries 
den gemacht durch fein Blut,“ fpricht Paulus Eoloffer 1, 20; 
aber dDiefes Blut, wie oft fie auch davon reden, oder reden hören, 
ift ihnen feiner überfchwänglichen Wirkung nach noch unbelannt; oder 
es gebricht ihnen an der Fühigfeit, für fich felbft davon Gebrauch zu 
machen. Die Seelen unfrer meiften Chriften gleichen, zumal wenn 
Noth an Mann geht, und etwa ein Glodenhall der nahen Ewigfeit 
an ihr Ohr fohlägt, dem immer bewegten, ruhelofen Deere, über defien 
Oberfläche die Sonne einige erwärmende Strahlen wohl verbreitet, 
aber bis auf deflen innerften Grund, wo es nächtig, kalt und wüſte 
bleibt, fie nicht hinabreicht. — So ftreift auch über jene das Licht der 
Chriftus- Erfenntnig hin: obenhin berührend, aber nit dDurd» 
dringend. Möge unfre heutige Betrachtung dazu gefegnet werden, 
uns Allen das Werk des großen Bürgen recht gründlich zu verflären, 
und feinen Heilswirfungen bis in die verborgenften Tiefen unferes 
Weſens Bahn zu machen. Wir beten darum. Spreche der Herr dazu 
fein Amen! 


Matthäus 26, 55 u. 56, Marcus 14, 48 u. 49, $ucas 22, 52 u. 53, 


Zn der Stunde aber fprach Iefus zu den Schaaren, und zu den Hobenprieflern 
und Haupfleuten des Tempels, und den Aelteſten, die über ihm gefommen waren: 
Ihr feid ausgegangen, als zu einem Mörder, mit Schwertern und mit Stangen, mid 
zu fangen. Bin ich doch täglich bei euch gefeilen und habe gelehret im Tempel, und 
ihr habt feine Hand an mich gelegt und mich nicht gegriffen. Aber dies ift eure 
Stunde und die Wacht der Finſterniß. Und das it Alles geicheben, dad erfüllet wür⸗ 
den die Schriften der Bropheten. Da verließen ihm alle Zünger und flohen. Und es 
war ein Juͤngling, der folgte ihm nad, der war mit Leinwand befleidet auf der blo⸗ 
Ben Haut, und die Zünglinge griffen ihn. Er aber ließ die Leinwand fahren, uud 
floh bloß von ihnen, 


268 Das Heilige. 


Treuen, dem Berfuchungsftürme, in denen die Engelwelt nicht bes 
ftanden wäre, nur dazu dienten, defto fchneller feinen Gehorſam Der 
hoͤchſten Vollendungsftufe zuzuführen. Einen Mann der Bewährung 
feht, der das Schifflein feiner Willigkeit und Gottergebung unverfehrt 
durch Strudel der Anfechtung bindurchzufteuern wußte, die geeignet 
gewefen wären, den heiligften Seraph in einen murrenden Rebellen zu 
verwandeln, Seht einen Gehorfamen, der im Stande der empfind- 
fichften innern Beraubung dennoch in der Liebe feines Vaters verharrte, 
umd, obwol des Vaters Herz ſich von ihm abgewandt zu haben ſchien, 
es nad) wie vor für feine Speife und feinen Trank erachtete, Deſſen 
Willen zu vollbringen, der ihn fandte; und einen Helden, der in 
einer Lage, wo ihm vor Angft der helle Blutſchweiß von der Stime 
troff, nichtödeftoweniger, ob mit verfchmachtender Zunge auch, von 
Grund der Seele darum flehen konnte, daß, nicht was er, fondern 
ausichließlih, was der Ewige wolle und über ihn befchloffen habe, 
geſchehen möge. Diefer blendend reine, überfchwänglich erprobte, 
wie Gold bewährte, unwandelbar heilige Menſch ift die Gabe, welche 
Ehriftus in feiner eigenen Perfon dem Vater darbringt. — 
Betrachtet Ihn, den Herrlichen, wie er dort am Fuße des Delbergs 
vor uns fteht. Er weiß, auch das fei feines Vaters Rath, daß er 
nicht allein der Schmach einer öffentlichen Gefangennehmung,. fondern 
auch noch weiterhin dem ganzen Schidfal eines gemeinen Delinquenten 
und Auswürflings der Menfchheit fich unterziehe. Wie macht aber 
ſolch' Bewußtfein Ihn fo willig, auch in Diefe Tiefen hinabzufteigen, 
und unweigerlich den Händen der Sünder fi) zu überlaffen. Hört 
ihn reden zu feinen Feinden. Mit der Majeftät, der Freiheit und er: 
habenen Ruhe eines Mannes, der, weit entfernt, von demjenigen, was 
ihn trifft, übermocht zu fein, vielmehr ſelbſt die Bahn fich vor- 
zeichnet, die er wandele, und der in Gemäßheit des väterlichen Rathes 
jelbit feine Gefchide ordnet, beginnt er zu den „Schaaren“, und nas 
mentlih zu den „Oberen“ derfelben, zu den „Hohenprieftern“, 
(d. i. zu den Männern, welche diefe hohe Würde einmal befleideten,) zu 
den „Hauptleuten” der jüdischen Tempelwache, und zu den „Aeltes 
ſten“, (den Beifigern des Synedriums,) welche fich ſämmtlich, in der 
Hitze ihrer Feindfchaft gegen Jeſum, mit der Abficht, die Häfcherrotte 
durch ihre Gegenwart zu ermuthigen, mit hinausbegeben hatten: „ Ihr 
feid ausgegangen, als zu einem Mörder, mit Schwertern 
und mit Stangen, mich zu fahen. Bin ich doch täglich bei euch 


Gabe und Opfer. 208 


gefeifen, und habe gelehret im Tempel, und ihr habt feine 
Band an mich gelegt und mich nicht gegriffen!“ — Was will der 
Herr mit diefen Worten? Zuvörderſt follen diefelben nicht blos denen, 
die fie zunächft vernahmen, fondern der ganzen Welt zu einem erneuers 
ten Zeugniß dienen, daß Er als ein Schufdlofer zur Schlachtbank ges 
führet worden fei, und der böfe Schein, den Petri Schwertitreich auf 
Ihn und feinen Anhang werfen fonnte, fih nur al8 leerer Schein 
erwiefen babe; und fodann follen fie jeden Zweifel Darüber zerftreuen, 
daß feine Macht der Erde Ihn würde haben überwältigen fünnen, 
wenn Er nicht, da feine Stunde gekommen war, in freier Unterwer⸗ 
fung unter den väterlichen Rathſchluß fich ſelbſt dahingegeben hätte, 
Nicht anrühren durften Ihn die Feinde, folange er das Werk feines 
Lehramts nicht vollendet hatte Auch hatten fie nichts an Ihm zu 
entdeden vermocht, wodurch fie in den Stand geſetzt gewefen wären, 
hm den Prozeß zu machen, Jetzt wird den Widerfachern die unficht- 
bare Schranke weggegogen. „Dies“, fährt der Helland zur tiefften 
Beſchämung feiner Feinde fort, „ift eure Stunde“, und fügt das 
fchauerlihe Wort hinzu: „und die Macht der Finfterniß* „Dem 
Satan”, will er fügen, „dem ihr dient, wird durch einen Aft gött« 
licher Regierung die Kette verlängert, und der Hölle, al8 deren Waffen⸗ 
träger ihr euch Tenntlich macht, der Kappzaum abgenommen, auf daß 
fie nad) Belieben mit mir ſchalte“ — So der Herr. Welch’ eine 
Faffung und übermenfchliche Ruhe in diefen Worten! Mit folcher rück⸗ 
haltloſen Willigkeit gibt er fich der Ichmachvolliten Behandlung preis, 
Auch nicht die leifefte Regung irgend eines unmuthigen oder rache⸗ 
drohenden Affektes taucht den gottvergeffenen Buben gegenüber in fet- 
nem Innern auf. Seine Seele verharrt vielmehr in einem Gleichmuth 
und einer Faffung, als wären ed nicht Henfersfnechte, die mit Striden 
ihn umgeben, fondern Anhänger und Freunde, die ihm Kränze wins 
den wollten, 

Was aber trägt uns das aus, daß Jeſus fo rein und vollendet 
heilig dem Vater fich dargibt? — Das Allergrößte und Segens- 
reichfte, Brüder, das ein Gedanke zu erreichen fähig iſt. Hört, es 
fpriht in Seinem Gefege Jehova: „Ihr follt nit leer vor 
mir erſcheinen.“ Erwaͤgt, daß, wenn wir den Himmel erben wol 
en, wir dasjenige nicht entbehren können, dem die Seligfeit als 
Preis verheigen wird. Wir befiten daffelbe num, und die Tage des 
Grämens und Schämens haben für uns ein Ende, Wir dürfen jebt 


ill DaB Heilige. 


getroft dem Bater unter die Augen treten, und brauchen nicht mehr zu 
beforgen, Ungebührliches Ihm zuzumuthen, wenn wir das Begehren 
an Ihn ftellen, daß er uns liebe, und feines Haufes Pforte vor uns 
öfne. Was haben wir aber Verdienftlihes vor Ihm aufzuweiſen? 
Genug, Geliebte; ja mehr, als die Engel haben. Nichts zwar bes 
figen wir in ung ſelbſt. In den Rechnungsbücern unfers Lebens 
erbliden wir Ausfälle nur und Schulden. Aber wir brauchen, 
Gottlob! auch Eigenes nicht zu haben; ja, e8 wird uns unters 
fagt, auf dergleichen zu trauen und zu trogen. Ein außer uns 
Borhandenes wird uns vorgehalten, darauf wir uns berufen follen; 
und das ift die lebendige Gabe, von der wir reden: Chriftus mit 
der ganzen Fülle feines m unfrer Statt geleifteten Gehorfams. Darf 
Der fich ſehen laſſen, fo wir nicht minder; ift Er des Himmels würs 
dig, fo find wirs gleichfalls. Denn was Er geglaubt, geliebt, ges 
horcht und wohlgethan hat, das Alles ward den Seinen gut gefchries 
ben. Durch „Eines Ungehorfant*, fagt die Schrift, „find wir 
Sünder, durch Eines Gehorfam find wir heilig und ges 
recht geworden.” In Ehrifto gibt es feine Uebertreter mehr vor 
Gott, fondern eitel Fleckenloſe, Unfträfliche und Reine. Welch’ feliges 
Geheimniß! Vermoͤgt ihr's noch nicht zu glauben, fo gönnt ihm wes 
nigftens eine Stätte in euerm Gedächtniß. Es dürfte Die Stunde 
fommen, da ihr’s gebrauchen könntet; denn wie es zuleßt aud) den 
vermeintlich heiligften und frömmften Ehriften zu ergehen pflegt, ha- 
ben wir ſchon oft mit Augen angefchaut. Was immer fie bei Leibes 
Leben Berdienftlihes und Probehaltiges zu befißen wähnten, davon 
bleibt, wenn das Licht der nahen Ewigfeit und des hereinbrechenden 
Berichts feine durchdringenden Strahlen auf ihr Leben wirft, ihnen 
nichts. Ahr Tugendglanz erlifcht, ihr Gold wird häßlich, und felbft 
was fie ald Guthaben in ihren Büchern zu lefen vermeinten, ers 
weifet fih ald Schuld und Ausfall. Was nun beginnen? Wie in 
der Eile die Gerechtigfeit zufammenmweben, von der man ſchon aus 
dem Katechismus weiß, daß Gott fie fordere, und ohne fie Niemand 
in's Himmelreich zugelaffen werde? Was nun all den Verklägern 
entgegengehalten, die ihren Mund wider uns aufthun: dem Gefeße, 
dem Satan, und dem eignen Gewifjen mit feinem „Du bift der Mann 
des Todes"? Fürwahr, wenn uns da die Verzweiflung nicht erfaflen 
fol, fo muß außer uns etwas uns geboten fein, das wir als Grund 
umfres Anfpruchs an die Seligkeit vor Gott bringen können; und da 


Gabe und Opfer. 274 


erbeut fi) uns denm jene lebendige „Gabe“, die überfchwänglich hin⸗ 
zeicht, und Gott zu empfehlen. In deren Befige haben wir vor uns 
fern DVerklägern nicht mehr zu verſtummen. Wir erfüllten in unferm 
Bürgen Ehriftus die Bedingungen, an welche das Himmelserbe ges 
fnüpft ward. Wer will uns binfort beichuldigen? Wer uns verdam⸗ 
men? Wir jauchzen mit Paulus: „Nun wir denn find gerecht gewor- 
den durch den Glauben; fo haben wir Frieden mit Gott durch unfern 


Herm Jeſum Chriſtum.“ 


2. | 
Doch nicht als „Gabe“ nur, fondern auch als „Opfer“ erfcheint 
der Herr im unfrer Gefchichte. Unfre Sünden find ihm zugerechnet, 
und Er erduldet an feiner heiligen Menfchheit, was jene werth find. 
Laßt darum den heiligen Gottesfohn in Ihm für einen Augen- 
blick jegt zurüdetreten, und betrachtet Ihn als den großen allge 
meinen Sünder, der Er dur Zurehnung und Stellvertretung 
iſt. Alſobald erfcheint dann die Unbilde, die Ihm widerfährt, ale 
Recht, die Mißhandlung, die er erleidet, als Ihm gebührend. 
Ein fchauerlich Bild tritt vor meine Seele, und id) meine, o Menſch, 
du follteft e8 fennen, Einen Mörder fehe ich; denn es fteht gefchries 
ben: „Wer feinen Bruder haßt, der ift ein Zodtichläger.” Ich gewahre 
einen Räuber, einen zweenfach verfchuldeten: an Gott, dem er durch 
Unglauben und Hochmuth feine Ehre nahm; an dem Nächſten, am 
deſſen Güter er durch Neid oder Berleumdung die Hand gelegt. So 
laftet der Fluch des Geſetzes auf feinem Haupte, und der Bann 
Gottes hängt an feiner Ferſe. Schredliches fteht dem Unglüdfeligen 
bevor: ein Ueberfall zunächſt in einer finftern Stunde, eine furchtbare 
Verhaftung und Gefangennehmung. rei und ficher geht er feinen 
Weg, und folgt, fein Unheil fürchtend, feines Fleiſches Geluͤſten; da, 
ehe er ſich's verfieht, dröhnt's über feinem Haupte. „Schlaget die 
Sichel an,” heißt, „denn der Halm ift reif.” Graufige Wefen, das 
eine ſchauerlicher als das andre, fehen fid) in Bewegung. Der Tag bat 
ſich geneigt, Die Nacht ift für den armen Menfchen herbeigelommen. Das 
Dunkel der TZodesftunde brady für ihn herein. Was ereignet ſich 
run um ihn her? Sn welcher Lage befindet fid) der Bedauernswerthe? 
Sind e8 Engel der Rache, die ihn umgeben? Sind es Dämonen und 
Geifter des Abgrunds? Hört er von Schwertern fi umklirrt? Um⸗ 
taffeln ihn Ketten und Banden? Ya, ja, er findet fih in fremder 
Gewalt, Umringt, ertappt, gefangen fühlt er ſich. Er kann nit 


wen, da auch ihr zu zuem Feinden md Berklägern etwa ſprechen 
müßtet: „Jetzt ift eure Stunde, und die Macht der Finſterniß!“ — 
ner Stellvertreter ſprach's ein für allemal für euch, und euer wars 
tet hinfort nur noch die Stunde des Triumphes und der Wonne, Die 
nie mehr enden wird. Habet denn Frieden, ihr in Seiner Gerech⸗ 
tigkeit Geheiligten und mit Seinem Opfer ewig Vollendeten. Zräumt 
ferner nicht von Laften, Die eure Schultern nicht mehr drücken, fondern 
wiffet und vergeßt es nimmer, daß euer Prozeß für alle Ewigfeit ges 
wonnen it. Seht, dort trägt Chriftus eure Banden für immer fort; 
und es liegt euch nun nichts mehr ob, ald Den von ganzem Herzen 
Lied zu haben, und immer inniger zu umfaffen, der alle eure Verma⸗ 
fedeiung auf fih nahm, auf daß ihr möchtet ewig jauchzen können: 
„Jehova Zidkenu!“ d. h. der Herr ift unfre Gerechtigkeit — 

D habe Dank für Dein unendlich Lieben, 

Das Dich für mid in Roth und Tod getrieben, 

Daß Du den Zorn, der über mid ſollt' fommen, 

Auf Did genommen! 

Sur Dir, nur Dir, Lamm Gottes, fei mein Leben 

Zum Eigenthum auf ewig hingegeben, 

Wozu Du mid durch Deine Todeswunden 

So hod verbunden! 


Nichts kann und fol binfort von Dir mic ſcheiden; 

Ich bleibe Dein, bis Du mich dort wirft weiden, 
Mo Deine Liebe ewig wird beſungen 

Mit Engelzungen. — Amen. 





XXIII. 
Chriſtus vor Hannas. 





„Ich hielt nicht dafür, daß ich etwas wüßte unter euch, ohne allein 
Jeſum Chriftum, und zwar den Gekreuzigten.“ Go der Apoftel 
1 Corinth. 2, 2. Er bezeichnet hiemit das vworherrfchende Thema 
aller feiner Predigten, und zugleich die Meihode, Art und Weiſe ſei⸗ 
nes Zeugens. 


Ehrifus vor Heunaß 275 


Unter den Krieg füprenden Mächten iſt's im nenerer Zeit mehr und 
mehr Grundſatz geworden, in „Maſſen zu handeln“, d. h. Eleinere Ne⸗ 
bengefechte möglichft zu vermeiden, und die Kräfte zufammenzuhalten, 
bis fi Gelegenheit bietet, im Großen vorzugehn, die ganze Heeres⸗ 
macht auf einem Punkte zu entfalten, und, Volk gegen Volk, in wes 
nigen impofanten Dperationen die ganze Sache zur Entſcheidung zu. 
bringen. Wir in unfern geiftigen Kriegen follten ähnlich verfahren, 
in jeder Predigt den Donner des groben Gejchüges vernehmen lafjem, 
und in Maflen, d. i, mit der Gefammtheit der großen Haupt- und 
Grundartikel des Evangeliums, unfre Schlachten ſchlagen, indem 
doch nur Diefe es find, welche die Welt überwinden, den Satan dar⸗ 
niederlegen, die Starken bewältigen, und immer Entfheidung zu 
Wege bringen. 

Wenn aber irgendwo, fo muß diefer Grundfaß da zur Anwendung 
fommen, wo wir ausfchließlich von jenen FZundamentalwahrs 
beiten des Chriſtenthums umgeben find: bei der Betrachtung der 
Paffionsgefchichte. Die Aufgabe jeder Paffionspredigt ftehet darin, 
der Gemeine auf's neue das große unerichöpfliche Geheimniß unfrer 
Vollendung in dem blutigen Mittler vor Augen zu malen; und wie 
könnte es ſchwer werden, Diefelbe zu löfen, da uns in jedem einzelnen 
Abfchnitte der Leidensgefchichte jenes hochherrliche Gentraldogma von 
felbft, und immer wieder new beleuchtet, entgegentritt. So gilt denn 
auch für unfre heutige Erwägung jene goldne Regel. Wir müffen 
auf’8 neue Davon reden, wie wir durch das Werk des Bürgen von 
Sünde, Zeufel, Zod, Gericht und Hölle auf ewig erlöfet find; und 
wer deſſen fich nicht freut, Daß diefe Wundeweide abermals ſich vor 
ihm aufthut, dem können wir nicht helfen, fondern ihn nur als einen 
Menſchen beklagen, dem fein wahres Bedürfnig noch nicht aufgegangen 
if, Unbefümmert um feinen Geſchmack, gehen wir feften Schrittes 
unfre Straße vorwärts, und ſprechen heute wie geftern, und morgen 
wie heute mit dem Apoftel: „ Wir halten Dafür, (zumal in Diefer 
heiligen Zeit) nichts unter euch zu wiffen, als allein Jeſum 
Chriſtum, und zwar den Gekreuzigten.“ 


Die Schaar aber und der Oberhauptmanu und bie Diener der Iuben nahmen Je⸗ 
fum, and handen ihn, Und führetem ihn aufs erſte zu Haunas; ; benm er DAR Dep 
18 


273 Das Heilige: 


men, da auch ihr zu zuem Feinden and Verklägern etwa fprechen 
müßtet: „Jetzt iſt eure Stunde, und die Macht der Zinfternig!* — 
Euer Stellvertreter ſprach's ein für allemal für euch, und euer wars 
tet binfort nur noch die Stunde des Triumphes und der Wonne, Die 
nie mehr enden wird. Habet denn Frieden, ihr in Seiner Gere 
tigfeit Geheiligten und mit Seinem Opfer ewig Bollendeten. Träumt 
ferner nicht von Laften, die eure Schultern nicht mehr drüden, ſondern 
wiffet und vergeßt ed nimmer, daß euer Prozeß für alle Ewigkeit ges 
wonnen ift. Seht, dort trägt Ehriftus eure Banden für immer fort; 
und es liegt euch num nichts mehr ob, ald Den von ganzem Herzen 
Lieb zu haben, und immer inniger zu umfaflen, der alle eure Verma⸗ 
fedeiung auf fih nahm, auf daß ihr möchtet ewig jauchzen können: 
„Jehova Zidkenu!“ d. h. der Herr ift unfre Gerechtigkeit! — 

D habe Dank für Dein ımendlih Beben, 

Das Dich für mid in Roth ud Tod getrieben, 

Daß Du den Zorn, der über mid ſollt' fommen, 

Auf Did genommen! 

Sur Dir, nur Dir, Lamm GotteB, fei mein Leben 

Zum Eigenthum auf ewig bingegeben, 

Mozu Du mid durch Deine Todeswunden 

So hoch verbunden! 

Nichts Tann und fol hinfort von Dir mid) ſcheiden; 

Ich bleibe Dein, bis Du mich dort wirft meiden, 

Wo Deine Liebe ewig wird beſungen 

Mit Engelzungen. — Amen. 





XXIII. 
Chriſtus vor Hannas. 





„Ich hielt nicht dafür, daß ich etwas wüßte unter euch, ohne allein 
Jeſum Chriſtum, und zwar den Gekreuzigten.“ So der Apoſtel 
1 Corinth. 2, 2. Er bezeichnet hiemit das vorherrſchende Thema 
aller ſeiner Predigten, und zugleich die Methode, Art und. Weiſe ſei⸗ 
nes Zeugens. 


Chriſtus vor Hannas. 277 


yerftörten, um an deren Stelle den Tempel der Wahrheit aufzurichten, 
und die Altäre falfcher Götter zertrümmerten, um dem des allein wahs 
ren Gottes Raum zu fchaffen. — Jeſus gebunden! Welch' ein 
Anblick! Daß dies auf Erden moͤglich war, macht alle anderweitigen 
Zeugnifle für das Berderben der Welt und die Verföhnungsbedürftig- 
feit derfelben überflüffig. Wie manches prophetifche Vorbild des alten 
Bundes findet in dem gebundenen Jeſus feine Verwirklichung! „ Fragt 
ihr nach dem Gegenbilde Iſaaks, wie er von feinem Bater Abraham 
als Lamm für den Brandopferaltar gebunden ward; oder nach dems 
jenigen jenes Widders auf Moria, der in die Domenhede ſich vers 
wideln mußte, weil er e8 war, den Gott für das Opfermeffer gezeichnet 
hatte; oder nach dem der heiligen Bundestade, da fie in die Hände 
der Philifter gefallen war, jedoch nur, um die Gößen der legtern vom 
Thron zu ftürzen; oder nach dem des Sohnes Jakobs, des in Egyp⸗ 
ten verhafteten und eingeferferten, deffen Weg durch die Mifjethäters 
bande zu Purpur und Ehrenfronen fi) bindurchwand; oder nad) dem 
der Ofterlämmer, welche, ehe fie zur Sühnung der Gemeine geichlachtet 
wurden, an Die Schwellen des Tempels feitgebunden zu werden pflegs 
“ ten; oder endlidy nad) dem des Richters Simfon, des gebundenen, 
der aber der Bande Delila’s fpottete, und im Triumph aus dem Phi⸗ 
liſterkampf hervorging: Diefe Schatten und Vorbilder alle fanden in 
dem gebundenen Jeſus, als in ihrem verleiblichten Urs und Gegen⸗ 
bilde, ihre erfchöpfende Erfüllung. Jeſus gebunden! Dürfen wir 
unfern Augen trauen? Die Allmacht in Feſſeln! Der Schöpfer aller 
Dinge in einem Strid, den. die Kreatur ihm angelegt! Der Herr 
der Welt ein Arreftant feiner fterblichen Untertanen! — Freilich, wie 
viel Teichter wäre e8 Ihm gewefen, diefe Seile zu zerreißen, als einſt 
dem Sohn Manoahs! Aber er zerreißt fie nicht, fondern läßt fie wie 
ein Ohnmächtiger und Ueberwundener fic) gefallen. Diefes fein lei⸗ 
dendliches Verhalten muß ja eine große und erhabene Abficht zum 
Srunde haben. Und freilich ift dem fo. Die eben erwähnten Vor⸗ 
bilder haben ſchon auf dieſelbe hingedeutet. 

Nein, nicht die Uebermacht der Häfcher fchlägt Ihn in Banden, 
Was Ihn hier zum Arreitanten macht, ift der Rathſchluß des ewigen 
Baters, dem er in freiefter Entjcheidung ſich unterzieht; die Liebe zu 
feinem Bolt, deffen Rettung und Erlöfung ihm über Alles geht, und 
fein Eifer um die Vollbringung des übernommenen großen Werfes, 
welchem auch der Eintritt in die ſe Erniedrigungsftufe wejentlich beis 


278 98 Hellige. | 

gehörte. Es deuten die fichtbaren Bande, die ihn umfangen, auf 
ſchauerlichere unfihtbare, tm welche er fich jet hineinbegeben hat. 
Jene fchatten nur nach Außen bin die entfeglichere Gefangenfchaft ab, 
die Er in der Gewalt der finftern Mächte erleidet. Eine Bin- 
dung des großen Bürgen in Folge eines Verhaftbefehls des richter⸗ 
lichen Gottes bezeichnen fie. Steht Chriftus hier doch an feines 
Volles Stelle, deffen Sünden tragend; und darum gebührt Ihm 
daſſel be auch, was uns: Schmad, Ueberweiſung an die Rotten der 
Hölle, Entziehung der Zreiheit, und was deß mehr if. Ward aber 
Er an unfrer Statt gebunden, fo find, wie ſich von ſelbſt verfteht, 
wir frei. Nahm Er ftellvertretend unfre Feffeln um feine Hände, 
fo gehören wir nicht mehr zu denen, Die in Banden der Finfterniß 
zum Tage des Gerichts behalten werden. Keine Kette des Fluches 
bindet dann uns mehr. Unſere Arreftantenfchaft in den Eiſen des 
Geſetzes und des Satans hat ein Ende. Wir find entlaffen und auf 
freien Fuß gefegt, und haben eine Inhaftnahme von Seiten des ewi⸗ 
gen Gerichtshofs nicht mehr zu befürchten. In was für Stride wir 
auch noch gerathen können; andauernd gerathen wir nicht mehr im 
fie hinein. Seien es Stride der finftern Gewalten, oder der Sünde, 
oder der Welt, oder des Todes gar: hart können fie Die. Glieder 
unfres innern Menfchen drüden; aber halten können fle uns nicht 
mehr, das ift unmöglih. War Petrus jämmerlih in Satans Strid 
hineingerathen: um des gebundenen Jeſu willen, konnte ihn Gott 
Darin nicht ſtecken laſſen. Kam es mit David dahin, daß er ganz 
ein Spielball der Sünde ward: der Augenblid blieb nicht aus, da er 
wieder jauchzen durfte: „Du Herr zogeft mich aus tiefem Schlamm, 
und feßteft meine Füße auf einen Felſen!“ Schlugen über Hiob 
Alle Anfechtungen zufammen wie Meereswogen: in den Schlußfapiteln 
feiner Gefchichte Iefen wir die Worte: „Und der Herr wandte das 
Gefängniß Hiobs.“ Mußte Paulus fi, fo fange er lebte, das Ge⸗ 
leit Des Satansengels, der ihn mit Fäuften ſchlug, gefallen laſſen. 
Eines war er fih Doch bewußt: daß er nicht für immer in dieſe 
Geſellſchaft gebannt fei, und feine „Beilage * ihm bewahret bleibe. 
Lag dem armen Zazarus fo zu fagen Jahre lang der Tod auf 
dem fiechen mit Wunden bedeckten Leibe: endlich kamen doch die En- 
gel, und trugen den für immer Genefenen in Abrahams Schooß. Ya 
endlich, endlich! — Tröftet euch deß, ihr armen Sünder, die ihr 
glaͤubig wurdet! — Sagt, was für Bande find es, die ah Dehlen? 


Chrius vor Hanns. 279 
Die eifigen der geiſtlichen Dürre? Oder die ſeuerfſlammenden innerer 
Anfechtungen? Oder die der Zrübfal, wielleiht Des Siechthums und 
der Armuth; oder die eures widerhaarigen Fleifches; oder der Sor⸗ 
ge und des Zweifels Bande? — Wiſſet, endlich fpringen und loͤſen 
fih alle. Nur vorübergehend können euch Bande noch berühren, 
nicht bleibend mehr; und fo weit nur fömten fie euch noch Bes 
ſchweren, al8 es zu eurem Heil und Frieden dient. Zulegt nnıß Allee, 
was Kette, Strid und Feflel heißt, auf immer von euch weichen; ich 
füge: es muB, weil Ehriftus die Banden trug, die für euch gewun⸗ 
den und gefchmiedet waren; und weil eins von Beidem, die Gerech⸗ 
tigfeit Gottes oder feines Sohnes Berdienft darüber zu 
Grunde gehn würde, falls ihr in irgend einer Befchwerniß, Haft und 
Umkettung andauernd folltet liegen bleiben. 

Glaubt dies! Es ift heilige, tiefbegründete Wahrheit. Gfaubt’s; 
und ſchon mitten in der Gebundenheit jauchzet in dieſem Guben: 
„Der Strick ift zerrifien und wir find freit“ Was ihr aber thut, 
bindet ihr Jeſum nicht! Ihr bindet Ihn, wenn ihr mißtranifc bald 
hier, bald da feinen Arm zu kurz wähnt, ald daß Er euch retten 
koͤnnte. Ihr bindet Ihn, wenn ihr der Meinung Raum gebt, einem 
Sünder, der fo ſchwer verfchuldet fei, wie ihr, fei er weder befähigt, 
noch geneigt zu helfen. Ihr bindet Ihn, wenn ihr denkt, es müſſe 
erft eurerfeits dies und das geleiftet fein, ehe er euch retten könne, 
Durch folhen Wahn verkerfert ihr Ihn und feine Gnade in Beding- 
niffe und in Klaufeln, die Gott nicht gefept hat, Ihr bindet Ihm, 
wenn ihr Ihm nicht zutraut, Daß er auch da Tieben und ſich erbars 
men könne, wo nichts als Armfeligkeit ihm entgegentritt. Und wenn 
ihr Ihn in Derdacht nehmt, Daß er nur den Treuen und Heiligen 
treu ſei, nicht aber den Gebredhlichen, und die Darreichung feiner Gna⸗ 
dengaben und Gnadenhülfen von dem Maße unfrer Würdigfeit 
abhängig mache, dann bindet ihr den Herrn Jeſum, legt, freilich in 
eurer Vorftellung nur, feinen freien Händen Zefleln an, und befchrämft 
Ihn, und zäunt Ihn in einer Weife ein, die als unwahr und uns 
evangelifch ſchlechthin zu verdammen ift. Nein, bindet Ihn fo nicht, 
Bolt ihre Ihn aber binden, bindet ihn mit den gofdnen Ketten ſei⸗ 
ner Berheißungsworte zu eurem Heil Sprecht zu Ihm: „Du 
haft gefagt, Dies wolleft du in Gnaden thun, und Das — gedente 
daran!® In folcher Weile läßt Er fi) fo gern von armen Sün⸗ 
dern binden, . So handen Ihn alle feine Heiligen in ihren Aengßen, 


Bedrängniffen und Nöthen, und es ift kein Exempel vorhanden, daß 
er die ſe Bande je zerriffen hätte, 
2. 


Seht, dort ziehn fie triumphirend mit ihrem Gebundenen hin, Zu 
Hannas führen fie ihn zuerft, dem früheren Hohenpriefter, dem 
Schwiegervater des Kaiphas, einem Sünder von hundert Jahren, 
Barım zu dem zuerft? Vielleicht ſchon, um dem alten Herm, der 
geäußert haben mochte, daß auch er den Schwärmer aus Nazareth 
einmal zu fehen wünfche, eine Artigfeit zu erzeigen. Doch fcheint die 
Borführung auch nicht ohne vorher getroffene geheime Verabredung 
zwifchen ihm und feinem Schwiegerfohne ftattgefunden zu haben, und 
er, der alte Sadduzäer, war bei dem ganzen Handel mit Jeſu wohl 
ftärfer betheiligt, als es nach Außen hin den Anfchein hatte. Das 
Borverhör, das num beginnt, wurde unbezweifelt von ihm und 
nicht don Kaiphas eingeleitet. Schon der formlofere Gang, den es 
nimmt, ftellt dies außer Frage. Was in den enangeliichen Berichten 
diefer Annahme fcheinbar widerfpricht, verliert alle Bedeutung, ſobald 
man fi), wozu Grund genug vorhanden ift, den Hannas als mit 
feinem Schwiegerfohne in einem, dem hohenpriefterlichen, Palafte 
zufammenmwohnend vorftellt, 

So fteht denn der Herr vor den Schranken feines erften Richters, 
eines jener jümmerlichen Menfchen, deren leider! auch unter uns nicht 
wenige angetroffen werden, und welche, zwiefach erftorben, der Wahr⸗ 
heit Gottes entfremdet, und im Alltäglichiten gefättigt, nichts Höheres 
mehr an fi) kommen laffen, fondern das Erhabenſte im beften Falle 
nur wie ein Schaufpiel behandeln, und in ihrer vollendeten Abgeſtumpft⸗ 
heit für alles Ueberirdifche das Brandmal des Fluches ſchon ſichtlich 
an der Stirn tragen. Gewiß gehörte es nicht zu den geringften Leis 
den des Heiligen in Ifrael, in die Hände fo erbärmlicher und von jes 
dem edlern Gehalt entleerter Wichte fi) überantwortet zu fehn. Und 
fhaut nur, wie jener graue Sünder fid) gegen den Herm der Herr⸗ 
lichkeit fpreizt und aufbläht, obwol er nicht einmal mehr wirklicher 
Hoherpriefter ift, und felbft, als er e8 noch war, nur einen luftigen 
Schatten des mwahrhaftigen Hohenpriefters abgab, welcher, Priefter 
und König zugleich, jebt in der Perfon des gebundenen Nazareners 
vor ihm ſteht. Jeſus nimmt indeß alle die Demüthigungen, die ihm 
widerfahren, gelaffen hin; und wir wiffen ja, aus welchen Grunde 
er dies thut, Kennen wir Doch feine geheimnißvolle Stellung, in der 


Chrikus vor Hannas 22 


er nicht blos vermittelſt feines eignen Exempels ums bedeuten will, 
daß fein Reich nicht von diefer Welt, und fomit auch die Ehre gar 
etwas Anderes fei, als was die Welt mit diefem Namen zu bezeichnen 
pflege; fondern die er zugleich als der für ums einftehende und haf⸗ 
tende Bürge einnimmt, welchem es vor Allem geziemte, dem ewigen 
Vater die hohen Zugenden einer vollendeten Selbfiverleugnung und 
Hingebung an uufrer Statt, und im Gegenfage zu unſrer gottlojen 
Gelbfterhebung, darzuftellen. Es zieht der Glaube im Schifflein fin 
nigen Betrachtens über alle jene Erniedrigungsftätten wie über dunffe 
Meeresfluten hin, und wo er die unvergleichlihen Zugenden des 
ſchwer geprüften Dulders heraufihimmern fieht, erfchaut er in dens 
felben Perlen, die für ihn in Diefen nächtigen Tiefen glänzen. Er 
wirft das Zueignungsneg nad ihnen aus, zählt fie zu den Stüden 
feines Hochzeitoſchmuckes, und gehet fo, „wie ein Bräutigam geziert“, 
aus der Puffionsgefchichte wieder hervor, und unter Elarfter Anfchaus 
ung defien, was „Gerechtfertigt fein aus Gnaden“ heiße, ftunmt er 
ein in Das vorausgenommene Jubellied des alten Sehers: „ch freue 
mid) in dem Herrn, und meine Seele ift fröhlih in meinem Gott; 
denn Er hat mich angezogen mit Stleidern des Heild und mit dem 
Node der Gerechtigkeit mich gekleidet.” 

Hannas fchreitet mit dem Verhöre vor, und fragt den Herm um feine 
Jünger und um feine Lehre. Er hofft, Daß die Ausfage Jeſu ihn im 
den Stand feßen werde, gegen jene als gegen eine politifch geführs 
liche Meutererbande, gegen dieſe aber ald gegen eine gottlofe Keperei 
die Anklage zu erheben. Er vermißt fih, in feiner Frage den ale 
ein verfapptes Sectenhaupt und als einen Geheimbündler zu behans 
dein, der doch fo offen, wie niemald Einer, mit feiner Sache hers 
austrat, und überall am hellen Zage wandelte. Aber die Welt vers 
fährt heute noch, wie Damals Hannas. Weil fie nicht anerkennen will, 
daß wir die allgemein gültige, ewige Gotteswahrheit wirflih haben, 
ftempelt fie dieſe, fich felbit befügend, zu einer Winkelanficht, und uns 
zu einer Secte. Daß ſich die Gläubigen mit Betonung „Die Ehris 
fen“ nennen, ift der Welt unerträglich. Sie erklärt diefelben viel⸗ 
mehr für eine in baroden Privatanfichten befangene geheime Körpers 
fchaft, und unterläßt es nicht, bald diefen, bald jenen-Schimpftitel 
ihnen anzuhängen. Wie unverholen wir nun auch unjre Sache von 
den Dächern predigen, und wie gründlich wir beweifen mögen, daß 
wir nichts Anderes glauben und befennen, ald was je und je bie 


2 Dei Hip. 

gene qͥcitiche Airche vor wud mit und ajaubte und befanuie, und 
felig gelebt Hätten ud geiiorben fein: die Welt bebarıt doch babe, 
und wenn fie ſichs auch abſichtlich weiß machen follte, daß wunfer 
Glaube nichts als eine Bintelreligien, uud wir unr befungene 
Sanatiler ſeien. Eie bemüht ſich, duch Diele erzuungene Berdächti- 
geng mit quier Manier die VBahrheit mit ihren Spießen md Nägeln 
von ſich fern zu halten, und ührem gotivergefteuen muD fleifchlichen 
Treiben wenigfiens einen Schein von Berechtigung zu leihen. 

Der Herr thut dem Hebenprieiier auf die Frage um feine Lehre 
Beſcheid; denn hier galt es weniger die Ehre feiner Perfon, als 
diejenige feiner Sache zu wahren, welde Die Sache Gottes war, 
und der er darım eine Verantwortung zu ichulden glaubte. Zugleich 
wollte er es für alle Zeiten volltommen Mar geftellt wiſſen, daß er 


verurtheilt und gefrenzigt worden fei. „Ich habe,” ſpricht er, „frei 
Sffentlich Cbuchfläblih: mit Parrhefie, Das iſt mit freudigem Auf⸗ 
than meines Mundes) geredet vor der Belt.” — Ya, das hatte 
er. Allem, was er redete, fühlte man die tiefe Sicherheit und Die 
mächtige Ueberzeugung des Herm vom Himmel au, der da offenbar 
machte, was er felbft gefchant und betaftet hatte, und nicht, wie die 
Beifen nach dem Fleiſch, darauf erpicht war, feine Säge mit vielen 
Argumenten und Beweidgründen gegen etwaige Einwürfe zu verpan- 
zern, fondern wußte, daß, wer aus der Wahrheit fei, feine Stimme 
hören, und fein Wort als das Wort des lebendigen Gottes erken⸗ 
sen werde. Und er verrechnete ſich Darin nicht. Roch heute, wo 
ein Menſch nüchtern wird aus des Satans Strid, und zur Erkennt 
niß feiner Bedürfniffe gelangt, bedarf er feiner Beweife mehr für die 
Begründung der Worte Jeſu, indem fein Herz fie wie unmittelbar 
vom Himmel nieder tönen hört, und zwifchen den Worten Jefu und 
den finnreichften Menfchenworten eine Kluft des Unterſchiedes entdedt, 
die fo ungeheuer ift, daß es ihm unbegreiflich bleibt, wie es Diefelbe 
nicht laͤngſt fchon erfannte. Der Herr Jeſus fährt fort: „Ich habe 
allezeit gelehret in der Synagoge und in dem Tempel, 
da alle Jıden zuſammenkommen.“ — Er hatte es, und Ries 
mand hatte ihm auch nur etwas nachzumeifen vermocht, Das dem Worte 
der Offenbarung im alten Bunde wicht auf Das welllommenfte ent- 
ſprochen, und mit dem Wefen eines heiligen Gottes wicht im aller⸗ 


Jefed vor Saunas, 208 


ſchoͤnſten Einfiange geſtanden hätte. Die Meifter in Ifrael mußten 
vor feiner Predigt verſtummend Die Waffen fireden. Was will denn 
Hannas feiner Lehre? Treffend bemerkt hier ein Auslegr: „Man 
kann bier am Jeſu alle Merkmale eines wahren Lehrers finden: Zus 
verficht, welche vor der Welt zeugt, beharrliche Fortführung des Zeugs 
niffes zu aller Zeit, Anfchluß an beftehende göttliche und menfchliche 
Ordnung.“ — „Nichts,“ ſpricht der Herr weiter, „redete ich im 
Berborgenen.” Nein, auch das Räthſelhafte, Das Dunkle, Das Ges 
heimnißvolfe nicht. Vieles davon hat erft im Laufe der Jahrhunderte 
feine Deutung gefunden. Anderes ſteht bis zur Stunde noch theil⸗ 
weile verfchloffen und verfiegelt vor uns, und harrt feiner Entzifferung; 
Er wußte, dab Solches den Seinen lange.ein Räthjel bleiben würde; 
aber das hinderte ihn nicht, e8 dennoch auszufprechen. Es war Dies 
ein Zeichen mehr, daß er fich feiner Lehre als einer göttlichen und 
darum bis an das Ende der Tage bleibenden Far bewußt war. „Was 
fragft Du mich?“ fchließt der Herr; „frage Die darum, die es 
gehört haben, was ich zu ihnen geredet habe; fiehe, dieſelbi⸗ 
gen wiffen, was ich gefagt habe.” Wie konnte der Herr ftärfer 
für die Reinheit und Göttlichkeit feiner Lehre zeugen, als eben dadurch, 
daß er feinen Richter aufforderte, alle Diejenigen, Freunde oder Feinde, 
die jemals ihn reden gehört, wor feine Schranken laden, und fie fra 
gen zu wollen, ob fie irgend etwas wider ihn auszufagen vermöchten, 
das eine Anklage begründe. Und noch heute fcheut er feine Zeugen, 
fondern beruft ſich vielmehr zu Gunſten feiner Sache nach wie vor 
auf Alle, die fein Wort hörten und daſſelbe annahmen; und dieſe 
verfiegeln’8 einmüthig aus eignem Innewerden, und werden's ewig 
verfiegeln, daB Jeſu Lehre von Gott fei, und er nicht von ſich felber 


geredet habe. 


3. 

Der Herr ift noch im Reden begriffen, da erhebt ſich der hohen⸗ 
priefterlichen Diener einer, und verießt ihm mit den Worten: „Ants 
worteft du fo Dem Hohenpriefter?* einen Schlag in's Angeficht, 
Sept mögt ihr erkennen, worauf e8 abgefehen ift. Mit diefer erften 
Mißhandlung mar das Signal zu hundert nachfolgenden gegeben, Deu 
ſuechte war ed nicht entgangen, wie vollftändig fein hoher Herr durch 
Die einfache Entgegnung des Verklagten in die Enge getrieben war, 
und da erbot fich denn als einziges und letztes Mittel, denfelben feiner 
peinlichen Berlegenheit und Beſchaͤmung zu entreißen, nur och jener 


2 DE Ki 


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„Ärtwerter du is dem Hebeuszieter® — Dit ed! As 
Ver Her, ber kbersll, zuB ınch um Werfebe mir den Momichen, 
wie Reiner wuäte, was üch ;ieme, Der ter zewteiiber Bürte zeirübs 
en nen genen wire: per wie ert werkibet nam 

in ätufiher Beiie ab m uns, were mm wie die Sabrbeit, 
De wir den Kindern der Lüge gegenüber vertreten, nicht mehr am 
fann. Hei heihen auch wir dann frech, uumıkent, itmerüch ıL 1. w; 

und wehe und vollends, menu mu gu rer Bürderãägern ud Ber 

eßten bei mnierm Glauben ren zu verbarren, und ter Babr⸗ 
heit nichts vergeben zu wollen, und vermaßen. Bie ſpreizt ſich un 
auch gegen uns der erheudelte Eifer um die Wabrung der Ebre 
Der Autoritäten, umd mie ruft Derfelbe uns, dem Gelüſte nah uns 
gleichfalls mit Badenftreihen tractirend, fein vornebmes: „Antwor⸗ 
tet Du alfo dem Hohenpriefter?”" Was bleibt aber auch uns 
in ähnlicher Lage übrig, als die Entgegnung unfres Meifterd ıms ans 
zuelgnen: „Habe ich übel geredet, beweife, Daß es übel jei; 
habe ih aber recht geredet, was fhlägft du mich?“ Wie 
wernichtend war diefe Rede für den Kuecht umd zugleich für feinen 


Criſtuz vor Hannes. u 


Herm! Ein Hammerfchlag, der den Stachel ihres böfen Gewiſſens 
nur noch tiefer in ihr Mark hinein trieb. Der Backenſtreich ſammt 
dem ihn begleitenden Trotzwort war ja wirflih nur ein klarer Bes 
weis dafür, daß die Elenden fi) außer Stande fühlten, dem Herm 
beweisbar auch nur irgend etwas anzuhängen. Nur fich felbft ſchlu⸗ 
gen fie in's Geficht, indem fie durch ihr Verfahren nur offenkundig 
Zeugniß gaben, wie tief und empfindlich die Wahrheit fie getroffen 
habe. 

So ging denn unfer Herr und Meifter auf das volllommenfte ge 
rechtfertigt aus dieſem erften Berhör hervor, und allein der Hohe 
priefter und feine Trabanten waren es, die geächtet am Pranger der 
Schande ftehen blieben. In ihrem Loofe fpiegelt ſich dasjenige als 
fer derer, Die wider die Sache des Herrn den Schild zu erheben ſich 
vermefjen. Seine Sache wird in ftillem Siegesgange vermöge ihrer 
innern Wahrheit alle Angriffe vernichten. Was auch wider fie ges 
rathfchlagt und unternommen werden mag, fie wird immer wieder zu 
feiner Zeit, wie die Sonne aus ihrem Scheitelpunft auf die an dem 
Zuß der Berge binabgebannten Nebel, fo auf alle Widerſprüche und 
Gegenſaͤtze als auf überwundene Mächte in jtolzer Ruhe niederfchauen. 
Des getröften wir und, und find’8 gewiß, und fingen darum im 
Glauben fröhlich: 


Hein Reich ift nicht von diefer Melt, 

Doc endlich, wird e8 überwinden! 

Der Wahrheit bleibt zulegt dad Feld, 

Und Lug und Irrthum mäflen ſchwinden 

Die Finfterni befteht ja nicht 

Bor Deiner Gnadenfonne Lit; 

Und geht e8 aud durch Schmach und Leiden, 

Für Dich muß fid) der Kampf entiheiden! 

Und wann der letzte Feind einſt fällt, 

Dann ift Dein Reich die ganze Welt. Amen. — 


— — 


ans Da 


XXIV. 
Der Gerichtsprozeß. 





Eine erſchütternde Wahrheit iſt es, Geliebte, daß am Zielpunkt 
unſerer kurzen irdiſchen Laufbahn nicht fofort, wie Manche ſich träu⸗ 
men laſſen, der Himmel mit ſeinen ewig grünen Auen ſich aufthut, 
fondern zunaͤchſt jener Richterthron ſich erhebt, „vor dem“, nad 
der Verficherung des Apofteld 2 Eorinth. 5, 10 „wir Alle offen> 
Bar werden müffen.” Daß dem alfo fet, wird von Dielen bes 
zweifelt. Aber ift’8 zu verwundern? Was man nicht wünfcht, pflegt 
man nicht gern zu glauben. Wer aber geneigt ift, Das Dafein jes 
nes Bottesgerichts am Schluffe unferer Wallfahrt zu verneinen, fehe 
wohl zu, wie er mit dem Herm Ehrifto, der daffelbe aufs unum⸗ 
wundenfte behauptet, fo wie mit den Propheten und Apofteln 
ſich auseinanderfege, die alle im Namen Gottes diefe Behauptung 
wiederholen und befräftigen; und thue dar, Daß diefe durch Zeichen 
und Wunder beglaubigten Zeugen feinen Glauben verdienen, fons 
dern als Lügner und Betrüger erfunden worden feien. Bezweifelt 
Jemand, bevor ihm dies gelungen, die Exiſtenz jenes Gerichtes, fo 
fhelten wir ihn einen verdüfterten, unverfländigen, ja böswilligen 
Menfchen, und geben ihm Schuld, daß er nur leugne, um fi) dem 
Eindrude jener Wahrheit zu entziehen, und defto ungeftörter fein 
gottvergeffenes Sündenleben fortzuführen. Ja, ein Gericht, wie 
Das befagte, gibt’, oder es Iebt Fein perfönlicher Gott im Himmel, 
was wir unfer Gewiffen nennen, it ein Selbftbetrug und Wahn, 
von der Eriftenz einer höheren Weltordnung träumen wir nur, und 
was wir von einem Leben jenfeits reden, üt eine Phantaſie, 
ein Mährlein. 

„Offenbar werden” ift ung nichts Angenehmes und Erwünfchtes, 
Wir lieben von Natur die Finfterniß und Mummerei, und nicht das 
Licht. Winkt uns nur einmal ein Menſchenkind bei Seite, weil er, 
wie er fagt, „in guter Meinung unter vier Augen uns was zu fagen 
habe”, wie pflegen wir dann ſchon zu erfchredten! Gleich erwacht in 
ums der peinigende Argwohn, er möchte an uns etwas wahrgenommen 


haben, Das und zum Tadel gereihe. Und ergibt ſichs wirklich fo, 
wie wird uns dann! Gin arner Menſch iſts, der uns hinter bie 
Larve fchaute, und ſchon kann uns fein, als fänden wir vor einem 
peinlichen Halsgeriht. Was wird's erft werden; wen das Offenbar⸗ 
werden vor Demjenigen anhebt, der Augen bat, wie Feuerflam⸗ 
men, und für den es keine Hüllen und Schleier gibt? Ihr erbebt 
vor dieſem Gedanken? O, daß ihr nur recht gründlich erzittern moͤch⸗ 
tet! Den wahrhaft Erfchrodenen foll id) heute das Geheimniß ent 
fiegeln, wie man dahin gelangen könne, auch an die Schauer bes 
jüngften Gerichts mit Frieden zu denken. Großes hat es gelo⸗ 
ftet, dieſe Möglichkeit zuwege zu bringen. Aber, gelobet jei Gott! fie 
ward ermittelt! 


Iohannes 18, 24. 14. Matthäus 26, 57—61. Marcus 14, 53, 
55—59, $£ucas 29, 54, 


-Sannad fandte ihn gebunden zu dem Hohenpriefter Kaiphas. Es war aber Kaiphat, 
der den Juden rieth, es wäre gut, daß ein Menſtch würde umgebracht für dad Bolt. 
Die aber, die Iefum gegriffen hatten, führeten ihn bin, nnd brachten ihn in beß 
Hohenprieſters Kaiphas Haus, dahin zuſammengelommen waren alle Hobenpriefter 
und Aelteiten und Schriftgelehrten. Die Hobenpriefter aber und elteften und ber 
ganze Rath ſuchten falih Zeugniß wider Jeſum, auf daß fie ihn sum Tode brachten, 
und fanden nichts. Und wiewohl viele falſche Zengen berzutraten,, fanden fie doch 
Keines; denn viele gaben falſcheß Zengniß wider ihn, aber ihr Zeugniß ſtimmte nicht 
überein. Zuletzt traten herzn zween ſalſche Zeugen, und ſprachen: Diefer hat gefagt: 
Ich fanın und will den Tempel Gotteß, der mit Händen gemacht iſt, abbrechen, und 
in dreien Tagen einen andern bauen, der nicht mit Händen gemacht if. Aber ihr 
Zengniß ſtimmte noch nit überein. Und der Hohepriefer Rand auf unter fie, und 
fragte Iefum, und ſprach: Anworteſt du nichts zu dem, was dieſe wider dich zeu⸗ 
gen? Jeſus aber ſchwieg ſtille und antwortete nichts. 


Ehriftus vor den Schranken des geiftlihen Gerichts! Dies Die 
Scene, in die wir uns heute zu vertiefen haben. Die fcheinbaren 
Widerfprühe im Lebensgange Jeſu mehren und fteigern ſich, je 
näher fie ihrer fchließlichen Loͤſung rüden. Man dene: der 
Gottes auf der Verbrecherbank; der Richter der Welt von den Sün⸗ 
dern gerichtet! Wo ift ein fhreienderer Mißton je verlautet, ala 
biefer? — Und was auf dem Schauplaß der irdiſch⸗menſchlichen 
Geſchichte fich entwidelt, iſt noch nicht einmal das Erftaunenswerthefte 
und Befremdendſte, was fi) bier ereignet. Die uns zugelehrte bifto- 
riſche Außenfeite Der Begebenheit vertritt wur, wie und ſchon bewußt 


2 De Gele. - 


iR, die Stelle eines mit finmwollen fumbefiichen Figuren durchwirkten 
Borhangs, hinter welchem erſt der eigentfihe, Durch jene nur ans 
dentend vorgebildete, und nur vermittelt de8 Glaubensauges mahr- 
yenehmende Gerichtsäkt fi) vollzieht; ein Aft, bei welchem wir Alle 
tu hohen Grade betheiligt find, und der vor einem wmendfid böbern 
Zribunale feinen Verlauf hat, als die Verfammlung ift, welche wir 
in dem jüdifchen Synedrium vereinigt fehen. 

Das öffentlihe Verfahren gegen Jeſum bildet den Gegen⸗ 
Rand unferer heutigen Betrachtung. Wir richten unfer Augenmerk zu: 
vörderft auf den Gerichtshof; dann auf das FZeugenverhör; md 
endlih auf das Verhalten des Verklagten. 

Gefälle es dem Herrn, auch hier in die Geheimniffe feines Marter: 
weges uns einzumweihen. 


1. 

Es iſt noch Nacht. Die Stadt Jeruſalem liegt größtentheils noch 
in tiefem Schlummer, und ahnet nicht, was innerhalb ihrer Mauern 
Schauerliches und zugleih Heilvolles fo eben in die Weltge- 
ſchichte fich verwvebt. Nur bin umd wieder hört man einzelne Fuß⸗ 
teitte durch die Straßen raufchen, und ihre Richtung nad) dem hohen⸗ 
priefterlihen Palafte nehmen, deffen zur ungewohnten Stunde durch 
Lampen und Zadelfchein erleuchtete Fenfter auf Vorgänge außerge- 
wöhnlicher Gattung fchließen laſſen. Auch wir begeben uns dorthin. 
Eine im geräumigen Sigungsfaal vereinigte hohe Verſammlung nimmt 
uns auf. ES ift der Sanhedrin, der Rath der fiebenzig Obern in 
Iſrael, mit dem Hobenpriefter, als feinem Vorfigenden, an der 
Spige. Ein der Beftallung nah hochwürdiges Kollegium; das 
mgefehenfte und ehrfurdhtgebietendite der ganzen Welt, indem es, 
figend auf Mofis Stuhl, inmitten des auserwählten Volks nad) 
dem Geſetzbuch und im Namen des allerhöchiten Gottes Recht ſprach. 
Bir erbliden zur Seite des Präfidenten die Männer, welche früher 
Die hohepriefterliche Würde beffeideten. Hinter diefen gewahren wir 
zunaͤchſt die Vorfteher der vierundzwanzig Priefterflaffen. Dann 
folgen die Aelteften, oder die Häupter der Synagogen; und den 
übrigen Theil der Berfammelten bilden auserlefene Schriftgelehrte, ge⸗ 
feßesfundige Männer, wohl bewandert in den mofaifchen Rechten und 
ben Meberlieferungen und Satzungen der Rabbinen. 

Diefen Herren lag es als Hütern des Heiligthums vor Allem ob, 
Die Ordnungen Jehovas zu handhaben im Bolte, die Nechtshändel 


Der Gerihtiprme. os 


der einzelnen Stämme zu fehlichten, über die Reinheit der Lehre und 
des GBottesdienftes zu wachen, und auftauchende Keßereien zu prüfen 
und zu richten. So gehörte es allerdings zu den Befugniffen, 
ja zu den Pflichten dieſer Behörde, einen Mann, der ſich für den 
Meiflas ausgab, zur Verantwortung zu ziehen, und auf das Schärffie 
zu verhören. Und daß es auch dem Heiligen Iſraels nicht einflel, ihr 
das Necht hierzu ftreitig zu machen, erhellt Ddeutlidy genug aus der 
Ehrerbietung, die er, abfehend von der fittlichen Befchaffenheit 
ihrer einzelnen Mitglieder, während des ganzen Berlaufes der Ders 
handlungen ihr zu beweifen nicht verfehlte. Er fieht in dem Syne⸗ 
drium das Tribunal des richterlihen Gottes; nur erblickt er dieſes 
Darin in einer noch höheren und zwar in folher Weife, daß Er 
ah da Gottes Stimme durch daffelbe vernimmt, wo die Raths⸗ 
herren für ihre Perfonen aus Eingebungen des Teufels reden, und 
daß die ungerechten Urtheile der Zebteren für Ihn in gegründete 
und gerechte des jenfeitigen Gerichtshofs ſich verwandeln. 

Das Gefchlecht unfrer Zeit will von einem göttlichen Gerichts 
hof nicht mehr wiffen Dan fpricht lieber mit dem Dichter der 
„Götter Griechenlands”: „die Weltgefchichte ift das Weltgericht”, als 
mit dem Pfalmenfänger: „Herr, gehe nicht in's Gericht mit deinem 
Knechte, denn vor dir ift fein Lebendiger gerecht!“ Man läßt alles 
Gericht einzig darin aufgehn, daß Das Gute in der Freude des fitt- 
lihen Bewußtfeins ſich felbft belohne; das Böje dagegen in der Neue, 
die ihm folge, feine Strafe finde. So löſt man dad Gericht von 
Gott dem Allmächtigen ab, wie man Gott felbft von der Welt und 
dem Leben der Menfchen nblöft; und fchreit in feiner Thorheit: „Friede, 
Friede, es hat nit Gefahr”, als ob, was wir leugnen, darum, weil 
wir &8 leugnen, aufhörete, zu exiſtiren. Wer aber feinen Kopf dars 
auf gefeßt hat, an eine Juſtiz jenfeitS der Wolken nicht zu glauben, 
der möge denn noch eine Weile warten, um fi fühlend von deren 
Dafein zu überzeugen. Es ift noch um eine furze Spanne Zeit zu 
thun, fo wiffen wir Alle, ob das Wort Gottes Recht hatte mit feinem: 
„Bir müflen alle offenbar werden vor dem Richterftuhle Ehrifti«, oder 
die fleifchliche Vernunft mit ihren kecken VBerneinungen. Wir unires 
Theils glauben mit der Schrift, daß „Gott feinen Thron errichtet hat, 
zu richten die Menfchenkinder,* und „Gerechtigkeit und Gericht feines 
Thrones Beten” feien. Bir ſehen ihn ragen, diefen Thron, auf den 
brandenden Todeswogen der Sündfluth, wie auf den Ajchenhaufen 

19 


300 Das Heilige. 


Sodoms und Gomorrha und den Trümmern Serufalems; ımd uns 
fteht nicht mehr in Frage, weder, was Salomo fagt, daß Gott alle 
Werke vor Gericht bringen werde, ſammt dem, Das verborgen ift, es 
fet gut oder böfe; noch was der Apoftel: „Siehe, der Herr fommt 
mit viel taufend Heiligen, Gericht zu halten über Alle!" — Es exi⸗ 
flirt ein Sottestribunal, e8 harret unfrer ein pofitives, göttliches Ges 
richt; und dies fo gewiß, als Gott wahrhaftig heilig und gerecht 
iſt; als Er die Schleier, in denen diefleitS des Grabes Seine Gerech⸗ 
tigkeit noch verhüllt geht, einft Tüften muß; als Die Stimme unfres 
Gewiſſens, dieſes Heroldes des richterlichen Gottes nicht als eine 
Lüge erfunden werden wird, und der Sohn Gottes, der König 
der Wahrheit, die erfchütternden Worte uns binterlaffen hat: „Als⸗ 
denn wird Er fagen zu denen zu feiner Linken: „Gebet hinweg von 
mir, Derfluchte, in das ewige Feuer, das dem Zeufel und feinen 
Engeln bereitet ift!“ 

Was muß das aber fein, vor jenem Richterftuhl erfcheinen müſſen! 
Sein Stuhl, jagt die Schrift, „bremt in eitel Feuerflammen.“ 
„Unfer Gott”, ruft nicht blos Mofes, fondern mit ihm auch Pau⸗ 
Ius, „ift ein verzehrend Feuer." „Es ift ſchrecklich,“ fpricht der- 
felbe Apoftel, „in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen!“ Bor 
den Schranken dieſes lebendigen Gottes wird nit nad) Gunft ent: 
fehieden, fondern nah Recht. Hier ift maßgebend das Wort: „Ber: 
flucht fei Jedermann, der nicht blieb in Allem.” Hier geht's nach dem 
Grundſatze: „Und fo Jemand das ganze Geſetz hält, und fündiget 
an Einem, der ift e8 ganz fchuldig.* Und hier wird nichts abge- 
dungen und erlaffen. „Es ift leichter,“ fpricht der Herr, „daß Him⸗ 
mel und Erde zergehe, denn daß ein Strichlein vom Geſetze falle.“ 
Für Bemäntelungen und Entfchuldigungen bleibt hier fein Raum. Die 
Bücher find aufgethan, und des Richters Augen „Zeuerflammen, und 
„prüfen Herz und Nieren.” Hoffe auch Niemand, mit Bitten oder 
Thränen hier etwas auszurichten. Nicht nah Gefühlen wird bier 
gerichtet, fondern nad) unmwandelbaren ewigen Prinzipien, Kein 
Zummelplag iſt bier mehr für biendende Vertheidigungstünfte. Wer 
will Den zu berüden hoffen, vor deffen Augen Alles bloß und ent» 
det ift? Kein Raum bleibt hier mehr für Appellationen und Re- 
curſe. Man fteht vor der hödhiten, und allerlebten Inſtanz. Wie 
hier entfchieden wird, fo bleibt's entfchieden. Nicht blos der 
Mund des Nichters urtheilt umd richtet hier, ſondern feine ganze 


Der Gerichttvrozeß 291 


Natur, fein ganzes Weſen. Er kann keine Sünde unverdammt 
bingehn laffen; Er zerfiele, wenn er es tbäte, mit fich ſelbſt. Um 
Gott zu bleiben, muß er Finfterniß als FZinfterniß behandeln und 
nicht als Licht, und Verwerfliches verwerfen, nicht überfehn, gefchweige 
befchönigen. 

Bor diefem allerhöchiten Zribimale nun fteht der gebundene Mann 
unfrer Geſchichte; denn, wie ſchon gefagt, nicht im Sichtbaren nur müßg 
ihre den großen Gerichtsprozeß fuchen, um den es fich hier handelt, 
fondern vorzugsweife in Unfihtbaren. Es ſteht der Herr auch 
nicht als Heiliger vor den Schranken, fondern als Sünder Un⸗ 
fer Schuldbuch wird als das feine vor ihm aufgethan. Ihm wer 
den unfre Sünden vorgerüdt: denn er trägt fie. Mit unfern Miſſe⸗ 
thaten wird er in Die richterliche Wage gelegt: denn Ihm find fie 
zugerechnet. Was mag da zwifchen Ihm und dem auf dem Stuhl der 
Majeftät vorgegangen fein? Die Schleier der Ewigkeit bedecken's. 
Das Eine aber ift uns unverborgen, daß er unfre Stelle dort 
vertrat. Wie er, fo hätten wir einft Dageftanden, wenn er nicht ers 
fhienen wäre; und wehe uns, hätten wir felbft für unfre Schulden 
haften müffen! Sept aber darf uns ein folder Gedanfe nicht mehr 
erfchreden. Nein, Brüder, jebt nicht mehr, wenn wir anders Chrifti 
eigen find. Was uns oblag, hat Er erledigt. Wir kommen nicht mehr 
in's Gericht, feitdem Er ſprach: „Sibet, und laſſet mich hingehn. * 
Wir finden in Chrifto im Verhör, vernahmen in Ihm unfer Urtheil, 
mußten vor dem Angeficht des Richters in Ihm verftummen, und haben 
in Ihm den blutigen Sold bezahlt, den wir der ewigen Gerechtigkeit 
fehuldeten. Nun ift der Nichter uns verföhnt. Bis in's Innerſte des 
Heiligthums hinein fehen wir nun Die Straße uns eröffnet. Keine 
Schranke eines verdammenden Gefeßes verfperrt uns den Weg zum 
Himmel mehr. Heiter fchauen wir in die Wolfen, und der Donner, 
der fie Durchrollt, tönt uns nicht mehr wie der Klang einer Armen- 
fünderglode, fondern wie ein grüßender Friedensglodenhall aus lies 
ber und erfehnter Heimath. Zudt ein Racheblif vom Himmel; uns 
trifft er nicht. Schilt der Herr aus Seiner Höhe, uns meint ex 
nicht. Ertönt die Poſaune des Gerichts; uns ladet fie nicht vor die 
ſchauerlichen Schranken. Fährt Das Schwert des Zorns aus Gottes 
Scheide; wir find es nicht mehr, auf die es abgefehen it. Werden 
die Bücher aufgethan; wir dürfen gelaffen ihre Blätter raufchen hören. 
Bir wiffen von feinem Richter mehr; der Richter ift unfer Freund 

19* 


2 Das Geige. 


und Bater. GEntzüdendes Bewußtſein dies! — Preis Dir, gerich⸗ 
teter Jeſu, dem wir es danken! 


a. 

Zurüd in den Eigungsfaal! Der hohe Rath fucht Zengniß wider 
Jeſum. Er fucht’s, weil umgefucht ein ſolches fich nicht darbeut. 
Bas ungefucht ſich bietet, ipricht Alles für Ihm. Er foll aber aus 
dem Mittel, er foll. Barım? Beil er den flolsen Herren, die Ihn 
goifcjen haben, ihr Spiel verdirbt, und ihrem ſeibſtiſchen Thun umd 
Trachten überall den Weg vertritt. Ihr Kopf iſt weniger mit Ihm 
entzweit, als ihr Herz. Anders aber hat ſich's insgemein bei feinen 
Feinden nicht. Sie mögen Ihn nicht, weil er ftörend in ihre Suͤn⸗ 
denwinkel fchaut, Die Wege der Eitelkeit, die fie wandeln, nicht genehm 
halt, ihr gottvergefines und fleifchliche® Treiben richtet, und die Ges 
rechtigkeit, die vor Gott gült, ihnen abfpricht. Und weil fie aus fol- 
herlei Gründen Ihn nicht mögen, ſuchen fie Zeugniß wider Ihn, 
und müffen vor allen Dingen feine Gottheit leugnen, denn wäre 
ee Gott, wer entbände fie von der Pflicht, Ihm zu buldigen, und 
feinem Worte zu glauben, das fie verdammt? Geid deshalb ver: 
fihert: der ganze Rationalismus ift ein Pila, der auf dem Boden des 
gottentfremdeten Herzens, und nicht auf dem der redlich forſchenden 
Vernunft erwachſen if. Glaubt nur, die mehrften unter denen, Die 
unfre Lehre verwerfen, verwerfen fie nicht, weil fie etwa zu pbilofo- 
phifche Köpfe wären, um dergleichen glauben zu können, fondern aus 
Motiven, denjenigen ähnlich, aus welchen einft ein Felix jene Lehre 
ms dem Munde Pauli nicht weiter hören mochte. Sie fühlen fidh 
durch Diefelbe in ihrem eitlen und weltlihen Sinn und Weſen be⸗ 
helligt. Was hilft's aber, daß fie verneinen, was wir bejahen und 
befiegeln? Wahrheit bleibt Doch Wahrheit, troß ihres Kopfichüttelns 
und Negirens. Chriftus bleibt der Herr vom Himmel und ihr Richter; 
Ehrifti Blut, das fie mit Füßen treten, das einzige NRettungsmittel 
für fie, wie für uns; Chrifti Wort, das alleinige Licht, das in die 
Finſterniß fcheint. Und wie ſteht's um die Zeugen, die fie wider Je⸗ 
ſum aufzuftellen haben? O diefer windigen und armfeligen Schwäger, 
auf welche fte fi) berufen, und die unausgefeßt nicht einer dem an⸗ 
dern bios, fondern auch allaugenblicklich ſich felber widerfprechen! 
Die Zeugen, die dagegen wir für unfern Glauben aufzurufen haben, 
find die gottgeweihten Seher und Propheten, die heiligen, herrlichen 
Evangeliften und Apoftel, die Taufende von Blutzeugen, die in feiner 


Der Gerichtprozeß. 293 


Kraft auch in den Flammen der Scheiterhaufen Ihm ihre Pfalmen 
fangen; ja auf die ganze Geſchichte Seiner Kirche berufen wir ung, 
wie auf die tagtägliche Erfahrung aller Gläubigen, als auf ein fort 
laufendes Zeugniß für den, der unfre Xiebe ift, und für die Wahrs 
heit Seiner Sache. — 

Die Näthe des Synedriums, denen um des Volfes und wohl auch 
um ihres eignen Gewiffens willen daran liegt, ihren Juſtizmord wer 
nigftend mit einem Schein des Rechtes zu befleiden, find andauernd 
bemüht, Zeugniß zu fuchen wider Jeſum. Aber ein erfolgloferes Jagen 
iſt wohl niemals unternommen worden, als das ihrige. Sie ſchmach⸗ 
ten darnad), in Seines Lebens Garten auch nur einen Dom und 
eine Diftel zu entdeden, woraus fie den Zodtenfranz Ihm flechten 
könnten. Aber fie finden Blumen zu einer Ehrentrone für Ihm 
genug; aber Unkrauts auch nicht ein Hälmlein. Da räth denn die 
Berzweiflung zum Neußerften. Erkaufte Zeugen treten auf, ein ganzer 
Haufe; Buben, die in allen Berdächtigungskünften wohlerfahren find, 
die fi) bemühen, dies und jenes dem Heiligen anzulügen. Aber was 
erreichen fie? — Sie ftellen ſich felbft, fammt denen, die fie ge 
dungen, aufs ärgfte bloß, und unterbreiten der Unfchuld des Ber 
Hagten nur eine neue Folie Was fie vorbringen, richtet fich felbft 
als eine Abfurdität; und nicht einmal das wird erzielt, daß, was 
nah dem Mofaifchen Geſetze unbedingt erforderlih war, ihre Zeug⸗ 
niffe übereinftimmen. Sie gerathen aus einer Berwirnng in die 
andere, widerlegen wider ihren Willen ſich unter einander felbft, und 
mahnen an das Wort des Herrn bei Sacharia: „Ich will alle Roffe 
ſcheu umd ihre Reiter unfinnig machen.“ Die hohe VBerfammlung bes 
findet fih fchon in der peinlichften Verlegenheit. Da treten zuletzt 
noch zwei Zeugen vor, und hoffen, vermittelt eines Wortes, das der 
Herr vor Zahresfrift einmal gefprocdyen, und welches fie ihm natürlich 
in böswillig verdrehter Geftalt jet wieder vorrüden, die gar zu tiefe 
Scharte ihres Berflägerfchwertes wieder auszuwetzen. Es ift das bes 
fannte Wort Joh. 2, 19: „Brechet diefen Tempel ab, und am 
dritten Tage will ih ihn wieder aufrichten.“ Schon damals 
wurde Ihm dieſes Wort, das Er durch die auf fich deutende Bes 
wegung feiner Hand, womit Er es begleitete, gewiß jedem ernftlichen 
Mißverftändnig entzog, von den Juden auf's böslichite mißdeutet. 
„Diefer Tempel” fprachen fie, „ift in ſechs und vierzig. Jahren ers 
baut, und du willſt ihn in dreien Tagen aufbauen?!” — „Er redete 


294 Dad Heilige. 


aber," bemerkt an der befagten Stelle der Evangelift, „vom Zempel 
feines Leibes.“ Daß er von dem geredet, mußten auch Die beiden 
Beftochenen gar wohl. Nichtsdeſtoweniger erjcheint ihnen das Wort 
fehr geeignet, um damit den Schein nicht blos einer gottlofen Groß⸗ 
fprecherei, fondern aud) des Majeftätsverbrechens einer Zempelläfterung 
auf Zefum zu wälzen; und fo hören wir fie denn fagen: Er hat ſich 
gerühmt: „Ich will den Zempel abbrechen und in dreien Tagen den- 
felben bauen.” Doch gerathen auch fie wieder, wie Dies ſchon in etwa 
aus den evangelifchen Berichten hervorgeht, von vorneherein in Die 
grellften Widerfprüche mit einander. Der Eine behauptet, Jeſus habe 
geſagt: „Ich will,“ der Andere: „Ich kann”; der Eine: „den Tempel 
Gottes will ich zerbrechen und ihn in dreien Tagen wieder aufridhten, “ 
Der Andere: „den Tempel, der mit Händen gemacht ift, will ich ab- 
brechen, und einen andern bauen, der nicht mit Händen gemacht ift.“ 
Genug, das Gerede der Beiden macht das Maß der Verwirrung voll; 
und ſelbſt der Hohepriefter ift noch nicht ehrlos und unbefonnen ge 
ang, um auf folche all’ zu jämmerlihe Verdächtigung hin fein ridy- 
terliches Endurtheil zu füllen. So fcharf war immer fein Gewiffen 
noch, daß er das Klägliche und Nichtswürdige diefer letzten Ausfagen 
febhaft fühlte; und wäre es auch nicht ſchon die Stimme feines inne: 
zen Richters geweien, die gegen ein ernſtes Eingehn darauf Gegen⸗ 
ſpruch erhoben hätte, jo hätten fchon eines Theils die heimliche Be 
forgniß, es möchte auch dem Volke ein ſolcher Rechtsgrund wenig 
einleuchtend erfcyeinen, und dann die bedeutungsvoll erhabene und 
imponirende Ruhe, welche der Berklagte der elenden Fälſchung jener 
beiden Zeugen entgegenfebte, davon ihn abgehalten. So gereichte denn 
am Ende das ganze Inquifitionsverfahren jener im Aufſchüren von 
fittlihen Schwächen und Blößen fo geübten Keßerrichter nur zur Ver⸗ 
berrlichung unfers Herrn, indem dadurch deffen mafellofe Unfchuld in 
das allerhellite Licht geftellt ward. Sa, Brüder, Er ift das Lamm 
ohne Fehl, das Er nothwendigerweile fein mußte, um unfre Schuld 
zu zahlen. 

Ah, wenn einmal gegen uns die Zeugen aufgerufen werden, wie 
fo gar anders wird dann das Ergebniß fein An der erforderlichen 
Uebereinftimmung wird’8 alsdann nicht mangeln. Unfer Gewiffen wird 
da nichts Beſſeres von uns zu fagen wiſſen, als der Berkläger aus 
dem Abgrund; nichts Beßres die Umgebung, in der wir lebten, als 
Moſes, der Sachwalter der Heiligkeit Gottes auf Erden. Und wehe! 


Der Gerihiäprogeh,. | 295 


Der Hauptzeuge wider uns ift dann der erhabene Richter felbft, defien 
Auge uns überall gefehen, und unfer Innerſtes bis in feine geheim⸗ 
ften Falten hinein ergründet hat! Und wie wird da das Zeugniß 
wider uns anders lauten können, ald „Tekel“ d. i. „Ihr feid ges 
wogen und zu leicht befunden!” — „So wird es lauten?" — Ber 
fragt’8? | Solche etwa, die in Ehrifto find, fo antworte ich: Nein, 
e8 lautet anders einft. Keine Zeugen werden gegen euch mehr zu⸗ 
gelaffen. Das Zeugniß, das euch galt, hat wider euren Bürgen fi 
gewendet. Die Verkläger zu Zerufalem lügen in ihren Ausfagen gegen 
Sefum, und fprechen Doch auch wieder die Wahrheit. Web fie den 
Herrn beichuldigen, deß ift er fhuldig, weil er uns vertritt. Wenn 
uns Jemand hinfort in Liebe unfre Sünden vorhält, nehmen wir es 
dankbar an, und beugen uns foldyem Gerichte. Wenn Einer zu uns 
ſpricht: „Siehe, bier noch ein Gebrehen an dir, und dort eins, fo 
ſchlagen wir in uns, und entgegnen: „Ach, möchte ich meinem Herm 
ganz zu Ehren leben!” Macht aber Jemand, jei er Menſch, fei er 
Dämon, etwa Miene, in feindlicher Weife, und vor Gott uns vers 
Hagend, gegen uns einzulummen, fo thun wir Einfpruch, und ent 
gegnen: „Du verirrt Dich!” Denn was würde ein Richter fagen, 
wenn gegen einen Dieb, der feine Strafe bereitö verbüßte, noch nach⸗ 
träglich ein Zeuge feines Vergehens ſich melden wollte? „Freund, * 
würde er fprechen, „behalte dein Zeugniß fein für dic. Der Prozeß 
ift entfchieden, und die Akten find gefchloffen.* In ähnlicher Weife 
würden Seitens des himmliſchen Richters die Zeugen abgefer- 
tigt werden, die, nachdem auch unfer Prozeß in Ehrifto zum Schluß 
gekommen, noch wider uns fich melden wollten. Seliger Umſtand 
dies! Da mag ja wohl das alte Verslein feine volle Berechtigung 
haben: 


Chriſt gerihtet? Sagt doch am, 
Wo find Ehrifi Sünden? 
Kaiphas, der Huge Mann, 
Weiß fie nicht zu finden. 

Ah, er ſucht nur all zu weit, 
Mas ich näher finde: 

Wie ih Chriſti Heiligkeit, 
Ward Er meine Sünde! 


3. 
Wie benimmt ſich aber der Berklagte, während das gerichtliche 
Verfahren über Ihn ergeht? Höchk bedeutſam iſt fein ganges Ver⸗ 


296 Das Heilige. 


balten. — „Antworteft Du nichts zu dem, was Diefe wider 
Dich zeugen?” hören wir den Hohenpriefter mit einer Richtermiene, 
die feine Berlegenheit nur fchlecht werdet, ihm zuherrſchen. „Aber 
Jeſus“, erzählt die Gefchichte weiter, „ſchwieg ftille.” Höchit be 
redtes Schweigen Dies; für die Kinder des Liigenvaters vernichtender, 
als es das fchärfite Strafwort geweſen wäre! Wozu doch auch hier 
noch viele Worte machen? Zeugten Doch, ob auch wider ihren Willen, 
Die Feinde felbft fo kräftig für Ihn, daß es einer weiteren Recht⸗ 
fertigung für Ihn nicht bedurfte. Er ſchweigt. Wie ein Geringes 
wäre e8 Ihm gewefen, mit wenigen Worten der Entgegnung Die hohe 
Berfammlung auf das empfindlichite bloßzuftellen, aber Er ehrt in 
ihr, welcher Ungerechtigfeiten fie fih auch fchuldig macht, nad) wie 
vor die „von Gott geordnete Obrigkeit,” und in Diefer Anfchauung 
erachtet er's für geziemend, daß er ſchweige. — „Er ſchweigt,“ be- 
merkt hier ein Nusleger treffend, „wie ein mißhandeltes Kind vor 
feinem ungerechten Bater fchweigt.” Doch liegt die weientlichite Bes 
Deutung feines Schweigens tiefer. Es ift nicht das Schweigen eines 
guten Gewiſſens blos, fundern, die Sache recht verftanden, das Ge: 
gentheil eines folhen. Sein Schweigen ift das in die Erfcheinung 
tretende Abbild eines geheimnißvolleren Berftummens vor einem ans 
dern und höhern Gerichtshof, als der menfchliche war; und aus dieſem 
Geſichtspunkt daſſelbe angefchaut, iſt's allerdings auch ein Schweigen 
des Zugeftehens und der Bejahung. Wenn ein Verklagter zu 
den Anklagen, die gerichtlich wider ihn erhoben werden, ſchweigt, fo 
gilt dies für ein beſtätigendes „Ja“. Als ein foldyes Schuldbelennt- 
niß haben wir auch das Schweigen Jeſu aufzufaffen. Nachdem er 
fraft geheimnißvoller Zurechnung vor Gott die Sünden feines Volles 
übernommen, erachtet er fi) auch des Todesurtheils und des Fluches 
würdig. Diefe wahrhaftige Dargabe feiner felbft als eines Schuld: 
ners an unfrer Statt will er dadurch auch äußerlich andeuten und 
befunden, daß er eben die Anklage feiner Richter ohne irgend einen 
Verſuch von Selbftentfchuldigung fehweigend hinnimmt. So fchweigt 
er alfo nicht blos wie ein Lamm, fondern auch als das Lamm, das 
der Welt Sünde trägt. Sein Berftummen aber macht uns im Ge- 
richte reden, und gewährt uns Vollmacht und Freimuth, geftüßt auf 
überfhwänglic vorhandenen Rechtfertigungsgrund allen Berfläs 
gem gegenüber getroft unfer Haupt zu erheben. — 

Die Erinnerung an den redenden Herrn ift mir koͤſtlich. Das Bild 


® 


Der Gerichttprozeß. 297 


des verfiummenden Bürgen ift mis nicht minder. Zum Helden 
macht Sein Verſtummen mich, wo die Eichen von Bafan zittern, 
und ftellt, wo die Lenden der Starken erbeben, meine Füße auf 
einen Felfen. Ich ſchweige, wenn mein Gewilfen mich einen Sün; 
der fchilt; denn ich bin ein folcher. Aber will midy8 verdammen, 
fo rede ich, und fpredye: „Gott ift größer, als du mein Herz; Er 
iſts um Ehrifti willen!” — Ich ſchweige, fagt mir das Gefep, daß 
ich den Fluch verdiene; denn ich verdiene ihn. Will aber das Geſetz 
mir drohen, Daß mich der Fluch auch treffen werde, fo erhebe ich 
Widerſpruch, und rufe: „Chriſtus erduldete die Verfluhung!” Ich 
ſchweige, rüdt mir der Satan meine Miffethaten vor; id) verhülle 
mein Haupt, und gebe ihm Necht in Allem. Berfucht er aber, mit 
Gericht und Hölle mich zu üÄngftigen, fo fpreche ih, und zwar mit 
Michael: „Der Herr ſchelte Did, du Satan!” Ich fchweige, 
wenn ein Elend mich traf, und man zu mir fügt: „Dies ward dir 
um deiner Sünden willen!” Sagt man mir aber: „Dies ift die 
Strafe für deine Sünden,” fo ſpreche ih und entgegne: „Mit 
Nichten; Verdammliches ift nicht mehr an mir!“ Und wenn ich vor 
dem Thron des Allmächtigen einft erfcheine, und in das Licht feines 
Angefichtes treten muß, werde ich verftummen, wenn Er nad) meinen 
Tugenden mich fragen follte, weil ich deren feine habe. Ich werde 
verfiummen, follte Er zu mir fagen: „Um deiner Thaten willen bit 
Du des Todes fchuldig, und haft nur Anfpruch auf die Hölle!’ Am 
Staube verftummen werde ich, wenn Er etwa mir eröffnete, es fei 
nichts in mir, das ihn bewegen könnte, mich von der Verdammmiß 
loszufprechen; denn wirklich bin ich mir nicht bewußt, daß in mir 
felber etwas fei, das de mich würdig machte. Gewänne e8 aber 
den Anfchein, als folle das Urtheil der Verwerfung wirflich über 
mich ergehn, fo würde ich nicht mehr ſchweigen, fondern auf Grund 
des Blutes, des Gehorfams, des unendlichen Verdienftes meines Bürs 
gen mit aller Beugung und Ehrerbietung, aber auch mit aller Beherzt⸗ 
heit fogar an die Gerechtigkeit Gottes appellicen, Daß fie mir Die 
Perlenthore des Paradiefes oͤffne. Und was gilts, ich werde mich 
nicht abfchläglich befchieden fehn! — 

Dies Schweigen und Reden zur rechten Zeit Ichre uns Alle 
denn der Herr: das Erftere durch einen himmlifhen Zadelwurf 
in die Finfterniffe unfrer Natur; das Andre durch eine göttliche Bes 
leuchtung des troſtvollen Geheinmiſſes der.Marter Jeſu. Es gibt 


298 Das Heilige. 


aur einen Weg, deu Schreien des zufünftigen Gerichtes zu entfliehen : 
die gläubige Ergreifung deſſen, was der Bürge an unfrer Statt voll- 
bracht hat. Hiezu flärfe uns denn Gott je länger, je mehr die 
Blaubenshand, und lehre uns fingen aus unſres Herzens Tiefe: 


Peg nun Kurt und Tranerflor! 

Ich hab’ mich befonnen: 

Seit Chriſt den Vrozeß verlor, 

Hab’ ich ihu gewonnen. 

Sein Gericht hub meines auf; 

Ich hab’ offue Gaflen; 

Und darf, wenn vollbracht mein Lauf, 
Boy mic ſehen laffen! — Amen. — 


— — rR — 


| XXV. 
Petri Fall. 





„Du ſteheſt durch den Glauben: ſei nicht ſtolz, ſondern 
fürchte dich!“ So der Apoſtel, Röm. 11, 20. Er ſpricht es zu- 
nächſt zu den Brüdern aus den Heiden, die er umter dem Bilde eines 
Der Wurzel des gefällten Iſraelitenthums aufgepfropften, aber dadurch 
veredelten „wilden Delbaums” in eins zufammenfaßt. Was er aber 
dieſen fagt, fagt er zugleich jedwedem einzelnen Chriſten. Wie 
weit auch immer ein Jünger des Herm im Werke der Heiligung 
gefördert werden mag, nimmer gelangt er zu einer fo ſelbſtſtaͤndi⸗ 
gen Stellung, daß er hinfort „ein Leben habe in feiner Hand,” 
und aus einem ihm zu beliebiger Verfügung geftellten Vermögen 
die Koften feiner geiftlichen Unternehmungen beftreiten könne. Einen 
Stand der Mündigkeit, in welchem er die Gängelbande Jeſu end- 
lich von fi) werfen, und des Schöpfens aus Seiner Kraft» und 
Gnadenfülle ſich überhoben glauben dürfte, gibt es für den Ehriften 
nicht. So wenig die Rebe abgefondert vom Weinftod für ſich bes 
ſtehen und in felbftftändiger Vereinzelung grünen, blühen und Früchte 
treiben kann, fo wenig ift der Ehrift außerhalb der Glaubensgemein⸗ 
ſchaft mit Chriſto zu irgend einem Guten fähig, Nur in der Verei⸗ 


Vetri Tall 2% 
wigung mit Ihm iſt er ſtark; nur auf Seine Schultern gelehnt, trogt 
er dem Satan und der Welt. — So , ſteht“ er „Durch den Glau- 
ben“, d. b. durch die Macht des Herrn, den er durch den Glauben 
ergreift. Ehriftus it und bleibt die Quelle aller jeiner Staͤrke. 
— Bo ift nun fein eigener Ruhm? — Er ift aus! — — Hätte 
Simon Petrus dies auf dem Oelbergsgange fchon bedacht! Aber 
ihm war e8 aufbehalten, die Wahrheit jenes apoftoliihen Spruchs 
auf ſchmerzlichem Erfahrungswege zu erproben. Wir werden 
defien heute Zeugen fein. Befeftige unfre Betrachtung auch in uns 
die Ueberzeugung, daß wir nur „durch den Glauben“ ftehen! 


Sohannes 18, 15—18. 25—27. Matthäns 26, 69—75. 
Marcus 14, 54. 66—72. $Sucas 22, 54—62. 


Simon Petrus aber folgte Iefus von ferne nad), und ein andrer Jünger. Derfel- 
bige Sänger war dem Hohenpriefter bekannt, und ging mit Iefu hinein in des Hohen⸗ 
priefters Palaſt. Petrus aber ftand draußen vor der Thür. Da ging der andre Fün- 
ger, der dem Hohenpriefter belannt war, hinaus, und redete mit ber Xhürhüterin, amd 
führete Betrum hinein. Es flanden aber die Knechte und Diener, und zünbeten ein 
Kohlfeuer an mitten im Palaft; denn es war falt, und fehten ſich zuſammen umd 
wärmten ih. Petrus aber ſaß draußen im Palafte bei den Knechten und wärmie 
fh am Fener, anf daß er fehe, wo es hinaus wolle. Da kam des Hobenpriefters 
Maͤgde eine, die Thürhüterin, und da fie fahe Betrum fi wärmen, und bei dem 
Lichte ſitzen, trat fie zu ihm, ſchante ihn an und ſprach zu ihm: Und du wareft au 
mit dem Jeſus von Nazareth aus Galiläa? Bin du nicht auch diefes Menſchen Jün- 
ger einer? Gr leugnete aber vor Allen, verleugnete ihn und ſprach: Weib, ich bin’s 
nicht; ich femme ihu nicht; weiß nicht, was bu fagefl. Und er ging binand in dem 
Borhof; und es trähete der Hahn. — Alb er aber zur Thür hinaus ging Äber eine 
Weile, ſah ihn eine andre, und ſprach zu denen, die Dabei flanden: Diefer war an 
nit dem Jeſn von Nazareth. Da ſprachen fie zu ihm: Biſt du nicht feiner Jünger 
einer? Du bift deren einer! Und Petrus leugnete abermals, und ſchwur dazu, umd 
ſprach: Menſch, ich Hin’& nicht! ich kenne des Menſchen nicht! — Und über eine Heine 
Weile, bei einer Stunde traten hinzu, die babei flanden, und fpradhen zu Betro: 
Wabrlich, du biſt and einer von denen, denn beine Sprache verräth dich; denn du HIR 
ein Galiläer. Und ein andrer befräftigte es und ſprach: Wahrlich, diefer war au 
mit ihm! Spricht des Hohenprieſters Knechte einer, ein Gefrenndeter deß, dem Petrus 
das Ohr abgehauen hatte: Sah ich dich nit im Garten bei ihm? Da verleuguete 
Vetrus abermal, und hub an fich zu verfluchen und zu fhwören, und ſprach: Ich 
fenne des Menſchen nicht, von dem ihr fagt! Menſch, ich weiß nit, was du Tage! 


Zu allen übrigen Marten wird dem göttlichen Dulder nun auch 
noch das, von einem aus der Heinen Zahl feiner Vertrauteften, auf 
deren Zreue er unter allen Umftänden hätte rechnen dürfen follen, fich 


300 Das Heilige. 


verleugnet zu fehen! Kein Leid, kein Schmerz follte feinem Herzen 
fremd bleiben, Damit er uns überall ein „mitleidiger Hoherpriefter * 
werden möge. Wie wäre aber auch die Schrift erfüllet worden, wenn 
er nicht auch das Loos feiner lebendigen Vorbilder: Joſephs, des 
Preisgegebenen von feinen Brüdern, und Davids, des zur Zeit Des 
Unglüds Berlafjenen, im Gegenbilde wirklich ausgekoftet, und die meſ⸗ 
ſianiſchen Pfalmklagen: „Meine Liebften weichen von meiner Seite; * 
„meine Rächiten treten ferne und entziehen ſich mir,” wahr gemacht 
hätte? Zudem mußte es ja auch zu unferm Zrofte irgendwo einmal 
thatfächlich Fund und offenbar werden, daß Er auch „Gaben empfan- 
gen habe für die Abtrünnigen“; und mo träte dieſe Wahrheit heller 
zu Tage, als in der Begebenheit, deren wir jeßt, freilich nicht ohne 
tiefe Wehmuth, Zeugen ſein werden. 

Die Verleugnung Petri führt unfre Betrachtung für eine Weile aus 
dem Tumulte des äußerlichen Gerichtöverfahrens gegen Jeſum in das 
Innere der menfchlichen Gemüthswelt zurüd. Eine Herzensgeſchichte ent- 
ſchleiert fi vor uns; eine Gefchichte, in der wol manche unfrer Freunde 
wenigftens Bruchftiide ihrer eignen erfennen werden. Der Fall des 
armen Yüngers ift der Gegenftand unfres Diesmaligen Nachdenkens. 
Bir betrachten denfelben zuerft nach feinen innern Urſachen, und 
fodann nad feinem gefhichtlihen Verlauf. 

Ein gewaltiger Warnungsruf fchlägt aus der heutigen Scene an uns 
fer Ohr. Finde er eine gute und bleibende Stätte in unferm Herzen! 
1. 

Gefellen wir uns denn im Geifte zu unferm Simon. Ich fage „zu 
unferm.” Er ift’s ja vor allen übrigen Apofteln. Bor einem Pau⸗ 
Ins und Johannes treten wir ehrerbietig zurüd, und achten uns 

“nicht werth, die Schuhriemen ihnen aufzulöfen. Einem Petrus ge- 
genüber entdeden wir in und verwandtichaftlichere Züge, und nennen 
ihn traulih unfern Freund und Bruder. Er ift uns wol auch in 
glänzendern Lebensmomenten begegnet, als heute; aber auch Da vers 
mochte feine Erfcheinung in uns das Gefühl einer gewiffen Ebenbür- 
tigkeit nicht zu unterdrüden. Welch' ein Belenner war er z. B., als 
er, feine Mitapoftel weit an Glauben überflügelnd, fein „Du bift 
Ehriftus, des lebendigen Gottes Sohn“ daherriefz aber fo 
etwas Großes deucht uns diefes Zeugniß nicht, dag wir nicht auch 
uns dazu befähigt halten follten. Wie herrlich fland er da, als er 
feine Anhänglichleit an Jeſum mit Dem Ausruf bezeugte: „Herr, wos 


Rn. 


Beiri Fall. 301 


hin follen wie gehn? Du Haft Worte des ewigen Lebens!" Doch 
wiffen auch wir gehobener Augenblicde uns zu erinnern, in denen Aehn⸗ 
fiches auf den Flügeln der Begeifterung von unfern Lippen tönte. Wie 
tapfer Hang auf dem brandenden See fein „Herr, heiße mich zu Dir 
fommen auf dem Waſſer!“ Aber auch diefes kühne Wort riß keine 
allzuweite Kluft zwifchen uns und ihm; denn wie bald flieg er von 
der Höhe feines Heroismus zu uns in unfre Niederung zurüd, als 
jener Wirbelwind daherblies, und das riefige Wogengrab vor ihm ſich 
aufthat! Wie hochtönend nahm fi) der Warnung des Meifters auf 
dem Wege zum Delberge gegenüber Simons Betheurung aus: „Und 
wenn fie fi) Alle an dir ärgern, fo Doch ich nicht!” Aber auch diefe 
feine Heiligfeit imponirt ung nicht allaufehr; vielmehr will ſich gerade 
bier ein tiefes Berwandtichaftsgefühl zu Simon in uns geltend machen. 

Wenn Jemand den Herrn feurig liebte, dann unfer Zünger. Wen 
er aber eigentlich in dem Meifter liebte, das war ihm nur erft theil⸗ 
weile Kar bewußt. Namentlich war ihm das Geheimniß der pries 
fterlihen Stellung Jeſu, und die daraus für Ihn hervorgehende 
Notwendigkeit, fein Leben als Schuldopfer für die fündige Welt das 
hinzugeben, noch ganz verfiegelt. Nur im Allgemeinen erft fühlte und 
ahnte er, daß feine Seligfeit irgendwie durch die Gemeinfchaft mit 
Jeſu bedingt, und er ohne diefen Heiland unfehlbar verloren fei. In 
Petrus waren, wie dies häufig bei Ehriften namentlich folcher Ge⸗ 
meinden zutrifft, in welchen wohl Evangelium, aber noch nicht Das 
Evangelium nad) der ganzen Fülle feines feligen Inhalts verkündet 
wird, der Glaube und die Liebe der chriftlihen Einfiht und Er⸗ 
fenntniß vorausgeeilt. Mehr ein Empfindungsjünger erft, als 
ein Zünger des Haren, das ganze Leben beherrfchenden und beftims 
menden göttlihen Gedanfens, gemahnt Simon an diejenige Klaffe 
unfrer Brüder, von denen wir zu jagen pflegen, daß ihnen dus „brens 
nende Herz“ zwar ſchon gegeben fei, aber das „Licht des heis 
ligen Geiftes” noch mangle. Das neue Leben ift dem Keime nach 
gepflanzt, und die Entwidlungsfähigkeit zum Ziel der himmliſchen 
Berufung vorhanden; aber die Entwidlung felbft noch weit zurüd, 
und dem heiligen Geifte noch Vieles zu ergänzen und auszubilden 
übrig, 

Daß unferm Simon die Hauptabficht des Kommens Jeſu in die 
Belt noch fo wenig erfchloffen war, das findet feinen Erflärungsgrumd 
nur in der Mangelhaftigkeit feiner Selbfterfenntnig. Er wußte 


302 Das Heilige. 


Ah freilich als einen armen Sünder, der der Gnade bedürftig fet; 
aber wie unermeßlich weit des Menfchen fittliche DBerderbtheit und 
Ohnmacht reiche, ahnte er noch nicht. Sein reges, in den fchönften 
und täufchendften Farben fchillemdes Empfindungsleben breitete 
ihm darüber einen Schleier. Er fühlte ſich von einer jo feurigen Liebe 
uud Degeifterung für Jeſum befeelt, daß ihn der leijefte Zweifel fchon, 
womit man nad) Diefer Seite hin ihn etwa anfehn zu wollen ſich 
vermaß, auf das tieffte entrüftete. Ach, Petrus kannte noch nicht Die 
unbegrenzte Abhängigkeit auch der edelften menſchlichen Erregungen 
vom Wechſel der Umftände, der Verhältniſſe und der Zeiten. Des 
Jeremias Sprüchlein vom menfchlichen Herzen als einem „troßigen 
und verzagten Dinge” war feinem Verftändniß noch nicht aufge- 
gangen. Er wußte nicht, daß, wer einmal für den glanzumftrahlten 
Sefum des Berges Tabor zu fhwärmen im Stande war, in dieſem 
feinem Gefühlsauffchwunge noch feine Bürgfchaft befike, daB er eine 
gleiche Begeifterung auch für den Schmachbededten am Kreuze empfin- 
den werde. Eben fo wenig ahnte er noch, daß, was unter dem Klange 
der ersreifenden Abfchiedsreden des Meifters in der feierlich ftillen 
Mitternachtſtunde fein Gemüth durchwogte, keineswegs fchon nothwen- 
Dig ihn befähige, auch damn noch bei Ihm auszuhalten, wenn über 
Ihn die jedes begeifternden Elemente ermangelnde Profa einer po: 
lizeilichen Gefangennehmung und einer Thimpflichen Hinführung vor 
die richterlichen Schranken hereinbrach. Ein menfchlicher Entfchluß, 
wie freudig aud) vor dem Treffen gefaßt, wagt immer zu viel, wenn 
er auch für die Stunde für fih gut fagt, da wirklich die Geſchoſſe 
ſchwirren werden. Wie manchen Helden, zu dem man ſich des Größten 
verfehen zu dürfen glaubte, ſchuf die veränderte Sachlage plötzlich 
zum verzagteften Seigling um. Ein Glaubenszeuge, der feinem Ges 
föbniffe, daß er für die Sache, die er vertrete, fein Leben laſſen wolle, 
auf offnem Blutgerüfte vor dem verfammelten Volle unfehlbar ſtehen 
würde, wird vielleicht kläglich zu Schanden, fobald ihm, von Zeugen 
fern, in einem entlegenen Winkel die Befleglung feines Bekenntniſſes 
mit feinem Blute abgefordert wird. Bon Gideon lefen wir, der Herr 
babe ſich zu ihm gewandt und zu ihm gefprochen: „Gehe hin in Die- 
fer deiner Kraft;” und freilich ift e8 bis zur Stunde noch nur die 
Bnadenzuwendung des Herrn, die wahre Helden zeugt. Aber 
Yes waren unferm Simon noch unbelannte Dinge. Statt an allem 
eignen Heldenthume zu verzagen und ſich lediglich auf Die Schultern 


Getri dal 308 


bes Herrn zu lehnen, vertraute er in Mägficher Selbſtüberſchätzung dem 
eignen Muth; ımd flatt Den um die Rüſtung feines Geiſtes anzugehn, 
der da ſprach: „Ohne mich Lönnt ihr nichts thun,“ mwähnte der thö⸗ 
richte Juͤnger, im Harnifch feines eignen Liebeögefühles Manns genug 
zu fein, dem Satan und feinen liftigen Anläufen Stand zu halten. 
Simon war der Mann im Evangelio, der in den Krieg zog, ohne 
vorher gefeflen und die Koften überfchlagen zu haben. Er hätte es 
- fon merken follen, daß er diefer Thörichte fei, als nach feinem uns 
befonnenen Schwertftreichh wider des Hohenpriefters Knecht und nad 
der darauf folgenden Selbftübergabe des Herrn an die Feinde, feine 
Begeifterungsglut im Nu dergeftalt erlofchen war, daß er nicht einmal 
Muth genug befaß, um nicht mit den Uebrigen in ſchmählichſter Weiſe 
die Flucht zu ergreifen, Freilich befann er ſich nad) einer Weile wieder; 
aber was da ihn wieder bewog, dem gefangenen Herrn „von ferne” 
nachzufolgen, war im Grunde mehr mır der Sporn eines jämmerfis 
hen Ehrgeizes, als der edle Antrieb einer todesmuthigen Liebe. Er 
hatte num einmal fo offen und laut von einem „Rimmermehr verleug 
nen“, ja, von einem „mit Jefu in den Tod gehn“ geſprochen; md 
wie würde er daftehn, wenn er nun, da e8 galt, fein Gelübde bräche, 
und vom Kampfplatz verfchwände! Nein, man fol ihn nicht als 
einen Zeigling erfinden. Wo fein Meifter ift, da muß aud er fein. 
Er folgt einem gegen den Wind anfteuernden Schiffe vergleichbar im 
gehöriger Entfernung dem Zuge der Bewaffneten. Mit geknicten 
KAnieen folgt er, und mit inmerm Widerftreben. Was hätte er darum 
gegeben, wenn ein unabwendbared und augenfälliges Hinderniß ihm 
den Weg verſperrt, und am WBeiterdringen ihn gehindert hätte, In 
der That ſcheint ſich ſolch ermünfchtes Hemmniß dadurch einzuftellen, 
daß, da der Schergenzug mit dem Verhafteten eben in den Hof des 
bhohenpriefterlichen Palaftes eingezogen ift, die Pforte hinter ihm zu⸗ 
fallt, und von innen verriegelt wird. Nun wäre Simon ja ent 
ſchuldigt, wenn er wieder von dannen zöge; er konnte ja nicht weiter 
folgen, wie gem er auch wollte. Ja, irren wir nicht, fo fchidt er fi 
fhon zum Rüdzuge an. Aber, als ob Alles zu feinem Sturze ſich ver 
ſchworen hätte, muß ſich's, wie man fagt, „zufäflig” ereignen, daß 
er vor dem Eingang auf einen Freund und Genoffen feines Glaubens 
trifft, der dem Hobenpriefter befannt war, und als ein Befreundeter 
deffelben zu feinem Haufe frei aus umd einging. Diefer richtet einige 
Worte an die Thürhüterin, und auch Simon wird, er mochte wollen 


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der Herr Riemanden zum Boͤſen verfucht, geſchweige denn 
ihn ſtraucheln und fallen macht, fo verhängt ex doch nicht ſelten 
ſchwere Prüfungen über diejenigen, die er lieb hat, und hinderts auch 
wicht, daß fie fallen, wenn fie auf Sein Wort nicht achten, feinen 
Bamungen nicht glauben, umd in audrer Weiſe, als durch bittere 
Erfahrung, von ihrem hochfahrenden Zrog auf eigues Sein und Kön⸗ 
nen, nicht genefen wollen. Auch Petri Zull, der, was die Verſchul⸗ 
Dung angeht, rein auf des Gefallenen Rechnung fommt, und der feis 
sen ganzen Erflärungsarund in der Selbflüberhebung des Jüngere 
findet, war zugleich nach des zulafienden Gottes Abficht eine ſeelen⸗ 
ärztliche Maßregel, welche die durchgreifende Heilung Simons von 
feinem thörichten und blinden Selbfivertrauen zum Ziele hatte. Hatte 
doch der Herr hierauf, wie auch auf die heilſame Frucht des be 
agenswerthen Falles ſchon unzweideutig hingewinkt, als er fo mütter 
lich fürforgend am feinen Petrus die Worte richtete: „Wenn du dich 
dermaleins befehreft, fo ftärke deine Brüder! * 

it ſchwankendem Zritte überfchreitet Simon die Schwelle des ge 
öffneten Thors, und jeßt damit feinen Fuß auf den verhängnißvollen 
Kampfplag. Wenn er nur jetzt noch betend an den Hals ſeines Gottes 
fidy geworfen hätte! Aber nein; er verläßt fi) immer noch auf ſich, 
oder doch auf die Gunft der Umſtände und des Ungefährs. Satan 
und Welt ftehen bereits wider ihn gerüftet anf dem ‘Plan. Er hätte 
fih vor ihnen nicht zu fürchten gebraucht, hätte der Harniſch des Glau⸗ 
bens um feine Bruft gelegen. Jetzt können wir für den armen Mann 
nur zittern, ja, würden ihn verloren geben müſſen, wüßten wir nicht 
nm Die treffliche und treue Hut, in der er, ohne daß er felbft es ahnt, 


—. 


11 
bi 


Betri Fall. 308 


borgen if. Das „Wahrlich, wahrlich!“ mit welchem der Herr 
ihm auf dem Gange zum Delberge vorherverfündete, was ihm bevor: 
ftehe, hängt, wenn auch einftweilen fchweigend noch, gleich einer Glocke 
in feinem Gedächtniß, die ihm im rechten Momente das Signal zur 
MWiederermannung geben wird. Der Hahn, Ddiefer göttlich beftellte 
Weder, fteht ſchon auf feinem Poften, und fein Ruf wird zu feiner 
Zeit feine Wirkung nicht verfehlen. Die priefterliche Fürbitte, daß 
Simons „Glaube nicht aufhoͤre“, ſchwebt einem ſchützenden Schilde 
gleich über unfres Jüngers Haupt; und Der felbit, welcher „den glim⸗ 
menden Docht nicht auslöfcht“ und „das zerftoßene Rohr nicht zers 
bricht”, bleibt glüdlicherweife in Simons Nähe, und wird, wenn Notly 
an Mann geht, bülfreich zur rn fein, 


Beobachten wir num den beträbtrn Vorgang im Hofe des Hohen- 
priefters, In dem Augenblide, da Simon auf Verwenden des Freun- 
des zum Thore eingelaffen wird, leuchtet ihm die Pförtnerin mit ihrer 
Laterne unter die Augen, und fteht ihn mit einer Miene an, als ob 
fie ihn erfennete, aber doch ihrer Sache noch nicht ganz gewiß wäre. 
Er merffs, wendet das Angeftcht, und hufcht fo fehnell wie möglich 
an der fpähenden Berrätherin vorüber. In der Mitte des Hofraums 
haben fih die Waffenfnechte zum Schuß gegen die Morgenkühle ein 
euer angezündet, und vertreiben fth, um daſſelbe hergefchnart, mit‘ 
Plaudern und Scherzen die Zeit, während im Innern des Haufes die 
Gerichtsverhandlungen gegen Jeſum gepflogen werden, Simon, dem’ 
e8 in diefer Atmofphäre unheimlich genug zu Muthe ift, nähert fich 
dem lärmenden Troß, und nimmt, den Umnbefangenen fpielend, und 
mit der Miene, als begehre auch er nur ſich zu wärmen, inmitten 
der lärmenden Gefellen Pla. Im Grunde hatte hiemit die Ver: 
leugnung bereit8 begonnen; denn offenbar ging feine Abfiht da- 
hin, vor den Söldlingen fi den Schein zu geben, als gehöre er mit 
zu ihrer Horde, und theile ihre Gefinnungen gegen den Nazarener. 
Nicht wenig befriedigt, fo ein Doppeltes erreicht zu haben: Die 
Sicherftellung feiner Perfon, und eine gewiſſe Berechtigung, ſich fagen 
zu dürfen, daß er ja Muth genug beweife, indem er ſich mitten uns 
ter die Feinde mifche, und dag er fein Verfprechen, den Meifter nicht 
zu verlaffen, ja num wirklich halte, figt der bejammernswerthe Held 
denn da, und meint, den weiteren Gang der Ereigniffe ohne Ger 
fährde abwarten zu können. Da plöglich wird ihm ein verdrießlicher 

20 


wie des Gefindes fich zu entziehn; aber das Drohende feiner Lage nimmt 
alle feine Sinnen und Gedanken dermaßen gefangen, daß wir der Hoff: 
nung nur entfagen können, er werde fich jetzt Darauf befinnen, bis zu 
welchem Punkt der Wind der Berjuchung ihn bereit verfchlagen habe. 
Wie ein Taumelnder, der feiner felbft nicht mehr mächtig ift, ſchwankt 
er dahin; da, nach Verlauf einer Stunde etwa, umzingelt ihn ein neuer 
Haufe, welcher nach forgfältiger Erwägung aller Umftände doch hinter- 
ber nody zu dem Schluß gelommen ift, der Fremdling müſſe dennoch 
den Jüngern Jeſu beigehören. „Wahrlich“, fprechen fie, mit größerer 
Sicherheit jebt, als früher, „Du bift auch einer von denen; und wie 
er abermals ſich zu vertheidigen anhebt, trafen fie ihn aus feinem 
eignen Munde Lügen, indem fie ihm zufchreien: „Deine Sprade 
verräth did; du bift ein Galiläer!“ — Ein andrer Waffen⸗ 
knecht, durch den Lärm berbeigelodt, fieht ihm unter die Augen und 
ruft befräftigend darein: „Freilich war dieſer auch mit ihm!” — 
Endlich tritt gar auch noch der hohenpriefterlichen ‘Diener einer heran, 
und noch dazu ein Gefreundeter defien, dem Petrus am Delberge das 
Ohr abgehauen hatte, und ſpricht: „Höre, habe ich dich nicht im Gar- 
ten bei ihm geſehn?!“ — Nun fieht Petrus vollends das Ne über 
fih zufammenfchlagen. Was beginnen? Zwei Wege mur ftehen ihm 
noch offen: entweder er widerruft feine fehmählichen Berleugnungen 
durch einen unverholenen Belenntnißaft, und zeigt um Jeſu willen 
den Feinden frei die entblößte Bruſt; oder er fpielt zum Triumph der 
Hölle feine traurige Rolle in folgerechter Weife durch, und iſt in die— 
fem Zalle genöthigt, Die Frechheit der Lüge bis auf's Außerfte zu 
treiben. Er entjcheidet ſich in feiner Verzweiflung für das Letztere. 
Ich weiß nicht, was er im Gewirre dieſes verhängnißvollen Augen- 
blicks mit halbem Bewußtfein eilends zufammengerafft haben mag, um 
fid) damit wenigftend momentan vor feinem Gewiflen zu rechtfertigen. 
Ob er zu dem Vorwand feine Zuflucht genommen, es fei ja dies Ges 
findel nicht werth, daß man, die Perle vor die Säue werfend, den 
heiligen Jeſusnamen vor ihm befenne; oder ob er fich felber mit dem 
Berfprechen zu belügen gefucht, daß er fein Blut für den Moment 
verfparen wolle, der ihm Die erwinfchte Gelegenheit bringen werde, 
dafjelbe öffentlich vor allem Volke zur Befiegelung feines Glaubens 
zu verfprigen: wer mag es entfcheiden? — Genug, ganz wieder der 
alte Zifcher, ganz der ehemalige rohe Matrofe wieder, ja als ein viel 
Aergerer noch, denn er je vorher gewefen, fteht er.da, und häuft Schwur 


Petri Fall, 309 


auf Schwur, und Fluch auf Fluch, daß er „den Menfchen” nicht 
tenne. a, unter Herabrufung des Schredlichiten auf fein Haupt, und 
unter Verſchwoͤrung feiner Seligkeit, betheuert er: „Ich bin kein 
Ehrift! — Ich kenne des Menfchen nicht, von dem ihr fagt!” Und 
mit einem Zone, und unter Geberden gibt er diefe Verficherung von 
fih, al8 ob ihm unter dem Himmel verädhtlicher Niemand wäre, 
als „dieſer Menſch“; ja, als hätte ein himmelfchreienderes Unrecht 
ihm nicht widerfahren können, als es in jener Verdächtigung ihm ans 
gethan werde. Er ift fcheinbar außer fich über die fchwere Uns 
bilde, die er erleide. Je heftiger er aber proteftirt und fchreit, um 
defto deutlicher kommt fein Galiläerdialekt heraus; und je mehr dies 
geichieht, um defto gewifler werden am Ende doch die Söldner, daß 
fie fi) an dem Manne nicht verfehen haben. Das Maaß feiner Suͤm⸗ 
den ift nun voll, Die Kriegsfnechte überlaffen ihn, ohne ihm weiter 
ein Leides zuzufügen, ſich felbft, und ehren, fei e8 aus Verachtung, 
indem fie einen Renegaten, wie Diefen, nicht einmal für werth halten, 
ihn zum Märtyrer zu ſtempeln; oder ſei es, weil ſich eben die Pforte 
des Richtſaals öffnet, und ein neues Schauſpiel in höherem Grade 
ihre Aufmerfjamfeit in Anſpruch nimmt, ihm den Rüden. 


Mit tief erſchüttertem Gemüthe brechen wir hier für heute ab. „Bis 
zu ſolchen Rüdfällen in das alte Weſen alfo,” höre ich fagen, 
„kann es auch noch mit Kindern Gottes kommen?“ Ya, Brüder, 
wenn die Kinder Gottes, ftatt in wahrer Herzensbeugung der göfts 
lichen Gnade fich anzubefehlen, in vermeffenem Vertrauen auf eigene 
Kräfte den Kampfplab betreten, und fich felbft in Gefahr begeben. In 
dieſem Falle kann nicht für fie eingeftanden werden, Daß es bis zu 
ſolchen Niederlagen mit ihnen nicht fommen werde, Es gelangt hie⸗ 
nieden auch in den Wiedergeborenen der neue Menfch zu einer fo 
unbedingten Obmacht über den alten nicht, daß es zur Ueberwindung 
und Zügelung des letztern überall der fortdauernden Geifteseinflüffe aus 
der Höhe nicht mehr bedürfte. Zwar wird jener bleibend dem Fleiſche 
nicht mehr das Feld belaffen, fondern zu feiner Zeit daffelbe wieder zum 
Scemel feiner Füße legen; aber gefchehn kann es, — deß ift Petrus 
Zeuge, — daß der alte Adam in unbewachten Stunden unter dem Ans 
drang verführender und verwirrender Höllenfräfte für eine geraume Weile 
abermals durch Zaum und Zügel reißt, und, vor Gott und Menfchen in 


310 Das Heilige. 


‚der Schande feiner Blöße offenbar werdend, auf weite Streden hin dem 
neuen Id) den Borfprung wieder abgewinnt. Darum fehrieb der 
Herr den Seinen vor Allem die Mahnung in den Schild, „Wachet 
und betet, daß ihr nicht in Anfechtung fallet!” Simon ge- 
lobte und verhieß nur, und allerdings in der lauterften Gefinnung; 
aber das Wachen und Beten blieb dahinten. Was war die Folge? 
Der erfte Windftoß der Verfuchung ſtreckte ihn jämmerlich dahin; und 
bedeutungslos, ja wie zum Spotte nur, flatterte über ihm fein Kam- 
pfesbanner mit der Infchrift: „Und wenn ich mit Dir fterben 
müßte, fo werde ich Dich nicht verleugnen!” — 

Wohlan denn, „wer da zu ftehn meint, ſehe wohl zu, daß er nicht 
falle!” Zwar ift es wahr, daß im Reiche Gottes ein Fall größeren 
Segen bringen kann, als ein Sieg; und aus Straudelungen er- 
wachſen dort mitunter viel Löftlichere Früchte, al8 aus den fcheinbar 
gelungenften Heiligungsbeftrebungen. Aber wehe Dem, der diefe Wahr: 
heit „auf Muthwillen ziehen” möchte! Ein Solcher könnte Gefahr 
laufen, daß fich feine Gnadenhand mehr regte, von feinem Falle ihn 
wieder aufzurichten. Und hübe er ſich wieder empor, fo liegt e8 doch 
außer aller menfchlihen Berechnung, wie weit ein NRüdfall in die 
Sünde wenigftens für das zeitliche Leben mit feinen verderblichen Zol- 
gen greifen Tann. In Simons Auge, fagt die Legende, fei, fo lange 
er lebte, die Thräne der Wehmuth nicht mehr verfiegt,; und Dapid 
vollends flieg, ob auch wieder zu Gnaden angenommen, nad) feiner 
Berihuldung an dem Weibe Uria’s und an Uria felbft, zu der frü- 
ber von ihm eingenommenen Höhe ungemifchter Freudigfeit zu Gott 
nie mehr empor. Darum ftehe obenan in unferer geiftlihen Gedenk⸗ 
tafel das apoftolifhe Wort: „Ziehet an den Harnifch Gottes, daß ihr 
beftehn könnet gegen die liftigen Anläufe des Teufels; und auf Schritt 
und Zritt umtöne uns der andre Zuruf: „Leide dich als ein guter 
Streiter Jeſu Ehrifti! ” 

Anf denn, Streitgenoffen, geht 

Muthig durch des Lebens Wiüfte! 

Seht auf euren Führer, fleht, 

Das er ſelbſt zum Kampf euch rüfte. 

Seine Gotteötraft allein 

Kann in Schwachen mächtig fein. — Amen. — 


— — 


Das große Bekenntniß. | 311 


XXVL 
Das große Bekenntniß. 





Ihr erinnert euch, Geliebte, wie Paulus einmal feinen Zimothens 
„bet Gott, der alle Dinge lebendig mache”, umd „bei Chrifto Jeſu, 
welcher unter (nicht: vor) Pontius Pilatus bezeuget habe das gute 
Bekenntniß“, feierlichſt befchwört, daß er getreu bis in den Tod 
bei feinem Glauben verharren wolle. (1 Timoth. 6, 13.) Es bedarf 
wol feines Beweifes, daß dem Apoftel bier ein beftimmtes Belennt- 
niß vor Augen fchwebt. Er bezeichnet e8 als ein wohlbefanntes; und 
indem er ed mit Nahdrud „das gute” oder „das fehöne” nennt, 
hebt er es als ein folches hervor, das alle andern Bekenntnifſe 
Jeſu mit befonderm Glanze überftrahle. Wir errathen, welches Be⸗ 
fenntniß er meint, und überzeugen uns bei Diefer Gelegenheit aufs 
neue, für welch' einen hohen Schatz die Kirche daffelbe von Anfang 
an erachtet habe,- Und wahrlich ift e8 das Bekenntniß werth, daß es 
bis zur Stunde noch den thenerwertheften Vermächtniſſen beigerechnet 
werde, die uns Chriſtus hinterlaffen hat. Dies verdient e8 nicht blos 
als ein umübertreffliches und ewig vorleuchtendes Mufter todesmuthig- 
ſter Glaubenszeugenfchaft, fondern vor Allen als der mächtigften Grund- 
pfeiler einer, auf welche die Gemeine fich mit ihrem Glauben ftügt, 
der die Berheißung gilt, daß die Pforten der Höllen fie nicht über- 
wältigen follen. Heute tönt das unter der Statthalterfchaft des Pi⸗ 
fatus abgelegte „gute Bekenntniß“ in unfre Mitte herein. Wie 
Manchem ſchon hat dafielbe ſturmwindaähnlich im Nu den geiftigen Ho⸗ 
rigont von allem Zweifels gewölk gefäubert! Jagen auch an unferm 
Glaubenshimmel noch verdunfelnde Schatten folcher Art, fo gebe Gott, 
daß e8 uns heute Diefelben Dienfte erweifen möge! 


Matthãus 26, 63—66. Marcus 14, 61—64. 

Da fragte ihn der Hohepriefter abermals und fprach zu ihm: Ich beſchwoͤre dich 

bei dem Iebendigen Gott, daß du und fageft, ob bu feift Ehriftus, der Sohn Gottes, 

des Hochgelobten? Jefuß fprach zu ihm: Du fageft es; Ich bin ed. Doch 4 ich F 
Bon nun am wird e& geſchehn, daß iht ſehen werdet der Menſthen Schr fihen 





neh >12 Zeue au Eicit Beau das Ce femme. Tue deens- 

frage des Eis terssıns Index Te Dre Imiohhe Erben. 
Ber Scsäser te Gızcjez Is Renietuies nd MU 2eTIetmer 
wagt, 3e;15: Anz Bas scumeintrzende Munurtiei Je} uber Aue, 
It, der Zn:-fe. zu we am Mizeıiıc, Mer Gıglıııe m 
Mersihre. „Keeuzige, !rerzige.? ur weder ums une dine- 
yayı, talen wu Bas „zesge Deiezıtı:a Ierı' zu Gegen- 
Imte cha site Darıkanyz mie S ter ut. zeturh 
ed serzaiıht mare; mir erzrindex Bamz te-ıeaı Ziıı aıd Ie= 
Yalı; zu2 rıkızı eutich ten Piul uf Veine nihtıen Felgen 

Bitte der Ger, tus das Erzekunij rear Dunafurız SS Dura 
befuzte, tab zu mu Scham derelben hm Kimaılub MO tun oB2- 
ſchiedenen· Bit baben zezlaubt uı? erkanat, das da bil 
Chrinns, ber Sobr des lebendigen Gettes?“ zu zupen allen! 

1. 

Ir tem Angenblicke, in reſchen wir beute in den Gerichtsiaal des 
Eynedriums yrilnam, baridı daſelbũ ane ufralaate ni mabrim- 
liche Ztille. Alles jdreeizt. Aber auch Dieie Rute bur ibrex Jabau. 
Ta Seit ter Wabrbeit ichreiet richtend durch die Berkmmimg 
Echam und Verlegenbeit balım die Germuber umiangen. Die jalichen 
Zengen haben ihre Rollen auf's Mäglichite geivielt, ımd ñebu eutlaret. 
Ihre von Wideriprüchen winmelnden Ausizgen dienten wur dazu, lie 
ſelb ſt zu Schanden zu machen und zu vernichten. Das erbabene, nur 
von jener Unſchuld zeugende Verhalten des Verklagten band und 
laͤhmte die Widerlaher vollends. Aller Augen baften an dem vers 
figenden Kirchenhaupte. Jeder Blick icheint verwundert ibn zu fragen: 
„Wo geräthft du hin, du Priefter des Allerhoͤchſten? — Bo it deine 
Weisheit? Was wird aus deiner Würde?“ — Gr aber befinder id 
felbft in der peinlihften Lage von der Belt. Die ernſtlichſte Be 
ſorgniß ſowol um die Wahrung feiner amtlichen Ehre, als um den 
Ausgang des ganzen Handels foltert jeine Seele. Da fipt der ſtolze 


üV 





Das große Delenntniß. 313 


Hierarch, und feine Gedanken pflegen hımultuarifchen Rath, wie diefer 
Knoten zu löfen, wie aus diefer Klemme zu entrinnen fei? Sehet, 
Dies das Ende des Gerichtsverfahrens gegen den Heiligen in Sfrael! 
Ich frage: Wer verlor den Prozeß, Jeſus oder feine Richter? Seid 
aber verfihert, daß in gleicher Weife einft auch der große welt⸗ 
biftorifhe Prozeß gegen Chriftum enden wird. Enden wird er 
mit der äußerten Beftürzung, ja Verzweiflung Aller, die Ihm 
entgegenftanden. Haltet darum eure Akten noch ungefchloffen, ihr feine 
Widerfacher | 

Die Bedrängniß des Hohenpriefters ift groß. Was beginnt er nur, 
um feine Verlegenheit zu verbergen? Es muß der Sache eine neue 
Wendung gegeben werden; aber welche? — Er finnt und finnt, — 
Wie ein Feuerrad freifen die Gedanken ihm in feinem Hirm. Da ge 
räth er auf einen Einfall, und, wie er meint, auf einen glüdlichen. 
Und in der That fommt ihm diefer Gedanke auch nicht von Unges 
fähr. Ein Größerer webt und waltet über der Scene. Krampfhaft 
rafft der Prälat feine bingefunfene Würde gleichfam vom Staube wies 
der auf; und mit fichtlicher Anftrengung in die Gravität feines Amtes 
fi) verhüllend, tritt er in feierlicher Haltung einige Schritte vor, und 
gibt die Abficht zu erkennen, den Verklagten jet vor den Thron des 
Almächtigen zu laden, und ihn aufzufordern, hier, und zwar eids 
lich, unter Anrufung des hochheiligften Namens, zu bezeugen, wer er 
fei: ob wirklich der, für den er von feinem Anhang gehalten werde 
und ſich halten laſſe, oder ob ein falfcher Prophet und ein Betrüs 
ger? — Wir freuen uns diefer allerdings mehr von der Verzweiflung 
als von ruhiger Ueberlegung ergriffenen Maßregel. Es kommt Die 
Sache nun zur Entfcheidung. Man denke: ein eidlich Zeugniß Jeſu 
von fich felbft! Dies fehlte nur noch, um auch dem legten unfrer 
Wünſche genug zu thun. — 

Hört nun! Der größte und feierlichfte Moment des ganzen Prozeſſes 
ist berbeigefommen,. Der Hohepriefter, wirklich wieder mit dem vollen 
Schein feiner großen Würde angethan, öffnet zu der erhabenften aller 

„Bragen feinen Mund, „Ich beſchwöre dich", fpriht er, „bei dem 
lebendigen Gott, daß du uns fageft, ob du ſeiſt Chriſtus, 
der Sohn Gottes, des Hochgelobten?“ Er bedient fich der 
in Iſrael gefeglic gebräuchlichen Befhwörungsformel. In diefer 
Form wurde der Eid zugeihoben und abgenommen. ‘Der Schwörende 
antwortete, ohne die Formel felbft zu wiederholen, mit einem einfachen 


314 Dei Heilige. 


„Za* oder „Rein“, und war fi dabei bewußt, Daß er Diefes „Nein“ 
oder „Ja“ bei dem lebendigen Gott, und umter dem zwar ſtillſchwei⸗ 
genden, aber feierfidhen Anerfeuntniß ausſpreche, Daß, falls er von der 
Wahrheit weiche, der Erhabene, den er zum engen angerufen, ihn 
ewig jtrafen uud im feinem gerechten Zora für immer der zufünfti- 
gen Seligfeit verfuftig erflären werde. Unter jo feierlich ernftem, die 
Srundfrage des ganzen Chriſtenthums auf die Spike ftellenden 
Aufruf, fordert der Hobepriefter dem Herm Jeſu gleichſam fein Bes 
glaubigungsichreiben ab; und im jeiner amtlichen Stellung beſitzt er 
andy vollfonımen die Befugniß und das Recht dazu. Er ift zum Wäch⸗ 
ter beftellt, daß nicht irgend ein falfcher Meffias in Iſrael fich geltend 
mache; und wo ihm bedünken will, Daß von Jemandem durch Anma- 
Bung göttlicher Bevorrechtungen Jehova geläftert worden fei, da ziemte 
es ihm, zu Gericht zu fihen und mit unnachfichtiger Strenge die goͤtt⸗ 
lichen Geſetze zu volljiehen. - 

Was ift es alſo, das Jeſus beichwören fol? Werden wir und 
hierüber vor Allem Elar! Zuvoͤrderſt joll er bezeugen, ob er Ehris 
tus, d. i. der Meffias fei. Kaiphas, der Haushalter über Gottes 
Geheimnifje, bezeichnet mit jenem Namen die Blüthe der Prophetie, 
und faßt hier in erinnerndem Geifte alle Verheißungen und Vorbilder 
des alten Teſtaments zufammen, aus denen, wie aus geheimnißvollen 
Hüllen und Windeln eine erhabene Geſtalt hervorſteigt, welche als 
Prophet das Licht der Ewigkeit zur Erde niedertragen, als Hoher: 
priefter Das eigne Leben zum Sühnopfer für die Welt dabingeben, 
und als König ein ewiges Reich der Gnade und des Friedens grün⸗ 
den werde. Dieſe PBerfönlichkeit heißt der „Sefalbte Gottes” oder 
„Chriſtus“. Kaiphas aber weiß, Ddiefer Ehriftus werde fein ein 
Menſch, der zugleich, wie David und Daniel ihn fühen im Geftchte, 
„Gott in der Höhe”, und ein Herr, „deffen Ausgang“, wie 
Micha verfindete, „von Anfang und von Ewigkeit ber gewe— 
fen ſei.“ Es ift ihm bewußt, der Mefftas werde in einen Sinne 
„Gottes Sohn” heißen, wie fein Anderer im Hinmel und auf 
Erden fo heißen könne. Er werde nicht blos Jehova ahnlich, ſon⸗. 
bern Jehova gleich, alfo felbft Jehova fein. Aus diefer erhabenen 
Anihauung heraus fragt Kaiphas: „Bift du der?“ und glaubt ſich 
für den Fall, daß Jeſus dies bejahen follte, volllommen berechtigt, 
für einen Gottesläfterer ihn zu erflären, umd ihn als foldyen zu 
verdammen. Erhabene Frage, die dem Herm zur Beauntwortung 


Das große Belenntniß. 315 


vorliegt! Größte und inhaltreichfte, die je in der Welt verlautet ift! 
— Mein Gott, wenn auf diefe Frage ein „Nein erfolgte! Dieſes 
„Rein” bejahte unfere ewige Verdammniß! — Durch alle Zeiten 
bindurdy Freifcht eine wüfte Brut: „Nein, nein, er ift e8 nicht gewe- 
ſen!“ Aber fehen wir näher zu, von wannen dieſe Verneinung 
kommt, jo find e8 Unken im Schlamm der Sünde, flügellofe Kreatu⸗ 
ren, Ebenbilder der Schlange, die auf dem Bauche Friecht und Erde 
frißt, die alfo fchreien. Ein Ehor von Adlern dagegen jauchzt Durch 
alle Zeiten: „Ia, ja, Er war, Er ift es!” — Ueberblickt nur einmal 
flüchtig die Gefchichte der Abftimmungen über Ihn. Wer ſtimmte: 
„Rein*? „Nein“ ftimmten Heiden, die in thierifchen Xüften verfoms- 
men waren; „Nein“ ein Rebellengefindel, das vom Blute der Brüder 
trunken war; „Nein“ ein Voltaire, der im Rachen der Berzweiflung 
endete; „Nein” ein Roufleau, der feinen Gott im Himmel glaubte; 
„Rein“ ein Philofoph, der Sodom nad Halle trug; „Nein“ em 
Anderer, der zulegt feinem Chriftusleugnerifchen Leben als Selbft- 
mörder ein Ende machte; „Nein ſtimmt in unfern Tagen eine Däs 
monifirte Rotte, die es feinen Hehl mehr Kat, daß fie darüber aus 
fei, das durch das Ehriftenthum gekraͤnkte Fleiſch in feine Rechte 
wieder einzuſetzen; „Nein“ ein Bölklein, das ſich feiner Schanden 
in öffentlichen Schriften rühmt; „Nein“ eine Weisheitsfchule, die 
überhaupt die Lehre von den überfinnlihen Dingen für ein Mährlein 
hält. Dies ift die linke Seite der Stimmenden. Dies find die 
Häupter und Kohortenführer der Verneinenden. Wer find aber die Bes 
jahenden, die Jefu die Ehre geben? „Ja“ ſtimmten alle heiligen 
Apoftel, die Ihm die Welt erobert haben; „Ja“ die Märtyrer, die 
um Chrifti willen ihr Leben nicht Tiebten bis in den Zod; „Ja“ die 
Reformatoren: ein Luther, Melanchtbon, Calvin, Knox und wie fie weis 
ter heißen. „Ja“ die in fpütern Zeiten hochragenden, ehrwürdigen 
Männer, die noch immer in jeglicher Beziehung als Sterne erfter Größe 
am Himmel der Gefchichte glänzen: ein Pascal in Frankreich, ein 
Haller in der Schweiz, ein Newton in England, und in Deutfch- 
land ein Haman, ein Frande, ein Spener, und wie viele fonft! 
„Ja“ flimmten zu allen Zeiten die Beften und Trefflichiten der Erde, 
fie, „deren die Welt nicht werth war”. Go fagt denn, auf welche 
Seite gedenkt ihr euch zu fchlagn? Wo iſt's am wahrfcheinlid- 
fen, daß die Wahrheit ſei? Unter welchen Paniere fidy mit zu 
befinden, ericheint als Das Ehrenvollſte? Ich meine, es bebürfe nicht 


316 Das Hellige. 


viel Sinnens, um hierüber zur Klarheit zu gelangen. Ded mas auch 
Diejer oder jener zeugen mag; Men ſchenzeugniß aibt bier nicht den 
Ausihlag. Bas hat Er jelbii von ſich bezeugt? Dies ih’, worauf 
bier Alles anlonmt. Der Hobepriefter fragte: „Biit dx Ebriftns, 
Gottes Sohn?” Wie höchſt erwünſcht, daß Diele Frage je einmal 
fo beitiumt, fo ernſt, jo feierlich au Ihn ergangen it! br fühlt ja 
Alle Das ungeheure Gewicht derfelben. — Rod) einmal füge ib: Ben 
auf fie ein „Nein“ erfolgte; — mein Gott! Unglückliche Belt als- 
Daun! Bellagenswertie Menjchheit! Geichlagenes Sünderwolk! Möchte 
Dann Jeſus fonft auch fein, was immer er wollte: der weiſeſte Phi⸗ 
lojoph, der erfte Prophet, das glänzendfte Zugendmuiter, ja, ein Engel 
und Seraph höchfter Ordnung: es wäre damit uns nicht geholfen, und 
Die Hölle bliebe das Ziel unfrer Wallfahrt. — Erfolgte ein „Rein“ 
auf des Hohenpriefterd Frage, es verwüſtete dieſes „Nein“ unfern 
ganzen Troſt; als Brandfackel fiele es in das Schloß unſrer Hoff⸗ 
nungen; dad ganze Haus unſeres Heils würfe es als fundamentlos 
über den Haufen, und ſchleuderte uns in den offnen Rachen der Ver⸗ 
zweiflung. Denn was Alles umfchließt die eine Frage: „Bift du 
Ehriftus, der Sohn des hodhgelobten Gottes?" Es fragt 
Kaiphas damit nach der Stunde unfrer Erlöfung, ob fie geichlagen 
babe; nad) der Möglichkeit, daß ein Sünder felig werde; nach dem 
Gehorſam Jeſu, ob eine verfühnende Kraft ihm zugufchreiben fei; nach 
Chriſti Bürgſchaft, ob fie den Uebertretern in Wahrheit etwas nüßen 
fönne? Diefe Fragen alle, und wie manche fonft, find verneint, 
wenn aus dem Munde Jeſu auf die eine Frage: „Bilt du Gottes 
Sohn?” ein „Nein“ erfolgt. Erfolgt aber auf fie ein „Ja“, dann 
find fie für alle Ewigkeit bejaht. Wer follte denn nicht gefpannt 
fein, wie die Antwort lauten werde? — Wohlan, fpigt eure Ohren; 
und mit den Ohren öffnet eure Herzen! 


2. 

Die große Frage ift erfchollen. Tiefe Stille herrſcht in der Ver⸗ 
fammlung. Aller Gemüther find auf's höchfte gefpannt. Aller Augen 
haften an dem verklagten Manne. Und auch unfre Herzen, nicht 
wahr, bleiben hier nicht unbewegt. Auch wir ftehn in diefem Augen⸗ 
blife vor Erwartung zitternd dem hoßenpriefterlichen Tribunale gegen⸗ 
über. Wir wiffen freilich um die erftaunenswürdigen Wunder, durch 
welche Jeſus fich bereits verherrlicht hat. Wir waren Zeugen, wie Er 
am Sarge des Jünglings zu Rain und am Grabe des Lazarus feine 


Das große Bekenntniß. 317 


übermenfchlihe Herrlichkeit entfaltet. Wir haben Ihn gefehn im 
fhwanfenden Schifflein, da die Wuth der Elemente fich feinem Winke 
neigte; und auf dem fturmbewegten Meere, da die wilden Wogen uns 
ter feinem Fuße ſich feftigten, und dem Könige der Natur den Kryftalls 
teppich unterbreiteten. Aber diefes Alles konnten ja auch Thaten eines 
von Gott gefandten Propheten, nur Wunder eines menfchlichen Trägers 
göttlicher Kräfte fein. Ein Solcher aber war unferm Jammer nicht 
gewachſen. — Wir hörten Ihn fagen, wer Ihn fehe, fehe den Bas 
ter, denn Er und der Bater fein Eins; und ehe denn Abraham 
war, ſei Er geweſen; und was cr diefem Aehnliches fonft bezeugte, 
Aber auch im Bli auf diefe Ausfprüche könnte der Verfucher uns 
noch einreden wollen, daß fie nicht buchſtäblich aufzufaflen, fondern 
nur von der fittlichen Herrlichkeit Jeſu zu verftehen feien. Ja, es 
fehlte an einem Ausſpruche noch, an welchem alle Künfte des Wort- 
verdrehers aus der Hölle zu Schanden würden. Ein Zeugniß über 
Jeſu Perfon blieb noch zu wünfchen übrig, an deffen feuerfetem und 
probehaltigem Kern der letzte Zweifelspfeil zerfplittern müßte. Für eine 
hoöchſt begehrenswerthe Sache mußte e8 erachtet werden, daß der Herr 
einmal ganz unzweideutig, mit dürren Worten, für jedermann vers 
ftändlih, und wo möglich in feierlicher Eidesform frei heraus er⸗ 
öffnete, wer er fei, und wer nicht. — Und fiehe, eben Dies foll jetzt 
gefchehen. Er ift gefragt, ob er Jehova fei, der wahrhaftige Gott 
und das ewige Leben; denn nichts Geringeres bedeutete der Titel: 
„Ehriftus, der Sohn des Hocdhgelobten” in eines bibelgläus 
bigen Ifraeliten Munde. Wer denn nun Ohren hat, der höre, was 
Angefihts des Allmächtigen Der Mann von fich bezeuget, in deſſen 
Munde, auch nach dem Zugeftändnig feiner Mörder, nie ein Betrug 
erfunden ward! — 

Da fteht Er vor den Schranken des Gerichts, dem Anfehn nad) 
ein „Wurm“, und „Fein Menſch“. Größe und Hoheit feheinen nur 
auf feiner Umgebung zu ruhen. An Ihm felbft erfchaut ihr nichts, 
als Niedrigkeit und Armuth. Da fteht Er, gefenkten Haupts und 
blaffen Angefihts, die Hände gebunden, von Bewaffneten umgeben 
wie ein Räuber. Zum Umfinfen ermattet von allem Leid, das Ihn 
bereits betroffen, fteht Er da, von feinen Freunden verlaffen, von den 
Feinden verfchrieen; ein Fegopfer der Welt, ein Elender ohne Gleichen. 
Und an diefen gefchlagenen und gebeugten Mann im ärmlichen Kleide 
ergeht nun ans dem Munde des Erſten und Angefehenften der Nation 


31% Dei Sep 

Die feieriuhe Iurrerterum;, da cr bei Dem leſerdige Ger beumsen 
weiße, eb er ſei „Ehriuns, Des begelskren Settes Schw“? 
Es muß er denn aus jener legare Berballum: jeyt beramd: und gerne 
iii Er uns zu Su ten Schleier. Se km es ah um diente Au⸗ 
Wpaltizungen jener Beriäulichleit banteie, idwiea er. fur wir um 


Gbriurht, Die ver dem beifigen Namen, bei weichem er beihmos 
wird, iein Herz erm̃li. Es ring Ibn Nie Unterwürigfeit Dazu, 
deiten zu ichulden glaubt, Der Im zum Gifte for: 
dazu feine Liebe, und ſein beiliger Eifer für Die 
r Allem jeine zartfihe Zürierge für uns, die armen 
Gute Er im Gerichte ſtebt. Es tt ja nicht der 
allein, vor den Er ſich geſtellt weiß; feine gunze Kirche 

er im Geifte um ſich ber veriammelt. Gr flieht, wie eine ganze 
eilt in dieſem Augenblide vor Spammmng den Athem umbält, und 
Geſchlechter der Erde erwartungsvoll fi um Ibm ſchaaren. Das 
feiner ganzen Gemeine bis an das Ende der Zuge fiebt er an 
Munde bangen, ımd ift fi bewußt, Daß Der Augenblid ges 
kommen fei, da er dem Glauben derfelben für Jahrtauſende einen neuen 
nnd unerfchütterlihen Pfeiler und Felſen unterfcbieben fol. So thut 
er denn feinen Mund auf, und vor dem Throne des lebendigen Got- 
tes, mit klarem Bewußtſein, befonnen, förmlich und feierlich bezeugt, 
verfidert und betheuert er: „Du jagft’s, ich bin es!” Da habt 
ihr das große Bekenntniß! — Welch' ein „Ja“ dies! — Diefes 
„Ja“ hebt uns über alle Sorgen hinweg. Tiejes „Ja“ untermauert 
unfern Glauben mit einem Fundamente der Ewigfeit. Diejes „Ja“ 
begründet und befiegelt die ganze Erlöfung, und iſt das Grab aller 
unfrer Zweifel. Auf daß aber fein Schatten der Duntelbeit über dem 
wahren Sinne feines Zeugniffes fchweben bleibe, fügt er jeinem Ja 
noch ein Weiteres hinzu. Gr lüftet die Schleier der Zuhmft, und 
fpriht: „Ich fage euch: Bon nun an wird es gefhehn, daß 
ihr fehen werdet des Menfhen Sohn figen zur rechten 
Hand der Kraft, und fommen in den Wolken des Himmels!” 
Dem Anfange nach geſchah es bereits. Mit feiner Auferftehung und 


Sit rar 
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Das große Belenntniß. 319 


Himmelfahrt beganı das große Wort ſich zu erfüllen, Die Erfüllung 
fchritt fort mit der Ausgießung des heiligen Geiftes und der Grün⸗ 
dung feiner Kirche. Und in umunterbrochenem Siegesgange ihrer 
Vollendung entgegeneilend, wird Ddiefelbe einſt unter dem millionen- 
flimmigen Lobgefang: „Nun find die Reiche diefer Welt unferes Gottes 
und feines Chriftus worden” ihren Zielpunft erreichen. — 

Es war nidyt möglich, daß es ungweideutiger bezeugt wurde, wer 
Jeſus fei, als es nun durch Ihn felbft gefchehen iſt. Iſt num fein 
Zeugnig wahr, wahr iſt's dann auch, daß ihr verloren feid, die ihr 
an Ihn nicht glauben wollt; wahr, daß euch, die ihr die Kniee Ihm 
zu beugen anfteht, nichts übrig bleibe, als eim fchredliches Warten 
des Gerichts und des Zeuereifers, der die MWiderwärtigen verzehren 
wird; wahr, Daß, wer unter eudy von neuem nicht geboren wird aus 
Waſſer und Geift, als legten Urtheilsſpruch wider fi) das furchtbare 
Wort vernehmen wird, welches die Verfluchten in das Feuer weifet, 
das den Teufeln und feinen Engeln bereitet ift. Denn dieſes Alles 
bezeugte ja ebenfalls derſelbe Mann, der dort fein „Sch bin’s 
gefprochen; und fprach er Lebteres, wie Er es that, in Wahrheit, 
fo bezeugte aud) jenes Alles „der Held in Zfrael, der nicht leugt.“ 
Wie könnt ihr denn noch eine ruhige Stunde haben, bevor ihr dars 
über in's Klare kamt, ob jenes fein „Ich bin’s!” der Annahme werth 
fei, oder nicht? Kommt zur Entfheidung! War es ein falfches Zeugs 
niß, das Er zeugte, und ift Ehriftus nicht der, für den Er eidlich ſich 
erklärte, warum feßt ihr dann noch einen Fuß in eine Kirche, wo — 
Er vergebe den Ausdruck! — der größte Lügner, den die Welt gefehn, 
zum Gott gemacht wird? Warum fchleppt ihr dann den Chriftennamen 
noch mit euch herum, der in jenem alle nichts beffer ja, als ein 
Brandmal ift? Warum beeilt ihr euch denn nicht, von einer Re 
figionsgemeinjchaft euch loszuſagen, Die euch zumuthet, vor einem fals 
fhen Propheten als vor einem Gott das Knie zu beugen? Eure 
heiligſte Pflicht ift e8 ja dann, unverzüglich von den Bänfen, die ihr 
eben einnehmt, aufzuftehn, und für immer dieſen Götzentempel 
zu verlaſſen. — Iſt's aber gegründet, was der Herr vor Kaiphas bes 
theuert, warım dann, du toll und thöricht Volk, zauderft du, vor einem 
Könige hinzuftürzen, welcher Macht hat, feine Feinde nad) Leib und 
Seele „in die Hölle zu verderben?“ Warum, du wahnfinnigee Ge 
fchlecht, machſt du dann nicht Anftalt, dich in die Hände deſſen zu bes 
fehlen, außer dem kein Helfer tft im Himmel und auf Erden? Warum 


= 2as Seller 
wa 


du Dame dir ſelba ie feind uub grau. daeß De Alu ud Tod 
ã währen? Das Lebern dir erichienen ut? X Berl auf 


| 
| 


Siume anzebeten würd, die Hölle ım ſich reißt, ud ſich als ewige 
. Beute tem Satan widwerrt. 
3. 
„Ib bin’s!” — Er ſvrachs. Und müre Pieter Gettmenjch wicht zu⸗ 
gleich dus u Schmach uud Marter auseriebene Opferlamm gemweien, 
Stimmen würden fein Zengniß mit ihrem Amen befiegelt ba- 
ben. Tie Serapbinen wären mit ibren goldnen Hurfen über ibm erfchie 
wen, und bitten Ihm zugejandzt: „Iern, du biit s!“ Ans den Grimden 
der Erde, die Er legte, würde dus „Nein, du biffs!“ beraufgeſchollen 
fein, und der ewige Pater bitte mit jener Stinme, ver der die Berge 
erzittern, vom Himmel berabgerufen: „Das iſt mein lieber<obn, 
an dem ih Wohlgefallen babe!” Aber kunm bleibt’s über Ihm, 
ſtunm un Ibn ber; ſtumm in der Höbe und in der Tiefe. Der Prie⸗ 
fler Gottes ift im Heiligthum, und mit feinem Opferwerk beichäftigt. 
Da galt es ſchweigen. Rur den Feinden iſts vergomt, u to⸗ 
ben. Wie Kaivbas das imumwnndene Bekenntniß vernemmen but, zer⸗ 
reißt er zur Beurkundung einer freilich mur erbeuchelten Entrüftung 
über den vorgeblichen Frevel feine Kleider: weiſſagt durch Diefe 
Geberde, aber nur ohne es zu abnen, indem er inmboliich die bevor: 
ſtehende Auflöfung des vorbildlichen Prieftertbums fignalifirt, Das 
jet, nachdem der wahrhaftige Priefter in Chriſto erichienen war, als 
inhaltiofe leere Schale dahinfanf. Nur einige Stunden noch, Damm 
ift der Zempel zu fchließen, und das Opfern der Lämmer und Böcke 
hat feine Endichaft erreicht vor Gott. Der Herr Himmels und der 
Erden hat dann das Allerheiligfte, das „mit Händen gemacht iſt“, 
für immer geräumt, um fortan in den Hütten und Kammern der ars 
men Sünder feine Wohnung zu nehmen, — Ueberdied gibt uns der 
Priefter durch feine Zrauerceremonie eine beachtenswerthe Lehre. Es 
ziemt uns, geiftliher Weiſe vor dem Angefichte Jeſu ein Gleiches zu 
thun, wie er. Mit zerrißnen Kleidern gilts, vor Ihn binzutreten ; 
denn anders will er uns nicht fehn. In Stüde mit dem erträumten 


| 


Das große Velenntniß 331 


Schmuck unfrer eignen Gerechtigkeit! In Zehen mit aller Kleiderpracht 
eingebildeter eigner Tugend, Kraft und Weisheit! Unſre Blöße bloßs 
gegeben, und unfre Schande in feiner Augen Licht geftellt! Hinein in 
die Nadtheit, in's Armefünderthum, in's Bettlerwefen, wenn wir ung 
Ihm zu empfehlen wünfchen! Alles Vornehmthun iſt Ihm ein Greuel. 
Weg mit den Flittern; Er will uns ſchmucken. Gemachte Blumen 
begehrt er nicht. Er pflüct nur Lilien fi) zum Strauße, die er felbft 
gekleidet. 

Der Hohepriefter zerreißt fein Gewand und fpridt: „Was bes 
dürfen wir weiter Zeugniß?“ Der Mann bat Recht. Wenns 
in der That eine unbefugte Anmaßung war, daß Jeſus ſich file 
Gottes Sohn und den Richter der Welt erflärte, fo hätte er feiner 
ärgeren Gottesläftermg ſich ſchuldig machen können, als es hiemtt 
gefhehen war. Warum aber, ihr Richter Iſraels, muß es durchaus 
eine Lüge fein, was Er eben von ſich bezeugte? Warum ſchlecht⸗ 
bin undenkbar, daß er der verheißene Herr vom Himmel ſei? Iſt 
e8 fein Leben etwa, Das dem widerfpräche? Was vermochtet ihr 
trog aller eurer Bemühungen Verwerfliches daran zu entdecken? Nichts 
habt ihr Ihm Schuld zu geben, als daß er mit feiner eben ausges 
fprochenen Erklärung fih — was ihr doch erft beweifen müßte — 
ungebürlich überhoben, und in umbefugter Weiſe göttliche Ehre fich 
beigemeſſen babe. Müpt ihr’s doch unverholen anerfennen, daß er 
aus eurer Unterfuchung rein wie das Licht des Himmels hervorgegan⸗ 
gen fei. Und fagt, fleht etwa das Zeugniß von feiner Sohnfchaft, 
das er eben abgelegt, fo vereinzelt und ohne weitere Stügen da? 
Dient demfelben nicht vielmehr feine ganze Erfheinung auf Ers 
den als befräftigendes Siegel? Ward es nicht durch Stimmen aus 
der Höhe beftätigt? Umgeben e8 nicht Die Hunderte von unerhörten 
Wundern und Zeichen als eben fo viele Beläge feiner Wahrheit; und 
bat e8 nicht den gamzen Chor aller prophetifchen Weiffagungen, Die 
fh auf's buchftäbfichfte in Ihm erfüllten, als mächtige Zeugen auf 
feiner Seite? — So möchten wir euch fragen, ihr Richter zu Jeru⸗ 
falem. Aber ihr wollt nicht, daß Diefer über euch herrſche; und 
darum muß und foll er Der nicht fein, für den Er eidlidh fi 
erklärte. Wehe euch, ihr Erempelbülder aller richterlichen Ungerechtig- 
fett — Wie wird es eud) ergehen, wenn der Zag daherfaͤllt, der 
euch ſelbſt vor die Schranken ftellen und Alles an's Licht bringen 
wird, was im Finftern verborgen war? 

21 


32 2 Ga. 


„Bis tiılcı eaht“ Tax Ir Dabei Te mi, IB 
Ber Im row ter rer sehnurei. Ye Berrmmufumg wir einet 
Erzm: „Er ia tes Istes IS © Re ie Bu Der, 
Sr a ma Zeh urn cn ei „J das „Cr ie des 
Zetes iAzitız'" zucrser &5 met me m? cchabere Smmmen, 
ld Tirjezigen jener Rıchsberre Bas Wis abe ür cu Ist, defien 


„Bene Zede Sorte rei Tedes rer Gecko IT mea Gute ſei 
wie tier Exte” Re ter, zeu im ter Prediger nube: „Der 
Tag des Istes it berer, tes ter Iaz ter Genu.- Eben ie we 
mis ber, tem Baufz! arımdu: „et, we u ter Scabel?“ und 
Der, Dem Zimeen zu jeimem „fr. ze Liwet tu deinen Dieser 
mis Zrieden iabten?“ im tie Arme il. ah es wide der Ted, 
weichen Zterbaund mis iendheenten Gaxläsnyei eye. De 
Zod, ven ber Durze eins icaſdia wur, UI Per, dex wu Onenb. 6 
auf einem iablen Pierde rasen, mb dem zur dert tie umge Holle 
folgen ichen. Der Ted ifs, der die Lifternte Sterabrenie arfahse, als 
unter ibr die Erde ng auiikat. Ver Ze, der jeinen Siachel ned 
hat, und fein Stachel in Die Zünte; Der Zed, Der m und mm 
mit Fluch umfıngen it, und den die Schritt „den Seld ter Simie” 
mennt. Ter Tod tes Gettleien, des Gehumuten, des Berwerienen, 


Dieier furchtbare Schreckenskoͤnig, dieſer Zed, mit Grauen und Büter: 
feit um- und angetban, Der it's, dem der Vürge bier im Namen 
und Auftrage Gottes feierlib ven dem Zpnetrum geweibt wird. 


Jun glaubt, der wird den Zod nicht ſeben ewiglich.” 

Bir ſchließen. Doch vorab noch einmal das große „Entweder, 
Oder“ euch vergegenwärtigt, das nach dem heute von uns erwogenen 
Auftritt für euch Alle jet eingetreten it! Ihr ſeht euch die Alter: 
native geftellt, entweder mit Jeſu als dem verwerflichiten Schwaͤr⸗ 
mer, den Die Welt gefehn, für immer brechen, und das Bluturtheil 
Des hohen Rathes wider ihn aut heißen, oder mit und dem Naza⸗ 
rener ner Hoflanna fchreien, und Ihm, als dem „Gott, geoffenbart 
im Fleiſch,“ in Huldigender Anbetung zu Zuße fallen zu muͤſſen. Für 


— 


Das große Belenntniß 3% 


ein Drittes und Mittleres bleibt hier fein Rum. Das Gerede 
von dem blos „vortrefflihen Menfchen” Zefus zeugt nur von 
unerhörter Gedanfenlofigfeit, und birgt, bei Licht befehn, nichts als 
einen Verrätherfuß in ſich. Wohlan, wie entfcheidet ihr euch? Schon 
die gefunde Vernunft ertheilt euch den Rath, unfre Partei zu ers 
greifen. Seht euh nur noch einmal in der eidlichen Betheuerung 
Jeſu vor dem Hohenpriefter den mächtigen Felfen an, von welchem 
unfer Glaube an Ihn geftüßt und getragen wird; und dann gebt ber 
Wahrheit Raum, und fprechet mit uns: 


Ja, Du bift unfer Gott, 

Der Bräutigam der Seelen! 

Die fih mit Dir vermählen, 
Erfahren Di in Noth 

Als Freund, ald Arzt, ald Gott! — 
Nun Iefu, Du mein Alles, 

Du einz’ger Troft bed Falles: 
Nimm mid denn gänzlich hin; 

Dein bin ich, wie ich bin. 

Dein Geift mid) ſtets regiere, 

Bis ih dort jubilire: 

Mein Freund ift Gottes Sohn, 
Und ich fein Schmerzenslohn! — Amen. 





xxvi. 
Petri Thranen. 





Auf der Höhe feines geiftlichen Lebens fand der König David, 
als er an der Spite feines Volkes, unter Harfens, Pfalter- und Pau⸗ 
Tenklang, die Bundeslade aus dem Haufe Obed-Edom, des Gathiters, 
abholte, um fie in Ierufalem einzuführen. Seine Seele ſchwebte auf 
Flügeln des Dankes und der Freude; und der Rhythmus feiner Empfin⸗ 
dungen theilte ſich harmonifch allen Geberden und Bewegungen feines 
Körpers mit. Bekleidet mit dem leinenen Bruftfleide eines Leviten 
„tanzte er, mit aller Macht vor Dem Gnadenthron des derm ber“, d. h. 

21 


ss vab Heli. 
unter feierlichen, den Tönen der Juſtrumente und den Liedern der Saͤu⸗ 
ger bedeutfam entfprechenden Befticulationen ſchritt er dem Heiligthume 
voran. Ob Michal, Die Tochter Sauls, am hoben Fenfter des Palas 
fies über ihn die Rafe rümpft, und böhniſch ausruft: „Wie herrlich 
iſt heute der König von Sfrael gewefen, der ſich vor den Mägden ſei⸗ 
ner Knechte ermiedriget hat;* — was fümmert’3 ihn? — „Ich will”, 
entgegnet er frendigen Trotzes voll der haͤmiſchen Königstochter, „vor 
dem Herrn fpielen, der mich erwaͤhlet hat vor deinem Vater, und vor 
alle deinem Haufe, daß er mir befohlen hat, ein Zürft zu fein über 
Das Haus des Herrn; und will nod geringer werden, denn 
alfo, und will niedrig fein in meinen Augen, und mit den Mägden, 
Davon du geredet haft, zu Ehren werden!“ — 2 Sam. 6, 21. 22. 
Welch' ein Löftlicher Sinn, den diefe Worte atmen! Aber David 
ahnet nicht, was er mit Dem „Ich will noch geringer werden, 
denn alfo,* fich felber weiffagt. Es hat eine eigenthümliche Bewandt⸗ 
niß mit der Demuth. Sie ift im Hergendgarten der Gläubigen die 
Blume, die Gott alleine fennen umd pflegen will; die aber ihr zar⸗ 
te8 Leben aushaucht, fobald das Selbftbewußtfein fie berührt, 
und fie in feinen Zugendfranz vermeben will. Es ift wol kaum zu 
bezweifeln, daß felbft jener gehobenfte Moment in Davids Glaubens: 
leben infofern mit Dazu beigetragen hat, feinen nachmaligen Fall 
herbeizuführen, al8 er, vom Zleifche gemißbraucht, das Vertrauen auf 
die eigene Frömmigkeit in ihm weden und nähren half. Ach, in wel- 
chem Maße war David „geringer geworden, denn alfo,” da er, 
nachdem er in fo hohen Bahnen der Gottjeligfeit und des Glaubens 
die Flügel gefchlagen hatte, ſpäter urplößlich im- Unflath eines Ehe⸗ 
brechers, ja in der Blutichuld eines Mörders fich wiederfand! 
Da ging, was irgend von Selbſtruhm in ihm war, auf ewig zu 
Grabe, und die Demuth kehrte bei ihm ein, die für ihre Hoffnung 
außerhalb der freien Gottesgnade feine Handbreit Ankergrunds 
mehr findet. Freilich Hat fi David nad) feinem Fall, wenn ihm gleich 
die göttliche Vergebung auf fein zerbrochenes, thränenweiches Herz 
verfiegelt ward, nie wieder zu feiner frühen Freudigkett und Kindes⸗ 
unbefangenheit vor Gott erhoben. Er blieb vielmehr, fo lange er noch 
anf Erden Iebte, ein gefchlagener Mann, weil der Gnadenthron 
Damals no verfchleiert und „Der Weg zum Heiligthbum“ nad 
apoftofifchem Ausdrud „noch nicht offenbar“ war. — Anders ſtan⸗ 
den die Sachen, als Davids fpäterer Geiftesnerwandter, Simon 


Zean oͤren hun. 


Petrus, mit rothgeweinten Augen von feinem Falle wieder fidh er- 
hob. Da hatte die göttliche Sünderliebe in Ehrifto ihrer legten 
Hüllen ſich entfleidet, und auf dem Grunde des blutigen Derföhnungse 
geheimniffes fand der gefallene Jünger einen Frieden, wie er ihn nie 
vorher gekannt. — 


Matthãus 26, 74 u. 75. Marcus 14, 72 Fuces 22, 60-62. 

Und alfobalb, da er noch redete, Frähete ber Hahn zum andern Mal. Und ber Ger 
wanbte fih, und fah Betrum au. Da gedachte Betruä an bad Hort Sein, ba er zu " 
ihm gefagt hatte: Che denn der Hahn zweimal krähet, wirft bi mid dreimal ver- 
leugnen. Und Petrus ging hinaus, verhäßete fein Haupt umd meinte bitterlich 

Ihr ſeht, wir ſollen uns heute wieder von der Beftürzung erholen, 
mit der wir unfre vorlegte Betrachtung fehloffen. Weber dem Nacht⸗ 
flüd der Niederlage Petri geht mit holdem Glange der Stern der gött- 
lichen Gnade auf. Wir fehen die Thräuen fließen, welche nächft des 
nen, die einft vom Auge des Heren f elbſt an Lazari Grabe, über 
das gottvergefjene Serufalem, und im Getpfemanes -Rampfe thauten, 
die denfwürdigften heißen dürfen, die je im Pilgerthal der Erde 
vergoffen wurden. Die „Ihränen Petri” haben fprüchwörtfiche 
Bedeutung gewonnen, und brauchen, etwa mit den Thränen Mag⸗ 
dalenen's vereint, nur genannt zu werden, um und eine wefentliche 
Durchgangsſtufe in der evangelifhen Heilsorduung zu veranfchaus 
fihen. Nicht umfonft, noch ohne Tiebreiche Abficht, hat uns der im 
Schriftwort zeugende Geift die Petrustkränen in der evangelifcen 
Geſchichte wie in einem goldnen Krüglein aufbewahrt, Wie Manchem 
find diefelben ſchon wie lindernde Balfamtropfen in's verwundete Herz 
gefallen. Mögen fie auch heute unter uns ihre gefegnete Wirkung 
nicht verfehlen, und in vielen der lieben Augen, die eben aus dieſer 
Berfammlung mich anfehn, fih thatfächlih erneuern. 

In dem unfceinbaren Vorgange, deſſen wir heute Zeuge find, tft 
Alles fo fehr der Beherzigung werth, daß wir es uns nicht verfagen 
können, jeden einzelnen Zug deffelben befonders in's Auge zu faſſen. 
Wir richten demnach, dem Faden der Gefchichte folgend, den beſchau⸗ 
fichen Blick zuerft auf den Hahnenfchrei; Daun auf die Zukehr 
des Herrn; nach dieſem auf des Herrn Gnadenblick; Dann auf 
Simons Gedenken; und endlich auf ſeine Thränen. — 

„Sende der Herr Sein Licht und Seine Fa daß ſte ung 


eifen, und. Bringen mp zn Seinen heiligen Bergel' mm . n 


1. 

Bir fuchen den Simon in dem entfegfihen Momente wieder auf, 
da er, die Verleugnung vollendend, feine Jefusjingerfhaft un- 
ter fihweren Fluͤchen fürmlih abfhwört Denkt, Solches thut 
der Jünger, von deffen Lippe einft das große Bekennmiß erfcholl: 
„Bir haben geglaubt und erkannt, daß du bift Ehriftus, der Sohn 
des Iebendigen Bottes;* umd der feuriger wol und aufrichfiger, als 
jemals wir, fein „Wenn Alle untreu werden, fo bleib’ ich dir Doch 
treu” daherriefl — Aber was ift der Menfch, felbft der befte, wenn 
er auch auf Momente nur fich felbft gelaffen wird! Und was wird 
aus dem treuften der Chriſten felbft, genehmigt der Herr, daß er 
auch nur für Augenblide die Gängelbande Seiner Gnade von fi 
flreife! O Thorheit, einem wenn auch noch fo fchönem Gefühle ver: 
trauen zu wollen, über das man nicht einmal eine Secunde Herr ift! 
Kindifches Wagftüd, mit irgend einer Siegeshoffuung fich auf die Iuf- 
tige Rüftung zu ftüßen, die man an feinem fogenannten „guten Willen“ 
und feinen „edlen Borfägen” zu befigen wähnt. — Immerhin möchte 
man dies thun, ginge dem „willigen Geifte“ nicht das „ſchwache 
Fleiſch“ zur Seite, und fchliche „der Teufel nicht umher wie ein 
brüllender Löwe, fuchend, welche er verfchlinge”. — Aber nun — — 
Dod in der Schule der Erfahrung erft mußte Simon, wie wir 
alle, zu der Einficht gelangen, daß der Menſch auch ſchon der unbe 
Deutendften Anfechtung gegenüber fi) zu viel vermeffe, indem er 
feldft für fein Beitehen haft. Die Liebe Chrifti dringet, das 
Schwerfte für Ihn zu wagen; aber ftark zum Ueberwinden macht nur 
der Glaube an Ehrifti Liebe zu uns, und der Troß auf Seine 
Gnadenfraft und Stärke. Derjenige, welcher vor ſich felbit als vor 
einem der Verleugnung des Meifters vor Andern fähigen Menfchen 
erzittert, wird größere Siege erfechten, als der fih Manns genug 
Dünft, fprechen zu dürfen: „Wenn fie Dich Alle verlaffen, fo doch ich 
nit!" — „Dur den Glauben ftehft du”, ruft Paulus; „fei nicht 
flog, fondern fürchte dich!“ — „Darum“, fpricht derfelbe Apoftel, 
„will ich mich am allerliebften rühmen meiner Schwachheiten, auf daß 
Die Kraft Chrifti bei mir wohne.” 

Simon liegt darnieder, Die Hölle triumphirt, Wie follte fie nicht? 
War je eine Seele ihr verfallen, dann die jenes Abtrünnigen, wel 
der des Fluches, den er ſelbſt auf fich herabbefchworen, fo würdig 

war; und erlitt je die den Mächten der Zinfterniß fo verhaßte Sache 


Petri Thraͤuen 327 


des Chriſtenthums einen empfindlichen Stoß, dann bier, wo ein 
Apoftel deffelben der erften Gefahr, die einem freimüthigen Be⸗ 
tenntniffe droht, fchmählich erliegt, und nicht hoch genug zu bes 
theuern weiß, daß er „dieſen Menſchen“, nämlidh Jeſum, nit 
kenne. Nichtsdeftoweniger ftimmt die Hölle ihre Siegestieder zu frühe 
am. Mit dem Fluche, der Petrum treffen müßte, hat's gute Wege, 
Hort in den Gerichtsfaal des hohenpriefterlichen Palaftes hinein. 
Unter großem Getümmel verlautet da eben die erfchütternde Sentenz: 
„Bas bedürfen wir weiter Zeugniß? Er bat Gott geläftert, und tft 
des Todes ſchuldig!“ — „Wer?“ fragen wir erfchroden; — „Si⸗ 
mon Petrus?" — Nein, ein Andrer, und — dent! — ein Hets 
figer gar; ja derfelbe, der einft mit der Eröffnung auftrat: „Ich 
laffe mein Leben für die Schafe!“ — Seht will ers Taffen; 
und zu feinen Zimmern gehört auh Simon, von dem der Fluch alfo 
auf Zenen, feinen Bürgen, übergeht, und über deffen Haupt darım 
hinfort der bfutgenegte Schild ſchwebt, der die Inſchrift trägt: „Ste 
werden nimmermehr umkommen, und Niemand wird fie aus meiner 
Hand reißen!” — Was aber den „Stoß“ betrifft, den durch Simons 
Berleugnung die Sache des Evangeliums erlitt, fo wird Diefes 
denfelben auch fehon überleben. Geduldet euch nur; Einer wird 
dem Handel eine folhe Wendung zu geben wiffen, daß derfelbe dem 
Evangelium eher zur Berherrlihung, als zur Verdächtigung wird ges 
reichen müſſen. Es ift hiezu Alles ſchon angebahnt und vorbereitet.’ 

In dem Momente, da Petri Sünde eben in einer förmlichen Abs 
fhwörung feines Meifters ihr Maß erfüllet, rähet der Hahn. — 
Was gibt e8 nun? Emüchterung von Taumel, Buße, Thränen? 
— Gott weiß es, mit was für einem Getöfe der Teufel des Juͤn⸗ 
gers Ohr betäubte, daß der erfte Ruf des gefiederten Waͤchters zu 
ihm nicht durchdrang. Simon gerieth nur immer tiefer noch in fein 
Wirrfal hinein, und finftre Nacht, nur von einzelnen Blitzen feines 
fich regenden Gewiſſens durchzuckt, umzog fein Beſinnen. 

Irgend ein Hahn ward jedem Menſchen zum Wecker beſtellt. Ja, 
faſt wo wir gehen und ſtehen, umſchreien uns Stimmen, die zur Buße 
rufen. Die Natur iſt voll davon, wie unſer ganzes Leben; nur daß 
unfre Ohren „dicke“ find, und nicht hören wollen. Es iſt Hahnen⸗ 
fehret in dem Donner, der, ein Herold der unendlichen Majeftät, 
durch die Wolfen rollt; in dem Blitzſtrahl, der vor dir niederzudt 
und ſpricht: „Hter bin ih;* — in den Sternen, bie fo flarr und 


24 du Oli 


fremd aus entlegener Ferne auf dich niederfchauen, als wollten fie zu 
Dir fagen: „Wie weit, o Menfch, bift von deiner Heimath du verfchla- 
gen?” — in der Blume des Feldes, die in ihrem flüchtigen Erblühn 
und Verwelken deines eigenen Dafeins Bud Dir vormalt; — in den 
Schlägen der Thurmuhr, wenn fie zur Mitternachtsftunde wie Die 
Pulsſchläge der unaufhaltſam enteilenden Zeit in deine Kammer fallen, 
und dir zurufen: „Eile, und rette deine Seele.“ Ja, wo wären wir 
nicht von krähenden Hähnen diefer Art umgeben? Auf den Leichen: 
feinen unfrer Gottesäder fiten fie, und rufen in die Stadt herein: 
„Es ift dem Menfchen gefeßt, einmal zu fterben, und damad) das 
Gericht.“ Bon jedem TZodtenwagen herab, der an dir vorüber rollt, 
fhlägt ihre Wächterſtimme an dein Ohr. Diefe Stimme ift in jeg- 
lihem Geburtstage, den du feierft, in jeglihem Kranfheits- 
anfall, von dem du betroffen wirft, in jeglicher Gefahr, die dein 
Leben bedroht, fo wie in der verborgenen Unruh, die unabläfftg dein 
Inneres durchfchleicht. Und wen wäre außer diefen allgemeinen Weck⸗ 
flimmen nicht noch irgend ein befondrer Hahn in Haus und Hof 
geſetzt? Dir liegt eine ungebüßte Sünde auf der Seele; wann wird 
Diefer fchreiende Hahn dir die Thränen in die Augen frähen? Dir 
tritt feit Kurzem ein Unglüd um das andere über die Schwelle O, 
wie viel Hahnenfchrei für Dich in diefen Authenfchlägen des allmäch- 
tigen Gottes! Du fühlft, daß deine Kräfte fchwinden, und deine Le⸗ 
bensfonne anhebt, fid) zum Untergang zu neigen. Menſch, hörft du 
nicht des Hahnes Krähen? — Za, von allen Seiten werden wir ans 
gefräht: in Träumen bei der Nacht, in Erlebniffen bei Tage, in ernften 
Gedanken, deren wir uns nicht erwehren können, in Predigten und 
Mahnungen, die an uns ergehen, Aber was frommt's? Es muß die: 
fem Gefchrei noch etwas Anderes fi) beigefellen, ein Höheres und 
Mächtigeres, als es felbft; oder nimmer wird es ihm gelingen, fo 
„Unbefchnittene an Herzen und Ohren“, wie wir alle von Haus aus 
find, aus ihrem Zodesfchlafe wach zu rufen. 

Sehet euch den Petrus noch einmal an, wie er, der Fels, auf wel⸗ 
hen Ehriftus feine Kirche bauen wollte, im Hofe des Hohenprieiters 
jänmerlich darniederliegt, und die Mächte der Hölle triumphirend über 
ihn mit Händen klappen. In Diefer Lage ift er ein Bild der Ge- 
meine Des Herrn auf Erden in ihrem gegenwärtigen Zuftande Wer 
find wir? Ein Städtlein, um das man eine Wagenburg gefchlagen, 
ein „ Würmlein Jakob“, das man anpfeift auf den Gaffen, einge „ Selte“, 


ir Died. en 


der „in aller Welt widerfprochen wird”, eine „&lende, über die alle 
Wetter gehen“, umd der ſchon prophezeiht wird, Daß e8 „bald um fie 
geſchehen“ fei. Aber nur guten Muthes, Lieben Brüder! Hört ihr 
die Hähne nicht krähen an allen Enden und Orten, und in allerlei 
Zönen und Melodien? In Krieg und in Gefchrei von Kriegen? In 
Bewegungen der Völker und im Herauftauchen falfcher Propheten? In 
dem ängftlichen Warten der Dinge, die da kommen werden, wie es 
fteigend überall ſich kundgibt, und fonderlih in der Predigt des 
Evangeliums unter „aller Kreatur”, und in dem lauten Wächterrufe, 
mit dem der „Engel“, der das „offne Buch” trägt, „mitten durch den 
Himmel fliegt”? Berfteht ihr diefe Signale nicht? — Diefes Hahnen- 
gefchrei weit und breit deutet auf Anbruch des Morgens. Gemeine 
Gottes, es verkündet dir, wie weiland dem Petrus, — vorab noch 
eine furze Zeit der Thränen und des Kampfes; — aber darnach die 
Nähe eines Triumph⸗ und Auferftehungstages. In dem Mos 
mente, da die Hölle ihre Siegesfahnen auf die Mauern Zions wird 
pflanzen wollen, wird „erfcheinen das Zeichen des Menfchenfohnes am 
Himmel“, und „alle Gefchlechter der Erde werden fehen, in welchen 
fie geftochen haben.” — 
2 


Der Hahn im Hofe des Hohenpriefters kräht zum andern Mal, 
und diefer Ruf dringt Durch und findet Wiederhal, Dem Simon 
beginnt’8 unter dem Wiederfchein der in ihm wach gerufenen Erin- 
nerungen an des Meifters Warnung, über dem Abgrunde, in den er 
hineingerathen ift, zu tagen. Fährt aber er entjeßt zufammen, fo mag 
die Hölle nur fein Erſchrecken theilen, indem ihr diefer zweite Habs 
nenfchrei, wie die Joſuaspoſaunen einft die Mauern Serichos, die 
flogen Siegestrophäen, die fie ſchon aufgerichtet, mit einem Male 
wieder über einander wirft. — 

Laſſen wir uns jedoch um einige Augenblide vor den Moment, in 
dem der zweite Hahnenruf erfcholl, zuruͤck verſetzen. Was ereignet fi) 
da im Innern des Rathsſaals? Ein wüfter Lärm dringt aus dem⸗ 
felben uns zugetragen. Großes hat ſich eben dort ereignet, Der Ber 
klagte legte das eidLiche Belenntmiß ab, daß er der Sohn des les 
bendigen Gottes ſei. Der Hohepriefter zerreißt in erheuchelter Bes 
flürzung fein Gewand; unter wilden Gebrüll wird das Todesurtheil 
über den Heiligen Iſraels qusgefprochen, und die Schergen ergreifen 
den Berurtheilten, um ihn in den Hofraum abzufuͤhren, und Dort ihre 


2 Bei Selig. 


entzäzeke Burb au ibm zeimizäre — Eben mu ter aittfide Dul- 
der zı Hertbür berami, als der Reczun des Habas zu jenem Ohr 
Brizzt Und „Der Herr wautıe ji um,‘ mrfter die Geſchichte. 
— Rıb zen! — Bu wire. Jener Sazı rerfüntete ie ten Fall 
feines Xümzers: md ibe Ea ice Anae. ib fee miileiteellch Gen. 
En Solcher 4 &. Ru mehr als erſiber Zärffichlenr umfaßt 
Er die Seinen, ud ibre Untrene kehrt Seine Irene nicht uf. 
Belche Leidenswogen geben eben über Sein Haurt! Uber Gr famı 
veraeñen über der Serge Tür iein zetallenes Kind. Ja, cher 
& müste Gins veraenen werden, das Regiment ter Belt, 
Böller ibre Vege achen, che Er eins ſeiner „Kleinen“ 
—e— <e — eine Neie, Ne Er plante, 
X dieſe Büite ein licher Gurten teim, md 
um Dieies Tlin;lein zu murten um? zu pilegen. 
unter Den Seinen, ibr ver Andern Hülse 
me! Es icheimt, als lãget ibr Abm zu allermächft 


. 
in 
2 


s} 
4 


ETRRE 
Hi 
I 


am Kerzen. 
Zief, tief Hal Simon im Ehlamm ter Sim, „Da,“ erzäblen 


gm? — Ja, wären dergleichen Leute an uns gewieſen, fie fübren übel. 
Bie fchnell find wir bereit, Hraudelnde Brüder m Hendlern zu 
ſtenweln, ımd zu verwerfen. Statt auch nur einen Zinger zu rübren, 
um fie wieder aufzurichten, tauchen wir fte nicht selten lieber ned 
tiefer in den Kot hinein, umd verfolgen ie ſchärfer als die Welt; 
und es erfüllt fidy geiitlicher Weiſe, was geichrieben itebt: Wenn Je: 
rufalem belagert wird, wird Juda mit blofiren belien. Der Herr 
Dagegen, dem Doch allein in ſolchen Fällen dus Richteramt zuſteht, 
ſchaäͤmt ſich nicht, zur Rolle jenes Weibes im Eangelio ſich berabzu- 
lafien, die, wenn fie einen Groſchen verloren bat, ein Licht anzindet 
und zum Befen greift, und nicht aufbört, im Staube herumzukehren, 
bis der verlome wieder da iſt; und wenn fie ihn gefunden, ihre Rad) 
barinnen zufammenruft, und zu ihnen fpricht: „Freuet euch mit mir, 
Denn ich habe meinen Grofchen gefunden, den ich verloren hatte. — 
Ihm figen feine Kinder fo Iofe am Herzen nicht, wie häufig uns die 
Brüder. — Sagt doch, ihr Väter und Mütter, hörten eure verirrten 
Söhne und ungehorfamen Zöchter durch ihre Berimmg auf, eure Kin- 
der zu fein? Fühlt ihr es nicht vielmehr alsdann nur tiefer noch, Daß 


Petri Thraͤnen — 


fie „Fleiſch von euerm Fleiſch, und Bein von euerm Beine” find? 
Steigert fi) nicht eure Liebe gar durch die Gefahr, in der ihr fle 
fchweben feht? Ja, tritt e8 euch nicht, wenn ihr um fie weinen 
müßt, viel mächtiger noch in's Bewußtfein, daß ihr ein Leben mit ih- 
nen lebt, als da ihr harmlos ihrer euch nur freuen durftet? — So 
denn ihr, „die ihr arg feid“, euern Samen nicht verleugnen Tönnt, 
wie follte Der Seines „Fleiſches und Blutes“ je vergeffen können, 
der da fpricht: „Wie mich mein Vater liebt, fo liebe ich euch;” und 
der uns zuruft: „Kann auch ein Weib ihres Kindes vergeffen, daß 
fte fi) nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob fie des- 
felbigen vergäße, fo will ich Doch dein nicht vergeffen. Siehe, tn 
meine Hände habe ich Dich gezeichnet!” — Auch der gefallene Pe- 
trus blieb fein Petrus. Wie arg er's gemacht hatte, Jeſu Herz ver- 
änderte fich gegen ihn nicht. Seht, wie mütterlich beforgt Er fich 
nach ihm umfieht. Zum zweiten Male hieß es jet zu Simon: 
„Ich aber ging vor dir über, und fahe dich in deinem Blute Tiegen, 
und ſprach zu dir, da du fo auf's Feld geworfen in deinem Blute 
fageft: Du follft Teben; ja, zu Dir ſprach Sch: Du follft leben!“ — 
Fürwahr, wenn der Herr nicht gewollt hätte, daß wir glauben follten, 
der Bund der Gnade ftehe auf Seiner Seite unverbrüchlich feft, fo 
würde er gewiß Bedenken getragen haben, und Erempel in den Ge 
fichtskreis zu rüden, wie das eine8 David, des Mörders und Ches 
brechers, der nichtödeftoweniger ‚ein Mann nad) Seinem Herzen“ 
blieb, und das eines Simon Petrus, von dem es heißt: „Und 
er hub an, ſich zu verfluchen und zu fchwören: ich fenne den Men- 
fhen nicht; und bald darauf: „Und Jeſus wandte ſich um nach ihm, 
und fah ihn an.” — — Ja, „glauben wir nicht, fo bleibet Er treu; 
Er kann fich felbft nicht leugnen; — und „der feite Grund Gottes 
befteht, und hat diefes Siegel: Der Herr fennet die Seinen,” — 
„Der Herr wandte fih um.” — Jede Sünderbefehrung be 
ginnt damit, daß das gefchieht, um was David bittet: „Siehe dich 
um nad mir.” Bon Natur find wir verdorrete Gebeine auf einem 
großen Zodtenader, und können zu Ihm nicht kommen. Hebt aber der 
Herr an, fih nach und „umzuſehen“, fo wird dies bald verfpürt. — 
Man kommt, ehe man noch will, in nähere Berührung mit Ihm, 
Man hört gleihfam Seine Fußtritte um ſich rauſchen. Man fühlt 
fi) tief und wunderfam bewegt durch Dinge, die man fonft faum bes 
achtete. Bei tauſenderlei Umftänden drängt ſich dem Herzen gleich 


— * Das Geige 


der Gedanfe auf: Siehe, Gott will dich biedurdh zur Buße rufen. — 
Man hatte einen ängftlichen Traum, oder es fällt unverſehens ein 
Bild und von der Wand, oder ed verdorrt uns plöglich ein kraͤfti⸗ 
ger Baum im Garten, oder ein Leichenzug begegnet uns, wo wir ihn 
nicht vermuthet, oder man fehlägt zufällig einen nadhdenflidhen Spruch 
im Bibelbuche auf: überall fagt uns ſogleich ein Gefühl: „Du wirft 
zur Befehrung aufgefordert”; und oft möchte man mit Jakob fprechen: 
„Gewißlich ift der Herr an diefem Orte!” — Da wohnt uns denn der 
Allmächtige nicht mehr fern und fremd in entlegener Höhe, fondern 
Er wandelt durch unfre Kammer, Er begeguet uns innerhalb der engen 
Grenzen unfres Lebens. Kein Tag vergeht, oder irgend etwas tritt 
ein, wobei wir fagen müffen: „Siehe, der Herr!” — Doc in fol- 
chem Verhältniſſe zum Herrn kann man fich lange bewegen, ohne daß 
ed darum ſchon zu einer wirklichen Befehrung mit uns kommt, Nach 
wem er aber erft in Liebe ſich umfieht, der treue Hirte, an Dem wird 
Er auch no ein Weiteres thun, 
3. 

Der Hahn allein Frähte den Jünger von feinem Falle noch nicht auf. 
Das Ummwenden des Her nad) ihm erzielte eben fo wenig noch Die 
erwünfchte Wirkung. Es fam aber zu jenem und zu dieſem nod) ein 
Drittes, ein Wirkſameres, hinzu. Was wars? Ein Wort! Gin 
Zuruf? Eine Predigt? — Nein, ein Blick, den das Auge des „Hüters 
Iſraels“ dem am Rande des ewigen Berderbens taumelnden Junger 
zuwarf. Diefer Bid thut Wunder, — „Jeſus wandte fi, und fah 
Petrum an.” — Was für ein Blid dies gewefen fei, und welche 
Fülle göttlicher Wehmuth und Liebe fich in ihm gefpiegelt habe, wird 
einft Petrus felbft unter den bimmlifchen Friedenspalmen uns erzäh- 
len. So viel aber wiffen wir ſchon jeßt, daß jener Bli nicht leer 
daher kam, fondern angethan mit Funken des Geifted und Strahlen 
der Gnade. Beides, ein Schwert zum Berwunden, und zugleich den 
Balfam zum Heilen führte er mit fih. Wie ein zerfchmetternder Blitz 
ſchlug er ein; und zugleich ergoß er ſich wie ein erquidender Thau. 
O, welche Macht in den Bliden des Herrn ruht, ift nicht zu fagen. 
— Mit dem Blide der Majeftät fieht Er die Erde an, und — fie 
erbebt, Mit feinem Richterblid ereilt Er den Sünder, und es 
verlautet die Hiobsklage: „Deine Augen fehen mich an, darüber vers 
gehe ich.” Sein brechender Zodeshblid vom Kreuze her ſchmelzt 
fleinerne Herzen, und fänftigt Löwen zu Laͤmmern. Aus feinen Tau⸗ 


Ketri Thränen. 383 


benangen, hervorleuchtend aus Windeln und Krippe, trinfen ein Si⸗ 
meon und eine Hamna fi ewige Jugend. — Mit einem Blicke vers 
gebender Gnade macht Er eine zerfnirfchte Seele „Himmel md 
Erde vergeffen” über ihrem Glücke, und vermittelft eines Anblicks wehs 
muthsvoller Liebe holt Er zerfprengte Lämmer feiner Heerde aus jahres 
langer Berirrung wieder zurüd, — Aber,” höre ich fragen, „Tann Er 
fo au heute noch uns anfehn?” — Ein Geheimniß iſts; aber 
die Seinen ftehen feinen Augenblid an, jene Frage zu bejahen. 
Sie fühlen noch von Seinen Augen fi bewacht; und in Gemäßheit 
defien, was fie in denfelben zu leſen glauben, fteigt oder fällt ihr 
Friede md ihre Freude. Iſt e8 Entfremdung, fo ſenken fie das 
Haupt, und um ihre Ruhe iſts gefchehen; ift es aber Gnade, fo 
geben fie, wie Gideon, freudig hin in diefes Blickes Kraft, und froh⸗ 
locken mit Maria: „Der Herr hat die Niedrigfeit feiner Magd, feines 
Knechtes angefehenz von nun an werden mic, felig preifen alle Mens 
ſchenkinder!“ — 
4 
Der Anblid des Herrn verfehlte auch an Simon feine Wirkung 
nit. So wie des Yüngers Blid dem Seinigen begegnet, ift der 
Zauber geldft, der ihn gefangen hielt, der dämoniſche Rauſch verflos 
gen, Das Ohr ihm aufgethan, die Befinnung zurüdgelehrt; ja, die 
Sünde erfannt, das Herz zerſchmolzen, der „Strick zerriffen” und „der 
Bogel frei”, — „Mein Gott,” hieß e8 in feinem Innern, „wohin 
ward ich verfehlagen? — Unglücfeliger ich! — Wurde mir nicht Alles 
fo vorausgefagt? Sprach Er nicht auf dem Wege: Ehe der Hahn 
zweimal Trähet, wirft du mich dreimal verleugnet haben? — Wehe 
mir, daß ich in thörichter Selbftüberhebung diefer Warnung mich vers 
ſchloß, und erft jeßt, nachdem es zu fpät ift, ihrer gedenfe! — In 
Gefaͤngniß und Tod gelobte ich mit Ihm zu gehen, und bin der erfte, 
der Ihn verleugnet und abfhwärt! — Wie, daß die Erde mid) noch 
trägt, und nicht ein Blitz vom Himmel mich zerfehmettert; fondern ftatt 
deffen Der noch mich Kind des Todes eines Blicks des Mitleids und der 
Erbarmung würdigt, der fo mütterlich treu mich gewahrfchaut, und von 
dem ich nichtödeftoweniger wegwerfend zu fagen vermochte: Ich kenne 
den Menſchen nicht!“ — — So mochte feine Seele fprechen, als 
er, wie die Gefchichte meldet, „an das Wort des Herrn gedachte, 
das Er zu ihm gefagt hatte,“ Unfehlbar wäre er jeßt eine Beute 
der Verzweiflung geworden, hätte die Mutterliebe Jeſu nicht vermit⸗ 


& 
4 
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2 
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Milde uud Gnade buzulam, die Baliamfrafi aller der Worte, die der 
mütterlihe Zünderftemd zu ibm geipredhen batte; und wie durfte Be 
tms jet mit Der Braut im Hobenliede jagen: „Ta der König fid 
berwandte, gab meine Rarde ihren Geruch!“ — Freilich but fh 


I 

Da fleht umjer Simon, durdy des Meiſters Blick vollig in Beugung 
und Zrauer aujgelöft. Als dürfe er vor Gott und Menſchen ſich wicht 
mehr ſehen lafjen, hüllt er jein Haupt in den Mauntel, und „bebt 
an, bitterlih zu weinen.” — Und dies find nım die Thränen, 
von denen geidjrieben ftebt, „Der Herr faſſe fie in feinen Sud“, und 
deren „Ausſaat“ eine ewige „Zreudenernte” verheißen wird. Sie 
zeugen, wie jener perlende Zhau, der beim Beginn des Frühlings aus 
den Reben des Weinſtocks dringt, von noch vorhandenem Leben, ımd 
verfimden im Auge des Sünders dem Satan den Berluft feines Pro 
zefles, das Ende feines Triumphs. — D, was Alles ſpiegelt ſich in 
diefen Zahren! Wie Edelfteine ihre reinen Lichter, ftrahlen fie welche 
gründliche Zerfnirfhung vor Gott, welch' heiliges Ergrunmen wider 
die Sünde, welch' einen brünftigen Gnadendurft, und welche Fülle ins 
niger Liebe zu dem Herm aus! — ‚Sei du mir nur nicht ſchrecklich, 
meine Zuverfiht in der Noth;” — „Verwirf mich nicht von deinem 
Angeſicht;“ — „Wenn ich nur dich habe”: — das find die Klänge, 
die fein Herz durchziehen. AU fein Sehnen und Verlangen beſchränkt 
fid) auf das Eine, daß er der Huld des Herrn ſich wieder getröften 
dürfe. Ob er ein Geächteter fei vor der Welt fein Leben lang, und 
dem Zleifche nach nur Hiobs⸗ und Luzaruswege gehen müfle: er will 
ſich dem gerne unterziehen, wenn er nur wieber auf Gnade hoffen 


Betri Tränen. 335 


darf. — Seine Thränen fünden die Geburt eines neuen Petrus 
an. Der alte, vermefjene, fich felbit vertrauende und das Eigne ſu—⸗ 
chende ftarb; und ein Mann der Demuth, der findlichen Hingegeben- 
heit an Gott, und des Tauterlichen Begehrens, daß nur der Name 
des Herrn groß fei und verherrlicht werde, erhub ſich phönizartig 
aus feiner Aſche. — 

Man fagt, daß dem Petrus, fo lange er gelebt, das Auge nicht 
wieder troden geworden fe. Wenn dies mehr als eine Legende ift, 
fo war die Thräne, die man an feiner Wimper fortzittern ſah, feine 
reine Schmerzenszähre, fondern eine Thräne der Freude über 
die erfahrene Erbarmung, nur gedämpft dur eine unauslöfchliche 
Wehmuth. Die Nüderinnerung an feinen Fall verließ ihn kei 
nen Augenblid mehr, und fchärfte ihm in demfelben Maße, in wels 
hem fie ihn niedrig erhielt, den Blick feines Geiftes für das Ges 
heimniß des Kreuzes und der freien Gnade. — Mehr als ein 
Mal fehen wir fie unverkennbar namentlich in feiner erften Epiftel 
wiederfcheinen. Er tröftet Die Gläubigen mit der herzerhebenden Er⸗ 
öffnung, daß fie „aus Gottes Macht durch den Glauben bewahret 
würden zur Geligfeit.” Er fordert fie auf, „ihre Hoffnung ganz auf 
die Gnade zu ſetzen.“ — Mit großem Nachdruck mahnt er fie an 
die Hinfälligkeit und Ohnmacht der menfchlichen Natur, indem er ihnen 
Das Wort des Propheten in's Gedächtniß zurüdtuft: „Alles Fleiſch 
ift wie Gras, und alle Herrlichkeit des Menfchen wie des Grafes 
Blume. Das Gras tft verdorret, und die Blume abgefallen.” — Er 
fpriht von dem „theuern Blute Ehrifti als eines unfchuldigen 
und unbefledten Lammes“ mit einer Innigfeit, die fogleich den 
Mann verräth, der die Balfamkraft dieſes Blutes tief an fich felbft 
erfahren hat, Er ift es, aus deffen Munde das Wort der Warnung 
an uns ergeht: „Seid nüchtern und wachet; denn euer Widerfacher, 
der Teufel, gehet umher wie ein brüllender Löwe, und fuchet, wel- 
hen er verſchlinge.“ Und wenn er die Pfalmftelle citirt, in der 
e8 heißt: „Die Augen des Herrn merken auf die Gerechten; das 
Angeficht aber des Herrn ftehet auf die, fo Böfes thun,“ ift e8 da 
nicht, als deute er gefliffentlich auf jenen Blick feines Meifters bin, 
der ihn einft fo tief zermalmte, und fo allgewaltig ihn zu Boden warf? 


Ich fchließe. — Wer, Freunde, ift unter uns, der dem gefallenen 
Petrus gegenüber fich erfühnen möchte, wie weiland der Pharifäer zu 


886 Das Heilige, 


fprehen: „Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie Diefer da”? 
— D, wie viel Berleugnungsfähuld, grobe ımd feine, ruht auch 
auf uns! Wie reiche Urfache haben auch wir, vor dem Worte: „Wer 
mich verleugnet vor den Menfchen, den will auch Ich verleugnen vor 
meinem himmlifchen Vater“, ernftlichft zu erfchreden! — Hüllen denn 
auch wir unfer Haupt in den Mantel, und gehen mit Simon hinaus, 
und weinen bitterlich, damit, wie ihm, auch uns ein Oftern der Gnade 
tagen könne, und auch auf uns der apoftolifche Zuruf 1 Eor. 6, 11 eine 
Anwendbarkeit erlange: „Solche find Etliche unter euch gewefen; 
aber ihr feid abgewafchen, ihr feid geheiliget, ihr feid gerecht gewor⸗ 
den durch den Namen des Herm Jeſu, und durd den Geift ımfers 
Gottes!” — Ja kommt, und flimmen wir mit voller Aufrichtigkeit des 
Sinnes ein in des Sängers Wort: 


Hat Petrus dreimal Did aus Furchtſamleit 

Berleugnet, und damit Dein Herz durchſtochen: 

Ach, wie viel öfter hab’ ich Treu gebrochen, 

Doc ed ift mir, o Herr, wie Betro, leid. 

Und darum haft Du den treulofen Knecht 

Beitändig noch zu lieben fortgefahren. 

AA! bring mich auch, wenn ich verirrt, zurecht. 

Laß Deinen Geift dies ſchwache Rohr bewahren. — Amen. 


— 0 0 0ů— 


XXVIII. 
Weiſſage uns, Chriſte! 





So find wir denn wieder vereinigt, Geliebte, um uns in finniger 
Betrachtung auf den Opferplägen unfres Mittler zu ergehn. Sei 
denn auch diefe Stunde und eine gefegnete und geweihtel Ich beginne 
damit, daß ich euch an ein wohlbefanntes einfältiges Verslein mahne, 
Es Tautet: 

„Können Jalobs Söhne zwingen 
Joſephs gar fo harten Sinn, 
Wenn fie vor fein Antlik bringen 
Ihren jüngften Benjamin; 


Weiſſage uns, Ehriftel 337 


Wie ſollt' ih Dein Angeſicht, 
O mein Gott, erweichen nicht, 
Wenn ich auf zu Dir mich ſchwinge, 
Und Dir meinen Jeſum bringe?!⸗ 


Unſcheinbar fteht fi) dieſes Verslein an; doch iſt's Tieblich und 
voller Tiefe. Ja, mit unferm Jeſus richten wir Alles aus bei Gott. 
Iſt Er unfer, fo raufchen uns Gottes Erbarmungen entgegen wie ein 
Strom. Bellagenswerth aber ift ed, daß unter den Ehriften nur fo 
wenige recht gründlich wifen, was fie an ihrem Zefus haben. Eins 
ſonderlich beherzigen fie nicht genug: die Wahrheit, daß Gott ung 
feine Huld und Liebe zuerfennt in Gemäßheit deffen, was Jeſus für 
uns that und vor ihm gilt, und nicht nach Maßgabe der Gefins 
nungen, die wir zu Jeſu hegen. Die Gefinnungen des Glaubens 
und der Liebe find uns freilich unentbehrlich als das Band, das uns 
mit Jeſus eint; nimmermehr aber werden fie zu einem Theil der Ur⸗ 
ſache, um derer willen Gott fein Herz und ſchenkt und die Seligkeit 
uns zumißt. Die alleinige, ausfchlieglich Gott beftimmende, aber auch 
überfchwänglich ausreichende Urſache unfrer Annahme an Kindes Statt 
bleibt Chriftus. Wie fteht gefchrieben Ephef. 1, 6% Der Apoftel 
fagt: „Gott hat uns Ihm (d. i. Seinen Augen) angenehm ges 
macht.” Wie aber that dies Gott? Machte er uns Sich angenehm 
in uns felbft? Nein, fagt der Apoftel, „in dem Geliebten“ 
hat Er's gethan. Wie dies gefchehn, zeigt und die Paffionsgefchichte, 
die denn auch in dem Auftritte, den fie heute vor ums enthüllt, jenes 
wunderbare Gotteswerf uns auf’8 neue zur Anſchauung bringen wird, 


Matthãäus 26, 67. 68. Marcus 14, 65. 

Die Männer aber, bie Jeſum bielten, verfpotteten ihn und ſchlugen ihn, und fin- 
gen an etliche, ihn zu verfpeien in fein Angeficht und zu verbeden fein Angefiht, und 
mit Fäuften zu ſchlagen und zu ihm zu fagen: Weiffage uns, Ehrifte, wer ift ed, ber 
dich ſchlug? Und viele andre Läfterungen fagten fie wider ihn. Und bie Knechte 
gaben ihm Badenftreiche. 


Wir kommen heute zu einer Scene, meine Brüder, die an Schauern 
und Schreien in der ganzen Paffionsgefchichte kaum ihres Gleichen 
hat. Man weiß auf den erften Anblick nicht, was man zu ſolchem 
Auftritt fagen fol, Man erſchrickt, fährt beftürzt zufammen, zittert, 
möchte wegfehen von folhem Vorgang, und, das Haupt verhüllend, 

22 


388 Das Heilige. 
mit einem: „O mein Gott, wer erträgt dieſe Dinge?“ im Fluge von 
Dannen flürzen. Aber enteilen wir nicht, jondern bulten wir aus, und 
beleuchten die Anfangs fo unbegreiflich erfcheinende Gefchichte mit der 
Fackel des feſten prophetiichen Bortes, fo wird das ſcheinbar undurch⸗ 
dringliche Dunkel ſich ſchon lichten, und das unheimliche Räthfel in 
überrafchend tröftlicher Weile feine Löjung finden. Wir richten unfer 
Augenmerk heute vorzugsweije auf Die an Jeſum geitellte Frage: 
„Beiffage, Ehrifte, wer iſt es, der Dich ſchlug?“ und fchauen 
an die Schreden, welde dieje Zrage begleiten, und die bedeutungs⸗ 
volle Antwort, die auf fie erfolgt. 

Möge unter den erichütternden Bildern unirer heutigen Betrachtung 
wie unfer Abfcheu gegen die Sünde, fo unfre Liebe zu dem, der und 
von ihr erlöfte, einen weſentlichen Zuwachs erfuhren! 


1. 

Das Urtheil ift über Jeſum gefällt. Es Tautet auf nichts Gerin⸗ 
geres, ald auf Tod. Die richterliche Berfammlung bat ſich nach ihrer 
erften Sigung, Die noch bei der Racht begamı, für eine kurze Weile 
mit wilder Siegesfreude vertagt. Unterdefien ift der göttliche Dulder 
der Willfür der Schergen und Lanzenfnechte preisgegeben, Die dem 
ein gräßlich Spiel mit ihm treiben, und dies um fo ungefcheuter, du 
es mit Zuſtimmung und auf Rechnung ihrer hohen Gebieter geichieht, 
und fie fi bewußt find, daß fie Diefen damit nur gefallen werden. 
Er befindet fih nun einmal in ihrer Macht, und jebt foll er Alles, 
Alles büßen. Aber was büßen doch? Was that er ihnen je zu Lei- 
de? O, beim allerbeiten, treuften Willen viel! Hatte er ihnen doch 
in feiner heiligen ‘Berfönlichkeit einen Spiegel vorgehalten, aus wel- 
chem ihnen das ſchwarze Bild ihrer eignen Gottlofigkeit grell entgegen: 
trat; — und ſolche Begegnung war ihnen unbequem! — War ihnen 
durch fein leuchtendes Exempel doch der thatfächliche Beweis geführt, 
daß fie auf verfehrtem Wege fid) befinden; — und Ueberführung 
ſolcher Art jchneidet in's Herz. — Hatte er ihnen doch durch feine 
Aufforderung an fie: „Laffet euch verföhnen mit Gott!” unzweideutig 
por die Stimm gefagt, daß fie bisher in Gottentfremdung dahingelebt; 
— und folde Eröffnung beleidigt und fchafft Pein, zumal wenn das 
eigne Gewiſſen in die Beichuldigung mit einftimmt. — Nannte er 
isnen Doch wiederholt eine „neue Geburt“ als die unerläßliche Be⸗ 
Dingung, an welche für fle die Aufnahme in’s Himmelreich gefnüpft 
fei; und was ward ihnen hiedurch bezeugt, als daß fie in ihrem ges 


Weiſſage uns, Chriſte! 839 


genwärtigen Zuftande verderbt umd verloren fein? Wer aber hört 
dergleichen gern! — So hatte fi} denn auch in ihnen nach und nach 
ein ganzer Sud von Grimm und Xerger angefammelt. Ein entjeß- 
licher Umftand, der aber nur für Jeſum zeugt. Glaubt’s, auch Die 
Widerſacher des Herrn und feines Worts unter uns find größtentheils 
wie ein angefchoffeneds, und vor dem Jager flüchtiges Wild. Sie 
fühlen, daß diefer Jeſus ihnen an ihren falfchen Frieden will, ihr 
fleifchliches Gefuch verdammt, und ihre Göken zum Opfer fordest; 
und darum find fie Ihm gram und abhold bis zur Läſterung. Mit 
Freuden begrüßen fie jeden Verfuch, der darauf abzielt, Jefum zu einem 
bloßen menfchlihen Rabbi zu emiedrigen; denn ihr ganzes Dichten 
ift nur darauf gerichtet, feiner als eines Mannes, dem fie verpflichtet 
feien, mit guter Manier ſich zu entfchlagen, Faſt immer läßt fich, wo 
Ehriftusfeindfchaft fich zeigt, diefelbe auf jene trüben Motive zurüde- 
führen. Das Ehriftenthum ftört in Wespenneftern, reißt von geheis 
men Schäden die Hüllen und Pflafter weg, und wedt die durch aller 
lei Zaubertränfe eingefchläferten Gewiffen; und daher der Haß und 
Unmuth wider daſſelbe! 

Ehe wir der Schredensfcene in hohenpriefterlihen Palaft uns naͤ⸗ 
bern, vergegenwärtigt euch noch einmal, wen wir in dem fchauerfich 
Gemißhandelten unfres heutigen Auftritt vor uns haben. Eine uns 
erhörte Gefchichte, der wir nahen! Ein Borgang, welcher vor Entfeßen 
die Felfen koͤnnte zerfpringen machen! Als in dem lebten Jahrzehnt 
des vorigen Jahrhunderts jene ruchlofen Buben dem unglüdlichen Kö- 
nige von Frankreich unter gellendem KHohngelächter die rothe Rebellen 
fappe auf's Haupt drücken, und damı mit feiner Herrfcherwürde ein 
teuflifches Gefpätte trieben, ging ein Schrei der Entrüftung und des 
Entjegens durch die Welt, und wen nur ein Funke noch von Pietät 
und NRechtögefühl im Herzen glomm, der wandte mit einem: „Dies 
einem gefalbten Haupte!“ empört von ſolchem Schredensfchaufpiel ſich 
hinweg. Was war aber jene, und was find alle Begebenheiten ähn- 
licher Art, von denen die Weltgefchichte Kunde gibt, gegen den Auf—⸗ 
tritt, deffen wir heute Zeugen find? Wäre der Mann, auf den unfre 
Blicke fid) richten, gleichfalls nur ein irdifcher Würdenträger: Fürft, 
Priefter, oder was der Art fonft, auch dann fchon würde uns der 
entfegliche Gegenfag feines grauenvollen Geſchicks zu feiner erhabes 
nen Stellung in unausfprechliche Beftürzung verfeßen. „Das geht zu 
weit] * — würden wir rufen; „haltet ein! So verführt man nicht mit 

22* 


844 Das Heilige. 


fpöttifch Ihm zugerufen: „Weiffage, wenn du noch lebſt, und hörft und 
fiehft; wer ſchlug dich?“ Ich könnte euch aber davon erzählen, wie Er 
Solchen wenigftens theilweife fchon geweiffagt hat. Den Einen hat Er 
Befcheid gethan, indem Er fie in's Armenhaus verwiefen, Andern, in 
dem Er ihren Namen vor der Belt gebrandmarlt hat; Andern, indem 
Er fie mit Wahnſinn flug; wieder Andern, indem Er fie endlich 
ganz in ihren Sündenweg dahingab, und es zuließ, daß fie fittlich 
auf's äußerſte verfamen; und noch Andern, indem Er die Bernveiflung 
zu ihren Sterbelagern entfandte, und den Umſtehenden das furdhtbare 
Scaufpiel zufehends zur Hölle fahrender Verworfener vor die Blicke 
rüdte. D wie Diele auch von denen, die wir beute noch unter un 
fprechen hören: „Wer ift der Jeſus, dag wir vor Ihm uns fürchten, 
oder gar vor ihm uns beugen follten?* werden einft, wenn er ihnen auf 
ihr hoͤhniſches „Weiffage, Ehrifte, wer hat dich geſchlagen?“ Beſcheid 
hun wird, mit jenen Gerichteten Offenb. 6 zu den Bergen fprechen: 
„Ballet auf uns!" umd zu den Hügeln: „Bedecket uns vor dem An⸗ 
gefichte deß, der auf dem Stuhle fikt, und vor dem Zorn des Lam⸗ 
mes!" Ach, irre fich Keiner, als laſſe der Richter aller Welt fi) ſpot⸗ 
ten! Küſſet lieber den Sohn, auf daß er nicht züme, und ihr um⸗ 
fommt auf dem Wege; denn fein Zom wird bald entbrennen! 

„Beiffage, Ehrifte, wer iſt es, der dich fhlug?* Die 
Spötter dort erhielten auf dieſe Frage Feine Antwort. Jeſus 
ſchwieg. Hätte ein unter feinem Schuldgefühl damieder gebeuater 
Sünder weinend die Frage mitgeftammelt, der Herr würde ihn zu fei- 
nem Zrofte nicht ohne Befcheid gelaffen haben, Mit Heuchlern aber, 
mit Bedürfnißlofen, mit Solchen, die unzerbrochnen Herzens find, Täßt 
er ſich nicht ein. Nur die Heilsbegierigen finden der Wahrheit Spur, 
und erfahren’8 gründlich, wer Jeſum gefchlagen hat. 

„Weiffage, Ehrifte, wer ift es, der Dich ſchlug?“ Wie jene 
läfternd es fprachen, fo fprih Du es mit betendem Ernfte Eine 
wichtigere Frage, als Diefe, kannft du nicht thun. Höre denn nicht 
auf, mit ihr vor den Herm zu treten, bis du den begehrten Aufichluß 
empfangen haft. Anfänglich wird diefer Auffchluß Dich erfchreden. „Nicht 
Diefe hier,“ wird es lauten, „nein, du machteft mir Arbeit mit dei⸗ 
nen Sünden, und Mühe mit deinen Uebertretungen! Um deiner 
Miffethaten willen bin ich verwundet, um deiner Sünden willen zer: 
Ihlagen.” Und wenn Er dir felbft dies weiffagt durch feinen Geift, 
wie leuchtet e8 Dir dann ein, wie finfft du vor Ihm zufammen, wie 


Veiſſage und, Chriſte 346 


vergeht dir die Luſt, ferner auf Kaiphas, Hannas und die Lanzenknechte 
zu ſchelten, wie lebendig durchdringt dich die Ueberzeugung, daß jene 
dich nur vertraten, und deine Sünden offen zur Schau ſtellten, und 
wie ſenkſt du gebeugt dein Haupt, wie lernft du an deine Bruft ſchla⸗ 
gen mit dem Zöllner, wie für deine Seele zittern, und wie angelegents 
lich nad Erlöfung und Vermittlung fragen! 

Wiſſe aber, daß du auf dein „Weiffage, Ehrifte, wer ſchlug 
Dich?” in dem „Du haft mir Arbeit gemacht”, nur erft die halbe 
Antwort auf jene Frage empfangen haft. Frage weiter; und fiehel 
nicht lange wird e8 währen, fo fchwebt, nicht wie rollender Donner 
mehr, fondern wie fanftes Saufen auf den Flügeln der Huld die Bots 
haft zu Dir nieder: „Mich fchlug die Hand, die Dich zerfchellen mußte; 
mich traf der Fluch, der Dir befchieden war. Ich trank den Zornes⸗ 
feld, den deine Sünde dir gefüllt, Ich trank ihn, auf daß er fi für 
Dich mit ewiger Gnade fülle!” Und wenn Solches dein Inneres 
durchtönt, zweifle nicht, ob's wirflih Seine Nede fei. So wahr der 
Herr lebt, es ift Seine eigne Eröffnung! Und wollteft du es 
noch nicht glauben, fo treten ehrwürdige, heilige Männer zu dir bin, 
Männer, längft verflärt und mit weißen Kleidern angethban, und reis 
hen dir die Hand, freundlich fprechend: „Ia, Gott machte Den, der 
von feiner Sünde wußte, für dich zur Sünde.“ „Ehriftus erlöfete 
uns vom Fluche, da er ward ein Fluch für uns.” Und ehe du dichs 
verfiehft, fteht der große König felbft vor dir, und ſpricht, dich gris 
Bend mit dem Friedensgruße: „Sa, ich bezahlte, das ich nicht geraubet 
hatte.” So weißt du dann, wer Ehriftum gefchlagen habe, Es ſchlug 
ihn ein Andrer nod, als die Rotte, und in ihr Du und ich und uns 
fre Sünden, Erhellt es nicht ſchon aus allen Zügen der Paſſions⸗ 
aefchichte felbft, daß dem alſo fei? Fällt es euch nicht auf, daß Jeſus 
unter den fehweren Unbilden, die er erleidet, fo ftille und hingebend 
fih verhält? Erfcheint e8 euch nicht wunderfam, daß jene Beiniger 
folche Frevel ungeftraft verüben dürfen? Befremdet's euch nicht im 
höchften Grade, daß fein Blik aus den Wolfen niederzudt, diefe Rotte 
zu zerfchmettern, fondern vielmehr der Heilige in der Höhe ein Schwei⸗ 
gen beobachtet, als gefchähe nichts, das nicht ganz in der Ordnung 
wäre? Die Rotte Korah und Abiram taftete empörerifch nur die Prie⸗ 
fterwürde Aarons an, und alfobald riß Gott den Erdboden unter 
ihnen auf, und bei lebendigem Leibe verfchlang fie der Schlund der 
Hölle. Uſa machte fi nur einer unfcheinbaren Ehrerbietungslofigfeit 


346 Das Heilige. 


gegen die Bundeslade fchuldig, md fofort ergrimmte des Herrn Zorn 
wider ihn, und ſchlug ihn, Daß er entjeelt zu Boden fanl. Wie viel 
mehr aber ift bier, als die Bundeslade, und der Priefter Aaron! 
Hier treten fie den Augapfel des Allmächtigen in den Koth; und Der 
Richter der Lebendigen und der Zodten ſchweigt, als gefchähe nur, 
was recht fei. Sagt, dünkt euch dies Alles nicht erſtaunenswürdig? 
Erregt es nicht in euch Die bangften, oder doch die großartigften Ver⸗ 
muthungen? Gebt diefen Bermuthungen nur immer Raum; fie find 
in der That nicht ımgegründet. Gott felbft, wenn ihr's recht vers 
ftehen wollt, fchlägt den verfpienen Mann, auf dem die Strafe liegt, 
und was demfelben widerführt, find die Streiche jenes Schwertes, zu 
welchem Jehova ſprach: „Mache dich auf über meinen Hirten, und den 
Mann, der mir der nädhite iſt!“ Ihn treffen fie, damit uns Sündern 
ewige Schonung werden könne. Seht, Freunde, dies ift des dunkeln 
Räthſels Löfung, und die volle Antwort auf die Frage: „Wer fchlug 
dich, Chriſte?“ Sobald die Sonne der Stellvertretung in’d Dun⸗ 
kel der Baffionsgefchichte hineinfcheint, verflärt fich Alles, und die tiefs 
ſten Geheimniſſe find entfiegelt! — 

Machen wir denn immerhin die Frage jener verruchten Rotte auch 
zu der unſern; nur daß wir betend und in heiligem Ernſte 
ſprechen, was jene läſternd und in wüſtem Hohne. Nur im Lichte 
Seines Geiſtes gelingt uns eine Heil bringende Entzifferung der 
blutigen Hieroglyphe Seiner Marter. Hören wir darum nicht auf in 
Einfalt zu ſtammeln: 


Meiffage, Chriſte, wer Dich flug? — 

Meiffage, daß ich's tief empfinde, 

Mas Du erduldet, fei mein Fluch; 

Was Dich getödtet, meine Sünde! — 

Meiflage, dis in Scham verhülit, 

Ih mid) in Petrusthränen bade, 

Und nichts mein armes Herz mehr ſtillt, 

Als, Herr, Dein Bint und Deine Gnade! — Amen. 


— — 


Chriſtus ver dem Spuebrinm. 247 


XXIX. 
Chriſtus vor dem Synedrium. 





„Wer ſaget denn ihr, daß ich ſei?“ So der Herr Matth. 16, 15 
zu feinen Zwoͤlfen. Nie hat ein Weiſer dieſer Erde fo feine Schüler 
zu fragen fich vermeflen. Hätte Einer ſich's getraut, er würde denfelben 
als ein Narr erfehienen fein. Es ziemte den menschlichen Philofophen, 
am diejenigen, welche fie hörten, nur die Frage zu richten, ob ihre 
Lehre ihnen eingeleuchtet habe, Ihre Berfon that zur Sache nichts, 
fondern ging in ihrer vorgetragenen Weisheit auf. In unerhörtem 
Mißverftande des ganzen Chriſtenthums hat man num aber auch Jeſum 
jenen zur Seite ftellen, und ebenfalls, weil fich's ja nur um die Wahrs 
heit feiner Zehre handle, feine Berfon vergleihgültigen wollen, 
Aber man hat nicht bedacht, daß Chriſti Lehre durchweg nur Lehre von 
feiner Berfon if. Er ſelbſt mit feiner Erlöfungsthat ift nicht der 
Gewährsmann blos, ſondern der Inhalt und Kern des Ehriftens 
thums. Das Ehriftenthum ift feine Doktrin, fondern die welthiftos 
rifhe Thatfache der durch Vermittlung des Sohnes Gottes zu Stand 
und Weſen gebrachten Entfündigung der Menfchheit; und wo es aud) 
Lehre ift, iſts nur Botſchaft von diefer großen Begebenheit, und 
Anweifung, wie man des Segens Derfelben theilhaftig werde. 

Die erjte Bedingung darum, an welche der Eintritt in Die Gemein⸗ 
ſchaft der Ehriften gefnüpft iſt, ift die, daß man inne werde, wer 
Ehriftus fe, — Aller Fragen des evangelifchen Katechismus erfte 
tönt dort von der Lippe des Herrn felbft und an: „Wer faget ihr, 
Daß ich ſei?“ Bei einem Menfchen, der auf fie die Antwort noch 
nicht fand, kann von Ehriftenthum überhaupt noch nicht die Rede fein, 
Die ganze chriftliche Frömmigkeit ift nicht Beitreben, den Sittenge⸗ 
boten eines Rabbi von Nazareth nachzuleben, fondern gläubige Hin- 
gebung an den perfönlihen Chriftus als an den Sohn des 
lebendigen Gottes und den einigen Mittler zwifchen Gott und 
den Menfchen. — 

Sede Gelegenheit, in der Erkenntniß Jeſu Ehrifti zu wachen, 
muß uns mithin überaus willlommen fein, Eine folche wird uns auch 


348 Des Hellige. 


heute wieder geboten. Gereiche fie ums zur Stärkung mb Beleki- 
gung unfres Glaubens! — 


Matthãus 27, 1. 2. Sucas 22, 67—71. 23, 1. 

Und ald es Tag ward, fammelten ſich die Aelteſten des Bells, die GHebenpeiche 
und Schriftgelehrten, und führeten ihn hinaus vor ihren Rath, umb beriefben übe 
ihn, daß fie ihm tödteten. Und ſprachen: Biſt du Chriſtus? Sage ed ums. Er ſycch 
aber zn ihnen: Sage ich's eu, fo glanbet ihr's nicht; frage ih aber, fo antmerkt 
ihr wicht, und laſſet mich aud nicht 108. Bon nun an wird des M Ep 
zur rechten Sand der Kraft Gottes. Da ſprachen fie alle: So biſt Du denn Get 
Sohn? Gr fprad zu ihnen: Ihr ſagt's, denn ih bin’. Sie aber fpradken: Bei 
bedürfen wir weiter Zeuguiß? Wir haben es ſelbſt gehört aus feinem Runde. Un 
ihr ganzer Haufe land auf, und banden ihn, führeten ihn bin, und überamtwerteien 
ihn dem Landpfleger Bontind Pilatus, 


Zum andern Male foll die Welt vernehmen, weldye Erklärungen 
Ehriftus felbit über die Würde feiner Perfon auch gerichtlich, ja, 
wie wir zu fagen pflegen, „zu den Akten” abgegeben hat. De 
Prozeß, deſſen wir im hohenpriefterlihen PBalafte Zeugen waren, er 
neuert fich jet in förmlicherer und folennerer WBeife. — Ruhe dem . 
unfer betrachtender Blick auch diesmal vor Allen auf dem Herrn, 
und fehen wir, wie Er feine Richter zeichnet und befhämt; 
fodann, wie Er Das Bekenntniß feiner Gottesfohnfhaft er; 
neuert; und endlich, wie Er den Armenfündergang zum heid— 
nifhen Gerichtshof antritt. 

Ihr ahnt bereits, wie es auch unferm heutigen Gefchichtsahfchnitte 
an großer Bedeutung und reihem Zrofte nicht gebricht. Möge es 
und gegeben werden, im Wege unfrer Betrachtung alle feine göttfichen 
Schäße zu heben! — 

1. 

Die Morgendämmerung graut nach fchauerlicher Nacht herauf, und 
verkündet den Anbruch des größten und verhängnigvolliten aller Er 
dDentage. Der heilige Freitag iſt's, Der furdhtbarfte Verkläger der 
fündigen Welt; aber zugleich der Geburtstag ihres Heils, der Wiegens 
tag ihrer ewigen Erlöfung. Es ift der Tag, der, ſchon in demjenigen 
der Ausführung des Bundesvolfes aus Aegypten vorgebildet, feit 
länger als einem Jahrtaufende alljährlich in dem „großen Berföhs 
nungstage” den Gläubigen Iſraels ſich angefündigt hatte, und der 
der Hauptgegenfland ihrer gemeinfamen Hoffnung und Sehnfucht war, 


Criſtus vor dem Spuebrium. 349 


Alle Sonnenblide der Gnade, die je und je fle angefchtenen, waren 
nur vorlaufende Ausftrahlungen diefes damals noch im Schooße einer 
fernen Zukunft fhlummernden Zages; und wo irgend Gott einem 
Sünder in Huld begegnete, gefchah es lediglich auf Grund der blus 
tigen Bermittlung, die an dieſem Freitage thatſächlich zu Stand 
und Wefen fam. 

Zroß der hohen Morgenfrübe find die Rathöglieder zu Jeruſalem 
fhon auf und in voller Thätigfeit. Sie bereiten ein zweites Verhoͤr 
mit Jeſus vor, „auf daß fie ihn zum Tode brächten.“ — Aber has 
ben fie nicht feine Schuld fchon feftgeftellt, und das Urtheil über 
ihn geſprochen? — Freilich haben fies. Aber fie finden Dabei noch 
feine Ruhe, fondern wären gerne noch anderer und entjcheidenderer 
Beweismittel gegen ihren Verklagten fich bewußt, als derjenigen, auf 
welche fie ihr Urtheil gründeten. Unverkennbar hat Die ganze Haltung 
des Herrn während des eriten Verhörs, und namentlich fein großes, 
mit fo majeftätifcher Beftimmtheit und Zuverficht ausgefprochenes Bes 
fenntniß mächtige Eindrüde in ihnen zurüdgelafien,; und was etwa 
von Gewiffen noch in ihnen übrig war, vom Schlummer geweckt, 
und wider fie aufgeftachelt. Das unftäte Weſen, das wir an ihnen 
gewahren, fowie die Hoffnung, Die fie verrathen, im Wege erneuers 
ter Berhandlungen zu neuen und erheblicheren Redhtfertigungss 
gründen für ihr mörderifches Vorhaben zu gelangen, feßt dies außer 
Zweifel. — 

Sie treten jet, und zwar in ihrem amtlichen Sigungsfanle, der in 
einem der Tempelgebäude fich befand, zu einer ordentlichen Plenars 
verfammlung zufanmen, während ihr erfter Zufammentritt in der 
Wohnung des Hohenpriefters, abgefehen davon, daß einzelne Räthe 
bei derfelben fehlten, mehr den Charakter des Zufälligen und Tus 
multwarifchen an fih trug. — Der „hohe Rath“, oder das „Sys 
nedrium“” war, wie ihr wißt, der aus 71 Gliedern, den Oberpries 
ftern, Aelteften und Schriftgelehrten, zufammengefeßte, und von dem 
Hohbenpriefter, als feinem Präfldenten, dirigirte oberfte Gerichts 
hof der fpätern Juden, welcher, dem Collegium der 70 NRäthe, das 
Mofes auf dem Zuge durdy die Wüfte fich beigefellte, nachgebüldet, 
in allen national jüdifchen, und namentlich in den dem Gebiete 
des Kirchlichen beigehörigen Angelegenheiten richterlich zu erkennen 
und Urtheil zu fprechen hatte. Chriftus betrachtete nad) Matth. 23, 2 
diefe Gerichtöftelle als eine göttlich fanctionirte, und unterzog ſich 


350 Ä Das Heilige. 


ohne Widerfpruch, „der Obrigkeit untertban,* ihrem Borlabungs 
befehle. Später ftanden vor den Schranken diefes Hofes auch Petrus, 
als „vorgeblicher Bunderthäter“, dann wiederum er gemeinfchaftlich mit 
Sohannes, als „Volksverführer”, ferner Stephanus, als „Gottes: 
fäfterer*, und Paulus, als „falfcher Prophet” angeflagt. Seit der 
Einnahme des Landes dur die Römer ging diefer Gerichtshof des 
Rechts, gefällte Zodesurtheile auch in eigner Vollmacht zu voll: 
ziehen, verluftig, und bedurfte hiezu fortan, wie aus Joh. 18, 31 
erhellt, der Genehmigung des kaiſerlichen Procurators. Daß bie 
Steinigung des Stephanus ohne eine foldhe vor fih ging, war 
wol eine Befugniß⸗Ueberſchreitung der Juden, für welche fie allen 
falls eine Entfchuldigung in dem Umftande finden Eonnten, Daß der 
Zandpfleger, der gewöhnlich in Cäſarea am Meere refidirte, Damals 
von Jeruſalem abwefend war. 

Bor diefem Gerichtshof fehen wir num den Herm zum zweiten Male 
erfcheinen. Unter bewaffneter Bedeckung wird er den Tempelberg hits 
angeführte. Zum legten Male wandert er diefe Straße. Er zieht 
fie, — bedeutfames Zufammentreffen! — zugleich mit den Paſſa⸗ 
lämmern, die an demfelben Tage dein Priefter zur Schladhtung vors 
geführt wurden. Welche Empfindungen mögen auf diefem Gange Ihn 
begleitet haben! Gewiß fchwebte Ihm der vorbildliche Moria’sgang 
des Vaters Abraham vor der Seele, der jebt fo augenfällig in dem 
feinigen feine Erfüllung fand. — Chriftus ift ja der gegenbüldfiche 
Iſaak, der jebt an feines himmlischen Vaters Hand auf Demfelben 
Pfade, auf dem einft fein menjchlicher Typus, von feinem irdifchen 
Vater geleitet, demfelben Ziele entgegenfchritt, zu Gottes Altare wars 
delt. — Freilich fragt Ehriftus nicht, wie der Sohn Abrahams: 
„Mein Bater, bier ift Zeuer und Holz; wo ift aber das Lamm zum 
Brandopfer?* — Er weiß, was für ein Lamm ſich Gott erfehen bat, 
und beugt ſich williglih dem erhabenen Rathſchluß. Auch ift er fi 
bewußt, daß es mit Ihm nicht blos zu emem Willengopfer kom 
men, und, nachdem Er den Altar beftiegen, ein Engel vom Himmel 
rufen werde: „Lege deine Hand nicht an den Knaben;“ fondern daß 
Er fein Bild, wie in Iſaak, fo zugleih in dem „Widder“ zu er⸗ 
fennen habe, der fih mit den Hömern in den „Dornen“ verwideln 
mußte, und melden Abraham auf Jehovas Wink hinnahm, um ihn 
an feines Sohns Statt zu fchlachten. 

Die Sigung des Synedriums ift eröffnet, Der Angelingte fteht 


Chriſtus vor dem Synedrium 351 


vor den Schranken. Da ergeht denn an Ihn aufs neue die richters 
liche Zrage: „Bift du Ehriftus? Sage es uns!“ — Als hätte 
er es nicht ſchon deutlich genug gefagt, daß er es ſei! Aber es ifl, 
als ob fie noch Bedenken trügen, Ihn deßhalb ohne Weiteres als 
einen Lügner und Gottesläfterer dem Zode zu überanhworten; ja, ale 
fuchten fie unwillfürlich die Sache in die Länge zu ziehen, weil ein lets 
fer Nachhall der übertäubten Gewifjensftimme ihnen fagte, nicht zwar, 
dag Er der wirklich fei, für den Er fi ausgegeben, aber doch, daß 
Er der möglicher Weife wohl fein könnte. Der Herr nimmt das 
Wort; und nun gebt Acht, wie das Blatt fi) wenden wird, und der 
Berklagte zum Richter, die Richtenden hingegen zu Delinquenten 
werden. „Sage ich's euch,” ſpricht Er, „To glaubt ihr's nicht; 
frage ih aber, (d. i., fchide ich mich an, disputirend, und durch 
Beweife euch überführend mich mit euch einzulafen,) fo antwortet 
ihr mir nicht, und laffet mich auch nicht Los.“ 

D, wie Biele werden audy heute noch durch dieſes Wort gefchlagen ! 
Nicht gänzlich religiös gleichgültige Leute find es, Die ich im Auge habe, 
Auch fie fragen, wer Ehriftus fei, und es ift, als ob fie nicht Ruhe 
fänden, bis fie es in Erfahrung gebracht. Aber obwohl, wer Er fet, 
ihnen bald fo, bald in einer andern Form eröffnet wird, glauben fte 
doch nicht. Die Kirche ſagt's ihnen in dem zweiten Artikel des apoftos 
liſchen Bekenntniſſes; aber „Die Kirche”, fprechen ſie, „Tann irren; was 
fagen die Zeitgenoffen Jeſu?“ — Die Apoftel rufen um die 
Wette: „Er ift das Wort, das von Anfang bei Gott, und felbft Gott 
war, der Abglanz der Herrlichkeit Gottes, der Sohn, in wels 
hem die Fülle der Gottheit feibhaftig wohnte;” aber num 
beißt es unter Adhfelzuden: „Liebe tft blind, und Begeifterung 
fieht Geſichte!“ — Nur, was Yefus felbft von ſich bezeugte, wol 
ten fie gelten laſſen. — Und Zefus fchreitet vor, und fündet fidh 
ihnen an, nicht allein als das „„Xicht der Welt”, als „die Wahr⸗ 
heit” und „Das Xeben”, fondern als einen Größeren, denn die 
ſes Alles: al8 den, der „mit Dem Bater eins”, der „eher, denn 
Abraham war”, und dem „alle Gewalt im Himmel und auf Ex; 
den gegeben’ ſei. — Glauben fie jept? — Sie ſtutzen; aber ehe 
man fich's verfieht, biegen fte mit allerlei Fragen, 3. B. ob die Bes 
richterftatter Jeſum aud richtig verftanden hätten, ob feine Aus⸗ 
fprüche im buchftäblichen Sinne aufzufaflen feien, ob es überhaupt 
im Bereiche der Möglüchkeiten Tiege, daß Gott Menſch werde u. ſ. w. 


353 Dar Heilige 


wieder aus. — Und wie ſich nun der Herr Beweis führend zu den 
Zweiflern berabläßt, und, durch ummittelbare Einwtrfung auf ihre Ge 
Danfenwelt, oder durch einen feiner menfchlichen Dolmetfher und Aus 
walte fie zu fragen anhebt, wer Er denn fein könne, wenn Der nicht, 
für den Er fich ausgegeben, nachdem eine zweitaufendjährige Weiſſagung 
bis auf's Zota in Ihm ihre Erfüllung erreicht, feine Auferweckung von 
den Zodten felbft in dem Zeugniffe feiner Feinde ihre Beſtätigung 
gefunden, die Jüngerfchaar, die Ihn von Angeficht gefehen, mit Freu⸗ 
den Blut und Leben für Ihn in die Schanze gefchlagen, der heilige 
Geift Seiner Verheißung gemäß mit feiner wiedergebärenden Macht 
wirklich die Erde begrüßt, der Kern des Menfchengefchlechts durch 
“achtzehn Jahrhunderte hindurch Ihm huldigend die Ehre gegeben habe, 
und lauter, al8 irgend ein Wort und eine vereinzelte That das 
lebendige Denkmal Seiner Kirche für Ihn zeuge: da ftehen fie zwar 
betroffen, und fehen ſich am Ende ihrer Entgegnungen angelangt; aber 
glauben darum Doch nicht, und Lafjen den Herrn infofern auch „nicht 
108”, als fie nicht ermüden, feine übermenfchliche Hoheit anzuzweifeln, 
und aud) Andern Diefelbe zu verdächtigen. Ste wollen nicht glaus 
ben; — dies ift des Räthſels Deutung. Es graut ihnen vor dem 
Gedanken, die Idole ihrer eigenen Weisheit und Gerechtigkeit, wie 
diejenigen der Luft und Ehre dieſer Welt, um Jeſu willen an's Kreuz, 
nageln zu follen. Sie fehen zwifchen fih und dem Herrn einen Ab: 
grund offen, der ihnen nichts Geringeres, als die ganze Herrlichkeit 
und Selbitftändigfeit ihres Ich zu verfihlingen droht; und .vor dies 
fem Zode fohreden fie zurüd. Zwar haben fie noch Gewiffens zu 
viel, um fih von Ihm, wie jener Gadarener, mit einem: „Was has 
ben wir mit dir zu fhaffen, Jeſu?“ entichieden loszufagen; aber doch 
Gewiſſens zu wenig, um der auf fie eindringenden Wahrheit Raum 
zu geben. Sie lafjen lieber Die Sache auf ſich beruhn, und verfchies 
ben die Entſcheidung. 
2. 

Der Herr befennt auf’s neue. — Die ihm vorgefehte Obrigkeit 
fordert’, und Er gehorcht. Zudem liegt ihm daran, daß die Welt 
mit Beftimmtheit wiffe, wer Er fei, und wen fie gefreuzigt babe, 
Bon der Höhe des Tempelberges überblicdt er im Geifte die Men ſch⸗ 
heit und die kommenden Jahrhunderte. „Bon nun an’, beginnt 
Er, noch einmal den Schleier feiner Knechtögeftalt lüftend, und den 
Adelftern auf feiner Bruft entblößend, „wird des Menfchen Sohn 


Griſtus vor dem Syuebrinm. 353 


fißen zur rechten Hand der Kraft Gottes!" — Ein großes 
Wort; unverkennbar auf Daniels, des weitfchauenden Propheten, Aus- 
ſpruch Kap. 7, 13 binüberdeutend: „Es fam Einer in des Himmels 
Wolfen wie eines Menfchen Sohn.” Nicht- einen Augenblid konnte 
es den Prieftern und Schriftgelehrten zweifelhaft fein, daß er biemit 
fowol für den durch Die Seher Gottes verheißenen Meſſias ſich er- 
klaͤre, als göttlihe Natur und Wefenheit fi beilege, Schon 
durch den Namen: „des Menfhen Sohn”, mit dem er ſich ge 
wöhnlich zu bezeichnen pflegte, deutete er an, daß feine Menfchheit 
nur ein in außerordentlichem Wege zu feiner Perfon Hinzugelom- 
menes fei. Denn wäre er fich feiner nur als eines Menfchen be 
wußt gewefen, was hätte dann jene auffallende Benennung für einen 
Sinn gehabt? Daß er aber ein nahe bevorftehendes „Siben zur 
rehten Hand der Kraft” oder „der Majeftät Gottes” von 
fih ausfagt, ift nichts Anderes, als eine beftimmte Eröffnung, er werde 
mit feinem himmliſchen Vater den Stuhl der Ehren theilen, und in 
gleiher Machtvolllommenheit und Glorie mit Ihm die Welt regies 
ren. — Der Hoherath, mit den Redeweifen der Propheten wohl ver: 
traut, verftand auch die Worte in dDiefem Sime „So bift du 
alfo Gottes Sohn?” fehreien fie ihm wie aus einem Munde zu. 
— „Ihr faget’8”, entgegnet Er mit majeftätifcher Feſtigkeit und 
Ruhe, „denn ich bin's!“ 

Es dürfte hier an feinem Orte fein, die biblifche Begründung 
der Lehre von der Gottheit Ehrifti noch weiter und umfaflender 
nachzuweifen. — Sie verdients, weil von ihr als von feinem wefents 
lichten Grundpfeiler das ganze Ehriftenthum, fofern daffelbe nicht 
Doctrin und Gefeg, fondern Thatſache der Erlöjung ül, ge 
tragen wird, Es fällt die befagte Lehre mit derjenigen von der Prä- 
eriftenz, oder dem Vordaſein Ehrifti, in eins zufammen. Unter 
diefem VBordafein verftehen wir aber weder das Sein der Chriſtus— 
dee im Bemwußtfein und Rathſchluß Gottes; noch das Dafein des 
Ehriftus-Zdeals in der Weiffagung der Propheten, bevor es ſich 
verförperte; noch endlich gar das Vordaſein Chrifti ald einer Po⸗ 
tenz oder Möglichkeit der menſchlichen Natur, fo Daß in dem 
Herrlichen von Nazareth nur ein diefer Natur inwohnende8 Gute zu 
feiner erfhöpfenden Entfaltung gekommen wäre, und Jeſus als Die 
fittfiche Blüthe der menfchlichen Gattung angefehen werden Dürfte; 
eine Borftellung, die wir in das Gebiet träumerifcher und von aller 

23 


356 j Das Heilige. 


thun und gewähren wolle, was man in feinem Namen bitten werde; 
und Joh. 20, 28 beftegelt er das anbetende „Mein Herr und mein 
Gott“ des Thomas mit feinem: „Jetzt glaubeit du. Selig find, die 
nicht fehen, und Doch glauben!” — 

Sämmtlihe VBerfaffer der neuteftamentlihen Schriften er— 
fennen in Jeſu den Kyrios, d, i. den „Herrn, und gebrauchen 
diefe Bezeichnung als gleihbedeutend mit dem altteftamentlichen 
„Jehova“. 1 Cor. 8, 6 fagt Paulus: „Wir haben Einen Gott, 
den Vater, von welchem alle Dinge find, und Einen Herrn, Jeſum 
Ehriftum, durch welchen alle Dinge find.” — Col. 1, 15 heißt Chri⸗ 
ſtus das „Ebenbild” oder „die Sichtbarkeit” des „unfidts 
baren Gottes”; und Hebr. 1, 3: „der Abglanz Seiner Herr: 
lichkeit“, und „der Charakter (der lebensvolle Abdruck) Seines 
Weſens.“ Nichtig bemerkt ein erleuchteter Schriftausieger, es fei hier 
nicht die Nede von der Gegenftändlichfeit und Abbildung Gottes im 
dem Menfch gewordenen „Wort“, und in den menfchlich vermit- 
telten Erfcheinungen deſſelben; fondern in beiden obigen Stellen werde 
weit mehr auf Die Vermittlung der Weltfhöpfung und Welt: 
erhaltung, al8 auf die Erlöfuug hingeſehen. Und alfo ift es. 
Es handelt fid) hier mehr von dem Verhältniß des Sohnes zu Gott, 
als von feinem DVerhältniffe zu der Welt, — Phil. 2, 6 heißt es von 
Ehrifto, daß er urfprünglih „in Gottes Geftalt“, d. i. „Gott 
von Art” gewefen fei; und Vers 11: daß ihm „ein Name über 
alle Namen gegeben” fei, und daß „in Seinem Namen Aller 
Knie fi beugen” follen. — In der Offenbarung Zohannis wer⸗ 
den ihm alle Prädifate der Gottheit zuerfannt. Er ift dort das „Alpha 
und Omega”, der „Erfte und der Letzte“, der „Allmächtige”, 
der Ewige, „der da tft, der da war, md kommt“ u. ſ. w. 

Ya, die Apoftel nennen ihn gerade „Gott“. Roͤm. 9, 15 fagt 
Baulus: „Chriftus fommt her von den Vätern nach dem Fleiſch.“ 
Diefer Sag fordert einen Gegenſatz; und die apoftolifche Antithefe 
lautet: „Chriſtus ift Gott über Alles, gelobet in Ewigkeit.“ 
Alfo nad der einen Seite ift Er jenes, nad der andern dieſes. 
— Col. 2, 8 u. 9 leſen wir: „Laffet euch nicht berauben durch Phi- 
Iofophie und lofen Trug; denn in Shm wohnt die Fülle der Gott- 
heit leibhaftig,” d. i. wefentlid. — 1 Tim. 3, 16 heißt Ehri- 
ftus der „im Sleifch geoffenbarte Gott“, — Tit. 2, 13 fagt der 
Apoftel: „Wir warten auf die felige Erfcheinung der Herrlichkeit unfres 


Ghrifhus dor dem Gpnebrium. 357 


großen Gottes und Heilandes Zefu Ehriftt.” 1 Joh. 5, 21 
fteht: „Diefer (Chriftus) ift der wahr haftige Gott und das ewige 
Leben.” — Hebr. 1, 8 wird Pf. 45, 7 u.8 auf Chriftum bezogen, 
und Diefer angeredet: „Dein Stuhl, o Gott, währet von Gwigfeit 
zu Ewigkeit. Du Tiebeft Gerechtigfeit; darım hat Dich, o Gott, 
Dein Gott, gefalbt” u. f. wm. — Hebr. 7, 14 wird es zu den Prädis 
caten des Meſſias mitgezählt, daß Er „höher, denn der Himmel“ 
fei. — Alle Paulinifchen Briefe wünfchen und erflehen den Gemeinen 
Segen von Ihm als von Gott in der zweiten Perſon. Daß Chri⸗ 
ſtus mit dem Vater und dem heil. Geifte in gleicher Reihe er 
“ Scheint, bezeichnet Gleichartigkeit und Wefens-Einheit. — 
Diefe Wefens-Einheit Ehrifti mit dem Vater, d. h. feine Gotts 
heit im fubftanziellen Sinne des Wortes, fteht alfo biblifch uns 
beftreitbar feft, und fchließt natürlich die Bräeriftenz, oder das pers 
fönlihe Vordaſein des Sohnes, fehon in ſich. Es wird aber diefes 
Bordafein des „Eingebornen“, als des „Ebenbildes Gottes”, in wel 
chem Gott fich felber gegenftändlich wurde, und fich von Gott 
als feinem andern Ich unterfcheidet, auch ausdrüdlich in der 
Schrift gelehrt; und es ift auch dieſes unwiderleglich nachzumweifen. 
Schon beim Propheten Micha, Kap. 5, 2, wird von dem Mefftas 
gefagt, feine „Ausgänge fein von Anfang und Ewigkeit ber 
geweſen.“ — Der Herr felbft bezeugt Joh, 3, 13: „Niemand fährt 
gen Himmel, außer dem, der vom Himmel gelommen tft, des 
Menfhen Sohn;“ — 6, 38: „Sch bin vom Himmel gekom— 
men, nicht, daß ich meinen Willen thue,” — V. 46: „Niemand hat 
den Bater gefehen, ohne der von Gott ausgegangen tft, der fah 
ihn;“ — V. 505 „Ih bin das lebendige Brod, vom Himmel ge- 
kommen;“ — 23. 62: „Ihr werdet fehen des Menfchen Sohn auf: 
fahren dahin, da er zuvor war; — 8, 23: „Ihr feid von unten 
her, ich bin von Oben her; ihr feid von diefer Welt, ich bin 
nicht von dDiefer Welt. — Ich gebe hinweg.” Alſo örtlich 
ist fein „Sch bin von Oben her” zu verftehen, und nicht ehwa ſpi⸗ 
ritualiftifch, oder fittlih; — 3. 58: „Ehe denn Abraham 
ward, bin ich.” Die Juden wollten ihn dieſer letztern Aeußerung 
wegen fteinigen, woraus erhellt, daß fie feine Rede buchſtäblich 
nahmen. Gr aber tadelt diefe ihre Exegefe nicht, fondern beftätigt 
fie fchweigend, — Endlich bezeugt der Herr in feinem hohenpriefters 
fihen Gebete Joh. 17 zuerft, V. 5: „Verklaͤre mich, Vater, bei Dir 


358 Das Heilige. 


ſelbſt mit der Herrlichkeit, die ih bei Dir hatte, ehe Die Belt 
war;“ und V. 8: „Sie haben erkannt, daß ih von Dir ausge: 
gangen bin, und Du mid) gefandt haſt.“ — Beides kann nicht 
ein und daffelbe fein; die Schrift macht fich folcher Tautologien nicht 
fhuldig. Die erftern Worte bezeichnen den Weſensausgang vom 
Baterz die andern feine Sendung vom Himmel auf die Erde, 
Johannes der Täufer fpricht Joh. 1, 15: „Der nad) mir fomanıt, 
ift vor mir gewefen; denn er war eher denn ich.” Es hätten Diele 
Worte feinen Sinn, wenn fie ſich nicht auf das VBordafein Sen 
bei Gott bezögen, — V. 18 ſpricht er: „Niemand hat Gott je ges 
fehen; der eingebome Sohn, Der in des Vaters Schooße iſt, der 
hat es uns verkündigt; — V. 27: „Er ift vor mir geweien; er 
war eher, denn ich;“ und oh, 3, 31: „Der von Oben ber 
kommt, ift über Alle, und zeuget, was er gefehen und geböret hat.“ 
Paulus nennt Ehriftum Col. 1, 15. 16 „den Erfigebornen 
aller Kreatur“, d. i. den vor aller Kreatur Geboren, „In Ihm“, 
fährt er fort, „Dur Ihn und zu Ihm ift Alles gefchaffen. Und 
Er ift vor Allem, und es beftehet Alles in Ihm. * — Johannes 
fagt in feinem erften Briefe 4, 2: „Ein jeder Geift, der da bekennt, 
Jeſum Chriftum in's Zleifch gekommen, der ift von Gott.* — 
Hebr, 1, 2 wird geichrteben: „Durch Ehriftum hat Gott die Aeonen 
gemacht;“ — 2, 9: „Ehriftus ift eine Meine Zeit unter Die Engel 
erniedriget;" — V. 14: „Er ift des Fleifches und Blutes theilhafs 
tig geworden.“ Kap. 7 wird er auch darin dem Melchiſedek ver- 
glichen, daß Er „weder Anfang der Zage, noch Ende des Lebens 
bat." — Die Hauptbeweisftelle aber für das perfönliche Vor⸗ 
dafein Chrifti bei Gott tft in dem Eingang des vierten Evangeliums 
enthalten. Hier wird aud abgefehen von Ehrifti Menſchwer⸗ 
Dung und den Reichsverhältniſſen, in die er trat, in der Lehre 
von dem ewigen „Logos“, oder „Wort“, Gott von Gott unters 
ſchieden. Hier haben wir in gedrängtefter Kürze die vorweltliche 
Geſchichte Ehrifti vor und. Hier begegnet uns ein vorgeſchöpf— 
liches Sein eines Subjects, das ein Andrer ift als Gott, und Doch 
wieder Gott gleich, und mit Ihm eins. — Hier haben wir den 
Sohn nur als „in Beziehung ftehend zu Gott“, und noch nicht in 
Beziehung zur Welt. Der Menfhwerdung geſchieht erſt ſpäter 
als einer im Lauf der Zeiten in die Gefchichte eingetretenen Thatſache 
Erwähnung, nachdem es vor dem; „Und das Wort ward Zleifch“ 


Chriſtus vor dem Spuebrinm. 399 


in feierlicher Weife geheißen hat: „Im Anfang war das Wort, 
und das Wort war bei (oder: hingeneigt zu) Gott; und Gott 
war das Wort,“ — 

Nun, Brüder, ift es euch kund und offenbar, wer Ehriftus fei 
nach der Schrift. Wehe euch, wenn auch jetzt noch das Wort euch 
träfe: „ Sage ich's euch, fo glaubet ihr’s nicht!“ Fürwahr, 
ihr hättet faft weniger noch zur Entfchuldigung eures Widerftrebens 
vorzuwenden, ald die Richter, vor deren Schranken wir heute den Ges 
rechten ftehen fehen. Hellere Xichter beleuchteten euch feine Berfon, 
als jenen, denen nod Das Dunkel feiner Snechtögeftalt im ZBege 
ſtand. — 


3 

Der Herr hat fein großes Belennmiß wiederholt. „Ihr fagt’s*, 
ſprach er, „Ich bin es!“ Da fährt die Verſammlung theils in wirk⸗ 
licher, theils in erheuchelter Entrüſtung und Beſtürzung auf, und der 
Eine ruft lauter, als der Andre: „Was bedürfen wir weiter 
Zeugniß? Wir haben es felbft "gehört aus feinem Munpel* 
— Ja wohl, aus feinem eigenen Munde vernahmen fies. Don dies 
fen ihrem Zugeftändniß ift im Hünmel Aft genommen. Es wird 
nicht fehlen, daß es ihnen am Zage des Berichtes vorgehalten werden 
wird; und womit wollen fie e8 dann rechtfertigen, Daß fie dem Herm 
dennoch die Huldigung vorenthielten, fie, die in der That eines „weis 
teren Zeugniffes“ über ihn, als das ihnen wurde, nicht bedurften. 
— Im jenes feines Zeugnifjes willen haben fie Jefum zum Zode vers 
dammt, und dadurch, zur Befeftigung unfres Glaubens, nur beftätigt, 
daß das Zeugnig wirklich aus feinem Munde gegangen fei, a, bis zu 
diefer Stunde lebt unter den Juden die Ueberlieferung, daß Chriſtus 
gefreuzigt worden fei, weil er ſich Gott gleich geftellt, und damit 
einer Blasphemie ſich fehuldig gemacht habe. Nichts in der Welt fteht 
darım fo außer Zweifel, als daß Yefus einft wirklich jenes gericht 
fiche Bekenntniß von feiner Gottesfohnfchaft abgelegt habe, Wer ihn 
nun für weniger halten will, als für den ewigen Sohn, flempelt 
ihn zum Läfterer, und fehreit mit den Juden: „Kreuzigel” — 

Nachdem denn das Todesurtheil über den göttlihen Dulder nen 
beftätigt worden, treten Die Schergen auf ihn zu, um Die für eine 
Weile ihm abgenommenen Bande ihn wieder anzulegen, Willig 
reicht er ſeine Hände Das, auf daß erfüllet wende, was Jeſaias ba, 7 
gefchrieben fteht: „Da er gequält und gemartert ward, that er gig 


360 Das Heilige. 


Mund nicht auf, wie ein Lamm, das zur Schlachtbant geführt wird, 
und wie ein Schaf, das vor feinem Scherer verſtummt.“ Der eben 
erft unter Genehmhaltung des ganzen Himmels feierlich feine Gott⸗ 
gleichheit bezeugte, erfcheint jeßt in Fefleln wie ein Meuterer. Un⸗ 
geheurer Contraft und Widerfpruh! ber wie handgreiflich tritt es 
gerade hier wieder zu Tage, daß es ein freier Opferaft ift, zu 
dem wir den Herrn gegürtet fehen; und wie deutlich Iefen wir hier 
wieder aus feiner heiligen Dulderfeele die Worte heraus: „Ich muß 
bezahlen, das ich nicht geraubet habe!“ Seine Feſſeln haben uns 
Erlöfung ſchaffen helfen; denn ewig hätte der Satan uns gehalten, 
hätte Jeſus die Freiheit den Banden vorgezogen. Entſetzlich und berg 
ergreifend ift e8, Die Hände, Die nur im Dienfte der Barmberzigfeit 
ſich rührten, von derfelben Welt, über die fie nur zum Segnen fi 
ausgebreitet, wie Frevlerhände mit Striden gebunden zu ſehen. Aber 
gelobt fei Gott, daß Er, da Die Häfcherrotte zu Werke ging, den Blik 
feines Zorns über den Meuterern zurüchielt, und fie gewähren ließ; 
denn verhüllt in jenen Striden fchlangen diejenigen fih um Jefn 
Glieder, die uns Sünder ewig in der Hölle binden follten. Mit 
Recht fingt darum das alte Lied: „Du wurdeft, Jeſu, ganz und gar 
umringet von der Feinde Schaar, gebunden und gefangen: Daß wir 
von Satans Strid befreit, die wahre Frei⸗ und Sicherheit 
Durch Deine Kraft erlangen. “ 

Die Gerihtödiener haben ihr Amt getan. Da bricht Die ganze 
hohe Verfammlung auf, un, gegen Sitte und Gewohnheit, perfön- 
lich ihren Verklagten dem römifchen Lundpfleger zuzuführen, und 
Durch ihr mafjenhaftes Auftreten dieſem die Beftätigung ihres Todes: 
urtheild abzutrogen. So erfüllte fih denn aud das Weiffagungs: 
wort des Herrn, daß er „den Heiden überantwortet werden“ 
würde, — Es gehört dies mit in die Symbolik der Paffionsges 
ſchichte. Die ganze Welt follte Anlaß finden, in ihren Vertretern 
ihre innere Stellung zu dem „Heiligen in Iſrael“ an den Tag 
zu geben, und ihre Mitfhuld und Erldfungsbedürftigkeit zu 
beurfunden, „Man fchleppt dich frühe vor Pilatus Haus! Weil Du 
auch willit für Unbefchnittne leiden, gibt man Di) hin an Sünder 
aus den Heiden.” — So fingt ein kirchlicher Dichter; und Wahr⸗ 
heit it e8, was er fing. Wir Alle find der Sünde und dem 
Fluch, aber auch der Berufung zur Gnade nad, in Iſraels Gemein⸗ 


ſchaft. — 


Ghriftus vor dem Spnebrium. 361 


Brüder! Der, welchen wir dort gebunden den Schranken des zwei⸗ 
ten Gerichtshofs entgegenfchreiten fehen, fißt jetzt, nach längft voll- 
brachtem Werfe, ein „Bfleger der heiligen Güter“, die Er uns er- 
warb, zur Rechten der Majeftät in der Höhe. — Neigen wir Ihm 
anbetend Haupt und Knie, und laſſen wir Ihn nicht, bis Er auch 
auf uns den Segen feiner Paſſion gelegt. Hüten wir uns, Ihm 
auf's neue dur Unglauben die Retterhände gegen ung zu bin- 
den; und fehen wir, die wir nad) Seinem Namen genannt find, 
uns wohl vor, daß wir nicht durch unmwürdigen Wandel Ihn aber- 
mals den getauften und ungetauften „Heiden’ überantworten, und 
Shn der Mißachtung derfelben überliefern. Binden wir Ihn mit den 
Seilen dankbarer Liebe an uns; führen wir Ihn auf dem Triumph: 
wagen freudiger Bekenntniffe denen zu, die Ihn noch nicht ken⸗ 
nen; ftellen wir Ihm unfern Frieden, die Heiligkeit unfres Wans 
dels, und unfre Treue in Seinem Dienfte, zu Zeugen, die Ihn vor 
der Welt rechtfertigen, und lernen wir durch des heiligen Geiftes 
Grleuchtung ſchon unter den Gebrechen diefes Lebens und troß ders 
felben zu Seines Namens Preis frohloden: 


Wohl mir, wohl mir! Meine Ketten 
Sind entzwei, und ih bin los! 
Chriſti feliged Erretten 

Macht mir Muth und Freude groß. 
Ach, wie tief lag ich gefangen ! 

Run bin ic beraudgeyangen, 

Und das füße Tageslicht 

Strahlt in's Herz und Angefiht! 


Wohl mir! denn der Hölle Flammen 
Sind durd Chriſti Blut erftidt. 
Mer will mich binfort verdammen, 
Da mid Jeſus angeblidt? 

Heil! ih hab’ in feinen Wunden 
Ew'ge Freiheit nun gefunden! 

Diefe bleibt mir allezeit, 

Diefe gilt in Ewigfeit! — Amen. 


— 0 — 


362 Das Heilige. 


XXX. 
Des Verrathers Ende. 





„Iſrael, du bringeft dich ins Unglüd; denn dein Heil fteht allein 
bei mir!“ — So beim Propheten Hofen Kap. 13, 9 der Herr. 
Die thatfächlichen Beſiegelungen find nicht zu zählen, welche Die Wahr⸗ 
beit dieſes Zurufs in der Geſchichte der Menfchheit gefunden hat, und 
fortgehend findet. Wer von Gott weicht, gibt demfelben, bevor noch 
eine pofitive Strafe ihn ereilt, Durch das Verderben, Das er an ſich 
reißt, das Zeugniß, daß Er die einige Quelle alles Heil und Fries 
dens fei. — 

Gedenkt an den König Saul, Wie war er gebenedeiet nad) Leib 
und Seele, fo lange er vor dem Herrn wandelte, und Defien Straße 
zog. In einem Mißtrauen, welchem er gegen Die Treue Gottes bei 
fih Raum gab, that er den erften Fall. Eine uneingeflandene 
Sünde veranlaßte feine weitere Entfremdung von dem Angeficht Je⸗ 
hova's. Eine fnechtifche Furcht trat hinfort an die Stelle feiner kind⸗ 
lichen Unbefangenheit. Ein dunkler Geift des Unmuths verdrängte 
den der Zuverfiht und des Friedens. Da ihn fein gefchlagenes Ges 
wiffen von Gott nichts mehr erhoffen Tieß, fchlug er jo verzagt, wie 
troßig, die Wege der Selbſthülfe ein. Sein innerer Zwieſpalt mit 
dem Herm fteigerte ſich bis zu einer ohnmächtigen Kriegserflärung ges 
gen Ihn, und feine Schritte verirrten ſich bis zu Der Zauberin von 
Endor. — Wider den Allmächtigen ift aber mißlich und gefährlich 
ftreiten. Gott überließ den bethörten Mann, der auf Seine Stinme 
nicht mehr achtete, fich felbft, Damit er der Welt ein warnendes Exem⸗ 
pel gebe, wie, wer von Ihm fich fcheide, nur an feinem eigenen Vers 
derben baue, Eine im Berlaß auf eigene Kunft und Stärfe wider die 
Amalekiter eingegangene Schlacht endete mit der Niederlage feines, des 
ifraelitifchen, Heeres, Da er „Fleiſch für feinen Arm“ gehalten hatte, 
war mit Diefem Arme auch fein Muth gebrochen. Zum Aufblick zu 
Gott gebrady es ihm eben fowol an Zuverfiht, als an Liebe. Er 
wußte fih verdammlidh vor Ihm, und Buße thun wollte er nicht. 
In raſendem Bettelftolge fleift er feinen Naden, während in demfelben 


Des Berräthers Enbe. 363 


Momente fein inneres Zagen feinen Höhepunkt erreicht, und die Ver- 
zweiflung ihre Krallen nad) ihm ausftredt. Zroß Zeuter und Krone 
deucht ihm das Dafein eine unerträgliche Laſt. Er bittet feinen Waf- 
fenträger, daß er ihn erfteche; und da diefer fich weigert, ftürzt er fi 
felber in fein Schwert, und röchelt unter dem Selbftmörderfluche feine 
Seele aus. Ihr kennt das rührende Xied, das ihm die Liebe Davids 
fang. Aber auf feinen Leichenftein gehört die Inſchrift: „Iſrael, 
Du bringeft dich felbft ins Unglüd; denn Dein Heil fteht 
allein bei mir!“ 

Auf einem andern Grabmal ſteht's mit noch gehobnerer Schrift. 
Wir treten demfelben heute nahe, Sei unfer Gang gefegnet, und treibe 
er uns an, „mit Furcht und Zittern zu fchaffen, daß wir felig werden |“ 


Matthäus 27, 3—10. Apoſtelgeſch. 1, 18—20. 

Da das fah Judas, ber ihn verratben hatte, "daß er verurtheilet mar, gerenete es 
ihn, und brachte wieder die dreißig Silberlinge den Hobenprieftern und den Aelteſten, 
und ſprach: Ich habe übel gethan, daß ich unſchuldig Blut verrathen habe. Sie ſpra⸗ 
chen: Was gebet das und an? Da fiehe bu zu. Und er warf die Silberlinge in den 
Tempel, bob fi davon, ging bin, und erhenkte ſich ſelbſt. Und ift herabgeftürzt, und 
mitten entzwei geborften, und alle feine Eingeweide auögefchüttet. Aber die Hoben- 
priefter nahmen die Silberlinge, und ſprachen: Es taugt nicht, daß wir fie in den 
Opferfaften legen, denn es ift Blutgeld. Sie hielten aber einen Rath, und kauften 
den Zöpferdader darum, zum Begräbniß der Pilger. Und es ift fund worden Allen, 
bie zu Serufalem wohnen, alfo, daß derſelbe Ader genannt wird bid auf den heutigen 
Tag auf ihre Sprache: Hafeldama, das if, Blutader. Da ift erfüllet, dad gejagt iſt 
durch den Propheten Ieremiad, da er ſpricht: Sie haben genommen die dreißig Sil- 
berlinge, damit bezahlet ward der Berlaufte, welchen fie fauften von den Kindern 
Iſtael; und haben fie gegeben für ben Zöpferdader, wie mir der Herr befohlen hat. 
— Und ſtehet gefchrieden im Pſalmbuch: Ihre Behaufung müffe wüfte werden, und 
fei Niemand, der darin wohne; und: Sein Bisthum empfange ein Anderer. 


Einem graufigen Dunkel nahen wir heute. Doch ftrahlt auch aus 
Diefer Schauernadht ein lichter Schein uns an, Dieſe Glorie ums 
leuchtet das Haupt des Herm, dem, — denkt nur! — zu guter Letzt 
auch noch das „Kind Des Verderbens” in feiner Art Apoftels 
dienfte thun muß. Jeſus wird Durch Judas verherrlicht, und feiert 
Zriumphe, wie fie glänzender kein andrer Apoftel ihm bereitete. — 
„Triumphe?“ — So iſt's! — Laßt mid) euch zeigen, wie Jeſus 
hier triumpbirt: zuerft als Heiliger, dann ald das Heil, und 
endlich als der Heiland, 


364 Des Heilige. 


Ter Herr aber iegne unire Betrachtung, und laffe ans dem Tede 

Des Verräthers eine Frucht zum Leben und ermadien! 
l. 

Bie viel Daran gelegen ſei, daß umier Heberprieiter im rechten 
Schmucke das Werk der Veriöbnung rellführte, RM eu bewußt. Ein 
zebl an dem Summe, ımd es taugte nice mebr zum Opfer. „Einen 
teldben HSobenpriener mußten wir baben“, iagt die Schrift, „der 
da wire heilig, umberledt, und ven den Zünien abgeſendert.“ Und 
einen ſolchen haben mir. Die üttliche Beräbinmg SIummamuels zu 
teinem Mittlerwerke itebt außer grage. Gott bat nichts geivart, wm 
bierüber jeden Zweifel zu zeritreuen. Gr gab den Bürgen zu Ne 
fem Ente ein um Das andere Mal der Prüfmg der fchurffichtigften 
Zplitterrichter der Erde preis. Dieſe aber baben alle zu ibrem nict 
geringen Verdruß umienit auf Zleden an Abm Jagd gemacht, und 
bald gerade heraus, bald vermittelit ihrer Handlungsweiſe bezeugen 
münen: „Bir finden feine Schuld an dieſem Menſchen!“ 

Zen bebem Belanae its, daß ſelbſt Die Argusaugen Der Priefter 
und Schriftgelebrten nichts Verdammliches an Ibm entdeckten. Bid 
ſchwerer aber füllt Der Umſtand ins Gewicht, Dub eben fo wenig 
dem Munne, den wir in unirer heutigen Geſchichte zur Hölle fahren 
feben, dergleichen an dem Herm Jeſu fih bemerkbar machen wollte. 
Ihm mußte viel mehr noch, als jenen, Daran liegen, den Herrn irgend 
einer Zünde zeiben zu fönnen, Da er nicht, wie fie, in Denen dus Ge; 
wiſſen ichlief, wenn er eine wirflibe Schuld an Ibm nicht fand, 
durch Andichtung einer erlogenen fi beiten fonnte. Hätte er zu 
ſolchem Mittel feine Zuflucht nehmen wollen, der Richter in feiner 
Druft würde dieſes Kunſtgriffs geſpottet haben, wie der Leviathan „der 
bebenden Lanze”. — Ad, wenn Judas nur mit balber Bahrbeit 
fib bäͤtte ſagen dürfen: „Gr, Den du verrietbeit, verdiente es, daß er 
den Gerichten überliefert wurde”; was würde er Darım gegeben bu; 
ben! Um der Rube jeines Gemütbs, ja um feiner zeirfihen und ewi- 
gen Seligkeit willen, mußte er feidenichaftlich wünichen, Jeſum irgend» 
wie als einen Webertreter zu erfinden. Schon eine un Jeſu ent 
dedte Sünde würde ibm unter der Qual, Die er in feinem Innern 
empfand, ein großer Troit, ein jüßes Labſal geweien fein. Aber wie 
emfig er darnach fuchte, wie angejtrengt er ſich befann, wie gründlich 
er mit dem erinnernden Geiſte feines Meijters Leben durchmurfterte : 
Zugenden boten fih ihm darin in Zülle Dur; ein Lichtmeer von 


Det Berrätherd Ende 365 


Heiligkeit ſchimmerte ihm daraus entgegen; aber auch nicht ein dun⸗ 
feler Punft wollte fich zeigen; auch nicht ein Makel, und wäre es 
der Teifefte, begegnete feinem forfchenden Auge. Bernichtendes Er- 
gebnig! Judas muß feinem Gewiffen Recht geben, das ihn einen 
Verräther des Heiligen fhilt, ja, als einen Mörder der Unſchuld 
ihn verdammt. Gr findet nichts, das ihm diefes Urtheil entkräften 
hilfe, und muß den fchauerlichiten Fluch über fich ergehen laſſen, der 
je eine Menjchenfeele beben machte, — - 

Sonderbar, daß Judas Sünde an Zefu fuchte, um aus ihr Be 
rubigung zu fchöpfen; vor Jeſu Heiligkeit aber ſcheu zurüdfuhr! 
Hätte ihm das Licht des Evangeliums gefchienen, fo würde er 
umgefehrt der Unfträflichfeit Zefu fi gefreut, vor dem Ges 
danken aber, daß an Sefu irgend ein Flecken entdedt werden könnte, 
zufammengefchaudert fein und gezittert haben. — Seltſam indeß, daß 
wir darin auch wieder mit Judas eins find, daß wir, wie er, nur 
in einem anderen Sinne, zur Crleichterung unferer Gewiffen an 
Jeſu Sünde fuhen. Wir aber finden fie an dem Heiligen in der 
. That, wenn auch nur als eine im Wege der Zurechnung und des 
Uebertrags an Ihn gelommene, und gehen unfern Weg mit Fries 
den. 
Judas befindet fi in grauenvoller Lage, Er hatte, der Wunder: 
macht Jeſu als eines Deckmantels für feine Bosheit fi) getröftend, 
fein erwachendes Gewiffen immer noch mit der Borfpiegelung hinge- 
halten, der Meifter werde ja nur zu wollen brauchen, um, wenn Noth 
an Mann gehe, fi den Händen feiner Feinde wieder zu entwinden, 
Wie er nun aber den Meifter wirklich verurtheilt, ja, gebunden im 
Geleite des ganzen Hohenrathes zur Hofburg des Landpflegers fchlep- 
pen fieht, bricht der legte Anker, der den unglückſeligen Mann bis 
dahin noch vor dem Verzweiflungsfturm gefichert hatte. Jetzt bat der 
unbeftechliche Richter in feiner Bruft für feine Anklagen freien Raum, 
„Dein Bubenſtück“, donnert er ihm zu, „ist dir gelungen! — Dein 
Meifter gehet hin, und du warfit Ihn in dieſe Bahn hinein! — 
Auf Deinem Schädel Taftet die ganze Schuld des blutigen Untergan- 
ges dieſes Gerechten. Du, der du fein Brod aßeft, bift Die Natter, 
die ihm den Todesftih gegeben! — Wie, dag dich Abſchaum der 
Menfchheit die Erde noch trägt, die Sonne noch beſcheint? Wehe, 
wehe dir Verräther, Mörder, Sohn des Fluches!“ — — O Schauer 
der Angit, die .unter diefem Gemurmel in feinem Bufen ihn überfallen! 


366 | Das Heifige. 


O ungeheure Noth, die wie ein gewappneter Mann über ihn berfällt! 
D Graus und Schreden, die ihm Nerven und Gebeine erfchütten! 
— Nicht anders iſt ihm zu Muthe, als raufchten die Füße des Blut 
rächers ſchon in feiner Nähe, als hörte er bereits das ZTodesurtheil 
vom Himmel auf fein Haupt hernieder Donnern, und als fühe er den 
Feuerſchlund der Hölle zu feinen Füßen offen. Die Verzweiflungsnacht 
eines Kain, eines Saul, eines Ahitophel Tagert ſich gewitterfchmäl 
über feine Seele. D, wie ihm das Blutgeld auf dem Gewiffen brennt! 
Wie ihn der Klang der Silberlinge in feiner Tafche fo gräßlich antönt! 
— Als fchleppe er daran einen Satansfold, eine Höllenlöhnung mit 
fih, jo ift ihn; ja, als hätte er feiner Seelen Seligkeit dafür ver- 
handelt. — Und er hatte Dies ja wirklih! — — Dort ftürzt er, von 
den Rabenfittigen der Angſt getragen, hin. Gott hat ihn verlaflen; 
der Zeufel aufgehört, um die Zröftung feiner Seele fi) zu bemühen. 
In den Tempel flürzt der Jammervolle. Warum? Will er beten? 
— Nein, beten kann er nicht mehr. — Er muß des verfluchten Sur 
dengeldes fich entledigen, Die Hohenpriefter und Schriftgelehrten, Die 
Nichtöwürdigen, fucht er auf; und wie er fie gefunden, tritt er verftört, 
wie eine Leiche blaß, und voll grimmen Haffes wider Diefe Werkzeuge 
feines Falles, auf fie zu, und legt vor ihnen laut und unmmwunden 
das Bekenntniß ab: „Ich babe übel gethban, daß ih unfdhul: 
dig Blut verratben habe!“ — 

Hört diefe Worte! Cie find von größter Bedeutung. War Judas 
Jeſu Freund? — Mit nichten; fein Herz war wider Ihn erbittert. 
Brachte es ihm VBortheil, das Zeugniß von Jeſu Unfhuld? Im 
Gegentheil: er zog fich dadurch nur die Ungnade feiner hohen Gönner 
zu, und fteigerte damit felbft das Gräßliche feines Verbrechens. — In 
feinem Intereſſe hätte e8 gelegen, fich in Die Lüge hineinzuraifonniren, 
daß Jeſus einer andern Behandlung, ald fie Ihm widerfahren, nicht 
werth gemefen fei. — Wie ftarf und fiegreich alfo mußte felbft in dem 
nächtigen Spiegel feiner Verrätherfeele noch der bimmelreine Licht: 
glanz der Unſchuld Jeſu wiederfcheinen, Daß er troß der eben erwähn- 
ten Nachtheile, die er fid) Dadurch zuzog, doch nicht umhin fonnte, mit 
ſolchem Bekenntniſſe Ihn zu ehren! Zürwahr, kaum je ift ein gewal- 
tigerer Lobgeſang auf die Heiligkeit des Priefters Gottes laut ges 
worden, als er in jenem Verzweiflungsfchrei feines Verräthers am unfer 
Ohr tönt; und wo ift der Unfchuld Jefu je ein gewichtigeres Atteft 
ertheilt, al8 dasjenige, welches bier, von feinem Gewiffen gezwungen, 


Deb Berrätherd Ende. 367 


wider fich felbft und fich felbft zum Fluch, das ungfüdfelige Mord- 
find ihr ertheilen muß, So feiert Jeſus, wie wir fagten, inmitten 
des tiefiten Emiedrigungsdunfel8 den glüänzendften Triumph. Gr 
triumphirt als der Mann, den „Niemand einer Sünde zeihen konnte”, 
als „das Lamm ohne Fehl”, als „der Heilige Iſraels“. Wünfchen 
wir uns Glück zu diefer neuen Beftätigung der Wahrheit, daB an uns 
ferer Gerechtigkeit fein Makel haftet. Denn die Gerechtigkeit des 
Bürgen iſt auch diejenige feines Bolts. — Die Jefum loben, das 
lihtumfloffene Haupt, die loben auch uns, des Hauptes Glieder. 
Auch Ehrifti Feinde, die Seine Gottheit leugnen, aber doch das 
Tugendmufterbild in Ihm begeiftert ehren, find „Gehülfen unfrer 
Freude”. Ihre Lobpreifenden Ergüffe befingen im Grund nur unfre 
Schöne Sie wollen felbft davon nicht wiffen; aber wenn uns einſt 
Gott vor aller Welt in Seine Arme fchließen, und das Erbe Seines 
Sohnes uns überweifen wird, werden fie inne werden, daß in der 
That das Lichtgewand Immanuels fih auf uns vererbte, und unfre 
Blöße deckte. 
2. 

Den zweiten Triumph feiert in unſerm heutigen Auftritt der Herr 
als das Heil, und zwar als das einzige, das den Sündern berei⸗ 
tet iſt. Auch in dieſer Eigenſchaft wird er, — wunderbar genug! 
— durch feinen Verräther verherrlicht. Judas verrichtet hier, frei⸗ 
lich nicht nach ſeiner, wohl aber nah Gottes Abſicht, Apoſtel— 
dienſt. Er ſtellt uns ein erſchuͤtterndes Exempel auf, wie Jemand 
Alles unternehmen koͤnne, um der Sünde und des an fie gefnüpften 
Fluches los zu werden, und doch nicht zum Ziel gelangt, fo lange 
nicht der Herr Jeſus fein, und er des Herrn Jeſu eigen ward. 

Seht den Unglüdfeligen! Die gräßlihe That ift vollbracht; aber 
er felbft hat fie auch fchon al8 eine Unthat erkannt. Wir haben’s 
in dem Manne mit feinem fchon ganz verhärteten Böferwicht zu thun. 
Er fühlt noch die Größe feiner Schuld, bekennt fie, und empfindet 
darımter bittere Reue. Was hätte er nicht darum gegeben, wenn er 
das Verbrechen ungefchehen hätte machen können! Manches ver: 
ſucht er, was zu diefem Ziele führen könnte, und wozu ihn ficher 
auch unfre heutigen modernen Sittenlehrer geratben haben würden, 
Er eilt zu den Menfchen, in deren Dienften er gefündigt, wieder hin, 
bringt ihnen den verfluchten Sold zurüd, will lieber Schmach, Hohn 
und was Alles fonft noch, auf ſich nehmen, als länger diefes Blutgeld 


368 Das Heilige. 


in feinen Händen dulden, befennet frei und unverhofen den begange⸗ 
nen Frevel, entfchuldigt und beſchoͤnigt an demfelben nichts, ſprichts 
geradezu aus: „Ich habe übel gethan, daß ich unfhuldig Blut ver 
ratben habe’, und beurfundet's zur Genüge, daß der Abfcheu, de 
er wider den begangenen Greuel an den Zag lege, ein ernſter md 
aufrichtiger jei. Und als die Priefter die Zurüdnahme ihrer Silber 
finge verweigern, und mit Dem vornehm falten und fohneidenden: „Bas 
gehet Das uns an? Ta fiebe du zu!” ihm den Rüden fchren, 
fehleudert er die Silberſcherben von fi in den Tempel, und gibt 
damit zu verjteben, Daß er fie den Armen beftimme, oder fonft einem 
heiligen Zwede weihe. Cine furdhtbare Ironie des Schickſals fieht 
und aus Diefer Scene an, gedenken wir zurüd an das heuchleriſche 
„Dieſe Salbe hätte beifer verkauft, und Das Geld Den Armen 
gegeben werden mögen,” womit der unglüdjelige Jünger eink 
das ſchöne Liebeswerk der Maria zu verunglimpfen fi) vermaß. Seht 
muß er, wenn auch mit einem andern Gelde, in fchauerlicher Weiſe 
wahr machen, was er Damals log. Was follte man aber mehr verlans 
gen, als was bier der Sünder that? Hier war Selbſtgericht, Buße, 
Sündenbekenntniß, Befirungsvorfag, und fogar ernſtes Bemühen, wie 
der gut zu macden, was er fehlte. Und doch, — was frommte dies 
jes Alles? Die Sünde haftet, der Himmel bleibt über ihm vers 
riegelt, Das Herz Des ewigen Richters von ihm abgewandt, und 
des Satans Kette ungebrochen. Das Zittern des armen Jüngere 
it umfonjt, wie es feine Reue, fein Belenntniß, und feine fittfichen 
Entſchließungen und Gelübde find. Alle dieſe Lauge reicht nicht, Die 
Schuld von ihn abzuwaſchen. All' dieſes edle Thun erwirkt ihm Feine 
Gnade. Zudas gebt in fürchterlicher Weife unter. Warum? — Etwa, 
weil feine Sünde das Maß der göttlichen Vergebung überſtieg? — O, 
nicht doch! — Weil er ein Dieb und Gamer war? — Tas war der 
Schächer am Kreuz in böberm Grade, und er hat den Weg zum Paradies 
gefunden. — Weil er den „Heiligen Iſraels“ verrieth? — Es thaten 
Tauſende Daffelbe, und wurden dennoch felig. — Weil er Hand an 
ſich ſelber legte? — Ih füge euch: hätte er Dies auch nicht getban, 
fondern nod) Jahre lang gelebt, und mit erniten Befferungsvers 
ſuchen bingebracht: verloren gemefen wäre er Doch, und zwar aus 
der einen Urſache, weil Jeſus nicht auf feiner Seite ftand, noch 
mit Seinem Blute ihn vertrat, So muß der Untergang Juda, 
wie feine andere Begebenheit, der Unentbehrlichkeit Jeſu zur bes 


De Verraͤthers Enbe. 369 


benden Folie dienen, und Jefus triumphirt darin, wie faft nirgends 
fonft, als das einige und ausfchließlihe Heil der Sünder, 

Es hilft und rettet Nichts, wenn Jefus nicht unfer wird. Hättet 
ihr eine Ahnung davon, wie blutnöthig er euch fei, ihr machte 
Thüren und Thore hoch, um Ihn zu euch einzulaffen. Euer Liebftes 
und Theuerftes ſchlüget ihr freudig für Ihn 108. Ja, euer Leben 
fegtet ihr daran, gefchweige die ſchaale Luft und eitle Ehre diefer 
Welt, um Ihn zu gewinnen. Ein Surrogat für diefen Jeſus und 
fein Blut ift nicht vorhanden. Das gleißendfte Gewebe von Buße, 
Sittfamkeit und gottesdienftlihen Bemühen erfegt Ihn nicht. Es 
tft nur ein ſchmuckerer Anzug für den Delinquentengang zum Hochge⸗ 
richte. Zur Gnade und zum Himmel verhilft allein Jefus. Iſt Er 
dir nicht gewogen, umfonft iſt's dann, daß du „frühe aufftehft“, und 
hernach „lange fißeft“, deine Seligfeit zu fchaffen. Du arbeiteft, und 
bringft nichts zu Wege; du fammelft, und legſt's in einen „löcherichten 
Beutel”; du wirkt, und hebft „Spinnewebe, Das zu Kleidern 
nicht taugt,” von deinem Webftuhl; du füllt an einem Faſſe, dem 
der Boden ausgefchlagen ift, und bift verurtheilt, einen Stein bergam 
zu wälzen, der, wenn Du ihn oben zu haben meinft, dir wieder ent- 
Ihlüpft, und unaufhaltfam zur Ziefe niederrollt. Steht aber Jeſus 
auf deiner Seite, fo bift du am Ziele, ehe du noch wanderft; fo fallen 
Dir die Friedensfrüchte in den Schooß, bevor du den Baum gepflanzt; 
fo ftrogeft du von Gerechtigkeit, während du mit der Sünde nod im 
Kampfe Tiegft, und bift verföhnt, ohne daß ein Sühnopfer von deiner 
Hand gefordert ward. — Was füumeft du denn, Ihn zu umfaflen, 
der dir „Alles“ ift „in Allem”? — Sprid mit dem Apoftel: „Was 
ich noch lebe im Fleifch, das Tebe ich im Glauben des Sohnes Got- 
te8”; und für Zeit und Ewigfeit ift dir geholfen! 

3. 

Yudas wandelt durch die Pafftonsgefchichte, auf daß an ihm eins 
mal die Sünde mit allen ihren Schauern und Schreden recht zu 
Tage trete, der Sünde gegenüber aber zugleich die Erlöfung in ih— 
rem vollen Glanze erfcheine, und Jeſus nicht allein als der Hei- 
lige, und als das einige Heil, fondern auch als der Heiland 
recht augenfällig ſich verffäre. Ja, wenn das Entfeßliche der Sünde 
an irgend Jemandem je zur Erfcheinung gekommen tft, dann an dem 
Berräther, Hier kehrt fie zunörderft ihre ganze Häßlichkeit und 

24 


310 Das Geige. 


Edwärge ver, weile gegen das Himmeldliht, das Die Perſon Ehifi 
umfliegt, nur um io greller abitidht. Hier gibt fe ſich als Die greie 
Berrügerin kund, die ibren Tienimwilliyn geldne Berge verfprik, 
aber mir Schanern und Schrecken fie ablöbnt. Hier trüt fie auf au 
die Ausgeburt der Hölle, welde nur Frucht des Zodes bringt, m 
niemald andere Kinder, alö Die der Angü, der Berzweiflung m 
der Verdammniß acberen bat. Hier offenbart fie fich als die ärgke 
FZeindin united Geſchlechts, die das Bund, das uns mit Gott ver 
fnipft, zeribneider, den Zorn des Allmächtigen gegen ums emtilanm, 
Die There zu den „ewigen Büren” uns entriegelt, und eine mit Rick 
zu überbrüdende Kluft zwiichen uns und der bimmliichen Gottesftan 
befeitigt. Ueberdies murs euch tbanichlich bier vor Augen, wie ſie 
jedes menſchlichen Verſuches, te ibres Stachels zu berauben, fpotte, 
mü feinen Berenungen jib bannen, mit feinen Thränen ſich hinwez 
waſchen, mit feinen auten Vorſatzen fich vernichten läßt; fondern dem 
Allem zu Trog burmädig buften bleibt, ibre Untergebenen dem Zeufel 
in die Hände ipielt, und, nachdem fie ibnen dDiefieits Das Leben 
vergällt, fie endlich einer ewigen Todesnacht überweilt, und einem 
endloſen Verderben preisgikt. 

Schauet euch Den Verräther an in ſeinem Summer, und gewaht, 
wie ibm die Sünde gleih einem Geſpenſte auf Dem Raden fit. 
Seht, wie er ſich ſchüttelt unter Dieter Zait, und büumt; aber das 
gräuliche Ungetbüm nicht ven ibm weichen will. Bemerft, wie er m 
fiat und flüchtig dahin jagt; aber Das Geipenit jagt mit ibm, md 
wird nur gräßlicher auf Dem Wege. Turb Rüdzablung der Süber 
linge gedenft er von dem Scheuſal fich wieder zu befreien; aber ver 
gebens find Die Verſuche, vermittelit ſolcher Preite mit der Sünde ſich 
abzufinden. Zu Prieitern und Pharifiern nimmt Judas jeine Zuflucht; 
aber mider Die Sünde wiſſen Diele feinen Ratb. Er flürzt ſich end 
ih, von namenlofer Angit gejagt, Dem Tode ſelbſt in die Arme; 
aber auch der nimmt ibm den Brait nicht von der Seele. Seines 
Leibes fann Judas ſich entledigen; aber er entledigt fi) Damit nicht 
feiner Schuld. Bon feinem Leben kann er jcheiden; aber die Sünde 
ſcheidet darum nicht von ihm. Dieſe Erde kann er räumen; aber 
fein Frevel folgt ihm über deren Gränzen nad. Gr wirft ſich einen 
Strick um den Hals; aber würgt derſelbe ihn, je nicht jeine Miſſe⸗ 
that. Dieſer wird vielmehr dadurch nur Raum gemacht, ihre ganze 
Macht und Herrſchaft zu entfalten. — Sie laͤßt es geſchehen, daß ſein 


Des Berräthers Ende. 371 


Leib zerberfte, und fährt dafür mit der Seele ab, um fie in das 
ewige Feuer zu begleiten. O, tretet bin an Judä Gruft. Nein, an 
diefem Grabe wachen feine Engel, und fein Hüterauge Gottes fteht 
darüber offen. Keine Hoffnungsrofen blühen auf feinem Hügel. Nacht 
hatten nur und Difteln ummuchern ihn. Und die Infchrift auf dem 
Leichenſteine? — Sie lautet kurz und fchaurig: „Und Judas ging 
an feinen Ort“, und deutet in erfehütternder Weife an, wie weit 
die verwüftende, Unheil gebärende, Zod bringende Macht der Sünde 
fich erſtrecke. 

Wer war dieſem Ungethüm gewachſen? — Einer nahm es mit 
der Sünde auf: Der, den man dort in Feſſeln vor den Richterſtuhl 
des Heiden ſchleppt, und bei deſſen Anblick Judas verzweifelt, ſtatt 
in Jubel der Freude auszubrechen. Chriſtus ward im Zured- 
nungswege das Lamm, das der Welt Sünde auf fih nahm, um 
Diefer in fiellvertretender Erduldung des ihr gebührenden Fluchs, 
für Alle, die an Ihn glauben würden, den Stachel auszubredhen, 
Er hat's gethan; und wenn wir vorhin behaupteten, Er triumphire 
in unferm heutigen Evangelium auch. als der Heiland, fo meinten 
wir zunächft, daß Seine Erlöferthat eben darum bier in um fo 
hehrerem Glanze erfcheine, weil hier das Scheufal Sünde allfeitiger, 
als irgend wo, feine wahre Natur enthüllt, und feine Schreden zu 
Zage treten läßt. Es wird aber Chriſtus ald der Heiland auch in- 
fofern bier verherrlicht, al8 ſich hier Jedem unabweislich die Uebers 
zeugung aufdrängt, daß das verlorene Kind einzig Darum den furdht- 
baren Schiffbruch erleidet, weil er verfchmäht, demfelben Manne, den 
er verrieth, reuig und glaubend in die Arme ſich zu werfen. Wie 
grauenvoll der Sturm ift, der die ganze Flotte aller menſchlichen Hül- 
fen verfenft; eine Netterbarke ift ned) übrig. Hätte er auf Diefe 
fich geflüchtet, fie würde ihn unfehlbar in den Hafen des ewigen Fries 
dens hineingetragen haben. „Aber warum beftieg er fie nit?" — 
Theild war er auch inmitten feines namenlofen Jammers noch zu ſtolz 
dazu, um Dem, der ihm die Heuchlerlarve abgeriffen hatte, und wi- 
der den feine Seele auf's tiefite erbittert war, die Ehre anzuthun, 
Seine Gnade fich zu erbetteln; theild war er Dazu auch wieder zu 
verzagt, indem der Satan nicht abließ, zum Lohn für die Dienfte, 
die Zudas ihm geleiftet, ihm zuzuraunen, wie für ihn irgend eine 
Hoffnung nicht mehr vorhanden fei, und überdies durch Vorgau⸗ 
felung allerlei grauenhafter Höllenbilder jede Ruhe und Klarheit des 

24 


372 Des Heilige. 


Befinmens ibm benabm. Kütte Judas Demurb ud Muth gem 
geminnen koͤnnen, um, wie nachmals der Schächer, Sein das thri 
nenfeuchte Auge zuzumenden, er würde nur Dem Blide vergebender 
Huld begeamet fein: ımd e, wie te ganz andere Laute, als das ent 
feglihe „Was gebet Das uns an? Ta ſiebe du au!“ der Hohen 
priefter, bätten hier ibn angekllungen! — Denn an Gnade gebrah 
es much für einen Menſchen teiner erderbensitufe nicht; und ob 
feine Sünde „blurretb“ wur, das Mur der Berföbnung hätte binge 
reicht, fie „ichneeweiß“ zu waichen. Aber wie ein Geier mit dem er 
bafchten Lamme, fuhr der Teufel mit ihm im Cturme Davon, md 
rubete nicht, his er feinen Triumph über ibn vollendet batte, umd Ne 
Eeele dieſer feiner jelmen Veute in fiberm Verwahrſam wußte. 

Tie Erde bat ein tragiſcheres Schauſipiel nicht geieben, als das 
jenige, vor welchem wir mit unierer Betrachtung weiln. Ein Mam, 
zu einem ausgezeichneten Gefäße Des Heils und Segens für Die Menid- 
beit verordnet und angelegt, verzweifelt Angefichts des Netters der 
Belt, und ftürzt fi, ſtatt Die nad ihm ausgeitredte Erlöferband zu 
ergreifen, in dem unſeligen Wahne, als betrete er fo den Weg, auf 
dem er die Erlöfung von den Foltern feines Gewiſſens finden werde, 
in den Abgrund der ewigen Verdammniß. — Und es iſt, als ob ſelbſt 
Tod und Hölle, wie vorbin ichen in den Perionen der Priefter und 
Aelteiten die Welt, ven dieſem Fluchkinde fi losjagen, ımd mit 
Gott an ibm Gericht üben müßten. Der Strang, mit dem ber 
Bejammernöwertbe fib aufgefnüpft, reißt. Der Baum, den er au 
feinem Eterbebert ſich eriehen, ſchüttelt ibn mit Grauen wieder af. 
„Mitten entzwei beritend“, ſtürzt der Ermürgte herunter, und jein Ein 
gemweide rollt ausgeichürtet über die Erde. 

Während dieſe haarſträubenden Dinge ſich begeben, ftehen die Prie 
fter und Aelteften beratbichlagend zufanmen, was mit den dreißig 
Eilberlingen anzufangen ſei, Die Indas verzweifelnd in den Tempel 
zurüdgeichleudert hatte. „Es taugt nicht“, ſprechen die Schein: 
heiligen, unbewußt fich felber brandmarkend, „Daß wir fie in den 
DOpferkfaften legen, denn es ift Blutgeld.“ Ein foldes 
wars; und allerdings Tollte nach 5 Mof. 23, 18 durch Blutgeld und 
„Hundelohn”“ der Tempelſchatz nicht verunreinigt werden. — Aber wie 
trifft die „ übertünchten Gräber * bier wieder Das Wort des Herm 
Matth. 23, 23: „Wehe euch, ihr Schriftgelebrten und Pharifäer, ihr 
Heuchler, die ihr verzehntet Münze, Till und Kümmel, und Iaffet 


Des Berräthers Ende. 373 


dahinten das Schwerfte im Geſetz, nemlich das Gericht, die Barm⸗ 
berzigfeit und den Glauben, — Ihr verblendeten Leiter, die ihr Muͤcken 
feiget, und Kameele verfchludt! *" — Waren doch diefe Menfchen an 
der Greuelthat, die fie mit jenen Süberlingen bezahlten, nichts weni- 
ger, als der Verraͤther felbit, fchuldig, und, obwohl mit dDiefem in 
gleicher Verdammniß, werfen fie ſich nicht allein zu deſſen Richtern 
auf, fondern fpielen ihm gegenüber fogar mit vornehmer Miene Die 
Hüter des Gefeßes und die Heiligen. Wer empfände nicht faft noch 
mehr Sympathien für den verzweifelnden Jünger, als für diefe Mei- - 
fter in aller Züge und Berftellung? — Wer weiß, ob e8 jenem am 
jüngften Tage nicht erträglicher ergeben wird, als diefen hochfahren- 
den und herzlofen Gleißnern. — Die Herren fommen denn überein, 
für den „Lohn der Ungerechtigkeit” den „Töpferacker“, ein bis da- 
hin einem Zöpfer zugehöriges Grundftüd anzufaufen, und daffelbe zum 
Begräbnißplage für Pilger, die in Serufalem etwa farben, und dort 
feine eigene Gruft befaßen, zu beftimmen. So mußte felbft der ‘Preis, 
um den Jeſus verhandelt war, noch einen Segen ftiften. Ja, fpielt 
nicht aud) in Diefem Zuge wieder ein Bild, welches befagt, DaB 
Ehriftus eben darum fich hingegeben habe, daß wir Pilgrime im To⸗ 
desthal in Frieden ruhen möchten? — Der erfaufte Adler erhielt tm 
Munde des Volks fortan den halbfyrifchen Namen: „ Hakeldama”, 
das ift, Blutader. Ein trauriges Denkmal, das hiemit dem ver- 
lorenen Jünger und feiner Unthat errichtet wurde, und das heute noch 
dem Wanderer zuruft: „Wer den Sohn Gottes mit Füßen tritt, 
dem ift fein andres Opfer für die Sünde mehr übrig!” 
Der Evangelift fügt feinem Berichte von jenem Kaufakte die Be 
merkung bei: „Da ift erfüllt, das gefagt ift durch den Pros 
pheten Jeremias, da er fpricht: Sie haben genommen die 
dreißig Silberlinge, damit bezahlt ward der Verkaufte, 
welchen fie fanften-von den Kindern Iſrael; und haben 
fie gegeben für den Töpfersader, wie mir der Herr befoh- 
len bat.“ — Matthäus vereinigt hier ihrem Hauptinhalte nach zwei 
prophetifche Stellen, von denen die erftere dem Jeremias, Die an- 
dere dem übrigens nicht namhaft gemachten Sacharja angehört. — 
Die Worte ded Jeremias Iefen wir Kapitel 19, 11—13, wo fie alfo 
lauten: „So fpriht der Herr Zebaoth: Ehen wie man eines Töpfers 
„Gefäß zerbricht, das nicht mag wieder ganz werden, fo will ich Dies 
„Volt und dieſe Stadt auch zerbrechen; und follen in Thopheth bes 


374 Das Heilige. 


„graben werden, weil fonft fein Raum fein wird, zu begraben. So 
„will ich mit diefer Stätte, fpricht der Herr, und mit ihren Cinwoh⸗ 
„nern umgeben, daß Ddiefe Stadt werden foll, glei wie Thopheth 
„Und es follen die Häufer zu Jerufalem, und die Häufer der Könige 
„Zuda eben fo unrein werden, al$ die Stätte Thopheth; ja alle Haͤn⸗ 
„Ter, da fie auf den Dächern geräuchert haben allem Heer des Himmels 
„und andern Göttern Trankopfer geopfert haben.” — Des Sacharja 
Ausspruch findet fid) im 11. Kapitel der Weiffagungen diefes Pre 
pheten, und lautet dafelbft im 13. Verfe alfo: „Und der Hear 
„ſprach zu mir: Wirf es hin, daß es dem Zöpfer gegeben werde! Ei, 
„ein trefflicher Preis, deß ich werth geachtet bin von ihnen! Und id 
„nahm die dreißig Silberlinge, und warf fie ind Haus des Herm, 
„daß fie dem Töpfer gegeben würden.“ 

Suchen wir nun zuerft den Worten des Jeremias auf den Grund 
zu Dringen. Der ‘Brophet verkündet dem Volke Iſrael und der Stadt 
Serufalem ſchwere Strafgerichte, und hat dabei zufolge göttlicher Wei⸗ 
fung feinen Standpunkt nahe dem Ziegel» oder Töpferthore an der 
Stelle Thopheth genommen, die zum Thale Ben-Hinnom gehört, 
und Diefelbe ift, wo Iſrael einft in Tagen fchredlichen Verfalls dem 
Götzen Molody feine Kinder opferte. In Gegenwart von Aelteften 
und Prieftern, in deren Geleite er auf göttlichen Befehl hinausgezogen 
war, nimmt er einen mitgebrachten irdenen Krug, zerfchmettert ihn an 
dem Boden, und begleitet dieſe fumbolifche Handlung mit der Weiſſa⸗ 
gung, To folle Volk und Stadt zerbrochen werden, und man werde 
in Thopheth, dem unreinen und fluchbededten begraben, aus Mans 
gel an Raum für die Leichen, und die Stadt felbft folle werden wie 
Thopheth, und ihre Häufer unrein. Thopheth, wo einft das Molochs⸗ 
bild ftand, war zugleicd) das Grundftüd, wo die Töpfer in Serufalem 
den Lehm für ihre Fabrifate zu graben pflegen. Indem nım der Bro: 
phet gerade an diefem Orte den irdenen Zopf zertrünmerte, und 
Denfelben alfo wieder in jeinen Urftoff verwandelte, bildete er fehr 
bedeutfam und ergreifend Dasjenige ab, was gleicherweife die hei- 
lige Stadt und das Volt der Auswahl betreffen werde. — Jenes 
Zhopheth war der „Zöpferader “, den wir in unferm heutigen Aufs 
tritt die Nelteften um die dreißig Silberlinge faufen fehen. Wenn 
nun aber Matthäus fpricht: „Da ift erfüllt, was gefagt ift durch 
den Propheten Jeremias“, fu ift des heiligen Geiftes Meinung, 
ber dem Evangeliften die Feder führt, dDiefe: „ Indem Gott es 


Des Berrätperd Ente. 375 


fügte, daB die Väter Iſraels um den «Lohn der Tingerechtigleit» den 
Ader, auf dem der Fluch des Jeremias ruhte, als Eigenthum des 
jüdifchen Staats erwarben, und damit gleichfam felbft jenen Fluch auf 
fi) und ihr Volk herübernahmen, bezeugte er, und zwar wiederum in 
ſinnbildlicher Weiſe, daß die damals gedrohte Heimfuchung zum 
andern Male, und zwar in um fo fchredlicherer Geftalt über Iſrael 
bereinbrechen würde, ein je ſchwereres Verbrechen der an dem Sohne 
Gottes ſelbſt verübte Mord, als der Molochs dienſt und der mit 
demfelben verknüpfte Opfergreuel, fei.” Nicht alfo der Ackerkauf 
felbft, fondern vielmehr die durch denfelben ſymboliſch gethätigte 
Aneignung des auf dem Thopheth Taftenden göttlichen Fluchs, wel 
cher in der Verſtoͤrung Jeruſalems durch die Römer feine fchließliche 
Bollziehung fand, bildet dasjenige Moment, in welchen die Jeremias⸗ 
ftelle fich bier erfüllte. — 

Die Stelle aus Sacharja dient derjenigen des Jeremias nur zur 
Ergänzung; und weil die letztere dem Evangeliften als die wefents 
lichere gilt, nennt er den Sprecher der erftern nidht einmal mit 
Namen. Jeremias bezeichnet ihm den erfauften Ort; Sacharja den 
Preis, um den die jüdifche Obrigkeit denfelben kaufte. Zreten wir 
den Worten Sacharja's näher. Der Herr fpricht dort zu feinem uns 
dankbaren Bolfe, und ftellt Sich dar als deflen Hirten, der bad 
mit dem Stabe Beh, bald mit dem Stabe Sanft fie, die Kinder 
Iſraels, geweidet habe. — Aber dieſe erkannten feine Hirtentrene 
nicht an, fondern traten immer wieder ab von feinem Wege, und vers 
achteten feine Unterbirten, die Propheten, und unter Diefen na 
mentfich auch den Sacharja, weldyer Elagt, Daß er, und in ihm der 
Herr felbft, der ihn gefendet, ihnen „mehr nicht, als den ges 
ringften Knechtswerth gelte: Dreißig Silberlinge, und 
Daß fie ihn Hiemitabzuläöhnen glaubten.” Für diefes frevle 
Berhalten droht ihnen Zehova Unheil. Er ſpricht zu Seinem Seher: 
„Wirfes hin, daß es dem Zöpfer gegeben werde, d. h. 
ichleudere e8 als einen Sündenlohn in den Koth jenes verfluchten 
Aders, wo der Zöpfer fein Werk hat, des Aders Thophethl! — 
„Et,“ fügt der Herr in heiliger Ironie hinzu, „ein trefflicher 
Preis, dep ih werth geachtet bin von ihnen!” — „Und 
ih”, fährt der Prophet fort, mm von ſich felber redend, „nahm 
die dreißig Siiberlinge, und warf fie in das Haug des 
Herren, Daß fie dem Töpfer gegeben würden,” — Alſo Des 


376 Das Heilige. 


Tempel wird, und zwar auf göttlichen Befehl, behandelt, als ob er 
der Ader Thopheth wäre. — Eine furdhtbare prophetifche Berfinn- 
bildlichung der Wahrheit, daß felbft der Tempel zu feiner Zeit un- 
ter dem Fluche Gottes zufammenbrechen werde. — 

Die Stunde diefes angedrohten Zorngerichts war nahe herbeige- 
kommen, als fogar auch Der, in welchem die Hirtentreue Gottes fich 
aipfelte, Seitens Iſraels einer Spottfumme von dreißig Silderlingen 
gleichgefhäßt wurde. Für dieſen Preis fchlug Judas in Ber: 
tretung feines Volkes feinen Antheil an dem Heiland los, — 
und die „Kinder Ifrael” in ihrer Obrigkeit erhandelten hiefür den 
Heiligen, um ihn zu erwürgen. — Dadurch aber, daß der Berräther 
verzweifelnd den Mörderlohn. wieder von fich fehleuderte, und in dem 
Tempel warf, fiel das Blutgeld — (ein fhlimmes Zeihen!) — 
der Gemeine Iſraels wieder zu. — Jener nicht ohne Fügung des 
richterlichen Gottes fich ereignende Akt der Zurüdichleuderung des Blut- 
geldes in das „Haus des Herrn‘ mahnte fchon fchauerlich bedeutfam 
an die dreißig Silberlinge des Sadarja, und fonnte nur da⸗ 
hin auögelegt werden, daß Gott der Herr feine damals in der ſym⸗ 
bolifchen Handlung feines Propheten über Jeruſalem und deſſen Hei- 
ligthum musgefprochene Drohung mit verftärktem Nachdruck jetzt 
erneuere; umd der Umſtand, daß die ifraelitifhe Obrigkeit fogar auf 
den Gedanken fam, für den „Lohn der Ungerechtigkeit” das mit dem 
Fluch belegte Aderfüd Thopheth anzufaufen, drückte jener Deutung 
vollends das Siegel auf. — Es liegt fomit Far am Tage, daß der 
Geift der Weiffagung fowol die Worte bei Sacharja, als diejenigen 
bei Jeremias mit bewußter Beziehung auf die erft nad Jahrhun⸗ 
derten in Jeruſalem eintretende Begebenheit ſprach und faßte; und 
daß Gott den Handel zwifhen Judas und den Oberen Sfraels 
nur Darum die in fo auffallender Weife jenen alten Prophetenfprüchen 
entfpredhende Geftalt gewinnen ließ, weil Er der undankbaren 
Heerde feines Volks ein neues handgreiflihes Wahrzeichen geben 
wollte, daß die Zeit ihrer Berderbensreife, aber auch die ihres 
lange vorher gedrohten Untergangs mit Schreden nun herbei- 
gefonmen fe. — Mit vollem Rechte durfte darum Matthäus ſchreiben: 
„Da it erfüllet, das gefagt iſt. — Wirkliche Prophezeiun— 
gen fanden ihre fchließliche Verwirklichung. — Wie der heilige Geift 
bei Sacharja beftimmt an die Silberlinge des Judas, fo hatte 
er bei Jeremias eben fo beftimmt an den Kauf des Töpferaders 


aan, \ 


Des Berräfpers Ende. 377 


durch die Priefter und Nelteften gedacht. Der Vorwurf blos will⸗ 
fürlider und allegorifirender Anwendungen altteftamentlicher 
Ausſprüche und Vorgänge auf neuteftamentliche Ereigniffe trifft die 
Evangeliften und Apoftel nirgends, — 


Wir fcheiden mit tieferfchütterter Seele von der graufigften Stelle 
der ganzen Baffionsgefchichte, und rufen mit größerm Rechte noch, als 
der Prophet einft dem Könige von Babel, dem unfeligen Jünger das 
Wort des Abjchieds nah: „Wie bift du vom Himmel gefallen, du 
heller Morgenſtern!“ — Wie nahe fann man doch dem Herrn ftehn, 
und dennoch, wenn man fein Herz nicht bewacht, eine Beute des 
Zeufeld werden! Wie Vieles kann man an Gnaden und Gaben von 
Ihm empfangen haben, und durch treulofes Haushalten mit Denfelben 
doch den furchtbarften Bankbruch erleiden! — Wer Chrifto ſich ergibt, 
daß ers nur thue ohne Vorbehalt! Wer Gemeinfchaft mit ihm 
begehrt, daß er mur mit allezeit offener Seele vor Ihm wandle! 
Wer von einem Zehltritt übereilt wird, daß er nur ohne Verzug den 
Thron der Gnade fuche! Und wer von einer Sünde fich beherrfcht 
weiß, daß er um Alles nicht ablafje zu wachen und zu beten, bis durch 
die Gnade deffen, der der Schlange den Kopf zertritt, die Macht der- 
felben gebrochen ift! — Der Keim, aus welchem, wenn er von der 
Hölle befruchtet wird, ein Judas erwachfen kann, liegt in uns Allen, 
Geben wir dem heiligen Geifte Raum, daß er ihn zerftöre; und beten 
wir täglich mit dem alten Kirchendichter: 


Wenn Teufel, Höfe, Tod und Welt, 
Und Sünde, eb’ ich's merfe, 

Mir taufendfahe Netze ſtellt, 

Sp gib mir Sieg und Stärke! 

Lehr’ mi, o mein Herr Iefu Chriſt, — 
Du kannſt's, weil du allmächtig hit, — 
Den Satan untertreten. — Amen. 


878 . Das Hellige. 


XXXI. 
Chriſtus vor Pilatus. 





Wenn Paulus Apoſtelgeſch. 14, 16 zu den heidniſchen Lyſtrenſern 
ſagt: „Gott habe in vergangenen Zeiten alle Heiden 
ihre Wege wandeln laffen“, fo geht feine Meinung keineswegs 
dahin, es habe Gott ſich um die Heiden nicht befümmert, noch ihrer 
Führung und Erziehung fi angenommen, Vielmehr fügt der Apoftel 
ſelbſt gleich nachher hinzu, Gott habe ſich aud an ihnen nicht unbe- 
zeugt gelaffen. Sein Gedanke ift vielmehr der, der Allmächtige habe 
im Intereſſe eines die Welt umfaffenden Heils- und Friedensplanes 
den Völkern außer Ifrael für eine Weile Raum zu dem Verſuche ges 
ben wollen, wie weit fie e8 aus eigenem Dermögen im Werke fittlicher 
Vervollkommnung und wahrer Selbftbeglüdung bringen könnten. Zur 
Zeit der Erfcheinung Ehrifti hatte die Welt in diefen Verſuchen ihre 
Kraft erſchöpft; und nicht zu leugnen iſt's, daß in Gewerbsfleiß, 
gemeinnügigen Erfindungen, gefellfchaftlichen Organifationen, fo wie 
in Staatsverfaffungen, in Kunft und Wiffenfchaft Großes genug ges 
eiftet war, um in dem Menfchen immer noch den gefallenen König, 
den einftmaligen Beherrſcher der Erde zu verrathen. Das römiſche 
Reich bildete gleichfam den Vereinigungspunft und Stapelplag alles 
Hehren, Glänzenden und Schönen, was die menſchliche Schöpferfraft 
im Laufe der Zahrtaufende zu Stand und Weſen brachte. 

War aber das römische Weltreih nun ein Gottesreih an Er- 
leuchtung, Sitte und innerer Befriedigung? Fragt die Gefchichte, und 
fie wird euch fagen, daß in dem Momente, da man hätte denken follen, 
es müffe jegt ein ſolches fein, ftatt der Wahrheit der folternde 
Zweifel, ftatt der Sittlichkeit das raffinirte Laſter, und ftatt des Frie⸗ 
dens ein allgemeines inneres Mißbehagen die Menfchheit beherrfchten, 
und der mit dem Beften und Köftlichiten aller Nationen ausgeftattete 
Rieſenſtaat gerade auf dem Gipfelpunfte feiner Herrlichkeit alle Symp⸗ 
tome einer nahen Auflöfung an ſich trug, und wirklich unaufhaltfam 
feinem Untergang entgegenreifte, 

Wir werden fihon heute, jedoch noch gründficher im ferneren Ver⸗ 
lauf unferer Betrachtungen, Die Belanntichaft eines Mannes machen, 


Chriſtuß vor Pilatus. 379 


der, als geborner Patrizier der Blüthe feines Volkes, des römifchen, 
angehörig, und auf der Höhe der Bildung feines Jahrhunderts ftehend, 
das damalige Heidenthum nad) allen Seiten hin vertritt, und unfre 
fo eben ausgefprochene Behauptung durchaus beftätigt. Diefer Mann 
it Bontius Pilatus. Als ein lebendiger Spiegel feines Volkes 
und feiner Zeit durchfchreitet er die PBaffionsgefchichte; und bedürften 
wir etwa fr unfere Ueberzeugung von der Nothwendigfeit einer 
Welterlöfung, oder der Rechtzeitigfeit der Erfcheinung Chrifti, einer 
neuen Stärkung und Befeftigung, fo wird eine nachdenfende Betrach⸗ 
tung jenes Mannes, der den interefjanteften und bedeutfamften Ziguren 
der Leidensgefchichte beigehört, auch Diefe uns gewähren. 


Johannes 18, 28 -30. 

Da führten fie Iefum von Kaiapha in dad Richthaus. Und es war früh. Und fie 
felbft gingen nicht in das Richthaus, auf daß fie nicht unrein würden, fondern Oftern 
eſſen möchten. Da ging Pilatus zu ihnen heraus, und fprah: „Was bringet ihr für 
Klage wider diefen Menſchen?« Sie antworteten und ſprachen zu ihm: „Wäre dieſer 
nicht ein Mebelthäter, wir hätten ihm dir nicht überantwortet.“ 


Wenn in einer leife bewegten Waflerfläche die Sonne wiederfcheint, 
fo tritt und an einem Punkte diefes Naturfpiegels ihr volles Bild 
entgegen, und faft will uns bedünfen, die Königin des Himmels fei 
von ihrem Wolfenthrone in die Ziefe der blauen Fluth herabgeftiegen. 
Zugleich aber ftrahlt in verjüngterem Maaßſtabe das majeitätifche 
Geftin uns auch wieder aus jedem kraͤuſelnden Wellchen an, und 
Alanzdurchwoben und fonnendurdwirkt erfcheint, fo weit Das Auge 
reicht, Das ganze Gewäfler. In ähnlicher Weife wirft uns die heilige 
Paffionsgefhichte als Ganzes den vollitändigen Umriß des . 
göttlichen Erlöfungsplanes zurück; jedoch fpiegelt ſich der Friedensrath- 
fhluß des Allerhöchiten auch wieder in jedem einzelnen Zuge dieſer 
Geſchichte, wie geringfügig und unfcheinbar derfelbe audy immer fein 
mag. Wir werden heute Gelegenheit finden, und auf's neue hiervon 
zu überzeugen, Für wenig bedeutend möchte man den hiftorifchen Ab- 
ſchnitt halten, vor dem wir mit unferer Betrachtung ftehen; und doch 
iſt aud) er wieder ganz dazu angethan, uns das Bürgen- und Mittler 
thum des Herm mit den hellften Schlaglichtern zu beleuchten. 

Wir richten den betrachtenden Blick zuerft auf die Abführung 
Jeſu zu Bilatus; dann auf den Cintritt Deffelben in das 


380 Das Heilige. 


Richthaus; und endlih auf den Beginn der rihterliden 
Verhandlungen. 

Gebe auch zu der heutigen Paſſionsſtation der Geiſt der Wahrheit 
uns das Geleite, und lehre er uns ausbeuten zu unſerm Heil, was 
wir ſchauen und vernehmen werden! 

1. 

Der Tag iſt eben angebrochen; und ihr wißt, was für einer! Der 
verhängnißvollfte, entſcheidendſte und folgenreichſte Tag der Welt. Mit 
ſchauerlichen Inſignien begrüßt er unſern Herrn. In blutigem Ge⸗ 
wande, den Dornzweig zum Kranz für ſeine Stirne in der einen, in 
der anderen Hand die Geißel, den Todesbecher und das Fluchholz, 
naht er ihm. Ueber uns aber geht er auf, mit der Friedenspalme, 
dem göttlichen Freibrief und der himmlifchen Lebenskrone. O heilger 
Freitag, Zag der Erbarmungen Gottes, Geburtstag unferer ewigen 
Erlöfung, fei uns gefegnet, fei auf den Knieen von uns gegrüßt! — 

Mir treffen die heilige Stadt in ungewöhnlicher Bewegung. Auf 
den Straßen wogt's von Menſchenmaſſen. Ein Schaufpiel, wie Das 
eben fich entfaltende, erlebte man noch nie. Der ganze hohe Rath 
hat fih in feiner Gefammtheit aufgemacht, um in feierlicher Progeffion 
einen zum Zode verdammten Delinquenten dem römifchen Gerichts⸗ 
bof zuzuführen, und diefem die Beftätigung des Urtheils abzutroßen. 
Und wer ijt der Dahingefchleppte? Derfelbe, welcher einft in der nem- 
lihen Stadt unter gleihem Zufammenlauf des Volks mit raufchendem 
Hofiannaruf empfangen, und wie niemals Einer zuvor erhoben und 
gefeiert wurde, Jeſus von Nazareth it's, welchen damals der Jubel⸗ 
hor umklang: „Gelobet fei, der da kommt im Nanıen des Herm!“ 
und welchem felbit die Feinde das Zeugniß nicht verfagen fonnten, 
daß in ihm ein „großer Prophet” unter ihnen aufgeftanden ſei. Jetzt 
begegnet er uns als ein Fluch- und Zegeopfer defjelben Volkes, Das 
ihm einft Palmen geftreut und Kränze gewunden! So hat fih8 mit 
der Gunft der Welt, und fo viel Wahrheit ift an dem Sprichwort, 
daß „die Stimme des Bolfes Gottes Stimme” fei. 

Nach dem Palaſte des Herodes geht der Zug. Hier nemlich pflegte 
der Zandpfleger zu refidiren, wenn ihn fein Amt von Cäſarea am 
Meere, wo er feinen regelmäßigen Wohnfiß hatte, nad) Jeruſalem 
führte. Es ift bekannt, daß die römischen Kaifer die verfchiedenen 
Landestheile ihres weiten Reichs durch Prokonfuln oder Statthalter 
verwalten ließen. Diefen aber waren für Die einzelnen ‘Provinzen 


Chrikus vor Pilatus. | 381 


ihrer Negierungsbereiche Profuratoren oder Landpfleger beigegeben, 
welche die Steuern zu erheben hatten, und in Gerichtöhändeln in 
höchfter Inſtanz entfchteden. In kleineren Landfchaften vertraten Letz⸗ 
tere nicht felten ganz die Stelle jener Gouverneure; wie dies unter 
anderen auch in Ju däa der Fall war, welches man fammt Samarien 
der Provinz Syrien einverleibt hatte. Diefen Männern wurde ins» 
gemein nachgefagt, daß fie gewohnt feien, ihre einflußreichen Stellungen 
im Intereſſe ihrer Habfucht auszubeuten, und an ihrem Namen hafs 
tete Darum der Ruf der Ungerechtigkeit und Härte. Wo fie erfhienen, 
begegneten ihnen nur das Mißtrauen und die geheime Erbitterung 
ihrer Untergebenen; und lediglid durch Anwendung militärifcher Ges 
walt gelang es ihnen, ihren Befehlen Nachdrud zu verfchaffen, und 
die immer drohenden Volksaufftände niederzuhalten. Pontius Pis 
latus war nad Abfekung und Verweiſung des Vierfürften Archelaus 
(im Jahre 6 nach Ehrifti Geburt) der fechste Landpfleger in Yudän, 
Aus Lulas 3, 1 erhellt, daß er bereits, als Johannes der Täufer in 
der Wüfte auftrat, fein Amt bekleidete, und fomit in Paläftina die 
ganze dreijährige Wirkſamkeit des Herrn erlebte. Zehn Jahre hindurch 
wußte er fich, und zwar unter dem Kaifer Tiberius, auf feinem Poſten 
zu behaupten, was, da es einen fehwierigern wohl im ganzen römifchen 
Reiche nicht gab, feiner Herrfcherfunft alle Ehre macht. Denn abge 
fehen davon, Daß er's mit den Juden, der klügſten, aber auch der 
intriguanteften aller Nationen zu thun hatte, gab es Fein anderes Volt 
auf Erden, dem die Zremdherrfchaft in folhem Maaße ein Greuel 
war, ald eben diefem. Wie weit auch das Volk der Juden feine einft 
malige Herrlichkeit fchon hinter ſich hatte, fo blieb es troß aller feiner 
Verkommenheit fi) doc, feines Adels als des auserwählten Volkes 
Gottes nach wie vor bewußt, und glaubte ſich, allerdings auf große, 
jedoch fehr mißverftiandene Verheißungen geftüßt, berufen, dereinft die 
ganze Welt zu beherrfchen. Und fie, dieſe freigeborenen Kinder Abras 
hams fanden fi nım in ein fremdes Joch, und noch) dazu in ein heid⸗ 
nifches gefchmiedet! Was Wunder, daß fie ed nur mit verbiffenem 
Ingrimm, wie ein gefangener Löwe fein eifern Halsband, trugen, und 
der, der zunächft die Gewalt über fie übte, von vornherein ein Ges 
genftand ihres bitterften Haffes war! Daß aber auch Pilatus feiners 
ſeits feine fonderfiche Liebe für dieſes Volt empfinden konnte, umd 
demfelben, wo Gelegenheit dazu fi) bot, gerne feine Oberhoheit fühl 
bar machte, ift ebenfo begreiflich; fo wie es auch fehwerlich Jemanden 


882 Das Heilige. 

befremden wird, daß Pilatus lieber das meift von Heiden beimohnte, 
und durch feinen Hafen mit der übrigen römifchen Welt um lebhaf⸗ 
teften Verkehr ftehende Caͤſarea zu feinem feften Wohnftg wählte, als 
die Metropole der hochmüthigen und immer zum Aufruhr geneigten 
Hebräer. Zu verfchiedenen Malen kam es unter feiner Statthalter 
[haft in Jeruſalem zu ernftlihen Volksaufläufen, weiche nur durch 
Aufgebot der in der Burg Antonia einfafernirten roͤmiſchen Befakung 
gedämpft werden fonnten. Solche erneuerten Vleberwältigungen aber, 
denen dann natürlich nur eine um fo ftrengere Handhabung der Re 
gierungszügel Seitens des Landpflegeramtes zu folgen pflegte, er 
bitterten das Voll nur noch immer mehr. Uebrigens gehörte Pilatus 
noch nicht zu den härteften und ftrengften der Profuratoren ; und wem 
er, wie unter Anderm aus Lucas 13, 1 erhellt, zuweilen blutige Yuftiz 
geübt, fo mag er dazu wohl Anlaß genug gefunden haben. — Könnten 
wir den Juden, und namentlich ihren SPBrieftern und Aelteſten, bei 
ihrer Prozeffion zum Prätorium des Nömers in die Herzen ſchauen, 
fo würden wir eine lodernde Hölle von Wuth und Aerger darin er 
bliden. Es war ihnen entjeglich, zu diefer offenen Kundgebimg ihres 
Unterwürfigfeitsverhältniffes unter die fremde Herrichaft fih gezwungen 
zu fehn. Aber der Blutdurft, mit welchem fie nad) der Vertilgung 
des verhaßten Nazareners lechzten, überwog diesmal felbit ihren maaß⸗ 
loſen Ehrgeiz und unbegrenzten Nationalftog. Schäumend vor Uns 
muth, ja gefeflelten Hyänen gleich in ihre Bande ftürmend, ziehen 
fie mit ihrem Schladhtopfer hin, und müffen, ohne e8 zu wollen, durch 
diefen ihren Aufzug thatfächlich bezeugen, daß „das Scepter von Juda 
entwendet” und mithin Die bereitS von dem fterbenden Jakob mit 
Beftimmtheit vorher verfündete Zeit der Erſcheinung des „Helden, 
welchen die Völker anhangen” würden, nunmehr herbeigelommen fei. 
Ja, fie müffen ein Mehreres noch beurfunden denn dies, und vermittelft 
ihrer Bosheit die Nothwendigkeit einer VBerföhnung außer Frage ftellen, 
wie eben der gebundene Mann, der an ihrer Spike ging, fie ins 
Werk zu ftellen hinzog. 

Gewiß wird ein Jeder hier etwas davon fühlen, daß Gott eine 
wiifte Srevlerrotte, wie wir fle hier vor uns haben, nothwendig auf 
ewig verfluchen mußte, wenn nicht ein ftellvertretender Bürge den 
Fluch derſelben auf fi) nahm, und der göttlichen Gerechtigkeit an 
ihrer Statt genug that. Dem Allerhöchften die Zumuthung machen 
wollen, daß er auch eine folche Belialsbrut ohne Weiteres begnadige, 


Coritus vor Pilatus. 383 


hieße den Umſturz aller fittlichen Weltordnung fordern, und von Bott 
nichts Geringeres begehrten, als daß er mit ſich felbit zerfalle, und 
aufhoͤre Gott zu ſein. An die Moͤglichkeit eines Seligwerdens fuͤr 


ein Geſchlecht, wie das adamitiſche, ohne daß eine Sühne vorherging, 
fann Die Bernunft nur glauben; und faum erfcheint irgend Etwas 


in der Welt vernünftiger, als die biblifche Lehre von der Erlöfung der 
Sünder durch den vermittelnden Daywifchentritt des Sohnes Gottes, 
Ich geftehe, Daß ich Alles, was in mir ift, in die namenlofefte Aufres 
gung und Beftürzung verfeßt fühlen würde, wenn id) plößlich den drei⸗ 
mal heiligen Gott ohne eine Dazwifchenkunft, wie die befagte, um den 
nichtöwürdigen Haufen Dort zu Serufalem den Arm der verzeihenden 
Liebe fchlingen ſähe. Es würde mir in diefem Falle nichts übrig blei- 
ben, als entweder an Gott, oder an meinen eignen Augen irre zu wer: 
den. Nun ich aber inmitten jener Uebelthäter das Lamm erblide, Das 
der Welt Sünde trägt, dürfte Gott felbft den Verſunkenſten unter je 
nem Natterngezüchte die Pforten des Paradiefes öffnen, und ich würde 
darin weder etwas Näthfelhaftes erblicken, noch irgend Anftoß daran 
nehmen, So ift Das Lamm gegenwärtig fehon die Leuchte im Haufe 
und im Regimente Gottes, und das Kreuz der Schlüffel zu den tiefften 
Geheimniffen Seiner Führungen und Wege. — Dort kommt er her, der 
hehre Friedensfürft, gebunden und über und über mit Schmach bes 
dedt. Wer vermöchte in diefes Schaufpiel fih zu finden, und ferner 
noch an das Walten einer göttlichen Gerechtigkeit über der Welt zu 
glauben, wenn wir in Zefu hier nur den Jeſum an und für ſich, 
und nicht zugleich den Mittler und Hohenpriefter erfchauen 
dürften. Nun wir aber um feine Bürgenftellung wiffen, fühlen wir 
und von feiner unendlichen Emiedrigung nach wie vor wohl aufs 
tiefite erfchüttert und bewegt; aber nicht mehr betroffen nod be> 
fremdet. Sa, wir ertragen es fogar, daß man uns fage, Die ficht- 
baren Marter, die ihn überfluthen, feien nur die ſchwachen Wieder: 
fpiegelungen ungleich jchauerlicherer Foltern, die er im Verborgenen 
erleide, und die Schaar, die mit Schwertem und Spießen ihn ums 
gebe, bilde nur einen Theil der ihn geleitenden Eskorte, indem ein 
anderer Theil, ein umfichtbarer, hinter den VBorhängen unmittelbar vom 
Satan jelbit befehligt werde. Denn wollte Chriſtus unfer 2008 
erfüllen, fo wiffen wir ja, daß Diefes jene Schrecken alle in fih 
barg. Es traf ihm nichts mehr noch weniger, als was um unferer 
Sünden willen uns zugemeflen war. Wie unausipreihlich Großes 


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Srtindrmaz Verıer Barksı Moos. 2 18-19 ur Des beiimnmiene 
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Jervialen, wı te Merten Schn zu? den Deiwupriidtern m 
Zckrtiaeleſtten üsermmrrerter zerden, or? fe werden ie nerdugunen 
am Zede, wıd werden ıdan überaurrerten Deu Heiden, im 
m vericetten, u acheln und m Famumr* Die legtere Ueberan⸗ 
were ieben ir jegr sur Veliierung femme In ibr macht Jirael 
Das Mrs teuer Stuten ee Ira wetteamal liefets, um ge 
Heizerten GSegenbude. ſetren Bruder Jeiſerb u Me Unbeidwürenen 
mm? Aremter aus. Jualeih rerimbudishes im Dieter lleberweiiung 
ven eigenes Stifii Gs tritt das Seil der Bel seht ibm u 
gedacht, m areaulıttn Undank oı die Heiden ab, ım felbit fortan 
m Finſterniß ımd Schatten des Tedes zu verihmachten! 

2. 

Ter Zug lanat ver dem Palaſte des Profuraters m. Was begibt 
ih mm? Sie ergreiien ihren Gebundenen. und toben ibn gewaltjam 
in das geörmete Portal des Hauſes hinein, mübrend fie jeiber draußen 
por der Pforte iteben bleiben. Warum dies? „Auf daß tie,“ meldet 
Die Geichichte, „Da fie am Abende dieſes Tages das Diters 
lamm eiien wollten, ſich nicht verunreinigten.“ Cie 
glaubten nemlich, mit in Gemäßbeit des richtig verſtandenen göttlis 
hen Geiepes, iondern auf Grund willtürlich erfumdener rabbinifcher 


Chris vor Pilatus, 385 


Sapungen einer ſolchen Verunreinigung dadurch fich auszufehen, daß 
fie ein Haus betraten, und obendrein ein heidnifches, in welchem ſich 
Sauerteig finden möchte. Daß ihr Gefangner fi) befudle, dawi⸗ 
der haben fie nichts. Ja, fie flürzen ihn gefliffentlich in die Verun⸗ 
reinigung hinein, umd floßen ihn damit in einer handgreiflichen Syms 
bolik als einen Zöllner und Sünder aus der Gemeinfchaft der Kinder 
Iſraels aus. Dies Alles mußte fih aber alfo fügen, damit die 
GSeftalt des Sünderbürgen immer ausgeprägter zu Zage träte, 
und ein Jeder in ihm den allgemeinen Miffethäter erfennete, der kraft 
eines geheimnißvollen Uebertrags Alles auf fich genommen, was ung 
verdammte. Kein Zug der Paifionsgefchichte iſt bedeutungsleer. Ue⸗ 
berall ift Abficht, höherer Plan, göttliche Tiefe. Entſetzlich ift Die 
Scene diefer gewalfamen Hineindrängung . des Heiligen Iſraels in 
das Haus des Heiden. Eine Bosheit gibt fi) darin fund, die des 
abgefeimteften Damons würdig wäre. Wie würde, wenn ſich's bier 
nicht um die Erlöfung der Welt gehandelt hätte, der Himmel dazu 
haben ſchweigen, und feine Zomesfchalen zurüdhalten dürfen? Aber 
e8 handelte fich hier eben um die Rettung der Welt, und darım ges 
fhieht es, daß das Lamm fi Alles, auch das Unwuͤrdigſte und 
Schmaͤhlichſte, ſchweigend gefallen läßt. Man möchte blutige Thränen 
weinen, wenn man den Mann, der die Liebe jelber war, fo von den 
toben FZäuften der undankbaren Menge bingeftoßen fieht. Doc weinen 
wir nicht über Ihn, ſondern über uns und unfer Gefchlecht, das 
ſolcher Scheußfichkeiten und Zeufeleien fähig ift. Ueberſehen wir aber 
auch das chriftliche Sinnbild nicht, das auch in diefem gefchichtlichen 
Zuge wieder und entgegen tritt. Nicht dahin blos, wo fcheinbar 
nur, fondern auch wo wirkliche und ernſtliche Gefahr uns drohte: in 
die Schauertiefen de& Gefehesfluhs, in den Kerker des Todes, ja, 
in den Abgrund der Hölle ift Chriſtus allein für uns. hineinge- 
gangen, um alle die Schreden, die dort uns bereitet waren, an feiner 
gebenedeieten Perfon ihre Macht erfchöpfen, und uns nur Frieden, 
Segen, Heil und Freiheit zurüd zu laſſen. 

Was aber wollen wir zu dem Beginnen der Suden fagen, die ‚mäh- 
rend fie fich fein Gewiflen daraus machen, des Sauerteigs aller Gott- 
Ioflgfeit voll die Meutererhand an den Heiligen Gottes zu legen, zu 
gewiftenhaft ſich gebährden, um das Haus eines unreinen Heiden zu be- 
treten, weil fie Dafelbit mit natürlichem Sauerteige in Berührung fom- 
men Lönnten? Welch grelles Exempel ftellen diefe übertünchten Gräber 

25 


386 Das Heilige. 


hier uns zu den Worten Des Herrn Watt. 23, 23 auf: „Wehe euch, 
ihr Heuchler, Die ihr verzehntet Münze, ZH und Kümmel, und laſſet 
dahinten das Schwerfte im Geſetz, nämlich Das Gericht, Die Barmber- 
zigleit und den Glauben!” Und welchen erjchöpfenden Kommentar 
liefern fie uns zugleich zu dem darauf folgenden Ausſpruch: „Ihr 
verblendeten Leiter! Müden feiget ihr, und ihr verſchluckt Kameelel!“ 
Doch wollte Gott, Diefe Elenden wären die Einzigen ihrer Art ge 
blieben! Aber in den mannigfaltigften Zärbungen und Geftalten bes 
gegnen fie uns felbft inmitten der Ehriftenheit immer wieder. Wer 
fennt fie nicht, die Leute, welche zwar auf das ängftlichfte von den 
Sammelpläpen der Welt fi fen halten, umd von jeder gejellichafts 
lichen Berührung mit derfelben fich forglichft hüten; aber Darüber 
mit leichter Mühe hinwegzukommen wiffen, daß fie in allen Künften 
unlauterer Berftellung, liebloſen Splütterrichtend und gehäffigen After 
redens nicht nur wetteiferu mit der Welt, fondern Die Welt fogar 
noch überbieten? Wer kennt fie nicht, Die, wer weiß, wie ſchwer ſich 
zu verfündigen glauben würden, wenn fie am Sonntage auch nur Die 
geringfte Arbeit verrichten, oder bei irgend einer gottesdienftlichen Feier 
nicht Die erften fein wollten, während es ihnen nicht in den Sinn 
fommt, fi) den geheimen Mammonsdienft, dem fie ergeben find, ale 
Sünde anzurechnen? Gie, die um feinen Preis in den Räumen 
eines Schaufpielhaufes, oder auf den Brettern eines Ballfaals ſich 
blicken ließen, — woran fie übrigens immerhin wohl thun; aber unbe 
denflich fich’8 vergeben, daß fie für jene Enthaltung durch Theilnahme 
ihrer Bhantafie an allen Genüffen und Freuden der Welt fi) reich- 
lichſt ſchadlos halten, und in ihrer Weife nicht minder, als die luf—⸗ 
tigften Kinder der Zeit, auf die fie vornehm herabfchauen, von Eitel- 
feit jtrogen? Sie, die bei Stiftungen wohlthätiger Anftalten und Vers 
eine nimmer fehlen zu dürfen, und ihre Namen in vuorderfter Reihe 
den Lijten der Beitragenden einzeichnen zu müffen vermeinen, während 
fie fid) aus dem verſteckten Lug und Zrug, den fie in ihrem Handel 
und Wandel treiben, oder aus ihrer Ungerechtigkeit und Härte gegen 
ihre Ilntergebenen, oder aus ihrem Geizen und Jagen nad) vergäng- 
lichen Chrentand durchaus fein Gewiffen machen? Eine liftige Art, 
an den fittlichen Anforderungen, die Gott an unfer Verhalten ftellt, 
ohne Gewiſſensbeſchwer fich vorbei zu machen, ift Die, daß man flatt 
dein göttlichen Joche fich zu beugen, ein anderes, das dem Sleifche 
mehr behagt, ſich felber formt und auflegt, und dadurch fich fogax 


Chriftus vor Pilatus, 387 


den Schein gibt, als vollbringe man noch mehr, ald man nad 
Gottes Gebot zu thum ſchuldig ſei. In diefer Weife eniftanden die 
Satzungen der talmudiftifchen Rabbinen, welche, obwohl fie nichts als 
leicht zu verrichtende Epercitien find, denen, die fie üben, den Schein 
einer ganz befonderen Frömmigkeit, Gewiffenhaftigkeit und Pflichttreue 
leihen. In diefem Wege entftand ebenfalls die feichte und fentimentale 
Moral unferer neueften Aufgeklärten, dieſes Gewebe allerdings ans 
fprechender, aber nur von der Oberfläche des fittlichen Bewußtfeins 
abgefchöpfter Lebensregeln, die fich ebenfo bequem befolgen lafjen, als 
ihre Befolgung wohlfeilften Kaufes zum tugendlichften Anftrihe ung 
verhilft. Aber es irrt, wer da wähnt, durch ſolche Heiligkeitfurrogate 
mit dem Allerhöchften ſich auseinanderfegen zu können; und es ver- 
mehrt und läftert Ihn, wer Seine heiligen Augen mit „Bechern und 
Schuͤſſeln“ zu beftechen hofft, die „auswendig” zwar „rein gehalten” 
aber „inwendig voll Raubes und Fraßes find.” Der in der Höhe 
wohnt, begmügt fi) ebenfowenig mit bloßen Abfchlagsfummen auf 
das Ganze des Gehorſams, das wir ihm fchulden, als er an Stelle 
des gediegenen Goldes der von feinem Geſetze erforderten Gerech⸗ 
tigkeit, die Nechenpfennige unferer felbftbeliebten Werke annimmt. 
„Des Herrn Augen“ fprady der Prophet Hanani zum Könige Aſa, 
„Ihauen über alle Lande, daß er zur Seite ſtehe denen, 
fo von ganzem Herzen an ihm find.” „Wer böfe tft,” ruft 
der Herr, „fet immerhin böfe; und wer fromm ift, fet immerhin 
fromm!“ Er will den ganzen Menfchen haben, und nicht Bruchtheile 
nur von ihm. Wer fich nicht entfchliegen kann, ohne irgend einen 
Vorbehalt Seinem Dienft fi) zu bequemen, der verliert nichts, und 
büßt nichts ein, wenn er fih ganz wieder zunidnimmt, und der 
Welt und dem eigenen Belüfte zur Verfügung ftellt. Zwifchen Glau⸗ 
ben und Unglauben eriftirt fein Mittelding. Man gibt im Glauben 
ſich felber auf an Gott; und wo Dies nicht gefchieht, da glaubt 
man auch nicht, wie fehr man auch in Kirchlichfeit und gottesdienft- 
lichen Werfen gleige. Die Belehrung ift eine neue. Geburf, und 
nicht ein Flickwerk nur am alten Weſen. Ein harmoniſcher Organis- 
mus ift Das Leben der Bottfeligfeit, und nicht eine Zufammenftüdelung 
frommer Eingelnafte. 
3. 


Pilatus hats bald heraus gewittert, warım die Juden ihm ihren 
Angellagten allein durch die Pforte fchieben; fühlt ſich aber Dadurch) 
235* 


388 "DaB Heilige. 


fo wenig beleidigt, Daß er es ignorirt, und großmüthig mit der Frage 
nach dem Zwed ihres Erfcheinens vor fie heraustritt. Er denkt, es 
feien ja nur befangene und Eleingeiftige Juden, mit denen er es hier 
zu thun habe, und eradhtet8 feiner Bildungsftufe wie feiner Würde 
angemeffen, ihre befchränkten Vorurtheile zu tolerirn. Nur weift 
er mit ihren Vorurtheilen zugleich die ewigen Offenbarungen von der 
Hand, in deren Befiß fich die Juden befanden. Brüder, es fehlt 
auch unter uns an Leuten nicht, Die, freilich nicht ohme große Ber: 
fhuldung, eine ähnliche Stellung wie die, in der wir den folgen 
Römer den Kindern Abrahams gegenüber hier betreffen, zu allen le 
bendigen Ehriften eingenommen haben. Nicht zu leugnen ift es, 
daß es Gläubige gibt, die an einer gewiffen Einfeitigfeit und geift- 
loſen Befchränftheit im Urtheil über Dinge der Wiffenfchaft, der Kunſt, 
oder des Lebens, kränfeln. Ihr Gereifteren am Geift möat auf dieſe 
Einfältigen und ihren engern Gefichtäfreis immerhin mit einem ges 
wiffen Mitleid niederfchauen. Wir wollen euch daraus fein Verbrechen 
machen; denn es ift oft ſchwer, Diefes enge und bornirte Weſen zu 
tragen. Wenn ihr euch aber überhaupt über jene Leutlein erhaben 
dünft, und mit ihren Befchränftheiten auch die Wahrheiten, deren 
Zräger fie find, nur vornehm dulden zu müffen meint, fo thut ihr 
daran im höchften Grade übel, und werdet euren Dünfel fchwer be 
zahlen müffen. Seid ihr in der That über diefe „Armen am Geift“ 
in allen Beziehungen hinaus, fo bleibt euch, wenn ihr das höchfte 
Ziel eures Dafeins nicht verfehlen wollt, nichts übrig, als in den 
wefentlichften diefer Beziehungen von euren ftolzen Höhen zu jenen 
wieder herabzufteigen. Ja, herab müßt ihr zu ihrem Armenfünder: 
Scemel, zu dem Bettelftab des Gnadendurftes, an dem fle gehen, 
und zu dem Lazaruslager vor des reichen Mannes, d. i. des Herru 
Ehrifti, Thür, in welchem ihr fie liegen feht; und müßt erfennen, daß 
fie in Allen, was einen wahren und bleibenden Werth bat, weit 
über euch hinaus find, und ihr gen „Mitternacht“ wandelt, wenn 
nicht der Glaube, die Liebe und der Himmeläfinn jener unfcheinbaren 
Liebhaber des Lammes auch euer Erbtheil werden. Es fei euch nicht 
verwehrt, an Bildung, Weitherzigfeit und Reife des Urtheils es ihnen 
zuvor zu thun, und fo weit der Geift von oben euch Spielraun dazu 
eröffnet, feffellofer und freier euch zu bewegen. Ihr müßt aber mit . 
jenen Geringen aus demfelben Kern gezogen fein, und auf derfelben 
Lebenswurzel grünen, oder ihr bleibt auf der Höhe eurer „ geiftis 


Chriftus’vor Pilatus. 889 


gen lieberlegenheit* umd „freieren Umſicht“ Kinder des Todes, mäh- 
rend fie aus den dunkelen Puppengehäufen ihres Bildungdmangels 
einft als herrliche Gottesfalter fih gen Himmel fchwingen werden. 
Sehet euch darım wohl vor, daß ihr nicht im entfeßlichften Sinne 
des Wortes „das Kind mit dem Bade verfchüttet.* In einer Stadt, 
wo, wie in der unſrigen, die Gefahr fo befonders nahe liegt, der 
weniger anfprechenden Form und Schale halber auch den göttlichen 
Kern, den Ddiefelbe umfchließt, von fich zu werfen, finde ich mid) 
veranlaßt und gendthigt, mit verdoppeltem Nachdrud euch ſolche Bars 
nung ans Herz zu legen. 

Pilatus, heraustretend vor das Volk, beginnt zu demſelben: „Was 
bringet ihr für Klage wider diefen Menſchen?“ Er winmt 
den Standpuuft des Unglaubens und des Indifferentismus ein; aber 
er weiß den Handel vorurtheilsfreier zu würdigen, al8 Die Juden, und 
vermag nad) alle dem, was er über den Nazarener bisher vernommen 
hat, und in dieſem Augenblide ihm perfönlich abfühlt, ſich's nicht zu 
denfen, daß man demfelben irgend etwas Erhebliches werde zur Laſt 
legen können, Und wie dem Pilatus, fo ergeht e8 Jedem, der nur eins 
mal fi) herzu läßt, unbefangen in die heilige Schrift hineinzuſchauen. 
Auch er wird fih eines Eindruds von der Unfträflichleit Ehrifti nicht 
erwehren Eönnen, den binfort nichts mehr zu entlräften und zu er 
füttern vermögen wird, Daß aber einmal wirklih ein Heiliger 
im vollen Sinne diefes Worts die Erde betreten hat, muß dies nicht 
ein großes, erflaunenswürdiges Wunder heißen? Hat dieſe Thats 
fache nicht viel anderes Großes zu ihrer nothwendigen Borausfeßung ? 
Folgt aus ihr nicht unabweisbar, dag den Ausfagen dieſes Gerechten 
weit eher Glauben beizumefien fei, als den Lehren aller Weiſen 
nad dem Fleifh? Nöthigt fie uns nicht zugleich die Ueberzeugung 
auf, daß diefer Mann, der von ſolchem Glanz umfloffen aus der 
Reihe aller übrigen Sterblichen heraustritt, von Gott zu ganz beſon⸗ 
deren Zwecken verordnet fein müffe? Leitet dann diefer letztere Ges 
danke nicht nothwendig zu dem anderen, daß es mit den Martern, 
welche wir über diefen Heiligen fich ergießen fehen, eine ganz außer⸗ 
gewöhnliche und geheimnißvolle Bewandtnig haben müffe? Und flieht 
man ſich nicht endlich, bevor einem noch eine pofitive Offenbarung‘ 
Darüber zugegangen, zu dem Schluffe hingedrängt, es müfle dieſer 
Unvergleichliche zum Retter und Heiland der fündigen Welt erfehen 
fein? Schon im Wege eines vorurtheiläfteien und folgerehten Nach⸗ 


390 Das Heilige. 


denkens ift es unmöglich, an ſolchen Betrachtungen vorbei zu kem⸗ 
men, Aber freifich, wo findet fich dieſe unbefangene und gejunde Res 
flerion? Des natärlicden Menſchen Lingelehrigleit und Stumpffinn im 
Bereiche der überfinnlichen und göttlichen Dinge hat keine Grenzen. 
Auf des Landpflegers Frage, weſſen man denn Jefum zu befchuls 
digen habe, erfolgt nun Seitens der Berkläger die wahnſinnig ſtolze 
Antwort: Wäre Diejer nicht ein Uebelthäter, wir hätten 
ihn dir nicht überantwortet! ” Ihr ganzer Zroß gegen den 
verbaßten Römer tritt in diefer frechen Rede fchäumend an den Tag. 
Es ift der Troß gefeffelter Sflaven, der Ingrimm angeletteter Hunde, 
Zugleich gibt fich hier wieder in großartigfter Weile der rafende 
Pharijäismus jener Rotte fund; denn fie morden die Unſchuld, umd 
vollbringen ein Werk der Hölle, aber weil fie dies thun, fo muß es 
recht gethan und fonder Zadel fein Kann. ſich der Hochmuth weiter 
verfteigen? Ueberſehen wir indeflen nicht, daß fie mit jenem vermeſ⸗ 
jenen Worte zugleich nur die Verlegenheit zu verdecken hoffen, in Die 
fie troß alles Schein des Gegentheils fich hinein verwidelt Haben, 
Sie find fid) feines Dings bewußt, woraus fie eine gegründete An⸗ 
lage gegen ihren Delinquenten formuliven Lönnten, und meinen nım, 
daß die Dreiftigfeit ihres Auftretens ſchon erfeßen werde, was ikmen 
an thatfächlichen Zeugniffen und Beweifen gegen Jeſum abgeht. 
Leider! verfehlen fie auch ihren Zwed nicht ganz. Pilatus läßt ich 
in der That Durch ihre Entjchloffenheit imponiren, und ſetzt den er- 
ften Fuß auf jene abfchüffige Bahn nachgebender Schwäche, auf meis 
her wir ihn wider feinen Willen von Verbrechen zu Verbrechen fort» 
geriffen, und endlich unter dem Hohngelädhter. der Hölle in den Ab⸗ 
gründen des ewigen Verderbens werden enden fehen. „So nehmet 
ihr ihn Hin,“ ruft er den Verklägern zu, „und richtet ihn 
nah euerem Geſetz!“ Nichtswürdiges Verfahren eines Richters, 
der Recht und Gerechtigkeit handhaben foll auf Erden! Wir fehen 
ſchon, wie wenig ihn daran gelegen ift, vb Jeſus Ichen bleibe, oder 
fterbe; nur möchte er nicht gerne eines Menſchen Bist auf feine Seele 
laden, dem fein Gewiffen als einem Schuldlofen Recht fpricht. 
Nuchlofer als jener Römer ſtehen diejenigen unfrer Zeitgenoffen da, 
welche zwar darin auch dem Landpfleger gleichen, daB fie nicht gem 
perſönlich die Hand an Jeſum legen möchten, weil aud fie eines 
gewiffen Grades von Ehrerbietung gegen Ihn. fih nicht erwehren kau⸗ 
nen; Die; aber frecheren. Buben, ala fie. felber. find, wenn auch insge⸗ 


Ghrifins vor Bilatns. 301 


beim und verfiohlen nur, in ihrem Sunern, wie Pilatus öffentlich, 
zurammen:. „Rehmet ihr ihn bin, und richtet ihm nach euerem Geſetz;“ 
und die es dann mit jubelnder Schadenfreude begrüßen, wenn Sa⸗ 
tansapoftel den Heiligen in den Staub herinterziehen, fein Evange 
lium mit ihren höllifchen Läfterungen begeifern, und feinen Gläubigen 
mit der Narrenlappe oder dem Heuchlerbrandmal Iohuen. Ja, ihr mit 
dem ftillen Ergoͤtzen an den antichriftifchen Unternehmungen und him⸗ 
melftürmerifchen Bewegungen der Zeit, ihr follt wiſſen, daß Pilatus, 
mit euch verglichen, ein Ehrenmann geweſen ift, und ihr eben fo zur 
verläffig eines zwiefachen Fluches vor ihm würdig fetd, als ihr das 
Malzeichen dieſes Fluches ſchon an der Stine tragt, 

„Nehmet ihr ihn hin und richtet ihn nach euerem Ge- 
ſetze!“ Ja, von Herzen gerne hätte fi der Heide an der Mitſchuld 
der Ermordung diefes Gerechten vorbeigemacht. In dem Gleiſe aber, 
das er einfchlägt, wird’8 ihm nicht gelingen. Er muß entweder für 
oder wider Jeſum fich entfcheiden. Er ift genöthigt, entweder unter 
Hintanfegung aller Privatrüdfichten die Sache des Heiligen zu vers 
treten, oder zu der graufigiten Blutthat, die die Welt gefehen, mit 
handelnd auch feine Hand zu bieten. Ein gleiches Gefchid aber, ihr 
Freunde, wultet auch über und. Für eine neutrale Stellung in dem 
großen Handel ift uns eben fo wenig, wie jenem, ein Raum gelaffen, 
Auch mit uns kommt der Heilige Iſraels in eine zu nahe Berührung, 
als dag wir an ihm vorüberhufchen Lönnten. Wenn wir ihm nicht 
huldigen wollen, fo find wir gezwungen, ihn zu kreuzigen. Nein, wir 
umfchiffen die Klippe nicht, ihn verwerfen zu müffen, wollen wir 
und nicht entſchieden ihm ergeben. Zu laut bezeugt Er. unferem 
Gewiſſen: „Ich bin der Herr,” als daB es uns gelingen -Lönnte, 
durch ein bloßes flüchtiges Compliment und friedlih mit ihm abzu⸗ 
finden. Begehren wir und von ihm zu Idfen, fo bleibt und nur übrig, 
in pofitiver Widerfeglichkeit zu ihm zu fprechen: „Wir wollen nicht, 
daß du über uns herrfcheft. Gehe hinter uns!“ Und wehe, daß ich 
beforgen muß, e8 werde bis zu folcher energifchen Abfertigung ihres 
einigen Seligmachers ſchon mit Manchen unter uns gelommen fein! 
Gnade. Gott. Diefen armen, beflagenöwerthen Seelen ! 

Die Juden fehlagen dem Pilatus die Hinterpforte, durd Die er Dex 
Mitbetheiligung an dem gräßfichen Verbrechen des Ehriftusmordes zu 
entrinnen. hofft, nor. dem Angefichte wieder zu, indem fie ihm auf ſein 
Bug, berechnetes: „Rüchtet ihr.ihn nad: eue rem Gepapy’. Die 


392 Das Heilige. 


für ihn fo tief befhämende Antwort geben: „Wir dürfen Rie- 
mand tödten.” Pilatus wußte, daß fie das nicht durften. Weihe 
bis zur Gedankewerwirrung gefteigerte Verlegenheit verrieth er alte 
damit, daß er, der oberfte Richter, den Juden felbft Die Vollziehung 
eines Zuftizaktes anempfehlen konnte, zu dem ihnen nad) dem beſte⸗ 
henden Rechte feinerlei Befugniß zuftand! Oder ließ fih Pilatus etwa 
zu feinem thörichten Ausfpruch verleiten, weil er noch feine Ahmmg 
hatte, daß es Seitens der Verfläger auf eine Hinrihtung Jen 
abgefehen fei? Auch dies wäre denkbar. Genug, fein erbärmlicher 
Ausweichungsverfuch fcheitert gänzlich, wie er e8 verdiente. Einen 
wahrhaft tragifchen Anblic gewährt es, wie die Umftände fo fidy fü 
gen und verflechten muͤſſen, als folle Pilatus in die Blutſchuld mit 
hinein. Und allerdings foll er, wenn er ſich nicht entichließen kann, 
dem Herm Jeſu huldigend fein Herz zu geben; fo wie auch ein Je⸗ 
der unter euch, der hartnädig dem Aufruf zur Belehrung widerfirebt, 
je länger je mehr in Folge göttlichen Gerichts das Maß feiner Sür 
den erfüllen muß, und gendthigt wird, feine Berderbensreife zu be 
ſchleunigen. 

„Wir dürfen Niemand tödten.“ Sie durften's freilich nicht. 
Geſchah es einmal, daß fie tumultuariſch einen vermeintlichen Keßer 
. zu Tode fleinigten, fo wurde Dies von der römischen Obrigkeit viel 
Seicht mit Schonung überfehen. Zu einer förmlichen Hinrihtumg aber 
und namentlich zu einem Kreuzigungsakte konnten fie die höhere Ges 
nehmigung nicht entbehren. Offen, wenngleich mit verbiffenem In⸗ 
grimm, geftehen fie diejes ihr Abhängigkeitsverhältniß vor dem römi> 
hen Zribunale ein. Ihr Rachedurft gegen den Nazarener überwiegt 
diesmal felbft ihren Nationalſtolz. Gefreuzigt fol er werden, der 
Mann ihres Hafles, und mit Eclat zu Grunde gehen. Das find 
ihre Gedanken. Aber e8 denkt Dabei das Seine auch der Allmäch⸗ 
tige in der Höhe. Wie lefen wir in unferem Zerte? Der Evan: 
gelift bemerkt, e8 habe der gerichtliche Handel jene Wendung nehmen 
müffen, „auf daß erfüllt würde das Wort Sefu, das er 
fagte, da er deutete, weldhes Todes er fterben würde!“ 
Sohannes meint das Wort, das er Kap. 12, 32 uns aufbewahrte: 
„Und ich, wenn ich erhöhet werde von der Erde, fo will 
ich fie Alle zu mir ziehen.” Der Evangelift begleitet dieſes Wort 
an der befagten Stelle mit der erflärenden Bemerkung: „Das fagte 
er aber zu deuten, welches Todes er flerben würde,” In dem Ti 


Chriſtud vor Pilatus. 393 


multe des Richthaufes zu Jeruſalem erfcheint alfo unverfehens über dem 
Haupte Jeſu ein göttlich Zeichen. Der Ratbichluß des ewigen Vaters 
thut fih auf; und auch auf feinem Gnunde erfiheint, wie auf dem 
Grunde des Höllenplans, für feinen eingeborenen Sohn — ein 
Kreuz. Schon um der tiefen Symbolik willen, die es in fich fchließt, 
wurde in dem vorweltlichen Friedensrathe das Fluchholz zu des 
Mittlers Sterbebett erſehen. Das eherne Schlangenbild in der Wüfte, 
fo wie die „Webeopfer‘ der heiligen Hütte fehatteten dasfelbe fchon 
frühe dem Volke Gottes ab. Die dort um Gabbatha Berfammelten 
müffen, ohne ſich's bewußt zu fein, ihre Hände reihen, um es in 
die Wirklichkeit einzuführen. Jetzt ſteht's in der Gefchichte, in der 
Predigt vom Heil, und in der Gedankenwelt der Menichen aufgerichtet, 
und bethätigt feine wunderwirkende Anziehungskraft in fteigendem Maße 
bis zu diefer Stunde. 


Wir jchliegen! Ich hoffe, neu beftärkt in der doppelten Ueberzeus 
gung, daß unfere Entfündigung unbedingt eine blutige Vermittelung 
forderte, und daß die ganze Paſſion des Herm, nur aus dem Gefichts⸗ 
punkte einer folchen angefchaut, Licht und Sinn erhält. Billig 
ftaunen wir die Weisheit des Allerhöchften an, der das größte aller 
Probleme, die Erhebung eines dem Fluche verfallenen Gefchlechts zum 
göttlichen Kindfhaftsrechte, ohne dadurch feine Heiligkeit zu verleug- 
nen, fo wunderbar zu löfen wußte. Im blutigen Gehorfam Ehriftt 
wurde diefe Löfung gefunden. Beugen wir uns anbetend vor dem 
Lamme, und flimmen wir dankbar gerührt und freudig ein in des 
Dichters Worte: 


Bon Deiner erften heißen Stunde, 

Im blutigen Angſtſchweiß durchgewacht, 

Bis zu der lebten Todeswunde 

Haft Alles Du für und vollbradit! 

D Held voll Blut, bis zum Berfiheiden, 

Laß Deiner heiligen Menſchheit Thun, 

Ihr Kämpfen, Weinen, Lieben, Leiden 

Uns tief im inneren Herzen ruhn! — Amen. 


— | [U | | U. 


396 Des Heilige. 


Anteriiiten!” Die Richeseürdigen, die felber von reueimiismären 
Gecühen ſtrogten, und unıbliifiz darauf bedadkt waren, das Beil 
gezen Die romiihe Oberbobeit axtumriegein! Zeh obre gend ei: 
nen Schein von Begrandnung bürten fie eine Beichufbizumg, 
wie die ausgeivrochene, gegen eium wohl wicht vorzabringen ge 
wagt. Einen Schein Dieier Art bet ihnen aber die Ztellmy, aber 
auch nur Diefe, die der Herr zu den Prieſtern ud Schrift: 
gelebrten eingenemmen hatte. Tem was mei Me Prieſter 
betrifft, io leitete der Herr feine Jimger allerdings dam nicht am, 
auf fie als anf ibren mwirfliden Minler ihre Bertrauen zu feen, 


bin ud wieder In Bilerfenih zen Is Bert Gates a Diefäe 
angelegt hatten. Bo aber hätte er je dem “Prietertbum Ifraels die 
Autorität einer göttlichen Stiftung abgeiprochen, und wo Demielben 
die Ehrfurcht und Unterthänigfeit verjagt, oder verſagen beißen, bie 
als einer ſolchen Gottesftiftung ihm gebührten? Seine Stellung zum 
Priefterthume war freilich eine eigenthũmliche, ja einzigartige. Auf 
Ihn hatte dasſelbe als ein prophetiicher Schatten bingedeutet, und im 
Ihm ſollte es als in feinem weſentlichen Ur- und Gegenbilde jein 
Ziel und jene Endichaft erreichen. Aber nicht vermütelit eined ge 
waltſamen Umſturzes jollte dies geicheben, jondern in dem ehnen umd 
geheiligten Wege einer allmäligen Entwidlung. Bon jelbit und 
vermöge einer inneren Nothwendigfeit jellte Das Prieſterthum der 
alten Hütte dem wahren und weſenhaften weichen, wie der 
fih entwidelnden Frucht die Blüthe, oder wie dem hervorbtechenden 
Zwiefalter das Raupengeſpinnſt, ſeine Windel. weicht. So lange Er 
darum nicht ſäͤmmtlichen Anforderungen feines bobenpriefterlihen Bes 
rufs entiprochen hatte, und namentlich das große Suhnopfer am Kreuz 
noch nicht gebracht war, gab er dem levitiſchen Prieſterthume um 
Gottes und der Verordnungen feines Wortes willen alle Ehre. Nicht 
allein befuchte er den Tenppel als Gottes Haus, und feierte die Fefte 
Ifſtaels als göttlich geheiligte. mit; fondern untenwarf fi) auch ges 
horſam allen durch Mofes gebotenen Ievitifhen Sagungen von der 


Die Auflagen. 397 


Befchneidung und der Darftellung im Zempel an bis zum Eſſen des 
Paflahlammes. Und nicht dies allein, fondern er verfehlte auch nicht, 
Andere zur pünftlichften Erfüllung dieſer ihrer Firchlichen Verpflich⸗ 
tungen anzubalten; wie er e8 denn 3. B. den durch ihn geheilten Aus⸗ 
fäßigen nicht einmal erließ, ſich den Prieftern darzuftellen, und die 
Gabe zu opfern, die Mofes für dieſen Zall befohlen hatte. So wenig 
alfo traf ihn der Vorwurf, er feße die göttlich verordnneten Autoritäten 
herab, daß Ddiefelben vielmehr an ihm ihre fräftigfte Stüße fanden; 
und fo weit war er entfernt, das Band zwifchen dem Bolt und feinen 
Oberen zu lodern, daß er vielmehr Allen, die ihm nahe famen, die 
uubedingtefte Unterthänigkeit gegen diefelben, freilich unter Befeitigung 
der abergläubifchen Beimifchungen, einzufchärfen pflegte. 

Und wie zum ‘Priefterthume verhielt fih der Herr zu den Aelte- 
ften des Volks, gleichviel, ob fie Pharifäer oder Sadducäer waren. 
Freilich ftrafte er als der Meifter Aller ihre Berirrungen und Sünden, 
und fprach, wie unter anderen aus Marc. 7, 13 erhellt, ihren menſch⸗ 
ih erfonnenen „Jufſätzen“ und „Ueberlieferungen “, durd 
welche das Wort Gottes nur abgeſchwächt, ja aufgehoben werde, 
jede Berechtigung ab. Nichtsdeftoweniger aber erkannte er ihre gött- 
liche Beftallung unweigerlich an, wie ihr euch ja feines Matth. 23, 
2—3 fowol an feine Jünger, al8 an das ganze Volk gerichteten Worte 
erinnern werdet: „Auf Moſis Stuhl figen die Schriftgelehrten und 
Phariſäer. Alles nun, was fie euch fagen, das ihr halten follt, Das 
haltet und thut. Nur nah ihren Werken follt ihr nicht thun!“ 
Hieß dies das Anfehn der Autoritäten ſchwächen; oder nicht vielmehr, 
dasſelbe ftüßen, jtärfen und befeftigen ? 

Es wird aber heute noch wenigftens dem Ehriftus der evanges 
liſchen Kirche, der als der biblifche allerdings ein etwas anderer 
als der Ehriftus der römifchen ift, Seitens letzterer wirklich Aehn⸗ 
liche vorgeworfen, wie das, deſſen Damals die Juden ihn bezüchtigs 
ten. Die Beranlaffung biezu giebt das von Ehrifto felbft begründete 
und in unferer Kirche geltend gemachte „allgemeine Priefters 
thum aller Gläubigen“, kraft deffen diefe zu einer unmittelbaren Ge⸗ 
meinfchaft mit Chriſto berufen find, und vermittelnder Vertreter zwi⸗ 
ſchen fih und Ihm nicht mehr bedürfen. Ein Priefterftand mit mitt 
lerifchen Vorrechten findet hier allerdings ebenfowenig mehr Platz, als 
zur Anrufung verklärter Heiligen um ihre Fürfprache hier noch irgend 
Anlaß und Beweggrund bleibt. Wenn nun eine Abmahnung von dem 


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Ge wide wider ıka erimmeı Kemrn! Gö achride derieſben mb au 


in defin Gun und Adamz fie felbü alleriinzs ichen bedentend zu 
finten begannen. Ta fuchten fie denn, mas te im Wege ter Gewalt 
nicht auszuführen wagten, durch Lin und umter dem Scheine des 


Die autiagen. 3” 


Rechts zu erzielen, und bewogen einige Nichtswürdige aus ihrer Mitte, 
in die Larve der Frömmigkeit verhüllt, ja, zu heimlichen Juͤngern bes 
Herrn verftellt, es darauf anzulegen, Jeſum irgendwie dergeftalt in 
feiner Rede zu fahen, daß fie ihn mit einem oftenfibeln Grunde 
dem Arm der weltlichen @erichtsbarkeit überliefern Lönnten. Die be 
ftochenen Emiffäre treten denn wirflich wit dem Anfchein ehrerbietiger 
Ergebung zu Zefu hin, und fprechen, die unfchuldige Miene raths⸗ 
bedürftiger Schüler affektirend: „Wir wiflen, Meifter, daß du auf: 
richtig redeft, und lehreſt recht, und achteft Feines Menfchen Anfehn, 
fondern lehreft den Weg Gottes nach der Wahrheit. Ziemt e8 ung, 
dem Kaifer den Schoß zu geben, oder nicht?” Das Neg war fein 
geftellt; «aber nur, damit e8 über fie felbft zufammenfchlage. Der 
Herr hat ihren Anfchlag fofort durchſchaut, und reißt ihnen mit der 
einfachen Frage: „Was verjuchet ihr mich?“ die Heuchlermaste ab. 
Dann fährt er fort: „Zeiget mir einen Grofchen!* Dies gefchieht. 
Da nimmt er den Denar, hält ihnen denfelben vor, umd fragt: „Weß 
ift Das Bud und die Ueberfchrift?" Die Antwort lautet: „Des Kai⸗ 
ſers!“ Der Herr fchließt: „So gebet dem Kaifer, was des Kaifers 
ift, und Gott, was Gottes iſt!“ „Sie aber,“ berichtet die Gefchichte, 
„tonnten ihn in keinem Worte fahen vor dem Boll; und fie verwuns 
derten fich feiner Antwort und fchwiegen ſtill.“ 

Jener eine Ausſpruch des Heren reicht volllommen hin, über fein 
politifhes Princip, wenn ich e8 fo nennen darf, uns vollftändig 
ins Klare zu ſetzen. Ein heidnifcher Kaifer herrfchte über Yudda, 
ein Zeind Gottes und Seiner Sache; aber er herrfchte, er führte 
das Zepter. Die Münze, die fein Bildniß trug, war deß Zeuge. 
Der Herr hieß diefelbe ihm wieder geben, deflen fie fei. Was bes 
zeugte er hiemit, als was fpäter in feinem Namen Römer 13, 1—3 
in ansdeutender Form fein Apoftel uns zuruft: „Sedermann fei un⸗ 
tertban der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ift feine 
Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ift, da iſt ſie von Gott 
geordnet. Ber fi) nun wider die Obrigkeit feet, der widerftrebet 
Gottes Ordnung. Die aber widerftreben, werden fich felbft ein Ur⸗ 
theil zuziehen!“ — Ehriftus ift alfo fo wenig ein Aufrührer, daß er 
vielmehr jeder Auflehnung gegen eine beftehende obrigkeitliche Gewalt, 
welche Diefe auch immer fei, als einer Empoͤrung gegen die. Majeftät 
Gottes felber das Gericht droht, Er gebent uns in feinem Worte, 
„watertban zu fein mit aller Furcht nicht allein den gütigen und gelin- 


400 Das Heilige. 


den, fondern auch den wunderlichen (d. i. den unbilligen umd ver: 
fehrten) Herrn.“ Herrfcht ein Tyrann über uns, fo ſtehts nady unferer 
Magna.Eharta, der heiligen Schrift, keinen Augenblid in Frage, 
was ums obliegt. Wir haben in dem Treiber und Despoten eine 
von der Hand Gottes wider uns gefchwungene Zuchtruthe zu en 
fennen, und, unferer Sünden eingedenf, derfelben uns ſtill zu beugen. 
Auch die fchreiendften Ungerechtigkeiten, die Seitens einer rechtmäßigen 
Obrigfeit und widerfahren, entbinden uns nicht von der Pflicht des 
Gehorſams gegen fi. Gebeut uns die Obrigfeit, was unferen Ge 
wiffen und dem Worte Gottes zumider läuft, fo ziemt uns allerdings 
ein leidentliher Widerftand ; aber ein Weiteres ift uns nicht geftattet. 
Wir verfagen in aller Ehrerbietung den Gehorfam; nehmen aber um 
des Herrn willen die Folgen dieſes unferes Schrittes geduldig hin. 
Diefe Grundfäße ftehen als chriftliche unmwiderfprechlich fe. Der 
Herr hat fie proclamirt, und durch perfönlihen Borgang ihnen das 
Siegel aufgedrüdt. 
3. 

Die dritte und lebte Anklage wider Jeſum Tautet dahin, er habe 
gefagt „er fei Ehriftus, ein König.” Sie wollen dies von Pila⸗ 
tus im politifhen Sinne verftanden wiffen. Wie weit aber der Gen 
davon entfernt war, eine foldhe Borftellung von der Abficht feines 
Kommens in die Welt zu veranlaffen, oder zu nähren, ift euch bewußt. 
Dft legten es die Juden darauf an, ihn in die Nolle eines welt: 
lichen Königs gewaltfam hineinzutreiben, und würden ihn als einen 
Befreier feines Volks von dem fchmählichen Soche der Fremdherrſchaft 
auf den Händen getragen und mit Huldigungen und Ehrenkränzen 
überfchüttet haben. So oft ſich aber eine derartige fleifchlich enthu- 
ftaftifche Bewegung unter ihnen bemerkbar machte, wich er ihnen aus, 
und verbarg fich vor ihnen. Wenn fogar feine Jünger dergleichen 
finnliche Begriffe von dem Reiche, das er aufzurichten erfchienen fet, 
fund werden ließen, verfehlte er nicht, fie ernftlich deßhalb zu flrafen, 
ihre Irrthümer zu berichtigen, und ihnen immer aufs neue einzu: 
fchärfen, daß fein Reich „nicht mit äußerlichen Geberden“ komme, 
fondern „inwendig in ihnen“ fe. Die Juden waren ſich's ebenfalls 
fehr wohl bewußt, wie fern ihm je und je die Abficht gelegen hatte, 
ein Königthum nad ihrem Sinn zu gründen. Daß er dies nicht 
gewollt, war’8 ja eben, was fie vor allem Andern verdrofien, und 
ihre Feindfchaft wider Ihn entzündet hatte. Nichtsdeftoweniger geht 


Die Aullagen. 401 


ihre Frechheit und Berlogenheit fo weit, das jebt als fein eigenes 
Gelüfte ihm anzudichten, was fle, jedoch erfolglos, immer aufs neue 
als Berfuhung an ihn beranzubringen ſich bemüht. Sie eröffnen 
uns damit einen neuen Blid in die Schliche und Ränke des verderbten 
Menfchenherzens, und erweifen fich als trefflich gefchulte und ausge 
lernte Kinder des Lügenvaters. 

Ihr wißt, Daß das Beftreben, Chriſtum zu einem weltlichen Könige 
zu flempeln, mit den jüdifhen Schriftgelehrten und Phartfäern auf 
Erden nicht ausgeftorben iſt. Es befteht eine Kirche, die bis heute 
es nicht als eine Anklage, fondern als einn Ruhm dem Herrn nach⸗ 
fügt, Daß er ein Reich „von diefer Welt” habe gründen wollen. Sie 
läßt Chriftum beide Schwerter, das geiftlidhe wie das weltliche, dem 
Petrus, und durch diefen deffen vorgeblichen Nachfolgen, den Päp- 
ten, als den Kirchenhäuptern, übergeben; und fo weit Fürſten und Koͤ⸗ 
nige in der Welt regieren, führen diefelben das obrigkeitliche Schwert 
nur aus Uebertrag der Kirche, und von der Kirche zu Lehen. Sie 
bleiben darum der feßteren frohnpflichtig und untergeben. Die Kirche 
ift berechtigt, ihnen, falls fie ihr die beamfpruchten Dienfte verfagen 
wollten, ihre Macht und Gewalt wieder zu entziehen und die Völker 
von den denfelben gefchworenen Eiden zu entbinden. Nicht fpricht 
dDiefe Kirche dem Apoftel nah: „Die Waffen unferer Ritterfchaft find 
nicht fleiſchlich;“ fondern erachtet fich für berufen, vermittelit beider 
Schwerter ihre Grenzen zu fehirmen und zu erweiten. Gie hat für 
die Ungehorfamen ihrer Kinder Bannftrahlen und Interdikte, für 
die Keber Kerker und Blutgerüfte. Sie erflärt in ihren Intereſſen 
Kriege und ordnet Kreuzzüge an. Sie bat mehr als einmal den Auf- 
ruhr heilig gefprochen, und den Zyrannenmord nicht mißbilligt. Zur 
Beier der Pariſer Bluthochzeit ließ ſie Gedaͤchtnißmünzen fchlagen ; 
und von einer Miffion durch Feuerſchlünde erzählt uns die Ge 
fhichte der Inſel Dtaheity. Ob es im Sinne des Meifters gelegen 
habe, daß feine Kirche, diefe Braut des Himmels, in folche Ge 
wande fich Fleide, darüber benimmt uns nur ein Blick in die Evan⸗ 
gelien den lebten Zweifel. Der Herr gibt feinen Boten den Frie- 
dendgruß mit auf den Weg, und nicht das Herrfcherwort und den 
Bannſpruch. Mit der Sanftmuth gürtet er fie, und mit der die- 
nenden Liebe, und nicht mit der Strenge ımd dem inquifitorifchen 
Rigorismus. Er bezeichnet ihnen ihre Arbeit als einen Samariter-, 
und nicht als einen Treiber⸗ und Kegerrichterdienft, und ſchildert das 

26 


402 Das Heilige. 


Goangeſimm als einen Sauerteig: nit aber als einen Keil, der mit 
ebenen Sammer eingetrichen werden müfle. „Beurige Kohlen“ 
für die Widerſacher fordert allerdings auch Gr; aber nur ſolche, de 
ihnen durch Geduld und umermüdliche Helfertteue auf das Haupt za 
fanmeln ſeien. Aud Er will, daß man Diejenigen, weldhe noch Draußen 
find, „berein nörbige in fein Haus;“ aber Er will 
Gaften und binter Den Zänmen lautielig aufgeſucht und mit 
densbotſchaft: „Kommt, es it Alles bereit!“ gegrüßet | 
begehrt, Daß man Gefallene und Abgewichene dem 
Weges nicht überlafle; aber er verlangt, daß Die Zuch 
damit eingeleitet werde, Dub man ihnen in Temuth die Füße 


HINTER 
PIrHENE 


Ueberdies fordert Er ven den Seinen Denen gegemüber, die an ihnen 
fündigen, ein „fiebenmalichenzigmaliges Verzeiben,“ und ruft ihnen 
allen, inienderbeit aber Den Trägern des Hirtenamtes zu: Ihr wiffet, 
daß die weltlichen Fürñen berriden, und die Großen haben Gemalt. 
Se ſoll es nicht jein unter euch: ſondern jo Jemand wül unter end 


groß ſein, der jei euer Diener; und wer da will unter cuch der Bor 
nebmite ein, der jei euer Knecht!“ 
So gewiß aber Chriftus ein Reich im Sinne der Belt nit ya 


Entwickelung von Innen beraus durch ſchẽpferiſche Bewirkung des 
beiligen Geiſtes. Die Machtbhaber der Erde werden buldigend ihre 
Zepter und Kronen zu Ebrifti Füßen niederlegen, um fie geweibt und 
zu Leben aus Zeinen, Des Königs aller Könige, Händen zurückzu⸗ 
empfangen. Die Völfer, erleuchtet, und zu dem Hirten und Biſchof 
ibrer Seelen bekebrt, werden mü Lurt und Liebe einem Regimente ſich 
unterwerten, in welchem fich ihnen nur die ſanften Zügel ihres Fries 
densrüriten füblbar machen werden. Tie Geiepgebung wird im Worte 
des Ichendigen Gottes wurzeln, der Staatsbausbalt auf Grundlagen des 
Granacliums ruben. Tie Cpfer, die das Gemeinwobl erferdem wird, 
werden im range freier Siebe dargebracht, und die Schwerter in 
Pñugſcharen, Die Spieße in Sicheln verwandelt werden. Auf Diele 
Jubelperiode Des Reiches Ehrim ſchaut Daniel mu ſeinem Seberblick 
binüber, wenn er froblockend auänıft: „Aber das Reich, die Gewalt 
und Hobeit der Koͤnigreiche unter Dem ganzen Himmel wird dem beis 


Die Aellagen. 403 


figen Volle des Höchften gegeben werden, deß Reich ewig ift; und 
‚alle Gewalt wird ihm dienen und gehorchen.“ Ebenfo deutet Sacharia 
auf diefe Weltverflärung in Ehrifto Hin, wenn er bedeutungsvoll weif- 
fagt: „Zu der Zeit wird auf den Schellen der Roffe ftehn: Heilig 
dem Herr; und werden Die Keflel im Haufe des Herrn gleich fein, 
wie die Beden vor dem Alter. Ja, e8 werden alle Keffel in Se 
rufalem und Juda dem Herm Zebaoth heilig fein, alfo, daß Alle, 
die da opfern wollen, werden kommen, und diefelbigen nehmen, und 
darinnen kochen. Und wird fein Kanaaniter mehr im Haufe des 
Serm fein zu der Zeit.” Der Lobgefang für diefe Tage des Triumphs 
und dee Vollendung liegt im Archive der göttlichen DOffenbarungen 
fon bereit und lautet: „Run find die Neiche diefer Welt unferes 
Gottes und feines Chriftus worden!” Der Herr aber vertröftet und 
auf dieſe Tage, indem er uns täglich in Hoffnung feltg beten ehrt: 
„Dein Königreih komme!“ 


Wir haben uns überzeugt, Geliebte, daß ungegründeter nichts fein 
könne, als die Anlagen e8 waren, die vor Pilatus wider den Herm 
erhoben wurden. Jede gegen ihn eingeleitete Unterſuchung ſchlug nur 
zu feiner größeren VBerherrlihung und Verklärung aus. Wie freuen 
wir uns deß! Denn wie fehr wir perfönlich dabei betheiligt find, daß 
er aus jedem Gericht gerechtfertigt hervorgehe, wißt ihr. „Er wird 
den Schmud tragen,“ heißt ed von ihm bei dem Propheten. Er 
trug und trägt ihn; aber nicht blos für ſich. Sein Schmud 
ift der unfere zum Zage der Offenbarung und des Gerichts. Bon 
ganzem Herzen getröften wir uns deß, und ſtimmen freudig ein in Die 
Worte des Kirchenfängers: 

Du, Iefu, giltft vor Gott allein 

Pit deinem Thun und Leiden; 
Hüuͤllt da der Glaube mi hinein, 
Was will von Gott mid ſcheiden? 
Du ſelbſt gibſt mir das Ehrenlleid, 
Den Brautihmnd der Gerechtigleit; 
Damit werd’ ich beftehen! — Amen. 


—— I O äůů— 


26° 


404 Das Heilige. 


XXXIII. 
Chriſtus ein Koͤnig. 





„Es iſt noch ein hoher Hüter über den Hohen!" Go der 
Prediger Salomo Kap. 7, 5. Er ſpricht in diefen Worten eine mit 
oder wider Willen von Jedermann anerkannte Wahrheit aus. Kein 
Machthaber der Erde weiß fid) unbedingt ſouverain. Wie willkürlich 
er auch fein Zepter führe, fo erlaubt er fich doch nicht Alles, weile 
fih unverrüdt eines „Rechts“ bewußt bleibt, das über feiner Macht⸗ 
vollkommenheit ftehend, ihm wieder Gehorfam auferlegt, und welches 
er ohne Gefahr für die eigene Perfon nicht verlegen zu können glaubt. 
Es hat wohl fchon ein Despot in feiner Unbändigfeit verfucht, die 
Zügel auch diefes höheren Regiments von ſich abzuftreifen; aber dam 
fiel er unfichtbaren Rachegeiftern anheim, die ihm das Leben zur Hölle 
machten, und unter deren Ruthenftreichen bei Tage die Luft, bei Nacht 
der Schlaf von feiner Seite wi. Denn feine Gerichtödiener, feine 
Kerker, Halseifen und Folterfammern hat auch der „Hüter über die 
Hohen,” und nicht erft jenfeits überantwortet er denfelben feine 
Delinquenten. 

Jene Reichsordnung über allen andern, au von den Heis 
den lebbaft geahnt, flieg in der Führung Iſraels in deutlicheren 
Umriffen aus ihrer Nebelregion auf die Erde nieder. Seitdem aber 
ihre Zügel in den Händen des Menfchenfohnes ruhen, ftebt ihr 
erhabener Organismus vollftändig, Far und ausgeftaltet vor uns. 
Geräufchlos aber fihern Ganges, fchreitet fie durch alle menjchlichen 
Unternehmungen und Anfchläge dem Ziele ihrer Alleinherrfhaft 
zu. „Die Völker toben, und die Gewaltigen der Erde lehnen fi 
auf; aber der im Himmel wohnet, lachet ihrer, * und ſpricht, Die Ober: 
gewalt über alle Gewalten fich refervirend: „Ih habe meinen 
König eingefeßt auf meinem heiligen Berge Zion!*d. h. 
„Er ſitzt im Regiment, ein unumfchränfter Herr; alle Welt fei Ihm 
unterthänig, und diene Ihm!” — Bon diefem Könige und feinem 
Reich vernehmen wir heute ein Mebreres. 





\ 


Chriſtus ein König. 405 


Matth. 27, 11. Marc. 15, 2. Ich. 18, 33—37. 


Da ging Pilatus wieder hinein in das Richthaus, und rief Iefu und ſprach zu 
ihm: Bift du der Iuden König? Iefus antwortete: Redeſt du das von dir felbft, oder 
haben es dir Andere geſagt? Pilatus antwortete: Bin id ein Iude? Dein Bolt und 
bie Hobenpriefter haben dich mir überautworter; was haft bu getban? Jeſus antwor- 
tete: Mein Reich ift nicht von dieſer Welt, wäre mein Reich von diefer Welt, meine 
Diener würden darob fämpfen, daß ich den Juden nicht äberantwortet würde, aber 
nun ift mein Reich nicht von bannen. Da fprad Pilatus zu ihm: So bift du den⸗ 
noch ein König? Jeſus antwortete: Du fagft es; ich bin ein König, ich bin dazu ge⸗ 
boren, und bin dazu in die Welt gefommen, daß ich für die Wahrheit zeugen fol. 
Wer ans der Wahrheit ift, der höret meine Stimme. 


Ein neues Zeugniß Jeſu von fich felhft! Dean merkt, daß die Vers 
hörsfchranken, vor denen er fteht, in feinem Gefichtsfreife ſich zu de⸗ 
nen der Welt erweitern. Bor diefer will er die Lehre von feiner 
Perfon zu abfchließender Entfcheidung bringen, und wirft zu dem 
Ende eine Hülle nad) der andern von ſich. Auf feinem eigenen 
Worte, und nicht blos auf dem der Propheten und Apoftel, follte un- 
fer Glaube an Ihn ruhn, und ruhet er. Sagen wir Ihm von Herzen 
Dank für dieſe fürforgliche Berücfichtigung der Bedürfniffe unferer 
zweifelmüthigen Natur und der Schwachheit unferes Glaubens! 

In unferem heutigen Auftritte erflärt fih der Herr über feine Kö⸗ 
nigswürde, Sehen wir zuvörderft, wie er hiezu veranlaßt 
wurde; und denken wir dann dem Inhalte feiner Erklärung 
weiter nad). 

Wolle Er felbft unfer Wort mit feinem Segen begleiten! Ein Aft 
erneuerter Huldigung vor feinem Throne fet die Frucht unferer heus 
tigen Betrachtung! 


1. 

Wir treten zu dem großen DVerklagten zurück. Er läßt ſich richten, 
damit er uns, die dem Gericht Verfallenen, einft rechtskräftig und mit 
Erfolg vertreten könne. Bet jedem Schritte feines Pafftonsganges ift 
er der Mann, welcher „bezahlt, was er nicht geraubet hat.“ Er wäre 
aber diefer Mittler nicht, wenn er nicht in feiner Knechtsgeſtalt zugleich 
derjenige wäre,. der „höher, denn der Himmel iſt.“ Dieſe feine 
übermenfchliche Glorie bricht, wie die Sonne durch Wollenſchleier, 
immer wieder durch das Dunkel feiner Erniedrigung flegend durch. 
Er kann fo mit ihr nicht an ſich halten, daß fie nicht wenigftens in 
vereinzelten Schimmern ſtets in die Erfcheinung ſtrahlte. Der Blin⸗ 


406 Das Geige. 


deite gewabrt ihren Wiberichein, und ſtugt. Zoch mit 
kung fallen die Sonnenitrabln in einen Sumpf; mit 
fhlummernden Keime eines beilellten Ackerlandes. 

Zur Begeihunng der Gemüthöbeichatfenheit des Pilatas wi 
dep ein Bild gefunden werden, das, wenn and minder 
das legtere, doch aud weniger abichredend, als das erftere 
BP, dus zwiſchen jenen Beiden die Mitte bielte. Begegnen 
doch in dem Herzen des Roͤmers noch Humanität, Empfängfichleit 
Berjeres, und mancherlei Anfmipfungspunfte für die Wahr 
falte, Hlache und verlebte „ Weltmann,“ zu dem ibn Mandhe 
unterdrücden wollen, it er nicht. Richten wird ihn Gott, dies 
feit; aber nicht wird er ibm mit jenen, Lauen,“ vor Denen ihn 
nad) dent Ausdrude des Sendichreibend an die Laodizier, aus 
nem Munde jpeien.® 

Tie Anklagen der Prieſter und Oberften find verlautet. Da trit 
der Landpfleger nachdenklih in das Richtbans zurück, und beſtehlt 
daß mm Jeſum aufs neue vor ihn führe Schweigend trift der 
heilige Dulder in dus Gemach feines Richters ein. Man merlt e8 
dem Römer an, dab er fidh einer gewiſſen Ebrfurdht vor Dem wun⸗ 
derbaren Manne nidyt erwehren kann; und wer fan das überhaupt? 
Die wildeten Spötter felbft empfinden den Stadyel ihrer Ausfälle 
gegen den Herm in ihrem eigenen Gewifien. Yu, fie verſuchen ver 
mittelft ihres Spottes nur Das Gericht zu übertiuben, das ihrer Ehri- 
flusfeindichaft wegen in ihrem Innern über fie ergeht. Es ift dies 
ein entiegliher Zug; aber es beurfundet derfelbe auch wieder die 
höhere Anlage und fittlihe Natur des Menſchen. Es müflen die 
Leute ſich felbit befämpfen, um nicht von der Stimme der Wahr: 
heit, die in ihrem Innern fich geltend macht, genöthigt zu werden, 
dem Herm der Herrlichkeit wider ihr eigen Fleiſch und Blut zu hul⸗ 
digen. 

Ich gedenke hier des bekannten Briefwechſels eines unferer großen 
deutihen Dichter mit einer Gräfin, welde, in früheren Jahren die 
Genoffin feines Sinnes, fpäter zu dem Herrn befehrt ward, und hin 
fort Alles aufbot, um auch den alten, gut heidnifch gefinnten Freund 
dem Evangelium des Friedens zu gewinnen. Der Freund fpottet und 
fäftert in feinen Briefen freilich nicht. Davor ſchützt ihn die hohe 
Bildungsftufe, auf der er ſteht, umd der feine, gefellfchaftfiche Takt, 
der ihm eigen iſt. Aber ex erfcheint in jedem feiner Worte befan- 


{ 
7; 


Tisee® 


& 
—* 


et⸗ 


— 


Ehriäus ein König. 407 


gen und verlegen, und fucht ſich, fo gut e8 geben will, durch al- 
lerlei fophiftifhe Künfte und Winkelzüge aus feiner peinlichen Lage 
berauszumwinden. Wohl möchte er fprechen: „Unſere menfchliche Be⸗ 
flimmung erftredt ſich über die Grenzen des diefjeitigen Lebens nicht 
hinaus;” aber ein beſſeres Gefühl, mächtiger als alle Speculationen 
feines Kopfs, unterfagt ihm gebieterifch ſolche Nede. Der ganzen 
Sache wäre fchnell ein Ende gemacht, wenn er entfchieden erflärte: 
„Ich erkenne in Jeſu nur einen Phantaften und keinen Gott;“ aber 
unverfennbar macht ihm ein anderes, vom Glauben freilich noch 
unterfchiedenes, aber nicht zu bewältigendes Bewußtfein ſolche un⸗ 
ee Erklärung zur Unmöglichkeit. Er bekehrt ſich nicht, fon- 

dern ſchlägt, wie Saulus einft, nur leider mit befferem Erfolge 
„wider den Stachel aus;” aber er fühlt den Stachel ebenfo wohl, 
wie jener, und die Gewaltfamteit feines Widerftrebens dient nur zum 
Zeugniß, wie nahe e8 ihm gelegt fei, daß er ſich befehre. Es Foftet 
ibm Kampf, dem Rufe der befreundeten Evangeliftin nicht zu folgen. 
Aus diefem Umftand aber erhellt, daß fich die Wahrheit deflen, was 
fle ihm predigt, in fräftiger Weife in ihm geltend macht, und daß 
das in feinen Geſichtskreis gerücte Chriſtusbild Eindrüde in ihm 
hervorruft, in denen nur zu deutlich eine Wahlverwandtſchaft zwiſchen 
ihm und dem Heiden Pilatus ſich kundgibt. 

Der Landpfleger beginnt fein DVerhör mit der Frage: „Biſt du 
der Juden König?” Mit der weichen Betonung wohlwollender 
Gefinnung fpricht er fle aus, als wollte er fagen: „Legſt du es wohl 
Darauf an, ein König der Juden zu fein?" Er erwartet die Antwort: 
„Behüte! Wie follte ich nach fo hohen Dingen trachten?“ Biel gäbe 
er darum, folche Erklärungen aus feinem Munde zu vernehmen, theils, 
um daran einen Rechtsgrund zu gewinnen, die verhaßten Juden mit 
threr Anklage amtlich abzumeifen, theils, um leichten Kaufs und 
unverlegten” Gewiffens mit dem Nazarener, deffen Unſchuld ihm außer 
Zweifel fteht, wieder auseinander zu fommen. Aber Jeſus erzeigt ihm 
den gewünſchten Dienft, die Frage zu verneinen, nicht; fondern bejaht 
fie vielmehr, nachdem er nur die falfchen Anfchauungen von feinem 
Königthum abgewehrt, Wie Pilatus, fo pflegen übrigens Alle zu 
fahren, die ſich mit Jeſu, ohne in Unterthänigfeit zu feiner Fahne zu 
ſchwoͤren, friedlich auseinanderfegen möchten. Auch fle ſprechen zu ihm: 
„Richt wahr, für den einigen Seligmacher gibft du dich nicht aus?“ 
Er aber erwiedert: „Niemand kommt zum Water, denn durch mich!“ 


408 Das Heilige. 


Sie: „Wen ich nicht glauben kann, aber doch ſittlich Iebe, nicht wahr, 
fo darf auch ich ja hoffen, das ewige Leben zu ererben!” Er: „Ber 
an den Sohn Gottes nicht glaubt, wird das Leben nicht fehen, fon 
dern der Zom Gottes bleibet über ihm!” Sie: „Richt wahr, mehr 
als ein menfchlicher Sittenlehrer und ein Tugendvorbild willft du 
nicht fein, und e8 genügt, daß wir in deinen Vorſchriften die m 
trügliche Richtſchnur unferes Wandels ehren?” Er: „Ehe denn Abra⸗ 
ham wurd, bin ich; ich bin vom Himmel gekommen, und fie follen 
den Sohn ehren, gleid) wie fle den Vater ehren!“ Sie: „Aber unfer 
Bruder bift du Doch, und begehreft nur, daß wir dir nachfolgen, 
nicht aber als einem Gott dir eben, und unfer Heil von dir ex 
warten.” Er: „Mir ift gegeben alle Gewalt im Himmel und auf 
Erden, und ihr werdet des Menfchen Sohn fihen fehn zur Rechten 
der Kraft, und wiederfommen in des Himmels Wollen, daß er die 
Böde von den Schafen fcheide!” Seht, fo gelangt man im Wege 
einer halben Anerkennung zu einem Abfinden mit Jefu nimmermehr. 
Alle, die im Bereiche geiftiger Anfchauungen mit ihm zufammentreffen, 
werden auch mehr oder minder in ihrem Innern überführt, Daß er ei 
nen unbedingten Rechtsanſpruch an ihre Huldigung und Unterwerfung 
babe. Entweder geben fie fi ihm hin, und find dann felig in Sei 
nem Frieden; oder fie verfagen ihm Herz und Hand, und nehmen 
dann einen Bann und Stachel in ihrem Innern mit fid) fort, deſſen 
fie fih auch unter dem ärgſten Sündentaumel niemal® wieder ganz 
entledigen werden. Wie Viele ziehen mit folchem ftummen Fluch im 
ihrer Bruft dahin! Ihr ganzer Unmuth gegen Zefum findet Darin 
feine Erklärung. Bas that ihmen der Teutfelige Herr, daß es fo 
peinigend auf fle einwirkt, wenn nur irgendwo fein Name mit Liebe 
und Begeifterung genannt wird? Sagte ihnen nicht ein Gefühl, daß 
die Anfprüche Jeſu auf ihre Unterthänigkeit in der That gegründet 
feien, jo würden fie ihn ja unangefochten gehen laſſen, und ſich gleich 
gültig und indifferent gegen ihn verhalten. Nun aber können fie Die 
Berechtigung feiner an fle geftellten Forderungen nicht ſchlechthin leug⸗ 
nen, und wollen fi ihnen doch, um ihre Gößen nicht opfern zu müfs 
fen, weder beugen noch unterwerfen. Daher ihre Verflimmung gegen 
den Fürſten des Friedens! Daher ihr verftedkter, bitterer Haß wider 
Alles, was Jeſum lieb hat und ihm von Herzen anhängt! 

„Biſt Du der Juden König?” fo Pilatus. Der Herr eröffnet 
wun feine. Erwiederung mit der Gegenfrage: „Redeft Du das von 


Chriſftus ein König. 409 


Dir felber, oder haben es dir Andere gefagt?” In Ddiefen 
Borten lag für den Landpfleger etwas tief Beichämendes, das ihn 
am feine Richterpflicht hätte mahnen follen, auf Verdächtigungen nicht 
weiter einzugehen, die, gleich der von den Juden vorgebracdhten, fo 
offenbar den Stempel des Erlogenen an der Stime trugen. ‚Aus 
dir ſelbſt,“ wollte der Heiland fagen, „‚redeft du Solches ſicher nicht, 
indem du, der du ja gleichfalls von meinem Thun Bericht empfangen 
haben wirft, von der Abgeſchmacktheit der jüdifchen Anklage ficher 
hinlänglich überzeugt biſt. Wie aber verträgt ſich das mit der Würde 
deines Amts, daß du eine fo nichtige Befchuldigung nichtsdeftoweniger 
einer fo ernften Behandlung würdigft?” — Tiefer gefaßt ergeht jedoch 
in den Worten des Herm zugleich eine gnadenreiche Weckſtimme 
an des Pilatus Herz, und der Frage ift auch dDiefe Deutung zu ges 
ben: „Liegt dir für deine eigne Perſon daran, — und es follte dir 
ja daran gelegen fein, — zu erfahren, ob und in welchem Sinne ich 
ein König fei; oder gab dir nur ein fremdes Gerede den Anftoß zu 
deiner Frage?” Wenn Pilatus das Erftere hätte bejahen können, fo 
würde ihm die Stunde, die eben vorhanden war, zu einer Stunde 
ewigen Heils geworden fein. Aber feine Antwort war nicht von der 
Art, daß der Herr fi hätte bewogen finden können, ihn tiefer in 
die Geheimniſſe feines Neiches einzuweihen. Es ergeht übrigens jene 
Stage des Herrn auch heute noch an Alle. Don der höchſten Bes 
Deutung ift es, ob man nur als In quiſitor durch Anlaß von Außen, 
oder als Kundichafter und Schaßgräber aus Anregung inneren Bedürfs 
niffes, dem Reiche der Wahrheit nahe tritt. Zaufende richten an 
Ehriftus die Frage, wer er fei, nur, weil fie zu wiſſen begehren, ob 
dDiefe oder jene Theologie richtig und biblifh von ihm und feiner 
Sache lehre oder nicht? Leute diefes Schlages können es zu einer 
gewiſſen Meifterfhaft in der Erkenntniß der göttlichen Dinge brin- 
gen; aber nimmer wird ihnen Diefe Weisheit, wie umfaffend fie fei, 
zu Zrieden und Heil gereichen. Diejenigen hingegen, die aus eigner 
innerer Bewegung, und im Intreſſe ihrer perfönlichen Seelenwohlfahrt, 
fragend zum Herm und zu feinem Worte fommen, werden „den Kö- 
nig fehen in feiner Schöne,” und das Geheimnig der Gottſeligkeit 
entflegelt finden. 

Der Landpfleger hat die Worte des Herrn auch in ihrem tieferen 
Sinne nicht völlig mißverftanden, und merkt gar wohl, daß Jeſus 
ihm damit ins ‚Herz greift, und eine Anregung geben will, mit feiner 


410 Dei Geige. 


Irage nah dem Kimiskume, um das ũchs bandelt, Era zu machen, 
Kımm aber wütert er, DR, eb am im den leileten Ichergängen cr, 
um ibn ſelbi uud teine Huſdiging gererben wüud, fo weicht a 
mern läßt, wie er in ter That GEmmus in ich zu belämmien babe, m 
mit dem geheimmigrellen Manne nicht ix tiefere Derübrungen zu ge 
raıben: „Din ich ein Aude? Zein Boll und Die Heben: 
prieiter baben dDib mir überantmertet. So ipridh Denn, 
was bañ du gerban?" Miu ſiebt, mie er ſich gefliitentfich von 
ibm losrumachen iucht, als beicrge er, ed finme der Ebrfurcht gebie⸗ 
tende Einfluß, Den die Gricheimma Jein auf ibm übt, ein inımer für 
terer, ja am Ende gar ein übermwältigender für ibn werden. „Bir 
ih ein mPde?- fragt er, und will Damit lagen: „Kaumft du wen 
mir erwarten, daß ich dich Daraur auiebe, ob du wirkiidh der ver 
heißene Meſñas ſeiſt? Was chen ums, Die Reichöbürger Roms, Ye 
Hoffnungen der Auden auf? — Bemerft bier, wie Pilatus der Er 
finder jenes bis zur Stunde noch io bänfig angewendeten Kunftarife 
der Ungläubigen it, Das alte, wie Das neue Telazment nur als „oriew 
tafiiche Literatur” zu bebundeln, ımd ibre Entirendung vom Chriſten⸗ 
thum gleichfalls mit einem „mir find feine Juden!“ befchönigen zu 
wollen. Ban pflegt zu lagen: „Ein jegliches Boll bat feinen refi- 
giöien Ideenfreis; und was der Eigentbinmulichleit der einen Ratica 
entipricht, if Darum noch nicht für alle.“ Mü den Propbeten, ja 
mit dem Herm jelbit und deiien Anofteln gebt mam nicht anders um, 
als mit den Weiſen des griechiichen Altertbums, oder den Suit’s Nr 
Verier und den Brahmanen der Indier. Dort „prüäft” man eben 
fo wie bier, mit Dem Borgeben, „Das Gute” Kebalten zu wollen. 
As eine ungebörige Zumuthung aber weiit man's ab, daß man zu 
Sahne einer „partifularen Religion,” wie Me Paläſtinenſiſche 
fei, unbedingt ſchwören folle, als ſei fie die „uninerfale.” Die 
. Thoren! ft die Sonne etwa auch ein purtifulares Licht, und für den 
Rorden nicht müge, weil fie im Diten aufgeht? 

Der Herr fieht wohl, wie wenig der Profurater geneigt ift, tieferen 
Erörterungen fein Ohr zu leihen; umd fo beichränft er ſich denn dar 
auf, weil der Richter es alfo fordert, Die Anklagen der Juden in’ 
rechte Licht zu flellen. „Mein Rei,” fpricht er, „tft nicht von 
Diefer Welt. Wäre mein Reich von diefer Welt, meine 
Diener würden darob kämpfen, Daß ih den Juden niet 


Chriſtud ein König. 411 


überantwortet würde; aber nun tft mein Reich nicht von 
dannen.“ Wie einfach und zugleich wie fchlagend find Diefe Worte! 
Wie fällt vor ihnen die rohe Beichuldigung dahin, als habe er es 
auf eine politifhe Staatsummwälzung abgefehen gehabt! Laßt aber 
auch nicht außer Acht, mit weldyer Sorgfalt er bei diefer Selbſtver⸗ 
theidigung feine Worte wählt, Damit er auch nicht anftreifend nur, 
noch durch eine bloße Auslaffung, der Wahrheit zu nahe trete. Er 
bat es nicht Hehl, Daß er allerdings zur Gründung eines Reichs er: 
ſchienen fei, und nennt Ddiefes Reich ausdrüdiih „Sein König» 
reich; nur weit er die nichtswürdige Verdächtigung von ſich ab, als 
babe er einen limfturg der beftehenden Regierungsgewalten und die 
Stiftung eined neuen politifchen Staatsweſens im Schüde geführt. 
„Wäre dies meine Abficht,” fpricht er, „meine Diener (fo nennt 
er in klarem Bemwußtfein feiner Majeftät nicht etwa feine Jünger, 
fondern die Legionen heiliger Engel,) würden darob fämpfen, 
Daß ih den Juden niht überantwortet würde.” Webrigens 
fagt er nicht, daß fein Reich gar feine Anfprüche Darauf mache, auch 
einmal ftaatlich zur Weltherrfchaft zu gelangen. Hiemit würde. er 
mehr verneint haben, al8 in der Wahrheit gegründet war. Er bes 
zeugt mur, daß fein Reich nicht von dieſer Welt fei, und deutet 
durch das hervorgehobne „dieſer“ ımverkennbar an, daß ein andrer 
Aeon, als der gegenwärtige, allerdings Seine Delegaten auf den 
Negentenftühlen, und Sein Wort und Evangelium als die Magna 
Eharta aller Bölker erbliden werde! Befonders zu beachten ift in dem 
Satze: „Nun ift mein Reich nit von dannen,” auch das Wörtlein 
. „nun, das offenbar auf eine Periode hinüberzielt, in welcher fein 
Neich eine ganz andre Stellung auf Erden einnehmen werde, als 
gegenwärtig. 

Mit Berwunderung und fteigender Unruhe hört Pilatus der Rede 
des Herm zu, und fpricht Dann, von großartigen Ahnungen über 
die Perfon des Verklagten bewegt: „So bift Du dennoch ein Koͤ⸗ 
nig?“ Man hätte denken follen, er werde jet gefprochen haben: „Ich 
fehe wohl, du bift fein König!” Aber wie es ſcheint, iſt's ihm nicht 
nur noch fraglich, fondern wis ihm immer noch fraglicher werden, ob 
dieſer Zefus nicht wirklich, wenn auch in einem andern Sinne, als 
in welchem die Juden ihn für einen Thronprätendenten erflärten, ein 
König ſei. Aehnliches aber, wie unferm Heiden, widerfährt mit ber 
Perſon Chriſti auch Heute noch gar Manchen. Freilich gibts unter Wors 


414 Das Heilige. 


an eure Stirnen nahınt, und euer Leben und Geſchick feinen Haͤn⸗ 
den amvertrautet. Ihr feid an den rechten Mann gelommen: deumn 
er ift ein König. Vollkommen ſteht e8 demnach euch zu, nicht allein 
von einem Koͤnigreiche Ehrifti zu reden, fondern auch dem lebten 
Zweifel an deffen endlichem Siege und einftiger Herrfchaft über die 
Belt, Balet zu geben, wenn gleich fein Neich nicht „von,“ oder 
„aus“ der Welt, oder, wie er ſich majeftätifch wie Einer, der ſchon 
aus himmlifcher Höhe auf die Erde herniederſchaue, ausdrückt, „nicht 
von Dannen” ift, d. h. keinen weltlichen Urfprung hat. Er iſt em 
König! Wir find fomit in unferm Rechte, wenn wir, wie in Diefen 
Zagen wieder gefchehen wird, unfern Konfirmanden vor ihrer Auf 
nahme in die Gemeinfchaft Seiner Kirche das feierliche Gelũbde, ja 
bie eidliche Betheuerung abnehmen, daß fie Diefem ihrem rechtmäßigen 
Haupt und Oberherrn fich umterthänig erweifen wollen bis in den 
Zod, Wir find hiezu volllommen befugt; oder follen wir dies etwa 
ihrer Wahl und Billführ überlaffen? Nimmermehr! Was würde ein 
Zürft zu dem Verfahren eines Delegaten fagen, der, zur Entgegen 
nahme der Huldigung feiner Unterthanen von ihm entfendet, zu deu 
Kindern des Landes etwa fprechen wollte: „ Ein Gelübde Des Ge 
horſams nehme ich euch nidht ab, weil ich nicht weiß, ob ihr die 
Tüchtigkeit befiken werdet, dasjelbe in allen Stiden zu erfüllen?" 
Der Zürft würde einen folchen Abgeordneten feines Dienftes entlaffen, 
und dem Volke erklären, wer Anftand nehme, ihm umbedingt inter 
thänigfeit zu ſchwören, dem fei hiemit die Pforte feines Reichs geöff⸗ 
net, und ihm aufgegeben, das Land zu räumen. Unfere Konfirmanden 
mögen in Erwägung ziehen, was fie verheißen, und nach den Quellen 
fragen, aus denen die Kraft zur Erfüllung ihres Gelübdes zu fchöpfen 
ſei. Aber ſchwören follen fie, daß fie „die Rechte feiner Gerech—⸗ 
tigkeit halten” und unwandelbar zu feiner Fahne ftehen wollen. Bir 
fordern Dies von ihnen im Namen deſſen, der fouverain über fie 
gebietet; wir fordern’8 mit dem Bewußtfein, daß wir ihnen Damit 
nichts Anderes auferlegen, als was fie zu leiften fchuldig und ver 
pflichtet find. 

Chriftus ift ein König. „Ich bin dazu geboren,” fpridht er, 
„und dazu in die Welt gefommen, daß ich für die Bahr; 
heit zeugen ſoll.“ Alfo ein zweifahes „Dazu.“ Das erftere 
eignet dem Könige, der ein Emporkönmling, fondern als König ges 
boren if; wie aud) die Weifen aus dem Morgenlande das Wichtige 


Chriſtud ein König. 415 


trafen, als fie ihn als den „neugeborenen König der Juden“ bes 
grüßten. Das zweite „dazu“ bezieht fich auf feinen Zeugenbernf. 
Mit jenem: „Ich bin geboren” bezeichnet er feine Menfchwerdung, 
Damit aber weder Pilatus, noch irgend Jemand, zu dem Gedanken 
ſich verleiten laſſe, als fchließe fih in Jeſu menfchlicher Geburt 
fein ganzer Urfprung ab, läßt der Herr die Worte folgen: „Und ich 
bin in die Welt gelommen,” und deutet damit auf feine himm⸗ 
liſche Herkunft und auf fein Dafein vor feiner Erfcheinung im Fleifch, 
ja, vor aller Schöpfung hin. Solche Zeugniffe feines eignen Mumdes 
pon feiner ewigen, göttlichen Natur mögen wir aber hoch in Ehren 
halten, Sie fteigen im Werthe zu einer Zeit, Die, wie Die unfere, 
aller Läfterungen fo voll ift, und fo zuverfichtlich keck Chriſtum den 
Herm zu einem bloßen Menſchen zu flempeln fich erfrecht. Wäre 
Ehriftus in der That nur ein Menſch gewefen, fo wäre e8 allerdings 
um das Ehriftenthum gefchehen, und es bliebe uns nur übrig, uns 
jere Kirchen zu ſchließen, und alle unfere Hoffnungen zu Grabe zu 
tragen, weil letztere fämmtlich auf der Gottheit Zefu Ehrifti als auf 
ihrem wefentlichften Zundamente ruhen. Darum, Brüder, ebenfo feft 
geftanden zu diefem Artikel, als derſelbe bündig und unzweideutig 
von der ganzen heiligen Schrift bezeugt wird; und Fuß bei Mal ge 
halten in einer Zeit, in der, mit Petrus zu reden, „viele faljche Leh⸗ 
rer ihr Wefen treiben, welche nebeneinführen verderbliche Sekten, umd 
verleugnen den Herrn, der fie erfauft hat, und werden über ſich fels 
ber führen eine fchnelle Verdammniß!“ 

Erquicklich ift ed, wahrzunehmen, wie der Herr dem Nömer zu Lieb 
unvermerft von feinem Königthum auf fein Zeugenamt, und auf die 
„Wahr heit“ als das Objekt defielden überlenkt. Er hofft damit 
die Saite in Pilatus zu berühren, Die ja vom Hall des Evanges 
liums nod) am erften wiedertönen werde. Nah Wahrheit fragte 
auch der verbildete Römer noch, fchon weil dieſes Fragen mit zu den 
griehifchen BildungssElementen gehörte, welche das fonft nur auf 
Thaten bedachte Volk des Abendlandes fich angeeignet hatte. ft 
doch das Fragen nach Wahrheit überhaupt ein Zug des menfchlichen 
Weſens, der am legten darin zu erfterben pflegt. „An das Berbors 
genfte und Ziefite alfo, bemerkt bier Jemand treffend, „mit Dem 
ein Heide der Heilslehre noch empfänglich entgegen kommt, knüpft 
Zefus an. Er faßt den Pilatus an dem Einzigen, woran er nod) fo 
eben zu faffen war.” Gebt, fo genau nimmt der Seutfelige Herr bei 


416 Das Heilige. 


Ausübung feines Hirtenamtes die befonderfte innere Beſchaffenheit 
der Einzelnen, um deren Rettung er ſich bemüht, in Obacht, md 
fo forgfältig fpürt er den Zugängen nach, die an ihnen etwa für fen 
Heil noch offen ſtehen. 

Chriftus Fam übrigens nicht, den Wahrheit fuchenden Geiftern 
auf Erden als ihrer Bundesgenofjen einer ſich anzufchließen, fordern 
vielmehr fie zum Ziele zu führen, und dadurch den Sabbath ihren 
einzuläuten, Ebenſowenig erfchien er, um, wie fo Manche fich das 
denken, die Wahrheit erit vom Himmel berabzubringen; ſondern e 
fom, um, wie er felber fagt, „für Die Wahrheit zu zengem“ 
Die Wahrheit war fehon da, verwoben in die Gefchichte Ifraels und 
eingefleidet in die Geiftesworte Moſis und der Propheten. Chrifiw 
gab ihr nur Zeugniß, und drüdte ihr In umfafendfter Weiſe das 
beftätigende Siegel auf, und dies dadurch, daß er in ſich felber de 
Beiffagung aufuahm, fie erfüllend, und das Gefeg, ihm nadle 
bend und zur Teibhaftigen Verwirklichung ihm verhelfend. In feine 
fittlihen Erfcheinung ftellt er den göttlichen Urfprmg des Ge⸗ 
fees, in feiner biftorifchen denjenigen der Weiffagung de 
Welt zur Schau. Er zeugte „für die Wahrheit,“ fofern er der 
felben in feiner Perfon das geheiligte Organ lich, vermittelft def 
fen fie, niederbligend Alles, was Lüge heißt, vor Himmel, Erd’ md 
Hölle ihre ganze Herrlichkeit entfalten Eonnte, Wer Jeſum aufah, 
hatte, wenn das Auge feines Geiftes nicht fchon ganz erblindet war, 
in einer Summa die thatfädhliche Löfung der wefentlichften Fragen 
feines Geiftes und Gemüthes vor fih. Er bedurfte hinfort keine 
Meifter mehr, welche ibm fagten, was von Gott und der Welt, von 
Himmel und Erde, von Tugend und Sünde, von der Menfchen Be 
ruf und ihrer Zukunft zu halten, zu denken und zu glauben ſei. (x 
wußte Alles ſchon, und wußte es mit einer abfchließenden Sicherheit 
und Gewißheit. 

Wie brachte aber der Herr, der niemals unharmonifh von einem 
Gedanken auf den andern überfprang, fein „Zeugen für die Wahrheit‘ 
mit feinem Reich und Königthum zufammen? Wollte er etwa fagen, daß 
fein Reih nur ein Lehr-Reich, und er in fo weit nur ein König 
fei, als er vermöge feiner Unterweifungen über die Geifter herrſche? 
Keinesweges! Wir haben jchon bemerkt, daß er an unferm Orte nicht 
von ferne daran denkt, feine Fönigliche Macht und Hoheit darein 
zu fegen, daß er der Wahrheit Zeugniß gebe. Solch Zeugniß gibt 


Chrikus ein König. 47 


er nicht als König, fondern als Prophet. Den Weg aber will 
er namhaft machen, auf welchem er's zur Aufrichtung feines Reiches 
bringe; und Ddiefe Andeutung gibt er in den Worten: „Wer aus 
der Wahrheit ift, Der höret meine Stimme.” Ya, diejenigen, 
die feine Stimme hören, find. feine Reichsgenoſſen. Der Ausdrud 
„aus der Wahrheit fein“ bezeichnet eine innere Vorſtufe der 
Belehrung, in die jedoch auch ſchon ohne Einwirkung einer „vors 
laufenden Gnade” Niemand eintritt. „Aus der Wahrheit“ 
it von Natur kein Menſch, fondern „alle Menfchen find,“ wie die 
Schrift fagt „Lügner,“ indem fie die Zinfterniß mehr lieben, denn 
das Licht, weil das Licht fie in ihren Sünden ftraft und in ihrer 
Ruhe fie ftört, und indem fie den Irrthum an ihre Bruft drücen, 
und gegen die Erleuchtung fich fperren, weil letztere ihrem fleifchlis 
chen Behagen Gefahr droht, und zu einem Leben der Gelbftverleug- 
nung fie nöthigt. So halten fie, wie fih Paulus einmal ausdrückt, 
„die Wahrheit in Ungerechtigkeit auf.” Sobald aber der Geift, der 
gleih dem Winde „wehet und geiftet, wo er will,“ Raum gewinnt, 
weicht die Liebe zur Züge dem beißen Begehren, von dieſer frei zu 
werden. An die Stelle des gefliffentlichen Selbitbetrugs tritt Die 
lautere Willigfeit, „Alles zu prüfen, und das Gute zu behalten;* und 
vor der ehrlichen, ernften Zrage nach Wahrheit und Frieden zerftieben 
die Nebelgeftalten des Wahns, an welchen bis dahin die arme Seele 
gefettet war. Gelangte man aber durch Wirkung des Geiftes Gottes 
zu Diefer Herzenseinfalt, fo ift man Denen zugefellt, Die „aus der 
Wahrheit” find. Dann rede nur, du Meifter aus der Höhe, und 
wie tönt unfere innerfte Wefenheit vom Hal deiner Licht und Le⸗ 
bensworte wieder! Dann fprich dein „Kommet her, ihr DMühfeligen 
und Beladenen,” und wie geme folgt man dem verheißungsvollen 
Zuruf! Dann entfchleiere deine Herrlichkeit und Schöne, und wie 
fliegt Dir unfere Sehnfucht frohlodend in die Arme! Dann entrolle 
das Panier deines Kreuzes, und wie drängt man ſich herzu, um 
Hütten zu bauen unter feinem Friedensſchatten! 


D, meine Brüder, wenn ihr fammt und fonders aus der Wahrheit 
wärt, welch ein Löftliches Gefchäft wäre es, euch zu predigen, und 
welch eines Zuwachſes würde allfonntäglich das Reich Gottes ſich unter 
uns zu erfreuen haben! Zaufenden aber widerfährt, was dem armen 

27 


418 Das Selig. 


Pilatus, in welchen ein Anfang jener göttlichen Aluftik gewirkt war, 
aber dem heiligen Geiſte von dem dareinredenden Fleiſche nicht 
Kaum gelafjen wurde, Das fchöne Werk zu vollenden. Hören wir 
denn nicht auf, lieben Freunde, den König der Wahrheit anzurufen, 
daß er und Gewalt anthue, und uns nicht laffe, bis er unſern 
Seelen die Saiten aufgezogen, in denen fein Wort einen vollen und 
bleibenden Wiederhall finde! Erflehen wir vor allem Andern uns ein 
aufrichtiges, kindlich unbefangenes Herz, und ſtimmen wir ein im die 
Worte des fünfundswugigften Pſalms: 

Herr! behuͤte mich anf Erden, 

Ich bin hälflos, rette mich! 

Laß mid nit zu Schanden werden, 

Ich vertrau' allein auf did. 

Gibzur Schutzwehr meiner Seel’ 

Einfalt und gerades Wefen! 

Ad, wann wirft du Ifrael, 

Herr, aus aller Roth erlöfen? — Amen. 


— — 
XXXIV. 
Was iſt Wahrheit? 


Im ganzen alten und neuen Teſtamente finden wir, mit Ausnahme 
„der einzigen, zu der unſer heutiger Paſſionsabſchnitt ung führen wird, 
feine Stelle, aus der und auch nur etwas Aehnliches entgegen 
Hänge, wie die gegenwärtig ſo oft verlautende moderne Klage: „Wer 
gibt mir Licht, und Löfet mir des Lebens dunkle Raͤthſel?“ Vielmehr 
begegnet uns überall, und zwar bei den Gottlofen nicht minder, als 
bei den Frommen, die ſtillſchweigende Vorausjegung, daß die Wahr: 
beit nicht erft noch zu fuchen, fondern längft gegeben ſei. Das 
verſchiedene Verhaältniß, welches die einen und die andern zu derſelben 
eingenommen haben, ift nicht dasjenige des Zweifels und des Glau— 
bens, fondern Das des böslichen Widerftrebens gegen, und der 
willigen Unterwerfung unter fie. Allen fleht der Ausfpruch 5 Mof, 
29,29: „Die Geheimniffe find des Herrn, unfers Gottes; 


Des ik Wahrheit? 48 


die DOffenbarungen aber find unfer und unfrer Kinder 
ewiglich,“ unwiderfprechlidh feft. Wer es erft noch in Frage hätte 
ftellen wollen, ob Gott zu den Pilgern auf Erden geredet habe,. 
oder nicht, der wäre jedem Ifraeliten einem Menfchen gleich erfchles 
nen, der etwa bei hellem Zage zweifeln wollte, ob die Sonne am Fir⸗ 
mamente ſtehe. Die Klage über Mangel an gewiffen Auffchluß im 
Bereich der überfinnlichen Dinge ift eine Narrheit neuern Datums 
und ein auf uns übertragenes Erbtheil des Heidenthums. Ste 
ift Tängft, und zwar in untrügficher Weife, erledigt, die Frage fo: 
wohl nad) dem Urfprung und Zwed der gefchaffenen Dinge, als nach 
dem Beruf und der Zukunft des menfchlichen Gefchlechts; und die 
erfreuliche Zhatfache, Daß fie das ift, bezeugt der eben angeführte 
Sprud in den Worten: „Die Dffenbarungen find unfer und 
unferer Kinder ewiglich.“ Wenn aber Mofes durch den heiligen 
Geiſt binzufügt: „Die Geheimniffe find des Herrn, unfers 
Gottes,” ſo will er und damit zu verftehen geben, daß die Wahr⸗ 
heit und nur fo weit geoffenbaret worden fei, als unfre Fafſungskraft 
reihe, und wir ihrer Erkenntniß zu unfrer Seligfelt nicht entbehren 
können. Dieſes Bewußtſein beruhigt uns gar fehr fo manchen ums. 
geloͤſten Räthſeln gegenüber, welche immer noch bei den uns verfüns 
digten einzelnen Glaubenslehren für uns übrig bleiben. Wenn 3. 3. 
in den Dogmen von Gottes ewigen Dafein, von der Dreieinigkeit, 
der Schöpfung der Welt, dem Fall der Engel und der Menfchen, der 
Doppelnatur in Ehrifto, den legten Dingen u, f. w., das Eine und 
Andre unfrer Dernunft zu fchaffen macht, und durch feine Unbegreif: 
fichfeit uns Geift und Herz beänaftigen will, fo fagen wir auf Grund, 
ja mit den Worten der Offenbarung felbft: „Die Geheimniffe find 
des Herrn, unfers Gottes! Gott hat nur erft eine Seite jener Dinge 
uns entfchletert, und zwar die fir uns jet noch allein erfennbare, 
aber zur Erreichung des göttlichen Heilszweckes an uns überfchwäng- 
lich genügende. Wir erkennen ſtückweiſe erfl, was wir einft volls 
kommen erfeımen werden. Dieſes zukünftigen Moments harren wir 
in Geduld, und find gewiß, Daß, wenn Dderfelbe mit feinem durch⸗ 
fcheinenden und Alles beleuchtenden Lichtglang wird hereingebrochen 
fein, al’ unfer Stugen und Befremden in einen nünmer endende 
Jubel anbetender und verwunderumgsvoller Freude fich verwandeln 
wird.“ 

Diefe furzen Andeutungen mögen einer Betrachtung zur Einleitumg 

27° 


420 Das Heilige. 


dienen, durch welche e8 Gott dem Herm gefallen wolle, in der lieber 
zeugung uns zu befeftigen, daß die Wahrheit wirklich vorhanden fei! 


Ishannes 18, 38. 
Spricht Pilatus zu ihm: Mas it Wahrheit? 


Ein furzes und unfcheinbares Wort, mit dem es unfere heutige 
Betrachtung zu thun hat. Es hat aber daſſelbe, wie der letzte Seufzer 
eines Sterbenden, feine tiefen, wenn gleich dunklen, Hintergründe. 
Das Wort bildet das Echo, das dem Herrn auf feine Rede von dem 
„Reiche der Wahrheit” aus des Landpflegers Seele wiederfehrt. Ob 
aber gleich zwei Jahrtaufende faft ſchon alt, klingt's doch fo gewohnt 
und heimisch an unfer Ohr, als ichölle e8 aus unfrer nächften Nach 
barfehaft und aus unfrer moderniten Gefellfchaftskreife einem uns 
entgegen. Es bezeichnet einen innern Standpunkt, der allenfalls eis 
nem Heiden, namentlid) der damaligen Zeit, zu verzeihen war; aber 
Diejenigen, die ihn heute noch theilen wollen, unbedingt verdammt. 
Treten wir dem merkwürdigen Worte näher, und nachdem wir zuerſt 
die Bedeutung deſſelben erwogen haben, verftändigen wir uns 
darüber, ob noch irgend eine Berechtigung zu jener Frage vor 
handen fei. 

Erfrifehe unfre Betrachtung und das beglüdende Bewußtfein, daß 
zu Lauten wie der, dem wir auf der Lippe des Pilatus heute be 
gegnen, fein Anlaß mehr vorhanden fei, und entflamme fie unier 
Herz zu erneuter Dankbarkeit gegen Gott, der e8 uns im dunklen 
Pilgerthal der Erde nicht an einem „Licht auf unfern Wegen,“ noch 
an einer „Leuchte unfrer Füße” hat gebrechen laſſen! 


1. 

„Wer aus der Wahrheit ift,* fchloß der Herr feine Rede, „der 
höret meine Stimmel” Da entgegnet der Procurator: „Was if 
Wahrheit?" Es haben Etliche in diefem Worte einen leichten Hohn, 
Andre den Ausdruf einer vollendeten religiöfen Gleichgültigkeit finden 
wollen. Aber weder diefe noch jene Deutung läßt fih mit dem Ehe 
rafter des Pilatus in vollen Einklang bringen. Der Laut dringt 
tiefer herauf, und birge einen reichern Inhalt, Wie ein Bliß beleuchtet 
er und eine ganze Zeit, und die innerfte Gemüthslage vieler Zaus 
fende ihrer Kinder, 


Was it Wahrheit? 421 


Wir haben früher fihon bemerkt, daß des Pilatus Leben in Tage 
fiel, welche als Diejenigen der Bildungsreife des menschlichen Gefchlechts 
bezeichnet werden dürfen, fofern unter Bildung Die geiftige und ges 
fellichaftlihe Kultur verftanden wird, zu der e8 die Menfchheit fich 
felbft gelaffen, umd durd) Rentbarmachung ihrer natürlichen Kräfte 
und Gaben, zu bringen im Stande ift. Nicht allein hatte die Kunſt 
ihre fchönften Bluͤthen getrieben; aud die Philofophie war am Ziel 
ihrer fühnften FZorfcherflüge angelangt; und wir bewundern noch heute 
die Lehrgebäude der Weisheit, welche fie durch die Denkkraft hochbe⸗ 
gabter Organe in's Dafein rief. Dennody war dem: „Gib mir, wo 
ih ſtehe!“ die Befriedigung nicht gefchafft. Hatte auch der menfch- 
liche Geift des Wahrfcheinlihen Manches zu Tage gefördert, fo 
fab man fih doch nad) Gewiſſem und Untrüglichem verges 
bens um. Bekannte doch ſchon in unbewußter Weiffagung der größte 
aller Weifen des Alterthums felbft: „Nur wenn ein Gott vom Hims 
mel niederfleigen wird, wird der Menſch zu etwas Sicherem ge 
langen!” Ja, wurde doch der Grundfaß zum Gemeinplag, „gewiß 
fei nur das Eine, daß man von überfinnlichen Dingen mit Gewiß⸗ 
heit nichts wiffen könne; und freilich wiffe man auch diefes Eine 
nicht ganz gewiß.” Aus dem Schooße folder Anfchauungen erzeugte 
fih zunächft in dem gepriefenen Griechenland jene frivole Lebensweis⸗ 
heit, welche, auf alles Höhere und Ueberfinnliche verzichtend, des 
Menfchen ganze Beitimmung in dem Genuffe diefer Welt und ihrer 
Güter aufgehen ließ, und die binnen Kurzem mit dem ganzen Gefolge 
ihrer Ausfchweifungen und Lafter zur Religion der großen Mafje der 
Bevölkerungen wurde, In der römifchen Welt behauptete fich eine 
gewiſſe fittlihe Strenge zwar etwas länger noch, al8 in der griechi⸗ 
fhen. Nachdem aber die Römer auch Griechenland dem weltgebie- 
tenden Zepter ihrer Herrfähaft unterworfen hatten, ſchwangen fi) Die 
leiblich Unterjochten zu geiftigen und fittlichen Ueberwindern ihrer Bes 
fieger empor, und vererbten auf fie mit ihrem Unglauben auch ihre 
Leichtfertigleit und ihre Sünden. Bald wurde nım namentlich in 
den Kreifen der Gebildeten die hergebrachte Götterlehre nicht mehr blos 
angezweifelt, fondern al8 ein nichtiges Traumerzeugniß vornehm bes 
lächelt; wie denn 3. B. der berühmte römifche Redner Bicero des 
allgemeinen Beifalls feiner Zuhörer fich verfichert halten zu Dürfen 
glaubte, da er vor einer Volksverſammlung in feiner Rede der Strafen 
der Unterwelt nur noch wit einer ironifchen Miene und Wendung 


422 Das Heilige. 


Erwähnung that. Es glaubte an den Orkus und deſſen Schatten md 
Schreden faum Jemand mehr; aber ebenfowenig glaubte man auch 
an die Lehrſätze der Philofophen. Man glaubte mit einem Worte 
nichts. Dennoch war das Nein des Kopfs keineswegs vermögen), 
das in Taufenden nach wie vor um Licht und Frieden fchreiende Herz 
zum Schweigen zu bringen. 

Als ein rechter Repräfentant der geſellſchaftlichen Bildung feines Jahr⸗ 
hunderts fteht nun Pilatus vor uns. Freilich iſt nicht vorauszufegen, 
daß er fi je in gründlicherer Weife mit dem Studium philoſophi⸗ 
ſcher Syſteme befchäftigt haben werde. Jedenfalls aber war auch er, 
wie die Genoffen feines Standes insgemein, mit Den weſentlichſten 
Refultaten der philofophifchen Forſchung obenhin befannt; und na 
mentlich war er gewiß in der Literatur feiner Zeit fein Fremdling. 
Diefen Mann führt nun fein Lebensweg mit dem Herm vom Himmd 
zufammen, und verfeßt ihn dadurch in eine geiflige Atmofphäre, in 
der noch einmal Gefühle und Ahnungen in ihm erwachen, weldye au 
dem Hauche der frivolen Zeitbildung, die er mit der Muttermildy ein 
gefogen hatte, Tängft in ihm erftorben fchienen, Chriftus, deſſen Au 
blick ſchon unfern Heiden wunderbar ergreift, redet zu ihm von einer 
andern Welt, von einem überirdifchen Reich, von einem bimmlifchen 
Königthum, und zuleßt von der Wahrheit, und zwar als von einer 
erfhienenen, die ſich darum auch wirklich finden und erfermen 
laſſe. Da bricht Pilatus in die merkwürdige Frage aus: „Was ift 
Wahrheit?” Der gebildete Heide des damaligen Jahrhunderts, und 
zwar der edlem Gattung der Gebildeten einer, enthüllt uns in Diefer 
Frage die Geftalt feines innern Menfchen. Allerdings findet fi) in 
der Frage zuerft von der freigeifterifchen Frivolität etwas an, in der 
man nicht allein auf den Götterglauben des gemeinen Volks, fondern 
überhaupt auf Alles, was in das Gebiet religiöfer Anfchanungen fie, 
als auf Kinderträume und phantaftifche Hirngeſpinnſte lächelnd herab; 
ſah. „Was ift Wahrheit?” war zu der Zeit die Sprache Zaufender. 
„Was wir," fügte man, „mit unfern Augen erfchauen, mit unfern 
Händen betaften, ift das einzig Zuverläffige unter dem Hinmel. 
Ueber die Grenzen der finnlichen Welt reicht Fein fterblicher Blick hin 
aus; und Spiele des Dichtenden Geiftes mögen auf einer Lebens 
und Bildungsftufe befriedigen können; fie können es nicht auf allen!“ 

In der Pilatusfrage läßt ſich ferner der vornehme, feeptifche Phis 
loſoph vernehmen, Dem nicht allein bewußt ift, daß die Forſchungen 


Bas it Wahrheit? 423 


des denkenden Menfchengeiftes zu den verſchiedenartigſten und wider- 
fprecheudften Ergebniffen führten, fondern der auch die Einbildung 
bei fich nahrt, den Weiſen der Erde felbfiftändig nachgedacht und 
nachgerechnet, und fo im Wege eigner Gedankenvertiefing die Ueber⸗ 
zeugung gewonnen zu haben, daß von Dingen, die ehwa jenfeits der 
Schranken der Sichtbarkeit Tiegen möchten, ſchlechthin nichts zu ent- 
decken noch zu erkennen ſei. „Was ift Wahrheit?” ruft er aus. „Der 
Eine,” will er fagen, „nennt Wahrheit dies, ein Andrer jenes, viel- 
leicht gar das Entgegengefebte. Spfteme tauchen auf und tauchen 
nieder. Ein Meer ohne Hafen und Landungsküfte befchifft derjenige, 
der Wahrheit ſucht!“ 

In der Pilatusfrage fpreizt ſich nicht minder der maßlofe Stoß 
des römifhen Reichsbürgers, der ſich an Aufflänung und Kultur 
über alle andern Völker der Erde, namentlich aber über das der Juden, 
wer weiß, wie hoch, hinausdunkt. Mit einer, wenn auch nur vorüber 
gehenden innern Gereiztheit fpricht Pilatus fein: „Was ift Wahr: 
heit?" als ob er fagen wollte: „Du, ein hebräifcher Rabbi, wirft 
Doch nicht denken, ich, der römiſche Batrizier, fei gelommen, um 
bei dir Belehrung zu ſuchen?“ Der Grundton der Frage des 
Pilatus indeß ift befferer Art, und wird von den bisher genannten 
Miptönen nur flüchtig Durchkreugt und angehaucht. Wehmuth ath⸗ 
met fie, Refignation, ja die flumme Verzweiflung eines Her- 
zens, welches mit dem Glauben an das Dafein einer Welt des 
Ueberfinnlichen nicht zugleich auch den Wunſch und das Berürfniß 
von fid) werfen konnte, daß eine folche Welt exiftiren möchte. Uns 
glücklich und verwaift fühlt fi) auch die Seele des Pilatus noch in 
der leeren Einöde des abfolnten Zweifels, in die fie fich gebannt fieht. 
Deuten wir die Zrage des Landpflegers aus dem tiefften Innern feis 
ner Gemüthswelt heraus, jo dürfte fie etwa in Diefe Laute fich aus⸗ 
einanderlegen: „Du redeft von Wahrheit! Ah, die Wahrheit ward 
den armen Sterblichen nicht zur Gefährtin mit auf den Weg gegeben! 
Wir fragen nach ihr; aber das Echo ruft, unſrer Sehnfucht ſpot⸗ 
tend, nur unfre Frage uns zurüd, Wir feßen die Leiter des fors 
fhenden Gedanfens an; aber nur in undurchdringliche Nebel entführen 
uns ihre Stufen! Nicht eine Wahrheit hat dem vieltaufendjährigen 
Argonautenzuge philoſophiſcher Denkthätigfeit gelohnt; und du, Maun 
aus Nazareth, willft vom der Wahrheit reden, als von einer Einfaffee 
der dunklen Exdet Der Tod hat von Anfang ber geſchwiegen; 06 


424 Dad Heilige. 


ſchweigen die Gräber drunten, die Sterne droben; und du willft dafür 
gehalten fein, daß du denfelben die Zunge gelöft und ihre Geheimmiſſe 
entfiegelt habeſt?“ — Ja, auch Solches, oder dem Aehnliches doc, 
tönt, den tiefern Hintergründen feines Gemüths entfleigend, uns durch 
Die Pilatusfrage an. In dem Manne tft freilich etwas von einem 
ſtolzen Philofophen, etwas von einem abgelebten Indifferentiften, et 
was von einem Sceptifer von Profeffion, etwas von einem frioolen 
Freigeift und Spötter, etwas von einem kleinlich eiferfücchtigen umd 
ehrgeizigen Braufelopf, der mit feinem: „Was ift Wahrheit,” anch 
fagen wollte: „Wie fönnt ihr euch unterfangen, mich, der ich auf 
wichtigere Dinge zu denken habe, mit euren jüdifhen Glaubenshäns 
deln zu bebelligen?* Aber es ift in ihm auch etwas Andres, Bei: 
feres und Edleres noch: ein unverdrebter, Tichtbedürftiger Menſch, eine 
Kreatur, die nah Erlöfung ſeufzt, aber leider! durch die unreinen 
und finftern Elemente, die ihn durchwalten, gebunden tft, und, Durch 
fie niedergehalten, nicht freien Raum gewinnen fann. 

So oft die Pilatusfrage mich antönt, meine ich, wie fchon aefagt, 
diefelbe nicht aus einer achtzehnhundertjährigen Vergangenheit, fondern 
aus der unmittelbarften Gegenwart, ja aus meiner nächjften Umgebung 
zu mir berüber tönen zu hören. Schlagend bezeichnet ſie Das Ge 
ſchlecht auch umfrer Zeit, und die fogenannte „Höhe,“ auf welder 
die modernfte Bildung nunmehr wieder angelommen ift. Nur erfcheint 
die Frage im Munde unfrer Zeitgenoffen unendlich verdannmmungss 
würdiger noch, als fie e8 im Munde unfers Römers war, defien Augen 
noch nicht gefehen hatten, was die unfrigen, da weder damals Jeſus 
fhon verklärt, noch der heilige Geift bereits ausgegoffen, noch die 
Welt mit dem Schwerte des Evangeliums überwunden und der Wım- 
derbau der Kirche Ehrifti gegründet war. Jetzt, nachdem dieſes Alles 
geichehen ift, auf den Standpunkt des Heiden Pilatus fich wieder 
zurüdeftellen wollen, ift nicht menfchlich mehr, fonden dämoniſch. 
Es brennt in der Scepfts jetzt ein höllifcher Zunfe, und des Römers 
Zweifelmuth verhält fich zur dem Unglauben unfrer getauften Heiden, 
faft wie ein unſchuldig Lamm zu einer tüdifchen Natter. Der Uns 
glaube iſt jept nicht mehr das blinde Kind des vom Erdgeift bes 
thörten und umgarnten Herzens, fondern der lichtfcheue Sohn des 
böfen und rebellifchen Willens. Auf die Frage: „Was ift Wahrheit?“ 
gehört gegenwärtig nur noch die Antwort: „Unter Anderm ift Wahr 
heit Das, daß du verdammt bifl, weil du die Lüge liebſt!“ Im Blick 


Was iR Wahrheit? 425 


auf einen Pilatus bleibt für Mitleid noch und für Bedauern 
Raum. In Bezug auf den neueften Unglauben Dagegen heißt es: 
„Schilt das Thier im Rohr, die Rotte der Stiere unter den Voͤl⸗ 
fern!“ 

2. 

„Was ift Wahrheit?” Es ift bald gefunden, was Wahrheit fet, 
wenn nur mit Ernft darnach gefragt wird. Eine Menge Menfchen 
gibts, die wohl nah „Wahrheiten“ fragen, aber der Wahrheit, 
wo fie ihnen begegnet, gefliffentlid) den Rücken kehren. Wohl fähen 
auch fie gar gerne allerlei Räthjel der Natur und des Lebens fich 
gelöft; aber ihr ganzes Fragen und Forfchen tft nur Geiftesfpiel, 
und ihr Intereffe nur müßige Neugier. Ihre Theilnahme ift rege, 
wenn ſich's davon handelt, wie man fich die Entſtehung der Welt 
zu denken habe, ob eine Geifterwelt, eine FZortdauer nach dem Zode 
exiſtire, wie das jenfeitige Leben befchaffen fein möge, u. f. w. Aber 
vor der Wahrheit ziehen fie fich ſcheu zuruück, und fuchen in allerlei 
Weiſe ihr Tieber auszubiegen, als ihr zu begegnen. „So wäre denn 
die Wahrheit da?" Welche Frage! In deinem Herzen ift fie, wie 
in deinem Munde; ja mit Händen greifft du fie; und du willft noch 
alfo fragen? Daß du 3.2. exiſtirſt, daß du ein Bewußtſein einer hoͤ⸗ 
ben Beitimmung unpertülgbar in deinem Bufen trägftz; daß du aber, 
weit entfernt vom Ziel derfelben, ein fündiges Weſen bift, und feinen 
Frieden, der die Zeuerprobe halte, in deiner Seele findeft: gehört dies 
Alles nicht der Wahrheit an? Daß ferner vor achtzehnhundert Jah⸗ 
ren auf Erden ein Mann erfchien, den Niemand einer andern Sünde 
zeiben konnte, als daß er „die Wahrheit” fich genannt, und ſich als 
denjenigen angekündigt habe, der einft die ganze Welt feinem Geiftess 
feepter unterwerfen werde, und daß gegenwärtig du — ich rede hier 
mit den Worten eines Andern, — „mit aller deiner Freiheit und 
Sehftftändigkeit in das Meer von Folgen verfchlungen bift, die fich 
daher fhreiben, daß vor fo langer Zeit weit von Dir in einem vers 
ächtfichen Erdenwinkel jener verachtete Rabbi einer unbedeutenden Nas 
tion wie ein Sklave hingerichtet wurde, und du um defwillen num 
im allen deinen Beziehungen fo ganz anders beftimmt worden bift, 
als du e8 ohne das geworden waͤreſt:“ kann fich Dir dies auch nur für 
einen Augenbli in Zweifel ftellen, und tft es alfo nicht die Wahr⸗ 
heit? Gehe nun an der Hand defien, was du fo als unwiderleglich 
ſchon erlannteft, finnig weiter, und bald wirft Da inne werden, es 


2286 Sei Geige. 
wuise über ter Reuxkbeu zur keberer gübrmgö- und Exrzichumgöylan, 
wm? werk Derani kbmeren, Dis em Gem, ber die Liebe fei, ſich ſeinen 


armen Sterbiichen umnrseterbtab unch werde geeitenbart haben muiflen. 
Un? wie Lmge mut’s um mübren, 'e wırk du Dir, dem zur Einfelt 
ums 


03% den — — 
64 Ta re Ban Send 


Ange: 
Sehen Der Babrbes Kar eo mus mit Dias üherkhifthen Gin 
wirt, md da Segrüßt Di endlich die Babrbeit in Perſon. „Mb 
bin die Wubrbeit* ſpricht em Mann, den Alles, was am ihm if, ald 
einen liebermenichlichen bezeichnet, und aus der Belt aller kichtbebärf 
tigen Geifier toͤnt als Ece ein pwerfihtövelles: ‚zurmabr, du bil 
es!“ Ihm zurück. Daß über den Bellen ein lebendiger Weltgebieter 
tbrone, wer dieſer Gett in der Höhe, welches jein Bille an Die Ares 
tur, wozu der Menſch geſchaffen, mus ſein böberer Beruf, was feine 
wahre Beñimmung ei: in Ebrite Jeiu wird dieſes Alles umwider 
ſprechlich offenbar. In einer Erſcheinung erſchließen fi uns die 
Ziefen der Gottheit, die Rarbichlüffe Der ewigen Liebe, Die Abgründe 
der yöttlihen Burmberzigkeit, Die Gebeimnifſe Des Lebens und de 
Zodes, des Himmels und der Hölle. Auf alle Fragen, fei es nad 
dem Inhalt und Kern des göttlichen Gejeges, ſei es nach dem Weſen 
der wahren Zugend und Heiligkeit, ſei es nach Dem Ideale des 
Menichenthums, oder wonach jonit es jei, iſt er, ſchen vor aller Nede, 
felbit die euticheidende, periönlice Antwort. Und wo er jpricht und 
handelt, ftürzen die Geifter des Zweifels, wie die der Lüge und des 
Wahns, davon, und Klarheit, Gewißheit und Zuverfüht entbieten ums 
den himmlijchen Zriedensgruß. 
Es verftumme denn auf Erden das Pilatuswort: „Was it Wahr⸗ 
kit!“ So kann hinfort mur noch der Blödfinn, oder Die mwuthrillige 


Da if Baheheitt 4 


Selbſtverblendung und der dämoniſche Lichthaß fragen. Die Wahrheit 
hat ihren Einzug in die Welt gehalten, und wohnt vertraulich, und zus 
gänglich für Alle, die ihrer begehren, in unfrer Mitte. Eine Philos 
ſophie, die fich gebährdet, als müfle fie die Wahrheit erft aus der 
Ziefe heraufs oder vom Himmel herunterholen, wird ihren fchreienden 
Undant gegen den Gott der Gnaden damit büßen, daß fie ewig im 
Finſtern tappen, und, nad) Schemen taftend, nimmer zum Anferwerfen 
fommen wird. Die Aufgabe der Philofophie wäre jeßt Die, das ins 
nerfte Bewußtfein des menfchlichen Geiftes zu ergründen und auszus 
fhöpfen, und an deſſen unvertilgbaren Bedürfntifen vorurtheilsfret 
die in Chrifto erfchienene Wahrheit zu erproben. Schidte fie fi 
Dazu an, fünvahr, bald bände aud) fie nach ihrer Tangen Irrfahrt 
beim Berge Zion ihren Nahen an, und riefe jauchzend und frohlockend 
auch: „Ich habe gefunden, ich bin am Ziell” Alles, was reblich 
und ernft nach Wahrheit forfcht und fucht, Tandet unausbleiblich 
zuleßt in der göttlichen Hafenbucht des Evangeliums, Mit der größten 
Zuverſicht durfte darum der Heiland fprechen: „Wer aus der Wahr, 
heit ift, der böret meine Stimme!“ — — 

Preifen wir denn den allgenugfamen Gott für die unausfprechliche 
Gabe, deren er uns gewürdigt hat! Siehe, die Nacht ift vergangen, 
und der Tag ift angebrochen! Der alte Prophetenruf: „Mache Dich 
auf und werde Licht: denn dein Licht kommt!“ hat fich feinem weiffe- 
genden Theile nad) längft erfüllt. Erfülle fi in uns Allen nun au 
Die Mahnumg, die jener Ruf neben der Verheißung tim Schooße trägt! 
Näumen wir der Wahrheit, die vor unfrer Pforte fteht, mit freudiger 
Willigkeit Geift, Herz ımd Gemüthe ein, und wandeln wir „als die Kitts 
der des Lichts!” Er ift Die Wahrheit, der zugleich der Weg und das Les 
ben ift. Werfen wir die Schlangenbrut unfrer Zweifel unter feine Füße, 
daß er fie zertrete, und fprechen wir betend mit dem alten Sänger: 

Sei unfer Glanz und Wonne, 

Ein helles Licht in Bein, 

Im Schreden unfre Sonne, 

Im Kreuz ein Guadenfdein; 

In Zagheit, Glut und Flamme, 

In Roth ein Frendenſtrahl, 

In Krankheit Arzt und Amme, 

Ein Stern in Todesqual. — Amen, 


— a 


228 DE ip. 


XXXV. 
Des Gettrdlemm. 





um“ I die ke Tu erie Gurtermmmy zur hu Ahr zub Wei, 
m der te xız ı Zım2 m? See frame ill, begegeei 
— 21, ze mm beruber wol, Ge babe dem eriken 
— zuh deu Simdeniell „Ride ron Fellen zenacht uud 
fie ihnen angezogen“ Ze kom. 1 wi fiztermührdhenbafl, 
deeie Orsiblung rm, je vamiz med Dirt beieurime ve se. Cm Them 
außererdeuttuber zerrtiher Herablaiizea ara ich hier: aber ed 
ee a m 

jeides Them tee Ratımı der iuutizee ut Dem Auch verfallenen 
Mt vermitichn Line Te wuılmm Warten balen den Ber 
fu gemacht, ch tik u beiten, un? mir Zewmenblättern ibre Diöße 
zu bededen. Get aber renzuf dieſe Hülle als eine unzureichende, 
und kezruzie dadurch, dasß der Mexich der Reribinma, nich ſelbſt 
rechttertig vor Zeimen Angen Durzsitellen, durchs ermungele. (ir 
iiber, der Allerbädhite, übernabm es turım in eigner Perien, tem 


Gin unichuldiges Leben ward georiert, ein Tbier, unbezweifelt eim 
Kamm, und denſen reines Vließ den Zimdern zur Decke dargereicht. 
Ber vertennt in dieſem göttlich jomboliſchen Akte den lirtorus aller 
fpäteren Opfer der Hürte ımd Des Tempels? Und wer fiebt nicht, 
dag das Länmervließ, welches den eriten Zimdern ihre Blöße be 
Dedte, nach Gottes Willen das bedeutungsvolle Vorbild der Gerech⸗ 
tigkeit war, welde der Mittler Chriſtus geborchend, leidend und 
ſterbend uns erftritt? Bas im Anfang der Menichengeichichte vor 
den kaum geſchloſſenen Pforten des Paradiefes figürlich geſchah, fehen 


Dak Goliellemm. 420 


wir in den Paffionsenangelien wirklich werden. Ja, was Gott an 
Adam und Eva in tiefer Symbolik that, das vollzieht er weſenhaft 
bis zu Diefer Stunde an Allen, die um ihre Sünden befümmert zu 
Seinem Gnadenthrone ihre Zuflucht nehmen, — Wir treten heute zu 
dem erhabenen Gegenbilde jenes Opferlammes zurüd, das den Ges 
fallenen des Paradieſes die Hülle lieh, in der fle wieder getröfteter 
ihr Haupt erhuben. Helfe Gott, daß, was an ihnen prophetifch 
einft geſchah, über uns als befeligende Erfüllung kommen möge! 


Ish. 18, 38. Matth. 27, 12—14. Fuc. 23, 4. 

Und da er dad gefagt hatte, ging er wieder hinaus zu den Juden, und ſpricht zu 
ben Hobenprieftern und zum Bolt: Ich finde feine Schuld an ihm, und feine Urſache 
an biefem Menſchen! Und die Hohenpriefter befhuldigten ihn hart. Und da er ver- 
Magt ward von den Hohenprieftern und Aelteſten, antwortete er nichts. Da fragte ihn 
Bilatus abermald, und fpra zu ihm: Antworteft du nichts? fiehe, wie hart fie dich 
verfiagen! böreft du nicht? Jeſus aber antwortete ihm nichts mehr, nicht auf ein 
Wort, alfo, daß ſich auch der Landpfleger fehr verwunderte. 

„Und ich fab, und fiehe — ein Lamm!" Wem fallen Ans 
gefichts der Scene, die in unferm heutigen PBafflonsauftritte ſich vor 
uns entfaltet, nicht diefe Worte der heiligen Offenbarung ein? rs 
gend ein Mal mußte die Geftalt des jefajanifchen vor feinem Scheerer 
verftummenden Opferlammes recht vollftändig ausgeprägt erfcheinen, 
und Dies gefchieht in unferem heutigen Evangelium. Schauen wir 
uns das Gotteslamm näher an, und zwar in der dreifachen Be⸗ 
feuchtung, welche e8 durch Das Zeugniß feines Richters, durch 
die Befchuldigungen der Hohenpriefter und des Volles und 
endlich durdy fein eigenes Verhalten erhält! Unter dem Segen 
Gottes verfläre ſich unſere Erwägung zu einer ftillen Herzensfeier, Die 
Durchklungen und getragen werde von dem alten Kirchenfange: 

O Lamm Gottes unſchuldig! 
Am Kreuzesſtamm geſchlachtet! 
Allzeit erfunden geduldig, 
Wiewohl du wardſt verachtet! 
All' Sünd’ haft bu getragen; 
Sonft müßten wir verzagen. 
Erbarm’ dich unfer, o Jeſu! 
1. 

Nach feiner erften Unterredung mit Jeſu tritt Pilatus aus dem 

Praͤtorium wieder auf die offene Nishterbühne vor das Volk heraus, 


4 dab Helligt. 


und nimmt diesmal den Verflagten mit fi. Der Landpfleger iſt ms 
feiner Gemütbölage na fein Unbekannter mehr. Wir lernten ihn als 
einen Menichen fennen, in welchem feinesweges fchon alle Enupfinz 
lichfeit für wahre Geiſtesgröße erloihen war. Eine ftille Bewunde 
rung der außerordentlihen Periönlichkeit, welche in Jeſu vor ihm amd, 
bildete die Grunditunmung, die während der ganzen mit Demfelben 
gepflogenen Derbandlıma in tteigendem Maße ibn beberrichte. ein 
Meden und Schweigen, der Blid feines Auges, wie Das Ganz 
feiner Haltung, jeine Demuth, und Dunn wieder feine ſtolze Ruhe, 
feine Zammesgeduld, und nicht minder fein nie getrübtes Königsge 
fübl und Selbftbemußtiein: dieſes Alles bat einen gewaltigen Cin⸗ 
drud auf ibn gemacht; und hätte er dem, was traumartig fein June 
res durchzog, überall den angemeffenen Ausdrud leihen wollen, ie 
würde wenigſtens in einzelnen Momenten etwas Achnliche® aus ihn 
beraus verlautet fein, wie das große Johanniszeugniß: „Bir fahen 
feine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit alö des eingeberenen Sohnes vom 
Vater, voller Gnade und Wahrbeit.“ Ja, auch ein Pilatus in 
für die Echöne des Herm vom Himmel noch einen Epiegel in ſeiner 
Bruft; nur war es leider! ein Eisſpiegel, über den Die warmen 
Petrus: und Magdalenenthränen noch nicht geflofien waren. Wo 
diefe aber fehlen, bält der Epiegel der Seele die Strahlen des gött⸗ 
lichen Morgeniterns nicht feit, und nimmt im günftigften Falle fein 
Bud nur getheilt und ſtückweiſe auf. Dennoch leuchtete Die Hoheit 
Immanuels zu mächtig felbit in Das Innere unſeres Nömerd ſchon bin 
ein, als Daß es deſſen freier Wahl noch anbeim gegeben geweſen würe, 
mie er fih zu ibm stellen ſolle. Bis zu einem gewiſſen Grade tft er 
innerlih von ibm überwunden. Gr muß ibn losiprechen von aller 
Schuld. Er fann einer geheimen Ehrerbictung gegen ihn ſich nicht 
erwebren, und wird, fo oft er den Einflüiterungen egoütifcher Rück⸗ 
fihten gegen Jeſum Gehör geben will, von der Zrimme der Wahr⸗ 
beit, Die in ihm reder, gerichtet und gewarnt, ja unwideriteblidy ge 
nötbigt, in die Bahn eines Züriprechers und Anwalts Des Gerechten 
zurückzulenken. Welch' eine Majeität muß alle auch Da noch dus 
Gotteslamm umleuchtet haben, als Marter nd Schmach ichen wie 
Meeresflutben über fein Haupt zuſammenſchlugen; und mit welchem 
Wunderglanze mußte die Sonne der Gerechtigfeit aub Das Gewölk 
der tiefften Emiedrigung noch durchbrechen, Daß fie im Stande wur, 
felbit einem verweltlichten Kinde des epifuräiichiten aller Jahrhun⸗ 


Dad Gotiellamm. 431 


derte eine ſolche Devotion abamöthigen! in Gleiches, wie dem 
Pilatus, würde vielen auch feiner heutigen Sinnesgenofjen widerfah⸗ 
ren, wenn fie nur einmal in ähnlicher Weife, wie er, mit Jeſu zuſam⸗ 
menträfen. Ich habe ſolche Menfchen hier im Auge, welche fich freilich 
an diefer Stätte nicht mehr betreffen laſſen, weil fie Tängft mit Kirche 
und Gottes Wort fi) auseinanderfegten, und vom Zaumelfelch des herr⸗ 
ſchenden Zeitgeifts trunken das ganze Ehriftenthum als eine „nicht mehr 
zu haltende Sache” aufgegeben, und Ehrifto felbft ohne vorbergeganges 
nes Berhör als einem „wie die Sterblichen alle, dem Zruge unterwor⸗ 
fenen jüdifchen Rabbi * mit der Unterthänigkeit ihrer Vernunft auch 
diejenige ihres Herzens und Lebens gekündigt haben, Fern aber ſei 
es von mir, felbft dieſe Leute unbedingt wegzuwerfen. Nicht alle find 
fie ſchon fo ganz im gemeinen Weltwefen verfumpft, daß fie eines ed» 
fern Geiſtes⸗ und Gefühlsauffchwungs durchaus nicht mehr fähig wären, 
Sie kennen zum Theil nur den Jeſus noch nicht, von dem fie fch 
losgeſagt, ja beurtheilen in ihm eine ihnen völlig fremde Perſoͤnlich⸗ 
feit. Daß fie nur ein Mal ſich entfchließen könnten, in der göttlichen 
- Bilderhalle der Evangelien ihm näher zu treten, und einige ftülle 
Stunden der Sammlung dazu anzuwenden, feinem Thun nachdenfend 
zuzufchauen, feinen Reden ruhig zu laufchen, und dann an der Hand 
der Gefchichte feiner Kirche auf feinen Eroberungsgängen durch die 
Belt im Geifte ihm nachzugehn! Ich bin gewiß, daß auch ihr Ges 
müth bald von Ahnungen überwältigt werden würde, die es ihnen 
mindeftens unmöglich machten, noch fernerhin in einer gleichgültigen 
Stellung zu ihm zu verharren; ja, Daß fie fih, ehe ſie ſich's ſelbſt 
verfähen, in ihrem Inneren genöthigt fänden, entweder diefem Jeſu 
zu huldigen, und mit ihrer ganzen Liebe fich ihm hinzugeben, oder 
mit derjenigen Empfindung ihn zu haffen, die man Jemandem ents 
gegenträgt, dem man die Berechtigung, daß er über uns herrfche, nicht 
abzufprechen vermag; unter defien Scepter man aber gleichwohl ſich 
zu beugen nicht gewillt iſt. 

Es mögen ſich in der eben bezeichneten Lage vielleicht ſchon Manche 
unter und befinden. Sie bedürfen des Herrn Jeſu nicht, und wiflen 
doch auch nicht von ihm loszufommen. Sie verfagen ihm Die Unters 
werfung, und ſehen ihn Doch als einen Unterwerfung fordernden uns 
abläffig vor fi) ftehen. Sie wollen ihre eigenen Wege wandeln, und 
vernehmen doch in ihrem Gewiſſen ununterbrochen Sein: „Hieber! 
Dies ift der Weg; fonft weder zur Mechten, noch zur Linken]? ie 


433 dab Gele. 


trachten mit aller Gewalt ich zu überreden, er fei nur ein Menſch ge 
weien aleih antem Meniten, md meinen Doc, fo oft fie ihn m 
Geiñe wieder anſcham, von ieiner Stim die Juſchrift leuchten zu 
ieben: „Ih kin Das A und das O, der Grüe md Letzte!“ Wilke 
aber, ibr, Me ibr mer iclben Gindrüden jener Majeflät einher 
gebt, ımd, um nicht ganz unter feine Vomäßigleit zu gerathen, end 
genötbigt ſindet, ibn immer wieder gewaltjam von euch wegzuftoßen, 
Daß cs eine bäcfk bedenftice und (efabr Drabende Stelleng üR, is 
der ihr euch befinde. Guer Kamwr mir Chriſtus, Dies traurige Ge 
genzbeil des Bekannten Jakobslamwfes, kann leicht einen Ausgang für 
euch gewinnen, der von Demjenigen, melden ein Judas Iſchariech 
nahm, in nichts verichieden it. Por allem Anderen it Eins ad 
zu wünſchen: Die lebendige Erfennmmig, daß ihr, ald dem Fluch ver 
fallene Sünder, Alles eber, als Dielen Jeſum entbebren föunt. Ge⸗ 


Fußfall der Reue und Anbetung vor ſeiner hochherrlichen Erſcheinung, 
a mit dem Liebe und Hofmung uthmenden Ausruf: „Herr Schu, 
du Sohn David, erburme dich meiner!“ 

Unummunden bezeugt Pilatus vor den Hobenprieftem und allem 
Volk: „Ich finde feine Schuld an ibm, ımd feine Urſache an Diefem 
Menſchen,“ und drüdt Damit das beitätigende Ziegel dem befannten 
Petriniiben Worte auf, laut welchem wir nicht mit vergänglichem Gold 
oder Züber, jondern mit dem theuren Blute Chrifti als eines un; 
Ihuldigen und unbefledten Lammes erlöfet find. Freilich zeugt 
es von einer großen Oberflächlichkeit des Denkens, und von einem 
ſehr geringen logischen Vermögen, daß er nur „feine Schuld“ an 
Jeſu findet. Eine große Schuld lag in Jeſu Dezeunen, daß er 
der Sohn des lebendigen Gottes, und der König des Himmelrei- 
ches fei, wenn er daran log und Diele boben Titel fih nur an⸗ 
maßte. War er aber berechtigt, fo erbabene Dinge von fi au& 
zujagen, wie, Daß Dann der Lundpfleger nichts Beßres für ihn hatte, 
als das magre Zeugniß, Daß er ihn nur ſchuldlos erfenne. Doch 
aud Dies Zeugniß nehmen wir ſchon gerne bin. Dem Namen des 
Landpflegers wurde dafür mit Recht ein unvergingliches Denkmal in 
dem Belennmiffe der allgemeinen chriſtlichen Kirche geftiftet. Jeden⸗ 


P 
Das Gottellamm. 433 


falls fehen wir mit inniger Rührung den gutberzigen Römer an, wie 
er dem Berflagten jo gewogen, und von deſſen Unfchuld und fittlicher 
Unfträflichkeit fo mächtig ergriffen if. — So gerne febte er der münd⸗ 
lichen Zreifprechung des Gerechten, die er wagt, durch eine thät⸗ 
liche die Krone auf; aber — die Juden, der Kaifer, feine amtliche 
Stellung, und was Alles fonft noch! Ach, wen Verftandesüber: 
zeugung nur, oder auch nur eine natürliche Ahnung, aber nicht 
die Sündennoth des fchuldbeladenen Herzens mit Jeſus verfnüpft, an 
dem wird der Herr, wenn e8 zum Treffen fommt, niemals einen vers 
läffigen Anwalt und Vertreter haben. Es fchlägt ein Solcher ja mit 
Chriſto nicht fein theuerftes und umentbehrlichftes Befibthum los. 
Seinem Gemiffen zu Lieb’ träte er wohl gerne mit aller Entfchieden: 
heit für im in den Riß; aber die Ehre bei der Welt, die Gunft der 
Menfchen, der häusliche und gefellfchaftliche Friede, und was deß mehr 
ift, übt auf ihn viel mächtigeren und überwiegenden Einfluß. Wie 
wenig inbrunftvolles, fräftiges und unverholenes Zeugniß für die Got- 
tesherrlichkeit und Heilandswürde Jeſu Chriſti verlautet in unferen 
Tagen, wenn es darauf ankommt, felbft unter denen, die das Brod 
der Kirche effen und in deren heiligen Aemtern prangen! Wie viel 
Winkelzüge nimmt man wahr, wo es einmal ein felbftverleugnen- 
des Bekenntniß gilt! Wie viele Umgehungs- und Ablenfungskünfte 
werden da geübt, wie viele Sudasküffe ertheilt, und wie viele feine 
und verftedte Verleugnungen begangen! An Predigern des unver: 
fälfchten Evangeliums gebricht's, Gottlob! nicht mehr in unfern 
Zagen; aber von wo überfamen diefelben das Chriftentfum, das fie 
das ihre nennen? Können fie alle bezeugen, daß fie es auch noch 
andere Wege wandeln fahen, als den Weg vom Katheder der Do- 
centen in ihr Heft, oder aus Schrift und Buch in ihr Gedächmig? 
Brachten fie es alle als eine Siegesbeute aus tiefen Herzensfänpfen 
mit hervor? Kamen fie zu Jeſu, wie eine Magdalene zu ihm Fam, 
ein Schächer, oder ein Apoftel Paulus, welcher wohl heute noch ver- 
zweifelnd am Staube flüge und die Hände ränge, hätte er fid) an 
Demjenigen nicht aufrichten können, im Blid auf welchen wir ihn be> 
zeugen hören: „Sch hielt nicht dafür, daß ich etwas unter euch wüßte, 
ohne allein Jeſum Chriftum, und zwar den gefreuzigten.* Ferne fei 
e8 von mir, mic) zum Richter aufzumwerfen; aber allen Ernftes muß 
ich beforgen, daß unter denen, die wieder glauben zu dieſer Zeit, gar 
viel Pilatusglaube fich finden möge. Es wird aber die Pilatus 
28 


44 Das Gelee. 


verebrinig gegen Jeſum, wie viel Wabres uud Schönes auch fie hen 
in ih berge, am Tage der areßen Sichtung mur unter der Epreu er⸗ 
funden werden, welche als nichtig und völlig wertblos im Me wur 
Winde zermeben wirt. 

2 

Pilatus bar ſeine innerite Ueberzeugung von der ſittlichen Beſchef⸗ 
fenbeit Jeſu aufrichtig ausgeſprochen, da beben die Hobenpriefter, über 
Die dadurch erlittene Niederlage nicht wenig erboſt, aufs mene m, 
Anklagen ber Anklagen gegen Den Gerechten auszuſchäumen. „Se 
beichuldiaten ibn Bart“, meldet die Geſchichte. Wider beileres Willen 
und Gewirten überaiegen fie ibn mit einem Meer von Bub we 
Angrimm; und jegt erſt fomm Das Wort des Propheten: „Da a 
verklagt mard, that er Teinen Mund nicht auf, mie em Sun“, zu 
feiner aanzen Erfüllung. 

Das bedeutſamſte und iinnwollite Vorbild, Das durch göttliche Ber 
ordnung in Jiraels Gedichte und Gettesdienite ſich verwob, war das 
“ann. Ja, es begeanet und vor den faum geſchloſſenen Pforten des 
Paradieſes idhen in dem Cofer Abels Das Lamm ald ein Gegenkand 
beionderiten göttlichen Augenmerks und Wohlgefallens. Später üt ed 
das Lamm, Das mit feinem Blut dem eigentlichen Anfang der ifras 
litiſchen Volksgeichichte die Weibe gibt. Lämmerblut, an Me Time 
pfoſten geſprengt, vermittelt in Ganpten Iſraels Bewahrung vor Tem 
tödtlichen Schwert des Racheengels, und Des Volfes Auszug aus dem 
Tienitbaute der Pharaonen. Von Da an blich das Lamm Die ber 
poritedendite Figur, unter welcher Sen Den Rindern Abrabuns der 
zukünftigen Meſſias vor Augen nulte. Es gewann duflelbe fortan 
ſeine bleirende Statt in Jiraels Opferritus überbaupt und in der 
jährliben Vañafcier insbeſondere, bei welcher letzteren jede Hausge⸗ 
noñenſchaft nach Dem moſaiſchen Geſetze gehalten wur, ein Lamm 
männlichen Geſchlechtes und ohne Febl und Gebreden zum Heilig 
tbum zu bringen, auf Daelbe in feierliher Weile ibre Sünden zu 
bekennen, das nunmebr vorbildlih mit ihrer Schuld beladene im 
Tempelvorbof zur Schlachtung Darzubieten, und Dunn, nachdem es ge 
braten war, in feitliher Communion mit Zreuden und unter Dunf: 
geiängen zu Jehova ganz zu verzebren. Das propbetiſch Sinnbildliche 
lag bei dieſer ganzen Ceremonie ſo unverbüllt zu Tage, daß auch das 
abnungsloſeſte Gemũth es nicht verfennen konnte. Jedem nur halb⸗ 
wege für göttliche Symbolik Empfänglichen drängte fich dabei alſobald 


Des Gottehlemm. 435 


und unabweisbar der Gedanke auf, daß dieſe ganze gottesdienftliche 
Anordnung etwas Anderes nicht bezweden koͤnne, als in Iſrael mit 
der Erinnerung an den ihm zugedachten großen Sindentifger zugleich 
das Vertrauen und die Hoffnung auf denfelben wach und lebendig zu 
erhalten. — Johannes der Täufer tritt in der Wüſte auf, und der 
erfte, bei jeder Erſcheinung des Herrlichen fich wieder erneuernde, Gruß, 
womit er Jefum willlommen heißt, und gleichfam den innerften Kern 
aus feinem Beruf und das Herz aus feier ganzen Erfcheinung here 
ausgreift, lautet: „Siehe, das ift das Lamm Gottes, das der Welt 
Sünde trägt!" „Das wohlbefannte Lamm“, will er fagen, „das zu⸗ 
vorverfehene, das Tange in Wort und Bild, in Zeichen und Schatten 
angefündete, der Lünmer Egyptens, der Lämmter der Hütte und des 
Zempels, und namentlich der Pafjalämmer großes Ur: und Gegenbild, 
und das zur Schlachtbank gezählte Lamm des Sehers Jeſaias!“ Und 
o, mit welcher feligen Herzensbewegung ruft Johannes e8 daher, Jo⸗ 
hannes, der in jahrelanger erfolglofer Selbfterlöfungsarbeit unter den 
Treiberſtecken des Geſetzes fo tief zerbrochene, aber eben darım auch 
für den Zroft der Verföhnung fo gründlich zubereitete Mann! Er ruft 
mit feinem „Siehe” die Augen der ganzen Welt herbei, und meint, 
dag wahrhaft fehenswerth hinfort im Himmel und auf Erden nichts 
Anderes mehr fei, als dies fein Gotteslamm. 1lnd freilich bezeichnet er 
mit den Worten: „Das Lamın, das der Welt Sünden trägt”, aller Ge: 
heimniffe beglücdendftes und größtes, und den eigentlichen Kern und 
Mittelpunkt des ganzen Evangeliums. Denn wenn Chriftus nur der 
„Löwe aus Juda“ wäre, und nicht zugleich das Lamm, was hülfe 
und das? Als Lamm ift er der Völker Zroft, der Hoffnungsftern 
der aus dem Paradiefe Verwiefenen, die Sonne der Gerechtigkeit in 
den Thränennächten derer, die das Gefeß verdammt, und die himm- 
lifche Leuchte der Wandelnden im dunkeln Sterbethal. Ja, diefes Alles 
ift er als das Lamm, das „der Welt Sünde trägt”. Diefer Ausdrud 
befagt aber mehr, al8 daß die Sünde der Welt fein heiligeö Herz beküm⸗ 
mert, mehr, al8 daß er die Unbilden der fündigen Menfchen erlitten, 
mehr vollends, als daß er, was die Sünden der leßteren ihm Schmerz: 
liches bereiteten, geduldig ertragen, und mehr auch, als daß er Durch 
feine Zehre und fein Leben die Hinwegnahme der Sünden beab- 
fihtigt habe. Der Ausdrud dentet in unergründfiche Tiefen hinunter. 
Ehriftus trug die Sünde der Welt in einem viel eigentlicheren, buch: 
ftäblicheren Sinne, al8 dem eben angedeuteten. Er trug fie, indem er 
28° 


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enen Anden Gizzeizzetra geiten 12Lıı, Ne Vtzikihiten Verleum: 
tunaes unt Yüsea, baden te dat zu rieder cine arehe Wabrbeit 
une umanente Kearündung. Es lider die Bet die Mincrhuren, 
deren fie ſelber iduldia in, nab ettes Ratb und Willen auf ihren 
Stellserrreier Jeſus Ghrinus ab, und ibre nichtsrürdigen Auflagen 


Das Gottedlamm. 437 


müffen am Ende nur dazu dienen, uns mit den fcheinendften und 
brennendften Lichtern die Zanınnesgeftalt unſeres großen Mittlere 
zu beleuchten. 

3. 

Deutlicher aber noch offenbart fi) das Gotteslamm in Chrifto in 
dem Verhalten, das e8 unter den wüften Anlagen feiner Wider: 
fadher beobachtet. Jeſus ſchweigt, als wäre er wirklich alles deſſen 
ſchuldig, womit die Berfläger ihn bebürden. Pilatus, dem Sturme, 
der aus der Volksmaſſe mit erneuter Wuth beraufbrauft, nicht ges 
wachſen, fleht faft den Herrn an, er möge ein Wort der Selbftver- 
theidigung reden. Aber Jeſus ſchweigt. Pilatus, einzig nur mit dem 
Herrn noch befhäftigt, fpricht zu ihm: „Antworteft du nichts? 
Sieh’ Doch, wie hart fie dich verflagen! Höreft du nicht?“ 
— „Sefus aber,” meldet die Gefchichte, „antwortete ihm nicht 8 
mehr, auch nicht,ein Wort.“ Darüber „verwunderte fich der 
Zandpfleger ſehr.“ Wie hätte er fich nicht verwundern follen, da 
er nur mit menfchlichen Mapftäben das Verhalten des Herm maß? 
Ein jeder Andere hätte in einem Momente, da es, wie dort, um nichts 
Seringeres, als um's Leben ging, Alles in der Eile zufammengerafft, 
was die erhobenen Befchuldigungen entfräften konnte, zumal, wenn 
deffen fo viel ihm zu Gebote ftand, wie dem Herrn; — und Jeſus 
ſchweigt! Es hätte jeder Andere wenigftens einfach Belege ge 
fordert zu den unverfchämten Denunciationen, die man gegen ihn vorzu⸗ 
bringen ſich erlaubte; aber über Jefu Lippen fommt Feine Silbe. In 
jeiner Zage würde Jeder von der verlogenen Priefterzunft an. das Gewif- 
fen des Volks appellirt, und das Nechtsgefühl der noch nicht ganz Ver⸗ 
ftocten, deren e8 gewiß noch viele in der wogenden Menge gub, wach 
und auf den Plan gerufen haben; aber Jeſus appellirt an Niemanden 
im Himmel und auf Erden. Ad, hätte Pilatus gewußt, wer in dem 
fchweigenden Manne auf feiner Richterbühne vor ihm fand, wie würde 
er dann erft fi „verwundert“ haben! Er war ja Der, welder 
einft alle die Millionen, die je auf Erden geathmet, vor feinen Rich⸗ 
terthron fordern wird, um das für alle Ewigkeit gültige Endurtheif 
über fie zu fällen; Der war er, vor welchem auch die Kinder Belialg, 
die dort ihn mit ihrem Koth befudeln, mit der Kette feines Fluchs 
gebunden einft werden erfcheinen müſſen, um dann unter dem Don» 
ner feiner Sentenz in das Geheul auszubrechen: „Ihr Berge fallet 
über und, und ihr Hügel bedecket unsl“ Und vor Deren Schranten 


455 Dei Heikge. 


üer: jegt Er, med ihre: ;.ch oma Mine, Der ber Homms 
eanazen zı müren alaufr, Ira zider ihn eingeleueten Pros je ge 
zirnen x fm! Ar or !treaz weil er es im Darubtiein ieine 
Urtswp er ine Würde Der, tolchen Auflagen gegenüber ud 
mr ein Bor u write Wrisreige, um der rudleien Rom, 
die an Las, was fie ansinmm, itlbũ nice alaubt, Den Stachel ib 
res Seritens neh tieſer na Marf u meihen. Wobl m̃blt Pilan 
erras ren Meier in Iclı Schreigen üb beurfundenden Hobeit md. 
Maetit, und tie iT rermäsıreite der GSegennand der widht bed 
beitemder migenden, ierdern rirflih ehrfurdterellen, ja fait aube 
tenten Qerruntening des Prowurarers. 

Ga ihweigt Der Herr aut über ſeinen heurigen Siiterem. Gu 
Schwreigen der Sanamurk in ci: aber rheilmeiie auch em Schrei⸗ 
gen ter Beratung: dern auch fie Lüttern wider beiiered Billa 
und Kerinen Einñ wird Gr mu ihnen reden, und danm werde 
fie zitternd befennen müñen, fie bänen nicht gewollt, daß er über 
fie Berrichere. — Chrimis ſchweigt, wenn Die Zeinen gegen ibn ur 
ren und über ſeine Jübrungen und Wege ih beſchweren. Im tiefiien 
Unichuldsbewußtiein ĩchweigt er auch bier, wohl winend, daß fie ibm 
einiz unter Nebentichen Abkinen die Hände dafür hiffen merden, daß 
er gerade To, und nicht anders ñe geleitet babe. Im übrigen ſchweigt 
Cbriſtus auf Erden nicht. Wer nur ein Chr bat für jeine Stimme, 
rernimme te tauiendrälng aller Orten. Zeugend für sich ſelbſt md 
teine Sache, reder er bald in augenfälligen Gerichten, mit Denen a 
feine zeinde, bald in bandareinicen Zcanungen und Gebetserhörun- 
gen, womit er eine Areunde beunfucht. Er redet Durch Den Herzens 
ſabbath derer, Die auf ihn trauen, wie durch Die Friedensarmuth, Die 
Sorgennoth und Todesfurcht, welche er den Ungläubigen zum Geleite 
gie. Er reder Durch überraschende Beitäriqungen, Die Die Wiſſen⸗ 
fbaften in ihrem Fortgang, oft wider ihren Willen, ſeinem Wort ge 
währen münſen, ſowie Durch mannichfalfige Zeichen Der Zeit, in Denen, 
bei Licht Beieben, nichts Anderes, als eine buchñaͤbliche Erfüllung ſei⸗ 
ner Weiſſagungen zu Tage tritt. Durch neue Belebungen jeiner Kirche 
Angefihts der Zeinde, Die ichen ihr „Ifabod“ über dieſelbe zu 
fchreien begannen, redet er innerbalb der Grenzen der Ehriftenbeit; 
und in der Heidenmelt zeugt er Durch immer neue Geiſtesſchöpfungen, 
die er, wundenwirfend wie vor Alters, aus einem ſcheinbar hoffnungs⸗ 
loſen und aufgegebenen Stoffe ind Dajein ruf. So wid dem 


Dos Gottedlanım. 4309 


um eigentlichften Sinne des Wortes eine Wahrheit, was Pſalm 147 
geihrieben jteht: „Es üt Feine Sprache noch Rede, darin man nicht 
Seine Stimme höre, Ihr Schall gehet aus in alle Lande, und ihre 
Rede ertönt bis an der Welt Ende!” 

Des tiefften Grundes des Verſtummens Jeſu aber unter den brau- 
fenden Beichuldigungsfturme feiner Verkläger haben wir noch nicht 
gedacht. Derfelbe liegt in feiner Mittlerftellung Es ſchweigt 
in dem Herm das Gotteslamm, der Hohepriefter, der himmliſche 
Bürge, der Alles, deffen er bezücdhtigt wird, vor dem Angefichte Got- 
tes ohne Widerrede auf fich nimmt, weil er es als der ftellvertretende 
Univerjaljchuldner für und büßen und entgelten will. Hiehin deutet 
demnach ganz fonderlich das „Siehe!“, womit der Täufer Sohannes 
strahlenden Angefichtes einft die Wüſte erfüllte, Ja, Siehe, du thrä- 
nenfeuchtes Auge, das du an dir felber nichts mehr als Sünde ſiehſt 
und den Stuhl gefeben haft, welcher in eitel Feuerflammen brennt, 
jowie die Handfchrift, die in dem ummwiderruflichen Gefeße des heili- 
gen Berges wider Did) zeuget; umflortes Schächerauge, das du mit 
ihenem Blide nur den Boden fuchft und nicht mehr zum Himmel auf: 
zuſchauen wagit: O ftehe, hier ftrahlt dein Morgenftern, hier leuch- 
tet deine Zriedensfonne! Sieh hier des Opferlammes Abels, der 
rettenden Zämmer in Egypten, des verheißungsreichen Paffalımmes 
wahrhaftiges Gegenbild! Was, du fchuldbedrüdte Seele, frommt dir's, 
dag du dich feitfpinnft in deinem Gram, und mit Deinem Denken 
und Betrachten nur an deinen Jammer hafteſt? Schaue auf! Das 
Heilmittel ijt bereit! Verzage an aller Selbfteutfündigung, mit der du 
ewig dich umfonft bemüht! Verzage aber nicht an deiner Rettung und 
Befeligung: denn fiehe, hier it Gottes Lamm, Das der Welt Sünde 
trägt! Auf diefes Lamm lehne dich, und habe Ruhe! Sein Blut, 
im rechten Lichte angefchaut, bejchwichtigt alle Stürme, heilt alle Wun⸗ 
den, wie e8 alle Sünde gänzlich getilgt, und den Fluch, der ihr ges 
droht war, hinweggenommen bat. Was alle Mißtöne in unſerm Ins 
nern harmonifch auflöft, alle Zeidenfchaften bändigt, und Das Gebot, 
fonft eine Kette, zum fanfteften Gängelbande macht, in welchem man, 
weil Gottes Baterhand daran uns führt, mit Freude und mit Stolz 
einhergeht: es ift der Glaubensblid auf das Lamm! In diefem Blide 
liegt der Sieg, der die Welt überwunden hat und mit der Welt jed- 
wede Noth des Kebens und des Sterbens überwindet, 


441 Re ep 


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= Se, uam ——ſ—— — 
ur Sour m Yırcı ya αα * NE es 


Seilæt Ira. 26, 31 Ian —S — = „Ihr wertet end 
alle au z'r ärsern“, Da Kur Gr der merikiiden Water 
überbiirt ses Her Anger? !:ı De Yorımımdı om Herru auf 
Erin ua Zrin, und weiß fh bei der arten Beau fait mir 





Chriftus vor Herodes. 441 


gends in Ihn zu finden. Die dichtende Phantaſie würde Ihn wohl nur 
in ſehr ſeltnen Fällen ſo haben handeln und ſich benehmen laſſen, als 
die Geſchichte Ihn handeln läßt. Dadurch aber, daß die Geſchichte 
ſo ſchnurſtracks allem menſchlichen Vermuthen und Vorausſetzen zuwi⸗ 
derläuft, gewinnt ſie von Zug zu Zug einen überraſchenden und be⸗ 
fremdlichen Charakter, in dem fi) uns jedoch nur der Stempel ihrer 
hiftorifchen Wahrheit kenntlich macht. 

Unfer heutiger Paſſions⸗Abſchnitt wird uns das eben Bemerfte neu 
beftätigen. Wie fo gar anders würde die Scene im Palafte des He 
rodes unter den Händen des Dichtenden Geiftes ſich geftaltet haben, 
als fie im Gemälde des Evangeliums und entgegentritt! 


$uk. 23, 5—12. 

Sie aber hielten an und ſprachen: Er hat das Voll erreget, damit daß er gelehret 
hat im ganzen Iüdifhen Lande, und hat in Galiläa angefangen bis hierher. Da aber 
Bilatus Galilaͤa hörte, fragte er, ob derfelbe aus Galilda wäre, Und als er ver- 
nahm, daß er unter Herodis Obrigfeit gehörte, überfandte er ihm zu Herodes, welcher 
in denfelbigen Tagen auch zu Ierufalem war. Da aber Herodes Iefum ſah, ward 
er jehr froh, denn er hätte ihn längft gerne gefehn, weil er viel von ihm gehöret hatte, 
und hoffte, er würde ein Zeichen von ihm fehen. Und er fragte ihn manderlei. Er 
antwortete ihm aber nichts. Die Hohenpriefter aber und Schriftgelehrten ftanden und 
verflagten ihn hart. Aber Herodes mit feinen Kriegdleuten veradhtete und verfpottete 
ihn, legte ihm ein weißes Kleid an, und fandte ihn wieder zn Bilato. Auf den Tag 
wurden Pilatus und Herodes Freunde mit einander, denn zuvor waren fle einander 
feind. 


Bor den Schranken des dritten Gerichtshofes begegnet uns heute 
der Herr. Ein Schmelztiegel nach Dem andern nimmt ihn auf; Doch 
nur, damit der lautere Goldgrund feines Weſens immer deutlicher zu 
Tage trete. Und wie helle ftrahlt Dderfelbe in die Erfcheinung! Man 
darf hier mit Jeremias fagen: „Der Blafebalg ift verbrannt, und das 
Scheideblei vom Feuer verzehrt; * aber Feine Schlade, fondern nur 
edler und immer edlerer Kern taucht zu Tage. Ein Dreifaches rüdt 
unfer heutiges Pafftonsevangelium und in den Blid: einen Welt: 
fpiegel, eine lodernde Opferflamme, und eine Verherrlichung 
Jeſu wider Willen derer, die fie vollziehen. Laßt und eins 
nad) dem andern näher ins Auge faflen; und gefalle es dem heiligen 
Geift, auch in unferer heutigen Betrachtung eine Quelle der Glaus 
bensftärfung und zu eröffnen! 


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—— rerauet wat die ürıien Streiche ipielt. 
bem blinden Yürm, in mweldem rich nichts als Die vergweifsinde 


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Chriſtus vor Herodel. 443 


Ohnmacht der Widerfacher kundgibt, wähnt er wer weiß, was für ein 
neues Ungewitter über ſich herauf grollen zu hören; und wie ift er 
froh, als ihm die Erwähnung Galiläas feiner Meinung nad) die Aus- 
fiht auf einen neuen Blißableiter eröffnet. „Aus Galiläa ift euer 
Delinquent?” fragt er haftig; und nachdem man ihm diefe Zrage be 
jaht hat, ruft er mit der Freude eines Schiffers, der nad) langer ſtür⸗ 
mifcher Irrfahrt endlich Land entdeckt: „Dann gehört er unter Herodis 
Obrigkeit! ” Umverzüglich ertheilt er Befehl, daß man Sefum dies 
jem, der fich des Feſtes wegen glüdlicherweife gerade in Sernfalem 
befand, gebunden zuführe; und nicht anders, als wäre ihm ein Ges 
birge vom Herzen gewälzt, ift ihm zu Sinne, al8 er den unbequemen 
Mann in Geleite der Hohenpriefter, der Warfenfnechte und des 
nachdrängenden Volkes wirflich abziehen fieht. 

Den Herodes Antipas, den VBierfürften von Galiläa, kennen wir, 
Er ift derfelbe elende und charafterlofe Lüftling, der, nachdem er feine 
Gemahlin, eine Tochter des arabifchen Königes Aretas, verftoßen hatte, 
und mit feines Halbbruders Herodes Frau, der Herodias, die befannte 
biutfchänderifche Verbindung eingegangen war, auf Andringen der leßs 
teren den Täufer Sohannes, der ihm im Namen Gottes fein verbres 
cherifches Verhalten vorgehalten hatte, im Gefängniß enthaupten ließ; 
aber diefe Blutfehuld fortan damit büßen mußte, daß er unter den 
Geißelfchlägen feines Gewiffens Gefpenfter fah, und, da er von Jeſu 
und defien Thaten hörte, ſich's nicht ausreden ließ, dieſer Wunders 
thäter fei der von ihm gemordete, aber von den Todten wieder aufs 
erftandene Johannes. Sadducäer feiner Richtung nach, ja Heide mehr, 
als Sfraelit, und ganz dem Sinnengenuß ergebener Weichling, war er 
nichtSdeftoweniger, wie dieſe Züge häufig in ein und denfelben Per⸗ 
ſönlichkeiten zufammentreffen, fehnöder Gewaltthat nicht abgeneigt, und 
der raffinirteften Graufamfeiten fähtg. Lukas meldet von ihm, er habe 
viele „ böfe Dinge” gethan; und das einzige Wort durchbohrender 
Sronie, das über die Lippen des Sünderfreundes ging, galt dieſem 
elenden, in allen Künften der Berftellung umd der Heuchelei jo wohl 
geübten Fürſten. Als nämlich eines Tages ein Haufe Pharifüer zu 
Jeſu trat, fprechend: „Hebe dich hinaus aus Galiläa, und zeuch von 
binnen, denn Herodes will dich tödten!“ merkte der Herr fofort, Daß 
er in diefen ſcheinbar wohlwollenden Rathgebern nur Abgeordnete eben 
diefes Herodes vor fich ſehe, der, weil er gewaltfame Hand an ihn 

. a legen nicht Muth genug befaß, ihn nun durch leere Drohungen 


44 Te Geige. 


ans ieinen Grenzen u eriteruen beitte, amd ermiederte den Geuchlern, 
fie fımmı ihrem aekrönten Aberdner zu ibrer riefen Beichimung ent 
farnen?: „Seher bin ımd iaget denelbigen Fuchs: Siebe, ich treike 
Zeuiel ms, und made geſmnd baute um mergen: und am dritten 
Tage werde ih rellender werden. To muB ich beute uud morgen, 
un? am Zage darnach noch mundeln! * 

Auch zu Dieiem jümmerliden, in Fleiſchesluit erieftenen Menſchen 
alie, in relchem allmaͤliag mi tem Gewinn auch jede Abuumz irgend 
eines Höheren erleiden war, mird Gbrütus bingeführt, damit be 
nichts Schmäbliches md Widerwärtiges eripart, und fein Gerichtshef 
genannt werden möge, vor deñen Schranken Er nicht geitanden babe. 
Unter würtem Getũmmel langt der giftaeicdhrellene Prieiter: und Bir 
ritäerihmwurm mit jemer Beute vor der Wobnung des Gulilierkönigs 
an: ımd wie dieier hört, was es mit Dem befremdlichen Volksandrange 
für eine Bewandtmiß babe, beißt er Die geittfichen Herren mit ihrem 
Telinquenten vor ihn führen. Zchweigend ımd in emiter Haltinz 
näübert fih Jeſus ſeinem Landesberrn. „Diejer aber,« meldet die Ge 
ſchichte, „ald er Jeſum tab, ward er ſebr frob; denn er bütte ihm 
längit gerne geieben, weil er viel von ihm geböret batte, und boffte, 
er würde ein Zeichen vor ibm thun.“ Ges könnte uns befremden, daß 
GHerodes den Mann, der jo oft in Gulilia weilte, nie von Angeſicht 
geieben haben jolle. Aber der Herr butte Die Refidenztadt Tiberias, 
wie oft er ſich auch in ihrer Nähe befunden, niemals mit feinem Be 
ſuche beehrt: umd ſelbſt einen Schritt zu thun, um die Bekanntſchaft 
des vielgenmmten Nazareners zu machen, konnte natürlich einem von 
allen religisien Intereſſen jo weit verichlagenen, und zugleich io hoch⸗ 
fahrenden und übermürbigen Manne, wie die galiläiſche Majeität wur, 
nicht in den Zinn kommen. Tod gewährt es ibm fein geringes Vers 
gnügen, jegt noch, und Dazu jo bequem und obne alle Geführde, ei« 
nen allerdings längit gebegten Wunſch in Erfüllung geben zu ſehen. 
„Jedeufalls,“ Dachte er bei ih, „ein intereflanter Zeiwertreib, ein 
unterhaftendes Schaufpiel! Und wenn er ſich gar Dazu bewegen Tieße, 
irgend ein Zufünftiges uns zu entichleiern oder ein Wunder zu pros 
duciren, wie ergöglich könnte Dadurch Diele Stunde werden!" — Alſo 
in den Kreis der Gegenitände feines Amüſements hoffte Herodes den 
Heiland der Welt berein zu zichen, fo wie er einjt Das Haupt Jos 
hannes des Täufers in das Gebiet der Galanterie herein zu ziehen 


fih nicht entblödete. Eine Exheiterung verſprach fih der König von . 


$ 
” 


Chriſtus vor Herodel. 445 


der Anwefenheit des Herrn, wie man von der Gegenwart eines Gauk⸗ 
lers oder Zafchenfpielers eine folche fich zu verfprechen pflegt. Er reprä- 
fentirt Damit jenes leichtfertige, frivole Volk, das, nach apoftolifchem 
Ausdrud „Leinen Geift“ hat, und dem Alles, auch das Erhabenfte, 
zum Schaufpiel wird. Wagt ſich diefe Gefinnung doch fogar bis in 
das Heiligthum hinüber, indem es Leute gibt, welche wohl auch, mins 
deftens in Predigt, in Schrift, in Bild oder Gefchichte, Chriftum zu 
ſehen begehren, jedoch nur des äſthetiſchen Rührfpiels halber, das 
etwa mit feiner Darftellung fich verfnüpft, oder der intereffanten Eus 
rüofitäten wegen, Die man von ihm berichten zu hören hofft, oder um 
irgend anderer unterhaltender Elemente willen, die dieſer heilige Ge⸗ 
genitand für fie im Geleite führt. Genug, felbft Die Kirche wird jenen. 
Leuten zum Theater, die Predigt zum Zeitvertreib, das Evangelium 
zum Roman, und die Bekehrungsgeſchichte zur Novelle. O, wie ge- 
fährlich ift die Lage diefer Menfchen, in deren wunderlicher Herzens: 
akuſtik aller Ernſt in eitel Scherz, und Alles, was fie erfchüttern follte, 
in Spiel und erluftigende Kurzweil ſich auflöft. Ehe fie ſich's ver: 
ſehen, kann ed mit ihrem windigen Wefen dahin gedeihen, Daß Die 
ergreifendfte Schilderung des jüngften Gerichtes feinen andern Ein- 
drud mehr auf fie macht, ald ein gelungener Dramatijcher Aft ihn 
hervorruft, und das ‚Schredensgemälde der Hölle nur noch wie ein 
Luſt⸗Feuerwerk an ihnen vorübergeht, und nicht anders fie erregt, als 
wie Diefes. 

Herodes ftarrt den auf ihn zutretenden Herrn mit neugierigen Augen 
an; und nachdem er Ihn vom Haupte bis zur Sohle gemeffen, ninmt 
er fih’8 heraus, Ihn mit einer albernen Frage um die andere zu bes 
helligen. Der Herr aber würdigt ihn Feiner Antwort, fondern vers 
harrt in tiefem Schweigen. Der König hält mit Fragen an. Um⸗ 
fonft! Der Heiland ſchweigt. Der König muthet ihm zu, daß er ein 
Wunder thue. Jeſus Fann ihm diefen Wunfch nicht gewähren, und 
gibt ihm dies nachdrudsvoller, als e8 mit Worten gejchehen könnte, 
durch fein anhaltendes Schweigen zu erkennen. Die Hohenprieiter 
und Schriftgelehrten, erboft über dies fein paffives Verhalten, ſetzen 
aufs neue ihre Läfterzungen in Bewegung, und heben wieder an, 
ihn „hart zu verklagen.” Cr achtet fie Feiner Antwort werth, 
fondern bebarrt bei feinem, ich möchte jagen, wahrhaft beängftigenden, 
faft fchauerlichen Berftummen. Eine zweite Klaſſe von Kindern 
diefer Welt tritt hier in unfern Gefichtöfreis. Es find Diejenigen, 


4 


46 Das Heilige. 


zu denen Ehriftus fi ſchweigend zu verhalten angefangen het, 
und deren ed vielleicht Manche auch in unferer Mitte gibt. Rein, 
Freunde, damals ftand es mit euch noch nicht am ſchlimmſten, ale 
der Herr noch Die Donner des Gefeßes über euren Häuptern rollm, 
und feine fchredfichen Drohungen vor eurem Ohr erdröhnen ließ, 
und als er bald hie, bald da Sein: „Du biſt der Mann des Todes!‘ 
euch zurief, und euch im Dienfte der Eitelfeit und Sünde nicht Raft 
noch Ruhe gönnte. Diefe Töne des Ernftes, die, wars in Wort, 
ward in Erlebniß, war's in Gefichten bei der Nacht, oder in daurch⸗ 
ſchlagenden Züchtigungen, damals euch erfchütterten, fündeten fich noch 
als Stimmen feiner Erbarmung an, und durften für Zeugniffe gelten, 
daß Er noch nicht aufgehört habe, die Seile der rettenden Liebe nad 
eud) auszuwerfen. Seitdem ihr aber feine Stimme nicht mehr hört, 
und fein Mund fi) über euch gefchloffen zu haben ſcheint, muß uns 
in hohem Grade bange um euch werden, und ihr habt nur Urſach, 
das Xergfte zu beforgen. Unglückſelige! was habt ihr Alles fchen 
bewältigt und überwunden! Gedenfet eurer vergangenen Tage! Bie 
manchmal durchhallte euer Inneres der Ruf: „Du wandelt den Te 
desweg, Verblendeter!“ Wie manchmal durchzuckte die Tiefen des 
Verderbens, darin ihr verfunfen liegt, ein Bligftrahl, der tageshell 
das Kine euch beleuchtete, das euch vor Allem noth fei! Wie mand- 
mal erfchien auch vor eurer Pforte ein Himmelsbote, und flüfterte 
euch vernehmlich zu: „Eile aus Sodom, und rette deine Seele!“ Wie 
manchmal fchwebte Die lockende, berzzerfchmelzende Trage zu cuch nie 
der: „Warum wollt ihr nicht zu mir kommen, Daß ihr das Leben 
haben möget?“ Und ach! uller diefer Stimmen und Zuſprüche wußtet 
ihr Meiſter zu werden! — Nichtsdejtoweniger hörte das Locken, Dro⸗ 
hen und Warnen der göttlichen Gnade in eurem Innern noch nicht auf; 
nur wurde es allmälig immer leifer und jchwäder. Was früher als 
Blitz daherfuhr, ſchwächte fih zum mattern Wetterleuchten ab, Was 
einft als Donner über eurem Haupte rollte, verſchwebte bald nur noch 
als lindes, Teicht zu überhörendes Gemurmel. Jetzt vernehmt ihr 
Derartiges gar nichts mehr, fondern geht in tiefer Ruhe enren Todes; 
weg. Kein guter Geift rüdt eucd) mehr eure Stunden auf; und mag 
immerhin äußerlich Chriſti Wort euch noch erreichen, in eurem In⸗ 
nern bat Chriftus aufgehört, fowohl zu locken und zu warnen, als 
euch zu befchuldigen und zu verdammen. Dies ift der Anfıng Seines 
gerechten Gerichtes über euch. Sehet euch vor, daß das dem Ans 


Chriäus vor HerobeB. 447 


fange nach eingetretene Schweigen des Herm nicht zu jenem abfolu- 
ten und fchließlichen Verſtummen ſich vollende, wie wir es Ihn dem 
Herodes und defien Hofgefinde gegenüber beobachten fehen, und 
Dur) das er nur zu unzweideutig die Meberzeugung fund gibt, Daß 
er es hier mit Menfchen zu thun habe, die in ihrer Verderbensreife 
von dem ewigen Erbarmen fhon aufgegeben fein. Bor Solchen 
bat er ſich nicht mehr zu offenbaren, fondern nur in immer tiefere 
Berichleierung ſich zurüdzuziehen. Aergern fie fih an Ihm, fo find 
fie fortan dazu „geſetzt,“ nicht freilich dur Willkür, die in Gott 
nicht tft, aber Durch ein Verhängniß der allerhöchften Gerechtigkeit, 
welche diejenigen, denen in aller Weife der Glaube angeboten ward, 
die aber gegen befferes Wiffen und Gewiffen denfelben immer und 
immer wieder von fich ftießen, endlich in ihre verfehrten Wege dahin 
gibt, und es als einen wohlverdienten Fluch über fie fommen läßt, 
daß das einige NRettungsfeil, das Wort des lebendigen Gottes, für 
fie wie in lofen Flocken auseinanderfällt, und das Schwert des Gei⸗ 
ftes ftumpf, der Wächterruf von Zions Mauern fern, ſalz⸗ und wucht⸗ 
108 für fie wird. Glaubt, Freunde, wenn ich euch aus Angft vor 
Gericht ımd Hölle die Hände ringen, ja blutigen Schweiß vergießen 
fübe, ich priefe euch in Diefem eurem Zuſtande unendlich feliner, 
als jebt in eurem bedenflichen Zodesfrieden. Immerhin ein Zuſam⸗ 
menfchaudern unfrer Seele vor der richterlichen Stimme deffen, der 
auf dem Stuhle ſitzt, bis an die Grenzen der Verzweiflung; nur 
um Alles fein Schweigen, fein Berftummen des Königes aller Rö- 
nige in unferm Innern! Aergeres als dies kann einem Sterblichen 
nicht widerfahren. 

Doch zurüd zu unferer Scene! Der Herr kann alfo feinem Für⸗ 
ten und deffen Zrabanten diesmal nicht zu Willen fein. Aus ſei⸗ 
nem Berhalten aber ziehen die Elenden den Schluß, er vermöge 
nichts, umd fangen an „ihn zu veradhten,* ja ihren Spott mit 
ihm zu treiben. An eine dritte Gattung von Kindern der Welt ges 
mahnt und diefer Zug; an eine Gattung, die nicht minder beflagens- 
werth und unglüdfelig ift, als die zuleßt bezeichnete. Es gibt Mens 
ihen, — ich beforge, auch unter uns, — die ſich's einmal haben 
einfallen laffen, Chriſto Aehnliches anzumuthen, wie dort Herodes und 
feine Untergebenen; denen e8 aber eben fo, wie diefen ergangen ift. 
Auch fie geriethen einmal auf den Gedanfen, Wander umd Zeichen 
von Yefu zu begehren. Dies und Jenes, forderten fie betend, folle 


us 2a} Gel. 


& um, a aa Te dies mer Beiszeaber aumriben, ober 
Beh er eu? een Rıtırziı? ex \hlmmmuzes ine eye, ter ir- 
ga? ccı Uneruermer nu giufi.tem Griebe dnmer ine, eter 
Bari mas fowt für euse Ermenun; vn Ilm me m ikarı 


au, sı? serirıgsen das Giniereuze des Zorn unmeher MET, 
veriuhen, ek er rufich lie ab Seba aber, ed mm u rn 
Kaikiıtem Zume, vıla et ab u eu iebealugen Gere ermeien 
isllıe, Ibn Tertzn in deu Tiem ihrer ’tburkken \usereiten bereis 
zu uchen. eins erberte ne nice, iendern kierinz Zur wicherhelien 
Den Teriud, und ernenerten aus iciher Grinden ud mir Zurielken 
Sertunumg ibten Anirruch. Abermals riefes Beriummen in der Gebe. 
Kein Wunder üclte nah ein, feine Hülte zeue ch. Jegt erichem 
es Pieien linalüdieligen ausgemucht, Seins rermäge mies, amd es ki 
en Babn, daß er lebe und ritke. G& emo ibnen Efel binfeet, 
von ſegenanuten, Heils⸗⸗Eriabrungen der Glaͤubigen reden zu hören, 
a ae men u, ca binlice Kur mi 


in ihrem Innern aufgeichorin. Zie gommen Ebrüte feine betende 
Silbe mebr, und ergrimmen, we Andere auf ibn bein. Sind Nele 
Menſchen dem Gerichte der Beriiodung verfallen? Rabe diefem 
Gerichte find fie ionder Zweifel. Wären fie aber demſelben auch be 
reus erlegen, jo bärten jie nicht Chriſto die Schuld beisumefien, 
indem (Fr nirgends verheigen but, daß Er auch Solchen ſich offen 
baren werde, Die nur für Die Intereſſen ihres Fleiſches Ihn gebrau⸗ 
hen wollen, während ihnen an feiner Perſon nichts weiter gelegen 
it. Auf „das Niedere* hat Er geiagt, wolle er ſehen, und auf 
die Seufzer zerbrochener und nad feiner Liebe Dürftender Herzen 
wolle er hören. Was aber bat er mit einem Heroded und deſſen 
leihen zu thun? Es wäre unter feiner Würde, den Zumuthungen 
und Anforderungen ſolcher Menſchen anders als mit wegwerfendem 
Stillſchweigen zu begegnen. 


2. 

Nachdem wir einen flüchtigen Blid in den Weltfpiegel geworfen, 
den unſre heutige Gefchichte uns vor Augen rüdt, wenden wir uns 
nun einem anderen Schaufpicle zu, In unferer Scene lodert eine 
Dpferflamme, und das Brandopfer, das von ihr verzehrt wird, ifl 


Chriſtud vor Herobeß. 449 


Ehriftus. Entſetzlich find die Kränfungen, die Er hier zu erleiden 
hat. Schon daß man mit Ihm wie mit einem Spielballe umfpringt; 
daß Pilatus Ihn in der Abfiht dem Fürften von Galiläa zufchidt, 
diefem Dadurch eine Höflichkeit zu erweifen; daß dann Herodes, um 
das Compliment zu ermwiedern, Ihn wieder dem Landpfleger übers 
weifen Täffet, und dieſem damit die Ehre des letzten Urtheilsfpruches 
zufchiebt: welche Entwürdigung, die in dem Allem dem Herm der Herr: 
lichkeit zu Theil wird! Aber das ift erft der Schmachen und Ernie 
drigungen Anfang. Was muß Er erft in Gegenwart des Herodes 
und feines Hofgefindes über fich ergehen fehen! Als ein Gaukler und 
Zafchenfpieler wird Er hier traftir. Man muthet ihm zu, daß Er 
durch Producirung feiner Künfte die Gefellfchaft beluftige. Mit den 
albernften Zragen beleidigt man fein Ohr. Und wie Er zu dem Allem 
gefenkten Hauptes fchweigt, läuft dad Maß der Läfterungen und des 
Spottes wider Ihn vollends über. Als ein Schwachkopf wird Er 
behandelt, der des Auffehens, das er erregt habe, gar nicht werth ges 
wefen fei, und den man, nachdem er jebt feine Rolle ausgefpielt und 
nur als einen Tächerlichen Schwärmer ſich erwieſen habe, nur der all 
gemeinen Verachtung preisgeben könne. Herodes achtet's nicht der 
Mühe werth, von den Beichuldigungen, welche die Hohenpriefter ge- 
gen Jeſum ausfhäumen, irgend ernftlich Notiz zu nehmen. „Wan 
lege doch,“ denkt er, „fein fo großes Gewicht auf das, was Diefer 
Narr Unfinniges von ſich auszufagen fi) vermag. Iſt er Doch für 
feine Thorheiten hinlänglich dadurch ſchon geftraft, daß er jetzt vor 
aller Welt in feiner Ohnmacht offenbar wird, und dem Adhfelzuden 
des Mitleids, ja dem sffentlichen Gelächter verfallen iſt.“ Er denkk's, 
und fpricht, was er Denkt, hauptfächlich dadurch aus, daß er in 
heitrer Laune dem Herrn ein weißes Gewand anlegen läßt, um ihn 
Dadurch fowohl zu einem Spottlönige, al8 zu einem Zerrbilde von 
Philoſophen auszuftaffiren, ja vielleicht auch zu einem Wahnwipigen 
Ihn zu ftempeln, indem man nämlich in Iſrael diefe Unglücklichen 
eben in weiße leberwürfe zu Fleiden pflegte. 

Seht, Freunde, dies ift das Opferfeuer, das in unferer heuti- 
gen Geſchichte auffchlägt. Nun fagt aber, wie der Hochheilige, der 
im Himmel wohnt, eine ſolche Herabwürdigung des Sohnes feines 
Wohlgefallens in Ruhe, und ohne mit allen Donnern feines Zornes 
darein zu fahren, mit hätte anfehn können, wenn der Herr Jeſus hier 
nur für feine Perſon, und nicht zugleich in einer ungewöhnlichen Stel⸗ 

29 


450 Das Heilige. 


fung und geheimnißvollen Vertretung diefe unerhoͤrten Unbilden er- 
fahren hätte? Ihr wißt aber, daß Er hier an unferer Statt, und 
zwar zurechnungsweife ald anderer Adam mit unferer Schuld be- 
laden dafteht. Ja, auch hier vernimmt Er des ewigen Baters Ruf: 
„Schwert, mache Dich auf über meinen Hirten, und über den Man, 
der mir der Nächite iſt!“ Auch bier erfüllt fih an Ihm der alte 
Prophetenſpruch: „Der Herr warf alle unfere Schulden auf Ihn;“ 
und der andere: „Die Strafe liegt auf Ihm, auf Daß wir Frieden 
hätten!” Und Gottlob, daß fo und nicht anders die Sache ſich ver- 
hält; denn nimmer vermöchte ic, und ob audy ein Engel vom Himmel 
mir die Botfchaft überbrächte, dem Bewußtfein in mir Raum zu ge 
ben, daß meine Sünden mir nicht zugerechnet werden follten, wenn 
mir nicht zugleich auch Eumd geworden wäre, wo denn die mir abge 
nommenen Schulden geblieben feien. Iſt mir doch lebendiger nichts 
bewußt als das, daß Sünden, fo blutroth, wie.die meinen, nicht 
willkürlich als geringfügige Kleinigkeiten mir verziehen oder gar um 
beachtet gelaffen und überfehen werden können. Wenn dies geſchaͤhe, 
wie wäre mir dann noch ferner möglich, an einen Gott der Heilig 

keit und Gerechtigkeit zu glauben? Nun aber tritt das Cwangelium zu 
mir ber und erzählt mir mit deutlichfter Zunge die Geſchichte meiner 
Miſſethaten, wie diefelben wandernd auf den Mann, der an meine 
Stelle trat, übergegangen feien; und in Diefes Mannes Vertretung 
greife ich jet den Rechtsgrund meiner Abfolution mit Händen. Gleich⸗ 
wie vor Hannas, vor Kaiphas und vor Pilatus, fo ſteht auch vor 
Herodes der Herr nicht blos im menfchlichen Gerichte, fondern zugleich 
im Gerichte Gottes; und meine Sünde ift es, die er büßt; meine 
Schuld, die er vollaus bezahlt. 

Was Wunder mun, daß er fich gelaffen den vergifteten Pfeilen bloß 
gibt, Die hier einer um den andern Die verwundbarften Stellen feines 
Herzens treffen? Was Wunder, daß er ohne Einfpruh die furdt- 
barften Beichuldigungen hinnimmt, und mit Lammesgeduld wie zu ei- 
nem Gottesläfterer und Schwärner, fo zu einem Rebellen und Rotten- 
haupte fi ſtempeln läßt? Was Wunder, daß er's jogar gleichmüthig 
erträgt, Daß die Spannung, mit der Herodes anfänglich Seiner 
Erfcheinung entgegen ſah, allmälig in Verachtung feiner Berfon als 
eines bentitleidenswürdigen Zropfes umfchlägt? Was Wunder, Daß 
fih der Herr der Herrlichkeit fogar zur Zielfcheibe der elenden Späße 
eines verächtlichen ehebrecherifchen Hofgefindes erniedrigen läßt? Ent⸗ 


N 


Chriſtus vor Herobeb. 451 


ſetzlich iſts, was man fich gegen ihn erlaubt, und in feiner Macht 
füge e8, mit einem Winke feiner Hand die ruchlofe Rotte zu feinen 
süßen hinzuſchmettern. Aber er regt fich nicht, fondern ſchweigt; denn 
er weiß: „Hier ift Gottes Altar und Opferfeuer; u und das erfehene 
Lamm bin Ich!“ 

3. 

In wie tiefer Erniedrigung nun aber auch die heilige Gefchichte 
uns den Her bier vorführt, fo iſt fie Doch auch wieder durch und 
durch von apologetifchen, d. h. den Herrn verherrlichenden und uns 
fern Glauben an Ihn befeftigenden Zügen: durchwoben. 

Schon in der findifchen Freude, mit welcher den Pilatus die Aus⸗ 
ficht erfüllt, den Prozeß gegen Zefum einem Anderen überweifen zu 
fönnen, fpiegelt fid) unzweideutiger, als in allen feinen mündlichen 
Bezeugungen, fein tiefes Bewußtfein von der Unfchuld und der Un - 
fträflichfeit des Verklagten ab. Seine Seele jauchzt fat bei der 
zufällig verlautenden Kunde, daß die nächſte Obrigkeit Jeſu der Vier 
fürft von Galilän fei, woraus .wir entnehmen, für welch’ ein Süd der 
Römer es erachtete, der Betheiligung an der Mitſchuld der Berurtheis 
lung des Gerechten ausweichen zu fönnen, 

Don Herodes heißt e8, er fei „Fehr froh“ geweien, als er Je⸗ 
fum gefehen habe. Diefe ungewöhnliche Freude des Galiläerfürften 
Darüber, daß ihm endlich einmal Gelegenheit werde, Jeſum von 
Angeficht zu ſchauen, ift in apologetiſcher Hinſicht nicht minder be⸗ 
deutfam, umd gereicht dem Herrn nicht weniger zur Berberrlichung, als 
die Freude des Pilatus, feiner glücklich los geworden zu fein. Es 
muß der Heiland ja ein großes Auffehn im Lande erregt, und nicht 
in abgefonderten Winkeln, ſondern auf offnem Markte feine Wirkſam⸗ 
feit entfaltet haben, daß Herodes fo vor Begierde brennen konnte, 
feine perfönliche Bekanntfchaft zu machen. Und wie ungewöhnlich und 
einzigartig muß das Wirken des Herrn gewefen fein, daß jelbft einem 
allem Höheren fo gänzlich abgeftorbenen Manne, wie jener Ehebrecher 
in der Fürftenfrone war, ein folches Verlangen kommen fonnte! 

Herodes hoffte überdies, Jeſus werde ihn ein „Zeichen“ ſehen 
laſſen. Diefe feine Hoffnung dient uns wieder zum Zeugniß, daß 
Jeſus wirklich feine göttliche Sendung mit Zeichen beflegelt babe, 
und daß die Wunder, die er gethan, als ſolche allgemein anerkannt 
waren. Herodes will nicht blos erft erproben, ob Jeſus Wunder vers 
richten koͤnne, fondern fegt ſtillſchweigend feine Macht und Befähi- 

29* 


452 Das Heifige. 


gung dazu als unwiderſprechlich voraus. — Welch’ eine Tiefe innen 
Berderbens aber verräth fi in dem Zuge, daß der Mann troß ſei⸗ 
ner Meberzeugung von dem Vermögen Jeſu, Thaten Gottes zu voll 
bringen, nicht allein den Glauben und die Huldigung ihm verfagt,. 
fondern ihn fogar zum Gegenftande feines Hohns entwürdigen fan! 

Der Vierfürſt legt dem Herrn allerlei die Grenzen des menſchli⸗ 
chen Wiſſens überfchreitende Fragen vor. Er hatte fomit auch von 
der Weisheit gehört, mit welcher der Herr auf Fragen dieſer Art Be 
fheid zu thun, und alle Räthfel zu Löfen wiffe, und gibt alfo, ohne 
e8 zu wollen, auch dem Prophetenthume Ehrifti feine Ehre. Und 
felbft darin, daß Herodes, als Jeſus feine Fragen durch erhabenes 
Stillfehweigen ablehnt, mit feinem Spott nicht weiter zu geben wagt, 
als dag er Ihm die weiße Toga anlegt, beurkundet er eine geheime 
Ehrfurcht vor Ihm, und beftätigt damit aufs neue, daß Ehriflus in 
der That oftmald in unzweideutiger Weife von feinem Köntgthume 
und einem Reiche gefprochen haben müffe, das er aufzurichten er 
fohienen fei. 

Daß endlich die tief gewurzelte Verftimmung, die lange ſchon zwi 
ſchen Pilatus und Herodes herrfchte, in Folge der Seitens jenes dem 
feßteren durch Ueberweifung des verflagten Rabbi bezeugten Höflichkeit 
piöglich fi ausglih und in Befreundung umfchlug, dient wieder zum 
Beweiſe, wie hoch Die gebietenden Herren felbft von dem ihnen zuge 
geführten Delinquenten dachten. Die Zufendung eines gewöhnlichen 
Berbrechers, oder auch nur eines notorifchen Schwärmers und Schwind- 
lers, wäre wol nimmer von folcher Wirkung begleitet gewefen, Daß 
aber Jeſus von Nazareth) die zur Vermittlung der erneuten Ans 
näherung der beiden Machthaber erfehene Perfönlichkeit ift, fchlägt er: 
folgreich durch, und feßt dem alten Groll und Mißtrauen fofort em 
Ziel. Wer vermag es zu verfennen, daß dieſer freilich an und für 
fi überaus empörende Umftand den Herm Chriftus wieder nur zur 
höchften Verherrlichuug gereicht? — Nehnliches übrigens, wie dort 
zwiſchen Pilatus und Herodes, ereignet fi) nicht felten auch heute 
noch. Parteien, die fi auf anderen Gebieten aufs heftigfte befeh- 
den, verföhnen fi, ja werden, wenn auch für eine Weile nur, 
Bundesgenofjen und gute Freunde, fobald fie fih im Kampfe aegen 
Chriftum und deſſen Verehrer und Anbeter zufammen finden. Was 
beurfunden aber auch fie hierdurch, als daß Ehriftus ihnen als eine 
imponirende Macht im Wege fteht? Eine unbedeutende Perfönlichkeit, 


Chriſtus vor Hetodes. 453 


von der fie nicht müßten, was diefelbe für begründete Anſprüche an 
ihre Unterwerfung zu machen hätte, würde Diefen Einfluß nimmer 
auf fie üben; und ein Individuum vollends, das ihmen wirklich nur 
für ein mythiſches gälte, ließen fie gewiß als nicht einmal ihrer 
Beachtung werth zur Seite Tiegen. 


— — — — — — 


Aus Allem, was wider Ihn gerathſchlagt und unternommen wird, 
geht Chriſtus ſtrahlend gerechtfertigt hervor. Ihn muß der Haß ver⸗ 
herrlichen, wie die Liebe. Ihn kroͤnt die Verfolgung, wie die Devotion. 
Vermag aber gemeinſamer Gegenſatz gegen Ihn erbitterte Feinde in 
Freunde umzuwandeln, welche Bande wird dann erſt die gemeinſame 
Verehrung des Herrlichen zu knüpfen im Stande ſein! „Ich glaube 
eine Gemeinſchaft der Heiligen“ bekennen wir. Ich glaube 
fie nicht blos, Gottlob, ih ſchaue fie auch. Aber es behüte ſie 
Gott! denn ſie leidet Noth zu dieſer Friſt. In Chriſto Vereinigte 
fallen auseinander, weil ſie, die Verblendeten, ſtatt Chriſtum, als ob 
fie feiner überdrüffig geworden wären, irgend eine Schulformel als 
ihren Heiland "umarmen. Das ift eine Hägliche, bejummernswürdige 
Erſcheinung. Steure ihr Gott der Herr, und erwede Er in den 
Herzen feiner Kinder wieder Liedesflänge wie Die befannten: 


Herz und Herz vereint zufammen, 
Sucht in Gotted Herzen Ruh, 
Laſſet eure Liebesflammen 

Lodern auf den Heiland zu! 

Gr dad Haupt, wir feine Glieder, 
Er das Licht, und wir der Schein: 
Er der Meifter, wir die Brüder; 
Er der Unfre, und wir fein! 


Laß und jo vereinigt werden, 

Mie du, Herr, dem Bater biſt, 
Daß ſchon hier auf diefer Erden 
Kein getrenntes Glied mehr iſt; 

Und allein von deinem Brennen 
Rehme unfer Licht den Schein; 

Alfo wird die Welt erlennen, 

Daß wir deine Jünger fein! Amen, 


— — 


454 Das Heilige, 


XXXVII. 
Pilatus unſer Anwalt. 


Keine der von der heiligen Schrift bezeugten Wahrheiten findet ix 
der täglichen Erfahrung eine handgreiflichere Beftätigung, als die 
Ephei. 4, 18. ausgefprochene, daß der natürliche Menfch „entfrems 
det fei von dem Leben, das aus Gott iſt.“ Schauet euch mr 
in euren Kreifen um, ihr, die ihr die zweite Geburt „aus Waffe 
und Geift noch nicht erfuhrt,“ ob nicht felbft mit ungewöhnlich gels 
fliger Bildung und NRührigfeit oft die entfchiedenfte Stumpfheit und 
Erftorbenheit für das Reich des Ueberfinnlichen und Himmlifchen ver⸗ 
paart geht. Wen unter euch ergößt nicht eine menfchliche Dichtung 
mehr, als Gottes Wort? Wer fieht nicht Tieber einem eitlen Schau⸗ 
fpiele zu, als daß er an der Stätte weilt, da des Herrn Ehre wohnt? 
Wem behagt nicht mehr das Raufchen eines finnlichen Tonſtücks, als 
der Chorgefang einer andächtigen Chriften-Verfammlung? Wer fühlt 
nicht mehr von einer irdifchen Lyrif, als von den Akkorden Der Harfe 
Davids fi) angezogen? Wem graufs nicht vor frommer Gefellfchaft? 
Wen wandelt nicht bei geiftlichen Unterhaltungen Ungeduld oder Lange 
weile an? Wen find nicht Neuigkeiten aus dem Bereiche weltlicher 
Händel erwünfchter, als Botfcyaften aus dem Neiche Gottes? Ya, 
wem verurfacht es viel Befinnens, wo es zwifchen den Zräbertrögen 
flüchtiger Ergößungen diefer Welt, und dem Gnadenmanna, das vom 
Himmel ſtammt, zwifchen den Fleifchtöpfen Enpptenlandes, und den 
Trauben aus den Weingärten der göttlichen Offenbarungen zu wähs 
len gilt? O gehet nur in euch, und durchfucht euch mit der Laterne 
unparteitfcher Würdigung; und dann bekennt, ob ſich's nicht wirklich 
alſo verhalte, daß ihr todt ſeid für den Himmel, und nur für die 
Erde lebt? Fürwahr! wenn wir nicht anders aus der Hand des 
Schoͤpfers hervorgegangen wären, als wir von Haus aus beſchaffen 
find, welchen Vorſtellungen von dem Weſen Gottes würden wir dann 
bei und Raum geben müffen! Wie dürfte es dann noch heißen: „Gott 
ſah an Alles, was er gemacht hatte, und fiehe, es war fehr gut?“ 
Es wären dann ja verkümmerte Kreaturen, ja, mißgeflaltete Weſen 


Vilatuß unfer Anwalt. 455 


aus feiner Schöpferhand hervorgegangen! O, ferme fei es von ung, 
das Gejchlecht, wie es gegenwärtig if, mit den Erftlingen der Men- 
Ihenfchöpfung zu verwechfeln! Gott fehuf feurige, gen Himmel ftre- 
bende Geifter; aber die Sünde trat dazwiſchen und vermwäftete feine 
Schöpfung Wollt ihr in diefer fittlichen Verwuüſtung verharren, fo 
thut e8 auf eure Gefahr; nur laßt es euch nicht mehr einfallen, über 
Dinge des Himmelreichs, von weldhen ihr Doch fo weit verfchlagen 
jeid, urtheilen und abfprechen zu wollen. hr verdientet, fo oft ihr 
euch dazu verleiten laffet, eine demüthigende Abfertigung, wie fle einft 
dem falfchen Propheten Bileam zu Theil ward; und ihr mögt zufrie 
den fein, wenn, ftatt einer laftbaren Efelin, nur, wie heute gefchehen 
wird, ein blinder Heide, ein Römer Pilatus, euch zurechtweift. 


£uc. 23, 13—16. 

Bilatus aber rief die Hohenpriefter, und die Oberen, und dad Bolt zufammen; 
und ſprach zu ihnen: Ihr habt diefen Menfchen zn mir gebracht, als der dad.Bolt 
abmende. Und fiebe, ich babe ihm vor euch verhöret, und finde an dem Menfhen der 
Sachen feine, deren ihr ihn beſchuldigt; Herodes auch nicht; denn ich habe euch zu 
ihm gefandt, und fiehe, man hat nichts auf ihm gebracht, dad des Todes werth fei. 
Darum will ich ihn züchtigen und 108 laſſen. 

Pilatus befindet ſich aufs neue in großem Gedränge. Durch die 
Verweifung des Prozeſſes an Herodes hoffte er feiner peinlichen Lage 
glücklich entronnen zu fein. Aber nun ſchickt ihm der Galiläerfürk 
unvermuthet den Verklagten wieder zu, und überläßt es ihm, dem 
einmal aufgenommenen Handel auch zum Schluß zu bringen. ‘Der 
Landpfleger, nicht wenig unwirſch über die fehlgefhlagene Berech⸗ 
nung, wendet fic) denn abermals an die Verklaͤger des Gerechten, und 
erneuert feinen Berfuch, Zefum, und mit Ihm die Ruhe feines eige- 
nen Gewiffens, zu retten, Er hält an die Hohenpriefter, Oberften 
und das verfammelte Volk eine Anfprache, die zwar etwas, das wir 
aus feinem Munde noch nicht vernommen hätten, nicht enthält; aber 
nichtsdeftoweniger ſchon darım einer ernften Erwägung werth ifl, weil 
Pilatus darin wider Wiffen und Willen als unfer, der. Gläubigen, 
Anwalt auftritt. Er hilft nemlih von der dreifachen Beichuldi- 
gung: aufrührerifher Tendenzen, unfinniger Lehraufftellun- 
gen und maßlofer Tröftungen und reinigen. — „Wie dies?“ 
— Ihr folks vernehmen. Möge unfre Betrachtung diejenigen in Dies 
fer Verſanmlung, die noch in Boruriheilen gegen. und befungen And, 





456 Das Heilige. 


von denfelben heilen, und ihnen eine Brüde bauen helfen, die fie m 
unfre Gemeinfchaft herüber führe! — 
1. 

Pilatus unfer Anwalt! — Wie feltfam dies Mingt, er iſts. &r 
nimmt unfer Haupt in Schuß, und damit ung. Ihn fegt er recht 
kräftig außer Anklage, und in Ihm die Seinen. „Ihr habt die 
fen Menfhen zu mir gebracht,” beginnt er, „als Der das 
Volk abwende.“ In einem gewiffen Sinne mag dem Herm der 
gleichen allerdings wohl nachgefagt werden. Wie er feiner Gläubigen 
bezeugt, fie feien „nicht von der Welt,” fo ermahnt er fie auch, ſich 
der Welt nicht gleich zu ftellen. Er heißt die Seinen von den Wet 
kindern ausgehen; denn „der Welt Freundſchaft fei Gottes Feind 
ſchaft.“ In einem gewiffen Maße werden die wahren Chriften im 
mer inmitten der Welt Separutiften fein. Gott bat fie fo orgas 
nifirt, daß eher an eine Einigung des Feuers mit dem Waſſer, als 
ihrer mit dem großen Haufen zu denken ift. Ihre Meberzeugungen, 
ihre Grundfäße, ihr Gefchmad, ihr Urtheil, ihre Anſchauung von den 
Dingen in der Welt, fo wie ihr Wünſchen, Hoffen und Begehren: 
es Läuft Alles fchnurftrads gegen der Welt Richtung und Sinne 
weife an. Sie find durh Natur und Art von der unwiedergebor- 
nen Welt gefchieden, wenn auch das Herz der Kinder Gottes 
nimmer von den Kindern der Welt ſich fcheidet, fondern umabläffig 
in barmberziger und werbender Liebe fich ihnen zuneigt. Diefe aber 
mögen als Solche nicht angelehen fein, die ihre Stellung zu wechfeln 
hätten; und Daher der Krieg auf Erden, im Blid auf welchen der 
Heiland bezeugte: „Ihr follt nicht wahnen, daß ich gelommen bin, 
Frieden zu bringen; ich bringe das Schwert!” — 

Doch wenn die Führer Sfraels Jeſum der „Abwendung des Volks“ 
bezüchtigten, fo wollten fie diefe Anklage im politifhen Stune ver: 
flanden wilfen. Für ein Rebellenhaupt und einen Meuterer 
erklärten fie Ihn, der Die Leute wider Katfer und Obrigfeit aufzu⸗ 
ftaheln fih bemühe, und alfo des Hochverraths und Majeſtätsver⸗ 
brechens ſchuldig ſei. Und in der That war unfer Herr weder der 
erſte noch der legte Gotkesknecht, auf den man foldhen Verdacht 
zu wälzen fuchte. Schon Elias hörte fi von Ahab mit den Worten 
angefähnaubt: „Du bift es, der Iſrael verwirret;" worauf er ruhig 
erwibderte: „Nicht ich verwirre Iſrael, Sondern du, und deines Vaters 
Has, und zwar Damit, daß ihre des Herrn Gebote verlaffen Habt, 


Pilatus unfer Anwalt. 457 


und hanget den Baalim an!“ — Eben fo mußte Jeremias von fich 
zum Könige fagen hören: „Laß diefen Mann tödten, denn er macht laß 
die Hände Des ganzen Volks, und fuchet nicht, was diefem Volke 
zum Frieden, fondern was zum Unglüd dient!” Später wurde wider 
Baulus vor dem Landpfleger Felix die Klage erhoben: „Wir haben 
diefen Mann gefunden ſchaͤdlich wie eine Peſt, und der Aufruhr er- 
teget unter allen Juden in der ganzen Welt, und einen Vornehmſten 
der Secte der Nazarener.” Und alle nachmaligen Ehriftenverfolgungen 
im römifchen Reich gefchahen unter dem Vorwande, daß die Anhänger 
Jeſu ftaatsgefährliche Subjecte feien, die e8 auf Lockerung der Unter- 
thanenbande, ja auf Umflurz der beftehenden bürgerlichen Ordnungen 
abgefehen hätten, Diefes Ammenmährchen hat fih von Jahrhundert 
zu Jahrhundert fortgepflanzt, obwol fchon ein Pilatus gegen folche 
Berunglimpfungen und auf's nachdrüdlichite in Schuß nahm. Wir 
bören denfelben heute laut vor allem Volke erklären, daß Thron und 
Staat von diefem Zefu und feinen Züngern nichts zu befürchten 
hätten. „Ich habe ihn vor euch verhört,” fpricht er, „und finde an 
dem Menfchen der Sachen feine, deren ihr ihm befchuldigt. Und He 
rodes auch nicht; denn ich habe euch zu ihm gefandt, und fiehe, man 
bat nichts auf ihn gebracht, Das des Todes werth ſei!“ — Wie war 
e8 auch nur möglich, Den empörerifcher Gelüfte zeihen zu wollen, der 
den allgemeinen Grundfag aufftellte: „Gebet dem Kaifer, was des 
Kaifers ift;” der feinem Petrus ſchon bei einer Zurwehrfeßung gegen 
einen der untergeordnetften Diener der weltlichen Obrigkeit die ernſt 
zurechtweifenden Worte zurief: „Stecke dein Schwert in die Scheide; 
denn wer das Schwert nimmt, foll durch's Schwert uınkommen;” der 
uns fagen läßet: „Seid unterthan der Obrigkeit, denn es ift feine 


x 


Obrigkeit ohne von Gott,” und der nur in Bezug auf Zumuthungen, . 


die dem Worte Gottes zumwiderlaufen, Die, immer auch nur ein dul⸗ 
dendes Verhalten fordernde, Regel uns einfchärft: „Man muß Gott 
mehr gehorchen, denn den Menſchen?“ — 

Doch es find in neuefter Zeit Ereigniffe eingetreten, welche den 
Glaͤubigen rüdfichtlich ihrer politifchen Gefinnungen jeden Anwalt 
entbehrlich machen. Die Welt weiß es jebt, daß die Wogen des 
Aufruhrs an ihnen wohl einen Helfen finden, an dem fie fidh brechen, 
aber fein offnes Bette, in das fie fich ergießen mögen, Es dürfte 
faum je wieder gelingen, fie nad) der Seite ihrer Unterthanentreue 
hin den Megierungen zu verdaͤchtigen. Hat fi) doch Die Umſturzpartei 


458 Das Helfige. 


zu dem wiederholten offnen Geſtändnifſe genötbigt gefehen, Daß ihren 
Plänen nichts fo bindend im Wege ftebe, ald das Ehriftentbun. 
Stuatsbebörden, die vor wenigen Jahren noch die lebendigen Chriſte 
unter ihren Untertbimen verfolgten, rufen fie jegt als Stüßen ba 
Throne und Garanten der öffentlichen Ordnumg in ihr Land. Laben 
redet mit Jakob freundlich; Beliazer fleidet den Daniel in Purpı. 
„Wenn Jemandes Wege dem Herm mohlgefallen,“ fpricht Salome 
„ſo macht er feine Feinde ihm friedlich geſimt.“ — Es ift eins 
Großes um die plögliche Entfräftung und Vernichtung einer mebr als 
taujendjührigen Anklage gegen die Anbeter des Lammes, wie folde 
Vernichtung in den neueiten Zagen eingetreten if. Freuen wir ms 
dieſes Umſchwungs der öffentlichen Meinung von den Streitern Chriti 
in der Welt ald einer, wenn auch noch fe leifen, Hindeutung am 
die Siegsperiode unſres Rreugreiöe, der wir entgegengeben. 


Doch mit der einen Befäutbigng rebelliſcher Gefinnmgen find 
noch nicht alle Anflagen von uns binweggewäht. Man besichtigt 
uns weiter des Feithaltens an finnlofen Lehrſätzen, umd denkt 
dabei vorzugsweife an das Dogma der Stellvertretung Chriki, 
das wir allerdings al8 den Kern des Evangeliumd und den Grm 
aller unfrer Hoffnung befennen. Wenn es nicht wahr ift, Daß der 
Sohn Gottes den großen Tauſch mit uns einging, unfre Uebertret 
gen fich göttlich zurechnen Tieß, unfre Schuld in feine Rechnung nahen, 
den Arm der ftrafenden Gerechtigfeit fi für uns preisgab, am umfre 
Statt die Sünde büßte, den Fluch erduldete, die Verdammmiß anf 
fih Iud, und als unſer Bürge und Vertreter den Keldh der Schrecken 
bis auf Die Hefen leerte, der uns Miſſethätern zugemeffen wurde; 
wenn, fügen wir, Diefes Alles nicht in der Wahrheit gegründet if, 
Dann faften unfre Sünden nod) auf uns, dann Tiegen wir noch unter 
dem Fluche und bleiben ewig darunter liegen, dann wird Feine Seel 
felig; und jede Stelle der h. Schrift, in der einem Sünder zugerufen 
wird: „Deine Sünden find dir vergeben!“ ift eine Rüge; ja eine 
Läfterung des göttlichen Namens jeder Ausſpruch, der Abtrinnigen 
und Uebertretern Gnade zuſagt. Was irgend Tröjtliches für Gefallene 
in der Schrift enthalten ift, kann Dann nicht göttlichen Urfprumgs fein, 
fonden muß vom Satan ſtammen; denn es tft unmöglich, Daß Get, 
der weder von feinem Gejeße, dem Abglanz Seined unveränderfichen 
Willens, noch von feinen Drohungen, den Ausfläffen Seiner heiligen 


Bilatns unfer Anwalt. 459 


Ratur, jemals laffen kann, willtürfich und ohne Weiteres ftrafwürdige 
Sünder fegne und befelige. Er würde aufhören, heilig, gerecht und 
wahr, d. i. Gott zu fein, wenn Er es thäte. Seht, dies glauben 
und befennen wir. Was aber uns fo herrlich, annehummgswürdig und 
im hoͤchſten Sinne des Worts vernünftig dünkt, nennt die Welt ei- 
nen verjährten Wahn und eine finnlofe, thörichte Lehre. Aber da tritt 
vun, feltfam genug, wieder Pilatus für und ein, um uns, wenn auch 
nur indirect, auch hier in Schuß zu nehmen. 

Der Herr Jefus hat alle Verhöre jet Durchgangen. Eine Prüfung 
um die andere ift mit Ihm angeftellt. Auf jeder Wage ift Er gewogen, 
an jedem Mapftabe gemeffen, ja mit dem Lichte eines dreifachen Ge- 
feßes: des levitiſchen, des bürgerlichen und des Geſetzes der Sitten 
beleuchtet worden. Sept foll von dem Ergebniß der wider ihn ge- 
- führten Verhandlungen der Schleier weichen. Der Richter, der zu 
diefem feierlichen, und, wie er meint, entfcheidenden Alte die Hohen⸗ 
priefter und Oberften eigends in feine Nähe befchieden hat, fteht, 
von einer unabfehbaren Vollsmenge umwogt, auf feinem hohen Als 
tane, und öffnet, wie Alles erwartungsvoll fchweigt, zum lebten 
Urtheilsfpruche feinen Mund. Und diefer Inutet? — „Ihr habt,“ 
erklärt er laut in die Verſammlung hinein, „diefen Menfchen zu mir 
gebracht, al8 der Das Volk abwende. Und ftehe, (dieſes „fiehe“ ruft 
er nicht blos feiner nächten Umgebung zu, fondern der Welt,) ich habe 
ihn vor euch verhört, und finde an dem Menfchen Der Sachen feine, 
deren ihr ihn befchuldigt. Herodes hat ihn verhört, und findet auch 
nichts. Man verhörte ihn, (und wer ift diefes „man“, als der ganze 
Hoherath, Die gefammte Zunft der Bharifüer und Schriftgelehrten, 
und was aus dem Volke ſich um ihn befümmerte,) und fiehe, man 
bat nichts auf ihn gebracht, das des Todes werth feil* 
Er ſpricht's, und Alles ſchweigt dazu, weil Alles fühlt, daß Pilatus 
die Wahrheit fpricht. 

Obwol nun aber ald Sündenreiner des Todes in keinerlei Weiſe 
ſchuldig, weder des gerichtlichen, noch des natürlichen Zodes, 
welcher lebtere ja der „Sold der Sünde” heißt und ift, flirbt Er 
Dennoch, Es ftirbt mithin in ihm ein Mann, der nad) dem Rechte wie 
nach der Verheißung Gottes nicht fterben, fondern Leben follte. Und 
er ftirbt eines Todes, der mit einem Märtyrertode kaum die entferntefte 
Aehnlichkeit bat. Ya, hätte er Durch fein Sterben nur feine Lehre 
befiegein weile, fo hätte ee feinen Zweck verfehlt, indem wir uns 


460 Das Heilige. 


möglich) groß von einer Xehre denken koͤnnten, deren Träger vor den 
Pforten der Ewigkeit zu dem furchtbaren Geftändniß fortgerifien wurde, 
daß Gott ihn verlaffen babe. Nun aber fagt ihre uns einmal, 
warum Sefus Hard? Sündern ift „gefebt, einmal zu fterben, m 
darnach das Gericht”; aber Er war fein Sünder, Auch Begnadigte 
ift e8 verordnet, den Weg zum Himmel durch den Zod zu nehmen, 
weil ihr Fleiſch durch die Sünde verderbt if. Bei Der Leiblichkeit 
Jeſu aber trifft dies nicht zu; und dennoch flirbt er, und ſtirbt fe 
ſchrecklich. Erflärt mir dies! Ihr befinnt eu. O, befinnt euch, fe 
fange e8 euch beliebt; wir ſagen's euch beftimmt voraus, Daß ihr Ver 
nünftiges, Einleuchtendes und Annehmbares zur Loͤſung diefes Räthiek 
nicht beibringen werdet. Hört aber, wie wir die Sache anfehn, md 
ermeffet, ob für irgend eine andere Anficht Raum bleibt. Der me: 
hörte Lmftand, daß Jeſus, der Mafellofe und Gerechte, feiner Heiliz 
feit ohmerachtet dem Urtheil des Todes verfällt, wirde uns mit Noth 
wendigfeit zu dem Schluffe Drängen, es fei die Lehre, Daß ein gerechter 
Gott im Himmel walte, ein Bahn; e8 regiere auf Erden nur des Max 
fchen Wille, oder das Ungefähr; es egiftire eine göttliche Vergeltung auf 
Erden nicht, fondern dem Gottlofen ergebe e8 nicht ſchlimmer, als den 
Gerechten; e8 beitehe feine Ordnung, gemäß welcher der, Der das Ge 
fe vollfommen halte, die Krone des Lebens zu gewärtigen habe; und 
es lüge die Schrift, indem fie fage, Daß der Zod nur die Ausgebun 
der Webertretung fei: zu Folgerungen Ddiefer Art, füge ich, wären mir 
unbedingt genöthigt, wenn wir nicht vorausfegen dürften, Daß der m 
fträfliche Gottesfohn den Tod an unferer Statt erduldet babe 
Diefe Annahme reicht und den einzigen Schlüffel zu dem Geheimmik 
des blutigen Untergangs des Gerechten. Segen wir aber eine Stel 
vertretung Jeſu für Die Sünder, — und wir dürfen dies nicht bieß, 
fondern find durch das unzweideutige Zeugniß der heiligen Schrift daz 
genöthigt, — fo ift Alles Elar, gelöft, entziffert, ud in Alles kommt 
erhabener Sinn und herrlicher Zuſammenhang. Im Paradiefe drobt 
der Herr: „Welches Tages du von dieſem Baume iſſeſt, follft du des 
Zodes fterben!“ Wir agen von dem Baume, und luden das ſchauer⸗ 
liche Urtheil auf unfer Haupt. Aber nun kommt der ewige Sohn, 
nimmt leßteres von unferm Haupte auf das feine, und wir — wer 
den leben. Vom Sinai herab hieß es: „Verflucht fei, wer nicht bleibt 
in Allem, das gefchrieben fteht im Buche Des Gefepes!* Wir blieben 
nicht darin, und unfer Schickſal war entichieden. Doc fiehe, da eu 


Pilatus unfer Anwalt. 461 


fcheint der Bürge, läßt ſich von unferm Fluch zerfchmettern, und wir 
find rechtskräftig erläft und ftehen unantaftbar da. — Gott hat bes 
ſchloſſen, und Sünder zu befeligen, troß feines Wortes: „Ich will 
den aus meinem Buche tilgen, der an mir ſündigt.“ Wir glauben 
an unfere Seligfeit; denn er vollzog die uns angedrohte Strafe an 
uns in Ehrifto, — Nur den Gehorchenden verhieß Gott die Le 
bensfrone; aber nachdem Ehriftus ftellvertretend in unferm Namen 
gehorchte, kann Gott auh Sünder frönen, und bleibt doch heilig. 
So wird jet Alles licht und die grelliten Widerfprüche gleichen fich 
harmonifh aus. Und man wagt es, unfre Lehre von der Stellvers 
tretung Jeſu finnlos oder gar albern zu nennen? Sehet, felbft ein 
Pilatus tritt, ohne e8 zu wiffen, dadurch für uns in den Riß, daß er 
der Wahrheit Zeugniß gibt, Chriſtus fei des Todes nicht fchuldig ges 
weſen. Berfucht denn ihr einmal in einer genügenden und vernünf- 
tigen Weiſe e8 anders, als durch die Stellvertretung Chrifti, zu erfläs 
ren, wie e8 zugegangen fei, daß auch Jeſus, der heilige und ta⸗ 
dellofe, den Sold der Sünde entrichtet habe! 
3 


Pilatus nimmt fi) unferer noch einmal an, Er reinigt uns von 
einem neuen Vorwurf. Freilich thut er dies wieder nicht Direct; aber 
er muß Veranlaffung geben, daß wir von demfelben gereinigt werden. 
Man wirft und vor, wir fpendeten die biblifchen Tröftungen mit zu 
vollen Händen. Man verübelt's uns, daß wir Die Gnade, die Jeſus ers 
worben, auch auf die gröbften Sünder und verfunkenften Miffethäter 
ausdehnen wollen. — Man fpricht uns dazu die Berechtigung ab umd 
nennt unfer Thun gefährlich und fittenverderblich. Aber da begibt fich 
num etwas, — unfer Evangelium deutet's an, — das jenen Fleingeiftigen 
Einwurf völlig entkräftet, und unſer Verfahren als ein wahrhaft evans 
gelifches rechtfertigt. 

Nachdem Pilatus feierlich erklärt hat, es hafte Teinerlei Schuld 
an dem Berklagten, fährt er fort: „Darum” — — Nun, wie weiter? 
Etwa: „Darum feße ich ihn in Freiheit?" — O nicht Doch; fondern: 
„Darum will ich ihn züchtigen (d. h. mit Ruthen ſtreichen) und 
ihn loslaſſen!“ Denkt, welche Ungerechtigkeit! „D Pilatus,” möch⸗ 
ten wir rufen, „wie war ed möglich, daß du auf ſolchen Vorſchlag 
gerathen konnteſt? Den Mann, der mit dem lauterften Ausdrud der 
Wahrheit zu dir fagte: „Ich bin ein König und bin dazu geboren, 
daß ich die Wahrheit bezeugen ſoll,“ und aus deffen ganzer Erfchei- 


2 Zei Gelee. 


at can el et Sue aber, ma 
fur 23 ce irehier Zirer zent? I. mwebte rer Wü 
deıde Redsetch, 12? u ercıie Zee um eme Gemdel 
era Ehe ıı? erter Beiugeni!‘ — — Tiere kire we ii 
Tu Zmrate Riem: „IE tu fa mar de Iedhsen‘ ü 
ud um Foerz ruiNier order Firier Weir erden bei 
ieazz Ixzerde ecı Fredumer schule, tx fenn Ghriiked zur u 
bex Prabl wexuier ne? zeischer, Arıı aber zur Deichurkhaiun 
tes earzıtarda Garn u za cum Br wüer „Isögeleie‘ 
&ezrelt: beit Darm aber a7 jecze Berk u? Inmeuten zu zei 
wm? laũt ibx Mexu, mitten zıı m rieicde icder Ind. Ba 
lenaner, tab er ter emix Der mu Hummel ie, ebmel er db je 
dafür ertlart Bat: je ddrza mn dr Tem aber reiche men de 
als dea andaseihnerten Schrer wieder betas, u? Liär ibe Dumi 
miete les. Mm rictiat ihn, mer mm feine Glieder auf Oder 
verumgfizzeit, und in Schiri map i Zcheinrert wiler diejenigen un 
brit, die ’eıme Fiurizen Verdieriie als die emzige lirkache ührer So 
lialeu rüßmen: {it aber Dumm ike wieder les, inden mare ibem ki 
der Buntesirtel eine änkeriite Derkeuzung much, oder ibm umzeiiche, 
dai ex zieht sei, ala Setrates und Sclen At, ven Raner führe 
zur Ale ee bermlide Keihei aegen dea Serra Gbritum kei ınd, 
und unteriañen uhr, bei Gelegerbeu in Dreier oder jener Dei ſie 
wider ibn zu ideeingen. Fraat uns aber, nachden Die Gheikelm: 
gerheben, unter Garinen, warum wir doch dieſen Gerechten, der 
ms nie enmad zu Leite getban. Se ram un? abbei® tem, je pilegen 
wir, tar Buße u them, unite Rubrämwürtigfer binter Judasũie, 
Me ru ibm geben, zu veriieden, und lañen den Gemißbandelten Durd 
areidentiae Ebrenbeiwuaungen „wieder les.“ 

Dech zur Sache: Wan rilegre in \irael Verklagte, Pie um Gange 
Der Umerjuchung nur leichter Vergeben übernibrt werden maren, wi 
Ruben zu reiben, und nah Belliichuug Pieier Berenmasitrafe frei 
zu geben. Als einen Delinquenten di eſer Gattung gedachte Rilınss 
auch Jeſum zu bebandeln. Wan möchte denken, daß er nach Allem, 
mas vorbergegangen, und wodurch Sein Unſchuld in ein jo helles 
Licht gertellt werden mar, mi ſeinem vermittelnden Verichlage wobl 


Bilatad unfer Anwalt 463 


Anklang werde gefunden haben. Aber nein; Gott hatte es anders 
beſchloſſen. Ehriftus follte leiden als ein Verbrecher der Argften 
Art; ja, das Loos eines Mörders, eines Auswurfs der Menfchheit 
follte ihn treffen, und ihm erft dann die Stunde der Erlöfung fchla- 
gen. Warım dies? — Warum doch anders nach Gottes Rath und 
Willen, ale damit auch Schächern, ja Verbrechen, wie Manaffe und 
Rahab, für den Gedanken Raum verbliebe, e8 habe der große Bürge 
auch für fie gelitten. In die Hölle, in die Gottverlaffenheit, in das 
Alleräußerfte von Schmad und Schmerzen follte Jeſus hinab, auf 
daß auch der ärgfte der Uebertreter an der Gnade nicht zu verzweifeln 
brauche. Iſt diefe Lehre gefährlich, warum predigen fie die Apoftel 
von den Dächern? Streitet fie wider Gott, warum hat Gott fie an 
einem David, an einem Saulus, an einer Magdalene, ja an Schuld» 
befadeneren, als diefe, befiegelt? Iſt fie verderblich, warum ragen die, 
welche ihre Wahrheit an fich felbft erfuhren, an brennendem Haß 
wider die Sünde und an Eifer für Gott und feine Ehre vor allen 
Andern hervor? Macht fie Läffig und unfruchtbar in guten Werken? 
Umgefehrt! denn wer an den Berdienften Chrifti Theil gewinnt, wird 
auch durch Ehrifti Geift im Garten Gottes ein edler Baum, der „feine 
Früchte trägt zur rechten Zeit.” O Heil uns, daß fo, wie wir eben 
gefagt, die Sache ſich verhält! Hätte Chriftus nicht auch das Loos 
der vornehmſten Sünder auf fi) genommen und erfüllt, wer überhaupt 
unter den Erleuchteten könnte Ehrifti fich getröften, indem der heilige 
Geift einen jeglichen derfelben mit Paulus bezeugen lehrt: „Ehriftus 
ift gefommen in die Welt, die Sünder felig zu machen, unter wel- 
hen ih der vornehmfte bin,“ 


Pilatus hat uns feine Dienfte gethan. Wie er von einer ſchweren 
Anklage uns gereinigt hat, fo hat er durch fein der Unſchuld Ehrifti 
gegebenes Zeugniß unfere Anfchauung von dem Zode des Herm und 
defien Bedeutung gerechtfertigt, und durch feinen fehlgefchlagenen 
Verſuch, den Mittler nur als einen der leichteren und weniger ftraf- 
baren lebertreter zu behandeln, dem Richter auf dem Stuhl der Ma⸗ 
jeftät Deranlafjung gegeben, eben fein, des Landpflegers, Vorhaben zu 
vereiteln, und dadurch thatfächlich zu beurfunden, daß Ehriftus nach 
Seinem, des allmäcdhtigen Gottes, Rath und Willen, den Fluch and 
der fluchwürdigften der Sünder habe erdufden follen. Namentlich 
fühlen wir uns dem Römer für die beiden fegten Dienfte, |die er 


464 Das Heilige. 


uns geleiftet, zu innigem Dank verpflichtet; denn wir befennen, daß 
mit der Stellvertretung und Genugtbuung Immanuel unfer Friede 
wie unfere ganze Hoffnung ftehe und falle, und ſprechen in tieſſter 
Wahrheit unfers Herzens: 


Haft Du, was wir verſchuldet, 

Als Mittier nicht gefühnt, 

Haft Du ihn nicht erduldet, 

Den Fluch, den wir verdient; 

Dann wehe und! Kein Beten, 

Noch Ringen ſchafft und Heil; 

Denn nur Dein Stellvertreten 
Gibt und am Himmel Theil! — Amen. 





XXXVIII. 
Das große Bild. 


Eine der bedeutſamſten und ſinnreichſten Tempel⸗Ceremonien war 
unſtreitig diejenige, welche nach 3. Moſ. 16, 5—10 am jahrlichen 
Verſöhnungsfeſte der Gemeine die Darbringung zweier Böcke aufer: 
legte, über die dann der Prieſter das Loos entſcheiden ließ, welchet 
von den beiden dem Herrn geopfert, und welcher als durch Des er 
fteren Blut verföhnt in Zreiheit gefeßt werden folle. Die Loofe be 
zeichneten den einen als „la Jehova,“ d. i. dem Herm geweiht: 
den andern als „Aſaſel“ d. i. den Ledigen. Dasjenige Thier, dem 
das erftere der Loofe fiel, ging zu Schlachtbank und Altar; Dasjenige, 
dem das Ießtere, wurde auf Koften jenes in's Freie entlaffen, und 
Niemand durfte ihm irgend ein Leides thun; es war unantaftbar. 
Unverkennbar fchattete der Widder „Afafel” das fündige, aber durch 
ein wmittlerifches Dazwifchentreten zu verfühnende Volk; der andre das 
gegen den ftellvertretenden Vermittler diefer Berföhnung, Den gro: 
gen Zufüinftigen felber ab. Was der Herr fo [hen damals voll 
berablaffender Gnade in leifen Schattenriffen der Sünderwelt vor Augen 
malte, das hat Er fpäter in einem noch viel Fräftigeren, anſchauli⸗ 


Das große Bild. 485 


heren und ausgeführteren Bilde uns vorgeftellt. Aus Thatſachen 
fteigt leßteres vor uns auf, Es tritt heute in unfern Gefichtsfreis. 
Möge es uns gelingen, feine ganze Ziefe zu ergründen! 





Matth. 27, 15—21. Marc. 15, 6-11. Sur. 23, 17— 19. 
Ish. 18, 39—40. 

Auf das Ofterfeft aber hatte der Landpfleger die Gewohnheit, bem Bolte einen 
Gefangenen Ioßzugeben, welchen fie begehrten. Und das Bolt ging hinauf und bat, 
daß er thäte, wie er pflegte. Er bafte aber zu der Zeit einen Gefangenen, einen 
fonderlihen vor anderen, ber hieß Barabbas, gefangen mit den Aufrührerifhen um 
eines Aufruhrs, fo in der Stadt gefchehen war, und um eined Mordes willen in’s 
Gefängniß geworfen. Und da fie verfammelt waren, ſprach Pilatus zu ihnen: Ihr 
babt eine Gewohnheit, daß ich euch einen auf Oftern losgebe; welchen wollt ihr nun, 
daß ich eu Iedgebe, Barabbam oder Jeſum, den König der Juden, von dem gefagt 
wird, er fei Ebriftus? Denn er wußte wohl, daß ihn die Hohenpriefter aus Neid 
überantwortel hatten. — Und da er auf dem Richtſtuhle ſaß, fchidte fein Weib zu 
ihm, und ließ ihm fagen: habe du nichts zu ſchaffen mit dieſem Gerechten; ic) habe 
bente viel erlitten im Traume um feinetwegen. — Aber die Hohenpriefter und die 
Aelteſten überredeten und reizten das Bolt, daß fie bitten follten, daß er ihnen viel 
lieber den Barabbam losgäbe, und Iefum umbdrächten. Da antwortete num der 
Landpfleger Pilatus wiederum und ſprach zu ihnen: Welchen wollt ihr unter dieſen 
zweien, ben ich euch losgeben fol? Da fhrie der ganze Haufe, und ſprach: Hinweg 
mit diefem und gieb und Barabbam los; Barabbad aber war ein Mörder. 


So erſchütternd die Scene ift, zu der wir heute kommen, fo reich 
ift fie am geiftiger Bedeutung und großartigem Gedanfeninhalt. Schon 
indem ich fie euch verlas, mußte euch fein, als fchautet ihr in einen 
Haren Strom hinab, aus deffen Tiefe euch in magifchen Lichtern ftrah- 
(end ein verborgener und bis dahin euch noch unbefannter Hort ent- 
gegenglänzte. Mache der Herr uns heute zu guten Fifchern, und 
ſchenke er Glauben und Andacht uns zum Netze! 

In dem, was Menfhliches in unferm Evangelium ſich begibt, 
ſchließt fich der Inhalt deffelben lange nicht ab. Ihr kennt ja jene 
Art von Weberei, bei der der Weber feine Spule gedanfenlos durch 
die Züden fchnellt, und diefe mechanifch mit einander verfnüpft, ohne 
zu wiffen, ja ohne auch nur zu ahnen, was in dem Zuche, an dem 
er wirft, wenn es vollendet fei, für ein Mufter erfcheinen werde. 
Es weiß dies allein der Meifter, der die Karten, Durch welche Die 
Fäden laufen, kunftreich ordnete und zufammenfügte. Jenem Weber 
vergleiche ich die handelnden Perſonen in unferer Geſchichte. Auch 

30 


466 Das Heilige. 


dieſe weben an einem Bilde, das fie noch nicht ennen, Sie handeln 
nad ihrem Sinn, und thuen ihr Werk; aber Gott läßt ihr freie 
Thun fo ſich geftalten und verknüpfen, Daß Daraus unter ihren Hin 
den, ehe fie ſichſss verfehen, ein großes, tief bedeutfames göttliches Ge 
mälde zu Zage tritt. 

Bor diefem Bilde wollen wir nun einige Augenblidte betrachten? 
verweilen, und zuſehen, zuerft, wie das Bild entfleht, und dam, 
was es nad Gottes Willen uns veranfhaulict. 

Helfe uns der Geiſt des Herm die Hierogipphenfchrift unſern 
Scene entziffern, und die Wahrheitsfchäge, die fie in fich birgt, m 
unferm Heife rentbar machen! 

1. 

So ftehen wir denn wieder vom wilden Volksgewühl umwogt vm 
der offnen Richterbühne Gabbatha. Pilatus, in deffen Herzen, je 
länger er mit dem Erhabenen aus Nazareth verkehrt, um fo fiegreice 
die Ueberzeugung von der vollkommenen Unſchuld deſſelben durchſchlägt 
und um fo höher die Ehrfurcht vor dem geheimnißvollen Mann fid 
fteigert, erſchöpft fid) immer noch in Verſuchen, dem Handel eine 
ebenfowohl ihm felbft, al8 dem Verklagten günftige Wendung zu ge 
ben. Sein Innerſtes empört fich, wenn er den Gedanken denkt, dab 
der Gerechte den Tod eines Mifjethäters fterben folle? Hierin ſtehen 
ihm in einer gewiffen Weife nicht wenige der Unſern gleih. Die 
jenigen ſind's, Die mit dem Landpfleger der fittlichen Herrlichkeit 
Jeſu zwar eine an Begeifterung ftreifende Achtung zollen; aber x 
einfeitiger fie Zhn nur aus dieſem Geſichtspunkt anfchauen, um ie 
mehr an feinem Kreuze fich ärgern. Die Lehre, daß er ftellverhe 
tend fiir unfere Sünde babe jterben müſſen, flößt ihnen Widerwillen 
ein. Warum? Aus dem einfachen und naheliegenden Grunde, wei 
fie, Die die Sünde zu einen unbedentenden und yeringfügigen Ge 
genftande abjchwächen möchten, genöthigt wären, Diefelbe für etwas 
Erhebliches, ja Grauenhaftes zu erachten, müßten ſie annehmen, daß 
fie eher nicht vergeben werden konnte, als bis Gott fie an feinem eig: 
nen Sohn verdammt, und im Blute dieſes Sohnes gefühnt geſehen 
hatte. Sie, die ja jelbft von Sünde fich gänzlich frei zu ſprechen 
niht wagen, fühen fi dann gezwungen, entweder mit ung zu den 
Wunden Jeſu ihre Zuflucht zu nehmen, und, wie wir, um Schächere 
gnade zu betteln, wovor ihnen greuelt; oder gefchlagenen und ge 
ängfteten Gewiſſens einher zu gehen, wozu fie eben fo wenig Lu 


Das große Bil. ; 46V 


verfpüren. So liegt e8 denn durchaus in ihrem Intereſſe, gegen 
den Sat, daß das Leiden und Sterben Ehrifti als ein vermittelndes 
aufzufaffen fei, Einfpruch zu erheben. Ya, ich nehme nicht Anftand, 
zu behaupten, daß alle die Dogmatifchen Syfteme, die das ftellvertres 
tende Strafetragen Chriſti zu verneinen oder zu umgehen fuchen, aus 
dem bemwußten oder unbewußten Beftreben erwachſen find, den Begriff 
der Sünde zu entfräften und zu verflachen. Diejenigen, denen dieſe 
Syſteme noch Beruhigung gewähren, find fi noch nicht bewußt ges 
worden, wie fündig die Sünde ſei. Die aber einmal im Lichte Got- 
tes das Wefen der Sünde erfannten, gehen jofort vom Sinne Pilati 
ab, und laffen Jeſum gerne jterben, und zwar einen je fchredlicheren 
Zod, deito lieber, weil ihnen daraus eine um fo tiefere Beruhigung 
erwächft. 

Der Landpfleger finnt und ſinnt. Die Stirne glüht ihm; feine 
Gedanken fteden alle Nothfignale aus. Was gäbe er nicht in feiner 
peinvollen Lage für einen weifen Rath! Da lichtet fih mit einem 
Male der Horizont feiner Seele. Er bat gefunden! „ Glüdlicher 
Einfall!” denkt er; und freilich, ein „Einfall“ darf der Gedanke 
heißen: denn nicht ohne höhere Fügung kam er ihm; und den Ra- 
men eines „glüdlichen“ verdient er ebenfalld, wie wir davon ung 
fpäter überzeugen werden. Pilatus erinnert fich nemlich eines Her⸗ 
kommend, das zwar eine göttliche Anordnung nicht zu feinem Grunde 
hatte, aber doch von Gott, der es zu einen hehren Symbole verflä- 
ren wollte, nachfichtig überfehen und geduldet wurde. Diefen Ge 
brauche gemäß war es dem Volke an feinem jährlichen Oſterfeſte 
eingeräumt, zur Verfinnbildlichung des Ausgangs feiner Alteäter aus 
Egypten und zur Erhöhung der allgemeinen Feitesfreude irgend einen 
ſchweren Berbrecher aus feiner Kerkerhaft frei zu bitten. ‘Pilatus 
erhafcht nun diefe Gewohnheit, wie ein Schiffbrüchiger Die treibende 
Planke, die ihm als einziges Rettungsmittel noch geblieben ift. Mit 
haftiger Eile Durchmuftert er im Geift die Zwinger des Gefangenhau- 
ſes, ob er nicht einen Miffethäter Darin entdede, im Blick auf den er 
fid) getroft der Hoffnung überlaffen dürfe, daß Das Bolt dem ninuner 
vor dem Nazarener den Vorzug geben werde. Bald glaubt er einen 
ſolchen auch gefunden zu haben; oder vielmehr Gott fand ihn für 
ihn; denn grade diefen Sünder erachtete der Herr geeignet zu Dem 
Bilde, das Er der Welt vor Augen zu malen die Abficht hatte, Der 
Auserrehene it Barabbas, ein wüfter Menſch, Rebell und Mörder 

30” 


468 Dei Heilige. 


zugleich. „Ber,“ denkt der Landrfeger, „wird dieſem Answurj der 
Menſchbeit auf Keñen des Gerechten ren Razareth Freibeit und Le 
ben gönnen?“ — Pilatus rechnet auf die Humanität und Das Rede: 
gerübl der Menge: aber es nebt sehr zu beicrgen, DaB er ih an 
verrechnen werde, und Dies um ic mebr, Zu er ui ſeinem verneint 
lichen Blitzableiter ih einen veliriihen Verbrecher unsermübt 
bat, welchem gegenüber ih die Velfameral überbaupt weir eher, 4 | 
gegen irgend eine andere Art ven Züntern, zu Nachricht und Mile 
zu neigen vflegt. Schen im reraus voll beimlichen Zrinmpbs frei 
ter Tilanıs auf Das Proicenium Der NRichterbübne ver, und ruſt wü 
dem Tone vollfenmener Siegesgewißbeit ind Volt binen: „Bel 
ben wollt ibr, daß ich euch losgebe: Jeſum Barabbau—, 
(io bieß einer alten Ueberlieſerung nach der Mann mit ſeinem vria 
Namen,) „oder Jeſum, Den König Der Juden, von dem ge 
tagt wird, er jet Ehriitus?“ „Tenn,“ fügt Die Geichichte binn 
„er wußte wohl, daß ihn die Hohennrieiter aus Neid überantmerkt 
hatten.” Und freilich hatten fie Das: denn daß das Volk ihn a: 
king, verdroß ſie mehr, ala alles Andere. Aber wie tböricht handele 
darum der ſenũ io Ichlaue Precurater, daß er durch Bezeichnung Ye 
als „des Königes Der Auden* Die ſtolzen Herm aufs neue Daran a: 
innerte, wie man ibm einit Die trage mir Palmen beitreut, und ws 
ter Hofiannanıf die Kleider über den Weg gebreitet batte, und If 
er iomit feinem Audenbafte Raum gab, gleichſam Hals über Kopf mi 
feiner Kluabetr davon zu jagen! — Wie verdarb er fich Dadurd, 
ohne es zu abnen, telbit das Zricl! Tod eine verfehlte war ie 
Epeculation obnebin iden. .Gott erbaſchet die Weiſen, 
Die, Den Leitzügel feines Worts und Willens von ſich ftreifend, 
eigenen Wegen ihr Heil verruben wollen, „in ibrer Klugheit‘ 
Tie Enribeidung über das Schickſal Jen iſt nun aus Pilatus Hin 
den heraus. Es enricheider jetzt far feiner Die Kopfzabhl der Mai, 
und er iſt achalten, jedem Beſchluß derſelben fib zu fügen. Hätte 
er Muth gewinnen fünnen, Dem Marke feines Gewiſſens folgend mi 
rubiger Beſtimmtheit zu ſprechen: „Es werde Gerechtigleit geübt 
und ob die Welt dariiber zu Grunde ainae! der ſchuldloſe Nazare 
ner ift frei, und dieſe Kohorte hier wird meinem Richterfpruche Na 
druck zu geben willen!“ ſo würden Die Feinde unbezweifelt in ihrem 
Innern geichlagen und wie angedonnert zurückgewankt fein, und dat 
Bolt, von feinem Taumel ernüchtert, Dem energiichen Richter laut ihren 


Das große Bild. # 469 


Beifall zugejubelt haben. Jetzt aber fteht Pilatus für ewige Zeiten 
als ein warnendes Exempel da, wohin man bei dem feigen Streben 
zu gerathen pflege, zugleih Gott, der in unferm Bufen fpricht, 
und der Welt ein Genüge zu thun. In mandherlei Geftalten übri- 
gend begegnet und Pilatus auch in unfern Tagen wieder auf der . 
Bühne der Welt. Mancher bat ſich in neuerer Zeit, wie er, in die 
Lage verfeßt, den Barabbas frei, und Ehriftum preis geben zu müffen, 
weil es ihm an Muth gebrach, entichloffen und auf jede Gefahr bin 
für Leßteren einzutreten, Es hat Mancher, nach Pilatus Art ebenfalls 
auf das moralifche Bewußtfein und die Humanität der Menfchen rech- 
nend, Die Menge, mit der er's nicht verderben wollte, feige gefragt: 
„Bas wollt ihr: das Recht oder den Berrathb? Die Ord— 
nung Gottes oder deren Umsturz?“ und ach! auch ihm donnerte 
die freilich fehr unerwartete Antwort entgegen: „Den Umfturz wollen 
wir, und den Verrath!“ und ehe ſich's der arme Mann verfah, war 
er auf dem abfchüffigen Boden der Menfchengefälligfeit, den er betre- 
ten, zu feinem Schreden felbft mit in das Allerärgite hinab geglit- 
ten, und ſah fih nach der Möglichkeit eines Zurück vergeblich um. 
Darum Zuß bei Mal! liebe Brüder, und mit dem, was wir als 
Recht erkannten, gerade durch! So wird man ein Herr der Menge, 
ftatt deren Knecht; denn vor dem heiligen Muthe beugt fich allemal 
die Erbärmlichkeit, wie troßig fie fih immerhin gebährde. Mit diefem 
Muthe fiegt man unansbleiblih, ob dem Scheine nach auch unterlie- 
gend: denn Gott ift jederzeit mit denen, die entjchieden mit Ihm 
find, während er diejenigen fallen laßt, die „zweien Herren dienen 
wollen.“ 

„Welchen wollt ihr,” ruft Pilatus, und laßt fi, den Beſchluß 
des Volks erwartend, auf den marmornen Richterfeffel nieder. Das 
Volk ftugt und wankt. Wie dies die Priefter und Aclteften gewahren, 
ftürzen fie fih unter die Maffen, und bieten alle ihre Rednerfünfte 
auf, das in den Gemüthern erwachende Rechtsgefühl im Keime wieder 
zu erftiden, und den ſchon matter glimmenden Zunfen der Erbitterung 
gegen Jeſum aufs neue anzublafen. — Unterdeffen tritt ein merf- 
würdiger Zwifchenfall ein. Bor dem Landpfleger erfcheint athemlos 
ein Abgefandter feiner Gemahlin, Durch welchen Diefe ihm fagen läßt: 
„Habe du nichts zu fhaffen mit Diefem Gerechten; denn 
ih babe dieſe Nacht vielerlitten im Traumevon feinet- 
wegen." — Wunderbarer Umſtand! Bis in die Zraumwelt ber 


470 Das Heilige 


Heidin hinein wußte der Wunderylanz der Reinheit und Gerriiäkt | 
des Schönften der Menichenfinder fih Bahn zu brechen. Man fick 
wie die Erſcheinung Jeſu auch die Herzen der Gleichgültigen, ja jelik 
der Widerftrebenden, erfaßt und zur Ehrfurdt gezwungen baben md. 
Ja, bei der Nacht, wenn des Tages Lärm verfhunmt und Der Sclei 
auf die Leute füllt, gebt der Geiit der Wahrheit gerne in der Mes 
ſchen Hütten um, und tritt auch wohl an Die Lager Derer heran, de 
ionft in wüſtem Verblendungsraufche unbefimmert um Die bübern 
Daſeinszwecke ihr Leben durchtaumeln. Bei der Nacht dringt er mit 
den Pfeilen feiner NRichterfprüche auch wohl bis in die Kammern dud 
wo Laute höherer Natur font feinen Anklang finden, Bei Der Rakı 
fommt auch in den (Sottvergefieniten wohl das fchmählich untertreten 
Bewiffen wieder zu Wort und Recht, und Mandyer wird nit den 
Pfalmiften bekennen müſſen: „Tu prüfeit mein Herz und beſucheſt d 
bei der Nacht.“ Unverkennbar hatte auch bei dem ängftigenden Nade 
geficht der Gemahlin des Pilatus Der Gott feine Hand im Spick, 
der auch iiber den luftigen Gebieten der Traumwelt waltet und De 
Vhantafien des entfeffelten Geiftes, jo oft es Ihm beliebt, feinen U 
fihten dienftbar macht. Erging doch an den Pilatus in der Aotfcaf 
von dem Gefichte feier Frau eine neue göttliche Mahnung und Ber 
warnung. ber ach, der arme Dann bat die Waffen fchon geftredt, 
und ift bereit8 fein eigener Herr nicht mehr. Die Mittbeilung feine 
Gattin erfchüttert ihn tief. Sein nufgeregtes Gewiffen ruft ibm g: 
„Hörit du, Pilatus? Stinunen aus andern, aus verjchleierten Welten 
felbft warnen dich vor dem Greuel eines JZuftizmords?“" — Mi 
wohl bört er's. Es wird ibm beiß und ſchwül. Aber, aber — — 
Run, das Volk wird ja (Gerechtigkeit üben! — Das Volt? — Tı 
armer Pilatus mit diefer deiner legten fümmerlichen Hoffnung! — — 
Die Ungeduld ſtachelt Den bedrängten Mann von feinem Siße wieder 
auf. Sic erhebend ruft er aufs neue, jet mit der Miene eine 
flehentlih Fürbittenden in die Menge hinaus: „Welchen wollt ik 
unter den Zween, daß ich euch losgebe?“ — Deutlih läßt ſich am 
Diefen Worten berans der unnnsgeiprocene Zuſatz vernehmen: „Richt 
wahr, für Jeſum enticheidet ibr euch?" — Uber man komme nod 
mit Bitten, wo man nicht Muth bitte, im Namen Gottes und I 
Gejeges zu beifchen und zu fordern! — Ten wühlenden Ratbe 
herrn ift es geglüdt, Das Volk zu ihren Zwecken zu bearbeiten; umd 
dem unglädlichen Procurator fchallt wie aus einer Kehle vieltaufend 


Das aroße Bild. 471 


flimmig der trogige Ruf entgegen: „Hinmweg mit dDiefem, und 
Barabbam gieb uns los!" — 
2, 

So fteht denn dus aroße Bild, das fid) nach Gottes Abfiht ohne 
Borwiffen des Pilatus thatfächlih in die Verhandlungen auf Gab: 
batha verweben follte, vollendet vor und. Die Hauptfiguren in 
dem lebenden Gemälde find die beiden der öfterlichen Volkswahl 
Präfentirten: der Mann in den Ketten und der Fürft des 
Lebens. Der eritere, unter dem Aushängefchilde glänzender Namen 
(Jefus beißt er d. i. Heil, und Barabbas d, u, Sohn des Va⸗ 
ters,) ein tief verfommener Sünder, war in einem blutigen Aufruhr 
auf der frifhen That eines Todtſchlags ergriffen worden. Söhne 
Zweifel hatte er die Rolle eines falfchen Mefftas gefpielt und darin 
eine jener Chrijtus - Karrifaturen abgegeben, durch weldye der Satan 
fo manchmal verfucht hat, den wahren Ehriftus zu verdächtigen und 
ihn dem öffentlichen Gelächter bloß zu ftellen. Doch fteht Barabbas 
bier nicht blos als Individuum vor uns, fondern bildet zugleich eine 
allegorifche Figur , welche das Menfchengefchledht in feiner gegenwär⸗ 
tigen Befchaffenheit wiederfpiegelt, wie es abgefallen ift won Gott, 
im Stande der Empörung gegen die allerhöchite Majeftät fich befin- 
det, in den Banden des Gefekesfluhs zum Tage des Gerichts be- 
halten wird; nichts Ddeftoweniger aber in eitler ‘Prahlerei mit pomp- 
haften Namen ohne That, mit prunkenden Chrenfignaturen ohne We⸗ 
fen und Kern ſich fpreizet. 

Dem Barabbas war in feinem Kerfer, bevor er zur Volkswahl mit 
dem Nazurener zufammengeftellt wurde, jede Ausſicht auf Rettung ab- 
geichnitten; und ebenfo, Geliebte, uns. An einen Losfauf war für 
ihn nicht zu denken, an ein Entwifchen aus dem wohlverwahrten 
Zwinger ebenfo wenig, und viel weniger noch an einen richterlichen 
Gnadenſpruch, auf den fich wohl jeder Andere eher hätte Rechnung 
machen können, als diefer Meuterer. Und glaubt es, nicht minder 
mißlich, als um die feine, ftand es um unfere Sache. Denn was 
hatten wir zu geben, damit wir unfere Seele wieder Iöften? Wie ver- 
mochten wir den Augen zu entfliehen, „die Durch alle Lande gehen?“ 
und wie konnte uns ohne Weiteres ein Richter begnadigen, von wel- 
chem gefchrieben ſteht: „Serechtigfeit und Gericht find ſei— 
nes Stuhles Veften!” Eine verzweifelte war die Lage des Ba- 
rabbas; und die unfre wars nicht minder. Was ereignete fih da? 


472 Das Heilige. 


Ohne fein Zuthun, ja, wider alle jeine Berechnungen, zuckt ylög 
lich ein Morgenroth der Rettung durch feine Kerkernacht. Draußen 
nämlich ertönt von der Richterbühne Gabbatha herab Die Frage des 
Lamdpflegers in das Volk hinein: „Welchen wollt ihr, daß id 
euch losgebe, Barabbam oder Jefum, den König dei 
Juden, von weldem gefagt wird, er fei Ehriftus?" — 
Großer Moment dies! Verhängnißvolle Wendung der Dinge! Hie 
e8 bisher unbedingt: „Barabbas iſt des Todes,“ fo jegt wenigftens: 
„Barabbas oder Jeſus!“ Die Rettung des erfteren ift möglid 
geworden, und mwodurh? Lediglich Dadurd, daß der Rebell md 
Mörder und der Herr vom Himmel fih einander in der Ba hlurne 
begegnen. Einem von den beiden gilt es nun. Einer wird frei, der 
Andere geht zum Richtplag. Zur Losforderung Beider i ſt feinerlei 
Berechtigung vorhanden. Wer wird nun von den Zweien der er: 
wählte, wer der verworfene und vreisgegebene fein? Gebt Jeſus 
von Nazareth frei aus, fo iſt Barabbas unrettbar verloren. Fällt da⸗ 
gegen Erfterem das fchwarze Loos, dann Heil dir, Barabbas, du bil 
geborgen! Jenes Untergang ift Deine Erlöſung; aus Jenes Tode 
erblüht dir das Leben! — Was, Freunde, jagt ihr zu diefer Sach 
lage? Aus geſchichtlichem Gefichtspunft allein betrachtet hat 
diefelbe freilich wenig Bedeutung, außer derjenigen, daß fie ung zu 
erneuertem Zeugniß Dient, wie den Sohne Gottes feine Schmad, 
feine Erniedrigung, und ſelbſt diejenige nicht erfpart worden ift, er 
nem Mordkinde, wie Barabbas war, als deffen Gleichen einen ſich 
zugefellt zu fehen. In böberem Lichte aber angeſchaut gewinnt jener 
hiſtoriſche Umſtand eine große Tiefe. Wie Barabbas hier zu Sefu, 
fo ftanden zu Jeſu wir alleſammt. Auch im Hinblid auf wis hieß 
ed: „Wer fol des Todes jein? Sie, Die Miffethäter, oder der 
Gerechte?" Daß beiden Theilen Schonung widerfubt, war unmög— 
lich. Rechts oder links mußte Das Schwert der göttlichen Rache 
niederzuden. Es mußte der Zluch, dem wir durch die Sünde vers 
fallen waren, fich entladen. Das Urtheil der Verdammniß, Das auf 
unferm Schädel Inftete, wartete mit Ungeduld auf feine Vollziehumg, 
damit Gott wahr, gerecht und heilig liebe. Da hieß es — wie? 
Etwa: „Diefe Liebertreter, oder ein andrer Sünder für fie?“ Nein, 
jo war der Handel nicht zu schlichten. So hieß es denn: „Diefe 
Rebellen, oder für fie ein Engel?” — D nicht Doch; ein Engel ver 
mochte und nicht zu erlöjen. Vielmehr lautete Die große Alternative: 


Das große Bild. 473 


„Diefe Fluchwürdigen, oder der Sohn des lebendigen Gottes an ih- 
rer Statt!" Denn in der That war Diefer allein im Stande, 
unfere Sünden zu büßen. Sp befanden wir und denn ganz in des 
Barabbas Lage. Ging Jefus zum Hochgericht, fo hatte unfere Er- 
löfungsftunde geſchlagen; wurde Seiner dagegen gefchont, fo waren 
wir unmiederbringlich und unbedingt verloren. 

Ihr wißt bereits, wie im Berfolge der Gefchichte Das bedeutungs- 
volle Bild unſres Auftritts fich weiter ausmalt. Die Sache nimmt für 
Barabbas und in ihm für uns eine überaus erwünfchte Wendung, 
Die Stimme des wählenden Volks entſcheidet ſich zur größten Beftürs 
zung des Pilatus zu Gunften des Rebellen. „Gieb Barabdam 108,“ 
Ihreit die tobende Menge, und „Jeſum kreuzige!“ Mag diefe Ent- 
ſcheidung immerhin ungleich verruchter erfcheinen, als diejenige des 
Pilatus, nad) weldyer Jeſus nicht fterben, fondern leben follte; jeden- 
falls war fie, daß ich fo fagen mag, Dogmatifch richtiger, Der Heils- 
ordnung angemeffener, dem Plane Gottes entiprechender, und für die 
Sündermelt unendlich erfprieglicher. Denn forderte Das Volf, und 
zwar mit Erfolg, wie Pilatus e8 gerne gefehen hätte, Jeſu Befreiung, 
und des Barabbas Zod, jo war das Volksgefchrei Klang der Todten⸗ 
glocde über der ganzen Menfchheit und Signal unferes ewigen Unter: 
gangs. Gott aber fügte, Daß die Sache ſich anders wandte, — „Gott 
fügte Dies?" — a, wie wunderfam es Flingen mag, der allmächtige 
Gott! Wenn irgend je das Spridwort: „Des Bolfes Stimme, 
Gottes Stimme” eine Wahrheit ward, dann bier. Gott nahm 
dem Bolfe zu feinem fchauerlihen Rufe den unfihtbaren Kappzaum 
ab, ja ſtimmte in einem umfaffenden und geheimnißvollen inne 
gleichfam thatfächlich felbft in den Ruf mit ein: „Gieb Barabbam 
08, und Jeſum kreuzige!“ Diefer Schrei aber war der Hallpofau- 
nenftoß, der und den Tag unferer Rettung verkündete. Beachtet nun, 
wie die Entjcheidung zur Vollziehung fommt. Barabbas und Jefus 
wechſeln die Rollen, taufchen die Looſe. Auf den Gerechten gehen 
des Mörders Bande, Fluch, Schmady und Zodesqualen über; auf den 
Mörder dagegen die Freiheit, die Unantaſtbarkeit, Die Sicherheit und 
das Wohlfein des Unfträflichen. Jeſus Barabbas ficht fich in den 
Beſitz aller Rechte und Prärogative Jeſu Ehrifti eingefeßt, während 
und weil der feßtere in alle Schmacd und Schauer feiner, des Re- 
bellen, Lage eingeht. Beide vererben ſich wechjelfeitig ihre Stellun: 
gen, ihre Habe, Des Delinquenten Schuldbrief und Kreuz übertragen 


474 Das Heilige. 


fich auf den Gerechten, und des Gerechten Freipaß und Ehren 
auf den Delinquenten. 

Verfteht ihr jet das große gefchichtliche Bd? Es trägt Die are 
ſtoliſche Ueberſchrift: „Sott hat den, Der von feiner Sünde 
wußte, für und zur Sünde gemadt, auf Daß wir in ihe 
würden die Gerechtigkeit Gottes.” Es veranichaulicht uw 
in grellen Zügen das Geheimniß unferer Durch Ehrifti Stellvertretug 
vermittelten Rechtfertigung vor Gott. Wir find Barabbas. In fei: 
ner Nettungsgefchichte fpiegelt fih die unfere. Uns felbft belaſſen 
wären wir ewig verloren geweſen. Mit Ehrifto zur Wahl geftellt 
ſehen wir an die Stelle des unbedingten: „Es ift um euch gefde 
ben!* ein mindeitens Hoffnung gebendes „Entweder, Dder‘ 
treten. Da Chriſtus mit und wechjelte, war unfere Erlöfung ent 
fhieden. Dies iſt's, was, wie in großartigen Alfrescozügen, die 
Hand des lebendigen Gottes felber in dem Borgange Gabbatbes 
uns vor Augen malt. Zürmahr, blind müßte fein, wer es verfenun 
fönnte, daß uns die göttliche Zürforge in der Barabbasfcene ein Lit | 
habe anzünden wollen, das uns die ganze Paffion feines Cingebore 
nen beleuchte. Dieſes Licht würde allein fchon hinreihen, alle Ein: 
würfe gegen die Schriftmäßigkeit unferer Genugthuungsiehre nieder 
bligen, wenn auch nicht eine ganze Reihe lichtheller Apoſtelſprüche 
dies fchon thäte. Freilich wollen wir nicht durchaus verneinen, Dai 
unfrer Dogmatifchen Vorftellung von der Stellvertretung Chrifi 
noch manches menfchlih Sinnlihe anhaften mag, Das allerdings 
einit von der reinen und volllommenen dee Derfelben ver: 
ſchlungen werden wird; aber Irriges ımd Falſches hängt nichts 
ihr an. Der Kern unfrer fogenannten „juridiſchen“ Anſchauung 
von dem Bürgentbume Jeſu ift unbedingt göttliche Wahrbeit. 


Freuen wir und denn der großen Sache, und verzeichnen wir Das 
gedanfenvolle Gemälde mit unauslöfchlihen Farben in das Denkbuch 
unferer Seelen. Erjchauet, ibr in Schuldgefühl gebeugten Sünder, in 
Barabbas euer Bild; und ein tröftlicher Zug um den andern wird 
euch aus feiner Erfcheinung entgegen treten. Wie tröſtlich iſt's, daß 
der Mann nun auf Jeſu Kojten völlig frei iſt; daß, wie zahlreich 
feine Schulden waren, feine hinfort mehr auf ihm laftet; daß forten 
fein richterliches Verfahren mehr wider ihn eingeleitet werden kann, 


Barabhat. 475 


noch darf, und ihn num nichts mehr hindert, feinem Nichter ohne 
Scheu unter die Augen zu treten. Alle diefe Vorzüge befigt in Ehrifto 
‚nun auch ihr, nur in verflärterer Geftalt und überfchwänglicherer 
Fülle. Nachdem Er zum Schuldner ward an eurer Statt, feid ihr 
die Gerechten; nachdem Er der für euch Verworfene, feid ihr die er- 
wählten Gottesfinder; nachdem Er der Träger eures Fluchs, feid ihr 
die Erben feines Segens; nachdem Er der Dulder eurer Strafe 
wurde, feid ihr die Inhaber feiner Krone. Nachdem Er gerichtet 
worden ift, feid ihr von allen Anklagen gereinigt; nachdem Er zer- 
treten, ſeid ihr unausjprechlich erhöht; nachdem Er der Hölle preis- 
gegeben, feid ihr des Himmels würdig, und nachdem Er mit Schmac) 
und Schande überfchüttet, feid ihr gekrönt mit Preis und Ehre, a, 
alſo hat ſichſs. So ſchwingt euch denn durch den Glauben in den 
feligen Stand hinein, zu dem ihr gekommen ſeid, und lernt auch ihr 
in der Schule des heiligen Geiftes von Grund der Seele trupig 
ſprechen: 

Wolll ihr wiſſen, wer ich ſei, 

Ob gerecht od ſuͤndlich? 

Barabbas, mein Konterfei, 

Sagt's euch Mar und gründlich: 


Sünder, — aber ohne Drud, 
Schwarz, doch fonder Tadel; 

Arm, doch reih in Ehrifti Schmuck 
Seht, dies ift mein Adel! — Amen. 


er 


XXXIX. 
Barabbas. 





Wenn St. Paulus 2. Cor. A, 1 von ſich und feinen Mitapofteln 
bezeugt: „Dieweil wir ein folhes Amt haben, wie und denn 
dieſe Barmherzigkeit widerfahren ift; darum werden wir 
nicht müde,“ fo koͤnnen wir nur von Grund unferer Seele darauf 
erwiedern: „Ya, Baule, wenn wir Dir Etwas glauben, dann 


476 Das Heilige. 


dieſes!“ Bon was für einem Amt er rede, bat er im Vorheige⸗ 
benden uns unzweideutig fundgethan. Es ift nicht Das Amt, das 
da ſpricht: „Thue Dies, fo wirit du leben,“ und Joche ſchmiedet und 
Laſten auferlegt; fondern das, welches, wie er fi) ausdrüdt, „die 
Gerechtigkeit predigt.” Freilich, wo einem Menfchen dieſes Amt 
göttlich überwiefen wird, hat er die Gnade und Barmberzig 
feit dafür zu preifen. Wer aber mit diefem Amte innerlich beleh⸗ 
net ward, der fann nicht mehr matt, noch zaghaft, noch müde 
werden. Der Dutelpunft und Kern, um den alle Bethätigung dieies 
Amtes jich bewegt, it Chriſtus, und zwar der Chriſtus, in welchen 
Gott und von unſern Sünden gewafchen und über die Himmel er 
höhet hat. Wer dieſen Ehriftus in berzinniger Erfahrung erkannte, 
ermüdet nicht, von Ihm zu zeugen. Diefer Ehriftus, in Dem ma 
fih verföhnt, begnadigt, vollendet und zum Himmelserben erhöbe 
weiß, bleibt und täglich und ftindlih neu. Die Anſchauung md 
der Genuß deifelben ficyert und eine ewige Jugend der Empfindung, 
eine unverwelfliche Zrijche der Thatkraft. Es ift diefer Chriſtus der 
ftrömende Born, aus dem wir täglich neues Leben trinfen, und die 
himmliſche Some, die ums die tiefiten Nächte tageshell erleuchtet. 
Daß aud heute diefer Sonne Licht und Strahlen, und dieſer Got, 
tesbrunnen uns fein Waſſer geben möge, das iſt ed, was wir beten 
begehren und was der Herr uns in Gnaden gewähren wolle! 


Matth. 27, 22—26. Marc. 15, 12 — 15. Fuc. 23, 20 — 2. 


Pilatus aber antwortete wiederum, und rief abermal zu ihnen, und wollte Jeſin 
loslaſſen, und fprah: Was folk ich denn machen mit Jeſu, von dem gefagt win, 
er fei Chriſtus, und den ihr fhuldigt, er fei ein Konig der Juden? Sie riefen aber 
alle und ſchrieen und ſprachen: Kreuzige ihn, Treuzige ihn! Der Landpfleger aber 
ſprach zum dritten Male zu ihnen: was hat er deun Uebels getban? ich finde feine 
Urſache des Todes an ihm; darum will ih ihn züctigen und loslaſſen. Aber fie 
lagen ihm an mit großem Gejchrei, fhrieen noch mebr, forderten und ſprachen ale: 
Kreuzige ihn! Und ihr und der Hohenpriefter Gefbrei nahm überhand. Da aber 
Bilarus fahe, daß er nichts ſchaffte, fondern daß viel eın größer Getümmel wart, 
nahm er Waſſer, und wuſch ji die Hande vor dem Volk und ſpach: Ich bin un 
fhuldig an dem Blute dieſes Gerechten; ſehet ihr zu! Da antwortete Daß ganze 
Bolt und ſprach: fein Blut fomme über und und über unjere Kinder! — Da ge- 
dachte Bilarud dem Voll genug zu thun, umd urtheilte, daß ihre Bitte gefchehe, und 
gab ibnen Barabbam los, der um Aufruhrs und Mords willen war in's Gefängniß 
geworfen, um welden fie baten; Jeſum aber übergab er ihrem Willen, daß er ges 
geihelt würde. 


Barabbas. 477 


Der entſetzlichſte und verhaͤngnißvollſte Ruf, der je unter dem Him⸗ 
mel vernommen wurde, iſt verlautet. Auf des Landpflegers Frage: 
„Welchen wollt ihr, daß ich euch losgebe: Jeſum oder Barabbam?“ 
erfolgte aus der wogenden Menge heraus die furchtbare Antwort: 
Hinweg mit dieſem, und gieb uns Barabbam los!“ Ein Echo dieſes 
Geſchreies, ja mehr, als ein ſolches, durchtönt auch heute noch die 
Belt; denn Alle, die Ehriftum den Sinderheiland troßig von fid) 
weifen, Dagegen um die Aufrechthaltung der Ehre, der Selbftändigfeit 
und Freiheit ihres alten Menfchen eifern, fprechen in ihrem Sinne 
gleichfalle: „Hinweg mit jenem, und [os fei Barabbas!“ ber ift 
diefe Sprache nicht der angeftammte Mutterlaut unferer werderbten 
menfchlichen Natur, al8 foldyer? Freilich ift ſies. Doc begegnet uns 
auch im Munde des Glaubens ein: „Ans Kreuz mit Zefu, auf daß 
Barabbas lebe!” nur daß hier der Ruf die entgegengefeßte Bedeu: 
tung erhält. Welche Bedeutung, wiffen wir bereit$, und werden’s 
heute auf8 neue vernehmen. Die Erlöfung des Barabbas ift 
der Gegenftand unferer diesmaligen Erwägung Wir fehen, wie 
Diefelbe zu Stande fam, und damı, wie Die Freudenkunde 
Seitens des Barabbas aufgenommen wurde. 

Begleite der Herr unfer Wort mit Seinem Segen, und verleibe 
Er, daß wir wie die Biene vom Blumenfelde von unferer heutigen 
Betrachtung zurüde kehren! 

l, 

Das Volk, von feinen Obern aufgeftachelt, hat rund und unzwei- 
deutig feinen Willen Fundgethan. Es verlangt die Begnadigung des 
Mörders und den Tod des Gerechten. Von Ddiefem Momente an ift 
es aber faum mehr mit anzufehen, wie der aus aller Zaffung beraus- 
geworfene Richter von Stufe zu Stufe tiefer finft, und gleich einem 
ohnmächtigen, zertretenen Wurm fih im Staube windet. „Was 
foll ih denn mit Jeſu machen, der da genannt wird Ehri- 
ſtus?“ ruft er, faum felbft mehr wiffend, was er redet. Man 
denfe: was er mit Jeſu machen folle, darnach fragt er die rafende 
Menge, die ihm auf dieſe feine Frage ja fchon, bevor er fie noch 
verlauten ließ, den bündigften Befcheid ertheilt hat! Sein Gewil- 
jen, das Rechtsgefühl in feiner Bruft, der Buchftabe des Gejep- 
buchs, an das er gebunden ift, umd felbft die mahnende Stimme 
aus der Traummelt feiner Gattin heraus: wie beftimmt und deutlich 
jagte ihm dieſes Alles, was er mit Jeſu zu thun habe! Frei hat 


478 Dead Heilige. 


er ibn zu fprechen, und dann mit aller Macht, die ihm zu Gebote 
fteht, gegen die Vollswuth ibn in Schuß zu nehmen. Aber woher 
foll Dazu der Murb ihm fommen? „Was mache ih mit Jefn?* Fir: 
wahr, zu ewiger Schmach und Schande gereicht ihm Diefes Wort. 
Wie viele aber umferer eigenen zZeitgenoffen theilen mit ibm Diefe 
Schande, indem auch fie cs von armen Menfchenfindern, von einem 
berrichenden gefellichaftlichen Zone, von der fogenannten „öffentlichen 
Meinung” abhängig machen, was fie mit Jefu thun follen. Habe id 
Doch öfter geglaubt, jelbit Prediger auf ihren Kunzeln Dem Pilates 
fein: „Was fange ich mit Jeſu an?“ nachfpredden zu hören; md 
nicht zu fügen vermag ich, mit wie geiteigertem Mißllang hier jew 
Frage zu meinem Obre drang! Th fie zu Jeſu beten follten, oder nidt: 
ob vor der Gemeine ald Gott ihn befennen, oder nur als Men: 
ihen; ob als Erlöfer, oder als Lehrer blos ihn preifen: ſie 
Ichienen ed nicht zu wiſſen; und nichts fchien ihnen ungelegener zu 
fein, als fid) von Amtswegen mit dieſem Jeſus befaffen zu müflen. — 
„Bas Toll ich mit Jeſu machen?“ Wehe Jedem, der fo noch 
fragen fann! Gin Solcher iſt verdüftert in feinen Sinnen und noch 
fern, fern vom Heile. Ein in Selbſtbetrug verftridter Phariſäer muß 
der fein, oder eine in die Scholle vergrabene Maulwurfsſeele, Der nick 
weiß, was er mit Jeſu machen fol. Mein Gott! was hat Denn der 
Blinde zu machen mit dem Führer, der feinen Arm ibm beut? Was 
der Kranfe mit der Arznei, Die ibm gereicht, was der Schiffbrüchige 
mit dem Rettungsjeil, Das ihm zuacworfen wird? Weiß man auf 
diefe Fragen Beicheid zu thun, wie, Daß man Damm um Die Antwort 
anf jene noch verlegen jein kann? 

„Was Toll ich mit Jeſu machen?“ So Pilatus. Das befragte 
Volk wird ihn nicht ratblos laſſen. Jemehr Daffelbe feine hohe Orig: 
feit feige ſcwwanken, und den Weg der Zugeitändniffe betreten fiebt, 
um deſto mächtiger wächſt ſeine Entſchloſſenheit. „Kreuzige ibn!“ rnft 
es kurz und bündig. Der Procurator, außer ſich vor Beſtürzung, Das 
Kartenhaus feiner vermeintlich Te klugen Berechnung plötzlich fo vor 
fich zuſammenſtürzen zu ſehen, kommt noch einmal mit Der matten 
Frage nachgehinkt: „Was bar er Denn Uebels gethan?“ Aber 
das Volf, den elenden Richter kaum mehr einer Antwort würdigend, 
wiederholt troßiger nur noch fein: „Kreuzige ihn, kreuzige ihn!“ Die 
zunehmende Schwäche und Unentſchloſſenheit des Landpflegers mußte 
ja die Menge glauben machen, daß auch er felbft es nicht eben für 


Darabhas, 479 


eine himmelfchreiende Unbilde erachte, daß Chriftus gefreuzigt werde. — 
Pilatus macht Miene, weiter zu reden, aber jebt ift e8 das Boll, das 
zu gebieten hat. Dem Römer wird das Wort verfagt. Wüdes Gefchrei 
übertönt feine Stimme. Trotz der äußerften Kraftanftrengung dringt 
er mit feiner Rede nicht mehr durch. Da nimmt der gänzlich erlie- 
gende, ohnmächtige Mann feine Zuflucht zu einem fymbolifchen Akte. 
Er fordert ein Gefäß mit Waffer, wäfcht, als man's ihm dargereicht, 
Angefihts des ganzen Volkes ſich Die Hände, und ruft, fo Imt er 
vermag, in die wogende Menge hinein: „Sch bin unfhuldig an 
dem Blute diefes Geredhten. Sehet ihr zu!“ Ein ergreifender 
Auftritt! Diefes erneuerte Nichterzeugniß für die Unſträflichkeit un- 
ſers großen Hohenpriefter8 wollen wir uns gern gefallen laſſen. Das 
angelegentliche Begehren und ernite Ringen des Landpflegers, von 
dem Frevel der Verurtheilung des Gerechten fich loszuſagen, kann 
nur glaubensftärfend auf uns wirken. Tief erfchätternd aber wirkt 
auf uns der Anbli des armen bedrängten Mannes, wie er fich, jetzt 
jelbft der Gerichtete, unter den Geißelichlägen feines Gewiſſens win; 
Det, und erfolglos bemüht ift, die Blutflecken, welche er, wie er auch 
gegen deren Anerkennung fich firäubt, an feinen eignen Händen le 
ben flieht, hinweg zu Löfhen. * „Sch bin unfhuldig!* ruft er. 
Ah, was frommt ihm dieſe Betheuerung? Der Richter in feiner 
Bruft befiegelt ihm dieſelbe nicht; und thäte er's, ſo gehen ja die 
Akten des Prozefjed noch an eine höhere Inſtanz; und hier würde 
der Urtheilsſpruch ganz anders lauten. Er wäfcht fi die Hände, 
D, wozu diefe Geremonie? In welchen Erdenquellen flöffe das Waſſer, 
Das vun Mafeln, wie die, mit denen er behaftet ift, zu fäubern ver 
möchte? Zreilih, ein Waſſer hätte Die erwünfchte Wirkung bier ge 
than; aber Dies Waſſer kennt Pilatus nicht. O, hätte er doch das: 
„Sehet ihr zu,” welches er feiner Bezeugung anhängt, ftatt an Die 
Juden, als ein „Siehe du zu!” an ſich felbft gerichtet. Hätte er 
ftatt jeine Unſchuld, Doch lieber feine Schuld bezeugt, und ftatt zu 
dem ohnmächtigen WBaflerbade, zu dem Blute des Verſöhners feine 
Zuflucht genommen! Fürwahr, in dieſem Zalle wäre ihm für Zeit 
und Ewigkeit geholfen und feinen Namen nicht, wie jegt, im chrift: 
lichen Glaubensbekennmiſſe blos, jondern auch in der Bürgerlifte des 
Reiches Chriſti feine Stelle gefichert geweien. Aber Pilatus will fi 
in elendem Bettelftolze nicht für gefchlagen erkennen, obwol einem 
geſchlageneren Manne, als er war, Belt und Hölle nie triumphirend 


ash Des Heilige. 


den Fuß auf Den Maden icgıen. Aber io it der Menſch von Rau 
beſchaffen, Daß er iih cher in den Stricken der wahnfinnigften Selb: 
belũgung dem Teufel überliefert, als Daß er zu ſeinem Heile der Wabr 
beit, die ibn Demütbigt, die Ebre geben ſollte. 

„Zeber ibr zu!“ ruft Pilanıs, den ganzen Zrevel auf Die Hänpte 
der Juden ichleudernd, und giebt Damit, freilich nidht ohne Zulaffg 
des Gorted, Derien die Rache it, den Prieitern und Schriftgelehrte 
in geiteigerter Schauerlichfeir das: „Ta ſiehe du zu!“ zurüd, we 
mit Diele einit voll grauſamer ſchonungsloſer Kälte Den verzweifelnde 
Judas von fich gewieſen hatten. Sie empfinden auch Den Stade 
jenes Zurufs wobl; wiñſen aber ihre Verlegenheit und Beſchämmz 
hinter einem gräßlichen Läſtererausbruch zu veriteden. „Sein Bint,’ 
ichreien fie in ſataniſchem Trotze, und Das ganze Volk ftimmt dark 
ein, „Eomme über uns und uniere Kinder!" Schrecklich! Gau 
grauenbafterer Ruf, eine würtere Zelbilverfluhung ift jo lange de 
Welt ſteht auf Erden nicht vernonmmen worden. Aber laujchet! Tiünt 
euch nicht, wie Donner ichalle eine Stimme vom Stuble der Majeſtä 
berab, und rufe: „Es Tell euch werden, was ihr begehrt! Ya, ja 
Sein Blur komme über euch?" Und ach! überblidt nur die Geſchichte 
Jiraels von dem Momente an, da jene unglüdielige Gerausforderumg 
an Ten, der fich nicht ſpotten Läffer, erging, bis zu Diefer Stumde, sb 
fie es euch nicht beitegelt, Daß ihr recht gehöret habt? Wie kam 
das Alut Des Gerechten über die Meuterer, da unter den Brandfadel 
der Römer Das itelze Jeruſalem zum Schutt und Aſchenhaufen war, 
und kaum ſo viel Holz gerälle und berbeigeichaftt werden konnte, ald 
binreichte, um Kreuze für Die Kinder Abrabams Daraus zu zimmem! 
Wie fam es tiber fie, Da ſie, Die Mörder des Zricdensfürten, wie 
unnütze Spreu in Die vier Winde binans gemworfelt, und verurtbeit 
wurden, beimarblos fortan, ein Spott aller Völker, in unwirthbaret 
Fremde umber zu ſchweifen! Wie kam es über fie, Da fie, ein Fegopfer 
der ganzen Welt, und als ob fie nicht wertb wären, Daß Die Erde 
fie trüge, zu Tauſenden, ja zu Hunderttaufenden unter beidnifchen, 
muhamedaniſchen, und leider! auch chriſtlichen Schwertern und Dol—⸗ 
chen jümmerlich verbluteten! And wenn wir fie heute anſehn, mie 
fie noch immer, ein geächtetes Volk, nach Hoſeas Weillagung „ohne 
König, ohne Füriten, ohne Opfer, ohne Säule, ohne Bruftfleid ımd 
ohne Theraphim“ einhergehn, its dann nicht, ale läſen wir als 
Urfache ihres Erulanten-Janmers an ihren Stirnen die Worte: „Sein 


Barabbnd. 481 


Blut komme über uns und unfere Kinder!" Aber Gottes Gnade ift 
groß. Er hat noch Gedanken des Friedens über Das, wie immer 
auch entartete, fo Doch noch nicht aufgegebene alte Bundesvoll. Er wird 
zu feiner Zeit das fehauerliche Fluchwort deffelben als Gebet vor fi 
gelten, und das Blut feines Sohnes, wie ed unzählige Einzelne fchon 
erfuhren, über das ganze Ifrael zur Berföhnung fommen laffen. 
Der Prophet Hofen läßt feinem nur in zu furchtbarer Weife wahr 
gewordenen Trohmworte die fröhliche DVerheißung folgen: „Darnach 
werden ſich die Kinder Sfrael befehren und den Herrn ihren Gott, 
und ihren König David fuchen;" und Saharja eröffnet und gar 
die Ausficht auf eine Zeit, „Da zehn Männer aus allerlei Sprachen 
der Heiden einen jüdifchen Mann bei dem Zipfel 'ergreifen und ſa⸗ 
gen werden: Wir wollen mit euch gehn, denn wir hören, daß Gott 
mit euch iſt.“ Der Herr felbit ruft in bedeutfamfter Weife den Zus 
den zu: „Ihr werdet mich hinfort nicht fehen, bis ihr (er winkt alfo 
auf einen Schlußtermin ihres Elends bin) fprechen werdet: Gelobet 
fei, der da kommt im Namen des Herm!” Und was bezeugt Paulus 
Röm. 11? Gott”, fpricht er, „kann die abgebrochenen Zweige wohl 
wieder einpfropfen; denn feine Gaben und Berufungen mögen Ihn 
nicht gereuen.“ — 

Das Volf hat mit Dämonifcher Entfchiedenheit feine Willensmeinung 
erklärt, und mit einer Blasphemie, wie eine ärgere die Welt kaum 
je vernommen, fein Votum beftegelt. Solchem entfchloffenen Auftreten 
ift der Procurator nicht mehr gewachlen. Er flieht ſich der letzten 
Fetzen feiner moralifchen Rüftung beraubt, und zur fchmählichiten Waf- 
fenftredung und Vebergabe fi gezwungen. Wie Iefen wir? „Da 
gedachte Pilatus dem Volke genug zu thun, und urtheilete, 
daß ihre Bitte gefhähe, und gab ihnen Barabbam los, 
der um Aufruhrs und Mordes willen war in’s Gefängniß 
geworfen, um welchen fie baten; Jeſum aber übergab er 
ihrem Willen, daß er gegeißelt würde.” — Dies alfo Die 
Frucht aller der an den Römer ergangenen ernften und kräftigen Mah- 
nungen! So enticheidende Eindrüde von Jeſu fittlicher Reinheit und 
Unfchuld waren ihm geworden; fo gewaltige Warnungen feines jelbft 
durh Stimmen, wie Geifterftimmen, gewedten Gewiſſens hatte er 
gehört; und dennoch diefe fehimpfliche Niederlage, dieſer feige Rückzug, 
Diefe ſchmachvolle Beugung unter den Willen des großen Haufens! O, 
was ift der Menſch bei aller Güte feines Empfindens und Wollens, 

31 


42 Das Heilige. 


je lange er in feınen eignen Kräften ſtebt, und nice mit jeimem gamen 
Vertrauen an Gott und deren Gnade fich ergeben bat! Der Herr irrt: 
„Meine Gnade it in den Schwachen mächtig,” ımd der Aroftel: „Ben 
swb ichmach kin, dann bin ich tarf,“ und ein erleudbseter Dichter 

Sage son hir fell Dich loß, 

Und la} dich in Gou erfinden. 

Rupi da ia ter Grade Schoch, 

Birt da Alles iderwinden- 

2. 

Barabbas ift frei, ob es ihm gleich Telbii noch unbewußt if, wei 
Draußen (Snticheidendes für ibn fi zugetragen babe, und weich cn 
kärtliches Loos ihm gefallen iei. Niederaeichlagen, ja am feiner Ret 
tuna verzweifelnd, ñitzt er in einen dumpfen Kerkerloch Dabin, mi 
wähnt in jedem Geräuſch, Tas ven tem zu ibm berüber dringt, ie 
Tritte Des Nachrichters zu vernehmen, der ibn zum Dutgerüfte akzı 
führen fomme. Endlich bört er in der That ganz Deutlich, wie die 
ſchweren Riegel von Der Thür feines Zwingers bimreg aeichebe 
werden. Knarrend ofmer fi die eingeroſtete Eiſenpforte; aber — 
darf er feinen Augen men? Welche Grideinung! Statt des a: 
warteten Henfers ftürst ein obrigkeitlicher Bere mit freudeitrabfenden 
Antlig zu ibm berein, und brinat ihm die überrafchende, ja fat mr 
glaublibe Runde: „Heil dir Barabbas! Tu bil frei, du bit ame: 
tet!“ Und indem er cä daherruft, beginnt er auch ſchon, Dem fan 
nenden Telinguenten die Kerten zu löſen, und ermuntert ibn, daß a 
ſich erhebe und den Kerfer verlafte. Ihr könnt end voritellen, daj 
dem Geiangenen fange wie einem Träumenden zu Muthe wur. € 
mochte denken, man made fich nur einen araufamen Scherz mit ibm: 
oder beabfichtige ihn anf Augenblicke friiche Luft ſchöpfen zu laſſen. 
um ihn Damm seinem ſchrecklichen Mauerverließe wieder zu übergeben 
Aber der Bote wiederbeft mit verſtärktem Nachdruck Teine Verfiche 
rung: „Du biſt erlöit:“ und eröffnet ihm Dunn, was feine Freiwer 
dung veruriacht babe. Da crfübrt Denn Barabbas, daß Dis Todes: 
urtbeil in der That Mir immer von feinem Haupte hinweg Tei, un 
er mit Gericht, Richtern und Schergen nichts mehr zu ſchaffen babe. 
Keine Anklage, vernimme er, werde mehr gegen ihn angenommen: 
vielmehr sei er in den vollen Beñtz aller bürgerliben Rechte um 
(Ehren wieder eingelegt, und itebe fo, als habe er von allen jeinen 
Verbrechen nie eins begangen. Ter Grund dieſer glüdlihen Wer 


- Barabbat. «8 


dung feiner Zage aber liege einzig in dem Umſtande, daß ein Schuld- 
(pfer mit ihm gewerhfelt, und ſtatt feiner den Weg zum Kreuze an⸗ 
getreten habe, Das Volk habe fich bei der Ofterwahl für eines Ge⸗ 
rechten Zod, dagegen für feine, des Rebellen, Entlaffung entfchieden. 

Diefes Alles wird dem Barabbas angefagt. In dem Herolde 
aber, der es ihm eröfmet, ſteht das Bild eines wahren Evange- 
liften vor euch. Ja wiſſet es, ihr geiftlih Armen, ihr unter der 
Laft eurer Uebertretungen gebeugten und gnadenhungrigen Sünder, 
daB wir euch eine ähnliche Zeitung, wie Barabbas fie überkam, zu 
überbringen haben; nur eine größere, herrlichere und ungleich feligere 
noch, als jene, Auch wir find nicht befugt, Diefelbe euch nur irgend- 
wie vorzuenthalten, oder zu verfümmern. Nachdem Ehriftus den gro- 
Ben geheimnißvollen Tauſch mit euch eingegangen ift, find wir von 
Bott beauftragt, euch mit Haren Worten fund zu thun, daß von dem 
Augenblide an, da der Heilige an eure Stelle trat, ihr in die Sei— 
nige getreten, und in alle Rechte dieſes Lieblinge Gottes eingefeßt 
worden feid. Ihr feid nun gerecht und wohlgefällig vor Gott, wie 
Er. „Nichts VBerdammliches” iſt mehr an euch; fein Bann, fein Ur⸗ 
theil laftet mehr auf euerem Haupte. Keine Sünde wird euch mehr 
vorgerückt, feine Schuld mehr angeredjnet, feiner Anklage wider euch 
mehr Gehör gegeben. „Ihr feid vollendet mit einem Opfer,“ und 
„Bott angenehm gemacht in dem Geliebten." Diefes thun wir euch 
fund; doch nicht wir, fondern es ſagt's euch in umzweideutigen Lauten 
ein untrügliches Gotteswort. Und unter dieſes Wort, wir fordern 
ed im Namen Gottes, follt ihr euch beugen, und jollt Frieden haben, 
und euch freuen zu Ehrifti Ehren! 

Wie verhält fi) Barabbas, nachdem er die fröhliche Botſchaft 
überfonmen hat? Die Schrift meldet uns davon nichts; aber wir 
mögen's und wohl denken. Stellt eu) vor, Burabbas hätte nun bei 
fi geiproben: „Nein, Das kann nicht möglich fein, daß Soldhes 
einem Miffethäter, wie ich bin, widerfahre,” und hätte fich dawider 
gefträubt, Daß man ihm die Ketten Iöfe: mit welchem Namen wiirde 
ſolch' Benehmen gu bezeichnen gewefen fein? Thorheit würdet ihr 
es nennen, und ihr hättet Necht. Aber ich beforge, ihr ſchlagt euch 
mit diefem Urtheil felbft in's Angeficht, liebe Seelen; denn in der 
Zhat find wenigftens die meiften unfrer Gläubigen ſolche Thoren. 
Denkt euch, Barabbas hätte die Botfchaft mit Proteft zurückgewieſen, 
und dem Herolde entgegnet: „Was du ſagſt, muß aus der Luft ge- 

31* 


484 Das Heilige. 


griffen, und fann in der Wabrbeit nicht gegründet fein;* was bike 
er Damit getban? Ten Herold, jo wie die Behörde, die ihn ent 
fandte, auf Das ichwerite beleidigt, und fie geradesu zu Lügnern ge 
ftemrelt. In gleichem Falle aber seid ibr, meine “Brüder in dem 
Her, die ibr euch in eurem geſetzlichen Sinne io gegen das Evan 
gelium ven eurer in Ghrüte bereits aeichebenen Vollendung zu flräu- 
ben vrleat. Ibr beleidigt ohne Unterlaß nicht etwa irgend einen 
menschlichen Abgeordneten mur, iondern den beiligen Geift, de 
in der Schrift zu euch redet, die Apoſtel des Herm, die jo ur 
zweideutig von Dieler Vollendung zeugen, Chriſtum felbit, der a 
verfichert, Er habe euch feine Herrlichkeit gegeben; ja, ihr tretet der 
Ehre Des ewigen Gottes zu nabe, als bitte er mr ein Stüdwer 
von Grlöfung, und nit ein Ganzes und Vollkommenes zu Stand 
und Weſen gebracht. — Denkt euch, Barabbas hätte auf die Prolla⸗ 
mation seiner Befreiung erwiedert: „Nein, einſtweilen wenigſtens 
darf ich den Kerker noch nicht verlaften, ſondern will erſt ein andere 
Menic werden, ımd bethätigen, Daß ich mich gebeilert habe;“ mas, 
dünkt euch, würde Die Behörde ihm acantwortet haben? „Wermeintt 
du,“ bätte fie geſprochen, „um deiner telbit willen ſeieſt du freige 
ſprochen? Um dein jelbit willen fümeit du nimmer los. Wenn du 
dich zebnmal befferteit, To hübeſt du deine begangenen Frevel dami 
nicht auf. Vor Dem Gelege blicheit du nach wie vor ein Mörder, 
und des Todes ſchuldig; und machſt du von der Dir Durgehotenen 
freien Begnadigung nicht (Gebrauch, fo wiſſe, daß du auf eine redt: 
fiche Erlöſung Pir ewig vergebens Rechnung macht!“ Nehmt auch 
ihr dieſen Beſcheid, den Die oßrigfeitlihe Behörde ertbeifen würde, 
wohl zu Herzen; Denn er iſt von bobem Gewicht, und zeichnet auch 
euch die Straße, Die ihr zu wandeln habe. — Denkt, Barabbas 
hätte geiwrochen: „Ich will ein Gefangener bleiben, bis ich, der ic 
ein Verderber der menſchlichen Geſellſchaft war, als ein wüßliches 
Glied derielben mich werde erwielen haben.“ Nicht wahr, wohl edel 
würde Dics aeklungen haben, aber würde es, genau befeben, nicht 
eine neue Narrbeit geweien fein? Ohne Zweifel wäre ibm entgeg— 
net worden: „Thörichter Menſch! Damit du Dich der menfchlichen 
Geſellſchaft nützlich erweiſen könneſt, mußt du ja vor Allen erü 
frei geworden fein. Denn wie mollteit du ihr dienen und Nutzen 
fchaffen, To lange du in deinem Kerfer und deinen Banden ſäßeſt?!“ 
— Beherzigt, meine Lieben, uud dieſe Weiſung. Sie trifft gemik 


Barabbaß 485 


jo Manche unter uns, die thörichterweife auch heilig werden wollen, 
bevor fie dem Zrofte der Begnadigung bei fi) Raum gegeben; und 
es bfeibt doch bei dem bekannten Spruche des Pfalmiften: „Wenn 
du mich tröfteft, dann laufe ich den Weg deiner Gebote!“ 

Doch von allen den Gedanken, die wir dem Barabbas eben unters 
legten, ift ihm wohl wirklich nicht ein einziger gekommen, Bielmehr 
zweifle ich nicht, daß er, nachdem die fröhliche Botfchaft an ihn ers 
gangen, derfelben in jeinem Herzen Raum gegeben, und ſich einer 
jubelnden Freude überlaffen habe. Er fehüttelte unverzüglich feine 
Ketten ab, verließ feinen dunfeln Zwinger, vertaufchte feine Delin⸗ 
quententracht mit ehrfamer Gewandung, und machte Gebrauch von 
der ihm angebotenen Freiheit. Er ift in feine Familie zurückgekehrt, 
hat gejauchzt und frohlodt, und nie wieder vergeifen, daß er wunder: 
barerweife Leben, Freiheit und Alles einem geheimnißvollen Manne 
aus Nazareth verdanfe, der an feiner Statt verurtheilt ward, und 
zum Schaffot, zum Fluchholz wandern mußte. | 

Und ihr, Barabbasbrüder unter uns, Verfchmachtende in den fin 
ftern Kerferhöhlen innerer Nengfte, Sorgen und Kiümmerniffe, ges 
het hin, und thuet ein Gleiches! Glaubet der evangelifchen Eroͤff⸗ 
nung, daß auch ihr um Ehrifti willen ewig frei, gerecht und vollen 
det feid. Nehmt feinerlei Anklage, weder des Teufels, noch der Welt, 
noch eures eignen Gewiffend wider euch mehr an; genießet die Frucht 
der Stellvertretung eured Bürgen, habet Frieden, und glaubet dem, 
was jubelnd der erleuchtete Sänger in dem euch wohlbefannten zwar 
fühn Flingenden, aber in der Wahrheit Gottes gegründeten Liederverfe 
ausfpricht: 

Kurz! Mit einer Opfergabe 

Hat dad Lamm fo viel gethan, 

Daß das Bolt von feiner Habe 

Sid vollendet nennen fann. 

Unfere Geredhtigfeiten 

Wachſen nicht mit unf'rer Kraft, 

Weil ihr Grund vor unfern Zeiten 

In dem Opfer Chriſti haft'. — Amen. — 


rd BOCH —— 


488 Das Heilige. 


eö fo, — was dem großen Bürgen unfere Wiederbringung und Er⸗ 
löſung gefoftet hat. Was begibt fih? Ein Akt, deſſen Anblid 
Nerven von Stahl und Eifen zerreißen könnte, und bei Dem uns ein 
Gefühl befchleicht, als fei es ungeziemend, ja Sünde, ihm mit ww 
verhülltem Auge zuzufchauen. Seht dort den Pfahl, ſchwarz von 
Mörder: und Rebellenblut. Die Halseifen, die daran befeftigt find, 
fowie die Stride, die in eifernen Ringen an ihm herunter bangen, 
bezeichnen zur Genüge feine gräßliche Beſtimmung. Beſchaut euch 
die rohen, mwüften Gefellen, die wie blutdürftige Hyänen in Mes 
fchengeftaft, gefchäftig ihn umgeben, Bemerft die thierifche Gemein 
heit in ihren Angefichtern, und in ihren Zäuften Die fürchterlichen 
Snftrumente. Geißeln finds mit Hunderten von ledernen Riemen, 
deren jeder einzelne an feiner Spige mit einem angelartigen Inöcher 
nen Hafen oder einem feharffantigen Würfel bewaffnet iſt. „Aber 
dieſes Foltergeräthe doch nicht für den Herrn?“ ruft ihr erfchroden. 
Ya, Freunde, für feinen Anderen, als für ihn, den Augapfel des 
lebendigen Gottes! Man follte freilich denken, daß es bis zu fol: 
her Erniedrigung weder mit ihm kommen fönne, noch Dürfe; for 
dern daß der ganze Himmel hindernd dazwifchen treten müffe, oder 
die Welt Darüber zu Grunde gehen werde. Aber es kommt Dazm, 
und weder legt der Himmel Proteft dawider ein, noch jinkt Die Welt 
darım in Trümmer, — Seht, ſeht, die Execution nimmt ihren Aus 
fang. Großer Gott! welch' ein Schaufpiel! Wie eine Motte von 
Teufeln fallen die Henker über den Heiligen her, reißen Die Kleider 
ihm vom Leibe, binden ihm die Hände, die je und jenur zum Wohl 
thun fi ausgeftredt, knebeln fie ihm auf dem Rüden zufammen, prei 
jen fein boldfeliges Angeficht feit gegen den Schandpfahl, und nad 
dem fie ihn dergeftalt mit Stricken umwunden haben, daß er fich nicht 
mehr regen noch bewegen kann, geben fie an ihre grauenhafte Ar: 
beit. O, muthet mir's nicht zu, Daß ich, was jet ſich ereignet, his 
in's Einzelne euch vor Augen male. Zu entfeglich ift der Vorgang. 
Meine ganze Seele erbebt und zittert. Verlangt nicht, weder, daß 
ih die Streiche euch vorzähle, die es jegt auf die heiligen Glieder 
Immanuels regnet, noch die Gunlen euch fchildere, die, mit jedem 
Schlage wachjend, in andern Küllen dieſer Art fchon hinreichend waren, 
die unglücklichen Sträflinge noch vor der förmlichen Hinrichtung, der 
Diefe Geißelung voranzugehen pflegte, zu Tode zu bringen, oder doch 
Dad Gehirn ihnen zu verwirten. Es genüge euch, zu wiffen, daß 


N 


Die Geißelnng 489 


die fchredlichen Peitſchen, in der erften Viertelftunde wenigftens, nicht 
wieder zur Ruhe kamen. Schon fließt des Gerechten Blut in Strö- 
men. Was thut's? Es wird ohne Erbarmen fortgefehlagen. Schon 
ermüden die Arme der geißelnden Wütheriche. Was hats zu bedeu- 
ten? Neue PBeiniger Iöfen die Ermatteten ab. Es ift fchon fein 
Nerv mehr an dem göttlichen Dulder, der nicht in namenlofen Weh 
und Schmerze zudte. Aber daß alfo ihm gefchehe, darauf iſt's ja 
eben abgefehen. In die erite Wunde wird eine zweite, eine Dritte: 
eingegeißelt; fajt bis in's Mark dringen die zerfleifchenden Ruthen⸗ 
fpigen. Aber fo will man es gerade, fo und nicht anders. Stein 
Fleck foll an dem heiligen Leibe heil und unverwundet bleiben. Je 
der neue Blutstropfen, der den aufgeriffenen Adern entquillt, fällt 
wie ein Tropfen nährenden Dels, nicht in das Feuer des Mitleids, 
Das dieſe Menfchen nicht kennen, fondern in das ihrer teuflifchen 
Wuth und ihres thierifchen Blutdurftes; und was fie zu Anfang noch 
mit einer Art von Feterlichkeit und einem gewiſſen Ernfte verrichteten, 
verrichten fie im Fortgange, nachdem fie den lebten Reit von Menſch⸗ 
lichkeit in fich erftidt, wie ein luftiges Spiel, mit jubelnder Schas 
denfreude. Und fein Donner aus der Höhe erfchlägt die verruchten 
Buben. Kein Abgrund thut fi) unter diefer Korahrotte auf, fie zu 
verfchlingen. Fürwahr! entweder muß fein Gott, kein Rächer der 
Unfhuld im Himmel wohnen, oder — (wie oft ſchon fahen wir zu 
diefer Alternative uns gedrängt!) — mit der Paſſion unfres Herrn 
hat es eine ganz außerordentliche, tief geheimnißvolle Bewandtniß! 
Nachdem der erite Schauerakt vollzogen ift, folgt ihn ohne Verzug 
ein zweiter, der jenen faft an Schreckniſſen noch überbietet. Man bindet 
den von Todespein durchzuckten Dulder von der biluttriefenden Säule 
wieder 108; aber nur, um ihn in eine neue Marterglut hinabzutau- 
chen. Die materiellen Ruthen haben ihre Dienfte gethan; jept werden 
aufs neue die geiftigen des bitterften und ausgefuchteften Spottes 
wider ihn in Bewegung gefeßt. Gegen fein Königthum richtet fich 
jegt der Hohn, wie bei einer früheren Mißhandlung gegen feine Pro; 
phetenwürde. Ein abgetragener Purpurmantel, einjt die Bekleidung 
eines römifchen Cohortenführers, wird herbeigebracht. Diefen wirft 
man ihm über den von taufend Wunden durchfurdhten Rüden, und 
weiß fich vor Freude nicht zu laffen über diefen, wie man meint, fo 
wigigen und finnreihen Einfall, Hierauf bricht man Zweige von ei- 
nem mit langen, fpigigen Nadeln bewehrten Stechdormbufche, und 


490 Das Heilige. 


flicht fie zu einem Kranz zuſammen, den man Ihm als Krone auf 
das heilige Haupt Drüdt. Um aber das Bild des Spottlöniges zu 
vollenden, gibt man ihm als Scepter einen Rohrſtab in die Hand, 
und führt dann, nachdem man ihn alfo ausjtaffirt, unter gellendem 
Gelächter eine farkaftifche Huldigungsfcene vor ihm auf. Die Elen- 
den neigen ſich mit erheuchelter Ehrerbietung vor dem VBermummten, 
beugen ihm ihre Kniee, und fohreien ein um das andere Mal, da: 
‚mit die Poſſe vollfommen fei: „Gegrüßet feift Du, der Ju— 
den König!" Doc lange währt ed nicht, da find fie aud) die 
ſes gräulichen Spiels wieder überdrüffig, und laffen aufs neue den 
Spaß in den furchtbarften Ernft fich verkehren. Mit fatanifcher Frech⸗ 
beit treten fie vor den Verhöhnten hin, grinfen ihn unter den fcheuß- 
lichſten Grimaffen an, fpeien ihm gar ihren Unflath ins Angeſicht; 
und, um das Maß der Schreden voll zu machen, entreißen fie ihm 
hierauf den Steden, den fie ihm in die Hand gelegt, und fchlagen 
ihn damit ein um das andere Mal dergeftalt auf Das dorngekrönte 
Haupt, daß die Stacheln des graufigen Kranzes tief in den Schädel 
dringen, und das Angeficht des Teutfeligen Sünderfreundes über und 
über in hellem Blute ſchwimmt. Großer Gott! welch' ein Auftritt! 
D Schauer ohne Beifpiel, ohne Namen! 
2. 


Brüder! wie bringen wir Ddiefe hiunmelfchreiende Begebenheit mit 
den Walten eines gerechten Gottes in Einklang? Es muß ihr ein 
großes Geheimniß zum Grunde liegen; oder unjer Glaube an eine 
höhere fittlihe Weltordnung hat feine legte Stüße verloren, Und 
freilich trägt der blutige Vorgang ein erbabenes Geheimniß in feinem 
Schooße. Müßt ihr doch felbft ſchon gewittert baben, daß die Bezie— 
hungen jener Scene bis zu den Anfängen der Menfchheitsgefchichte 
zurüdgehn. 3a, ward euch nicht mitunter, als jähet ihr ftatt Dee 
Herrn Jefu den Umater Adam vor euch ftchen, wie er den im Pa— 
radieſe begangenen Frevel büße? Wiſſet aber, daß ihr in den Mo: 
menten, da ſolch' Geſicht an eurem inneren Auge vorüberging, in Der 
That der einzig richfigen Deutung des großen rätbjelbaften Borgangs 
auf der Spur wart. Ja, glaubet es, Daß der Garten Eden und 
der Hofraum des römiſchen Prätoriuns in der Geißelungs- und Dor: 
nenkrönungsfcene näher zufammenrüden, ald man auf den erften Ans 
blid denken follte. Schulden, in Eden gehäuft, werden hier abgetra- 
gen; Sünden, dort begangen, werden bier gebüßt. 


Die Geißelung. 491 


Gedenket an das zurück, mwodurd der Erftling unfres Geſchlechts 
fih und feine Rachlommen in's Verderben flürzte. Er, der fo über- 
fchwänglich reich von Gott gefegnet war, ließ nichts deſtoweniger ſich 
der verbotenen Frucht gelüften, und genoß fi. Er, aufs ſchoͤnſte 
mit feines Gottes Huld geſchmückt, ließ an dieſem Schmud fich nicht 
genägen, fondern ftredte feine Hand nad) einer Krone aus, die ihm 
nicht zukam. Nicht Gottes Diener wollte er mehr fein, fondern ſelbſt 
wie Gott. Nicht gab er fich zufrieden mit dem Herrfcherftabe, der 
ibm ald dem Herrn der Erde und aller irdifchen Greatur verliehen 
war, jondern trachtete gewiffermaßen nad) dem Scepter des Allmäch⸗ 
tigen ſelbſt. Nach Unabhängigkeit von dem Herm im Himmel, nad) 
dem Rechte unbedingter Selbftbeftimmung, ja, nach unbefchränfter 
Sreiheit von jeglichem Gefeße, das er ſich nicht felbft gegeben, ging 
fein keckes Gelüſt. „Selbftändigkeit” hieß die Lofung, die er in 
fein Fähnlein fchrieb. Ein König begehrte er zu fein; aber nicht, 
wie er es fein follte, unter Gott, fondern ein König fouverän und 
unabhaͤngig wie Gott felbft, ein Selbftherrfcher, deffen egoiftifchem 
Willen Alles fi) beuge. 

In diefer feiner Herzensrichtung lag aber der entichiedenfte Abfall 
von Gott; und wehe uns, daß diefelbe fi) dem Keime nach wie 
ein gebeimes Gift auf uns Alle übertragen umd vererbt hat! Wer 
will e8 wagen, von ihr fich frei zu fprehen? Wer fühlt nicht in 
fih jene Gefinnung tagtäglih in taufendfültigen Formen ihre Blü- 
then umd Früchte treiben? Streben wir nicht alle von Natur, wie 
ein Heide dies jchon erkannte, „immer nad) dem Verbotenen?“ Iſt's 
nicht ımfer Ich, das wir ſtatt Gottes auf den Thron erheben möch- 
ten, und defien Verherrlichung uns ungleich mehr, als diejenige un- 
feres Schöpfers am Herzen liegt? Begleitet uns nicht auf Schritt 
und Tritt das hochmüthige Gelüfte, als Heine Götter uns jelbft ım- 
ſre Lebensbahnen vorzweichnen,; und bringen wir nicht Alle die em- 
pörerifche Neigung mit in die Welt, das Gefeß Jehovas zu umge: 
ben, und ſtatt feiner willfürlich unfer eigenes uns zu machen? 
D freilich ift dem fol Wir tragen fammt umd fonders die Ebenbild- 
lichkeit unferes gefallenen Urahns in und; und wollen wir hievon 
nit wiſſen, fo beurkunden wir ja Dadurch eben nur wieder den und 
angeſtammten Hochmuth, und Die innere Berfinfterung, der wir ver- 
jallen And. | 

Gezt wir win, was nad euerm lictheile dem Adam für fein lü⸗ 


492 Das Heilige. 


ſternes Auslangen nach der verbotenen Frucht und für feinen frevel- 
haften Eingriff in Gottes Recht gebührte? „Mindeftens,“ Denkt ihr, 
„Die Geißel, ftatt finnfichen Wohlbehagens, eine Dornenfrone, ftatt 
des begehrten Diadems, und ftatt des erfehnten Purpurs, ein Spott: 
gewand!” — Ihr habt recht gerichtet! Schaut num nad) dem Hof 
raum des römischen Palaftes, und überzeugt euch, Daß Diefes Alles, 
deſſen ihr ihn werth erachtet, dort wirklich ihm zu Theil wird. „Ihm?“ 
fragt ihr ſtutzend. „Wem doch? — Unferm eltervater Adam?" — 
Keinem Anden, als diefem, und in ihm uns, feinem Samen. 
Ja, bier fchaut ihr den vermeflenen Lüſtling, den ftrarbaren Inſur⸗ 
genten und Kronräuber des Paradiefes. Nur begegnet er euch bier 
nicht perfönlich, aber vertreten durch den, der als „anderer 
Adam“ die Schuld des erften Adams auf fih nahm. Der haftet, 
der büßt hier für legteren. — Seht, Died der geheimnißvolle Kem 
jenes blutigen Auftritts. Hinweg darım niit allem falfhen Empfin- 
dein! Hinweg mit der einfeitigen und eigenliebigen Entrüftung wider 
die rafenden Folterfnechte! Abgeſehen noch davon, daß wir Dem in 
nerften Wefensgrunde nach von Natur nichts beffer find, als fie, find 
fie unbemußt nur Werkzeuge in der Hand des vergeltenden Gottes. 
Was Ehrifto widerfährt, widerfährt uns in ihm, Die er vertritt. Auf 
unfern alten Menfchen, den Lüftling, den Fleiſchesknecht, den hoch⸗ 
müthigen Mebellen wider Gott, fallen die Streiche, Die jener leidet. 
Wir empfangen bier, was unfre Thaten werth find; und nun fagt, 
ob ihm zu viel gefhieht? O, es verpaare fi in uns mit dem 
Schauder, der beim Anblick des Marterlammes uns ergreift, zugleich) 
das gruͤndlichſte Selbitgericht, die tiefite Anbetung der unausforfchlichen 
Weisheit und Erbarmung Gottes, und eine jauchzende Freude über 
die herrliche Bollführung feines Gnadenraths! In Jeſu Wunden 
brennt unfere Hölle aus; auf Jeſu Seele verlodert unfer Fluch; im 
Blute Jeſu verlöfchen unfre Schulden. Das Schwert des heiligen 
Gottes: Zorned mußte über uns geſchwungen werden; und ift die 
Schrift nicht eine große Lüge, und die Drohung des Gefeßes nicht 
ein leered Scyein- und Spielwerf nur, und Gottes Gerechtigkeit fein 
Wahn, und kein Hirngefpinnft feine Wahrheit: dann ift nichts fo aus- 
gemacht, als daß von allen den Millionen fündiger und todesfchuldi- 
ger Menfchen, die je die Erde beträten, feiner, auch nicht ein einziger, 
jenem Schwerte entronnen wäre, wenn der Sohn Gottes nicht ges 


ſprochen hätte: „Das Schwert treffe mich! Ich zahle für Die Schulds 


Die Geißelung. 498 
ner!" Er Sprach aber fo. Da donnerte e8 über ihm in den Wolfen, 
da brandete in hohen Wogen das Angftmeer zu ihm empor, da goß 
die Hölle al! ihre FKoltern und Qualen über ihn aus, — und der 
Himmel — regte ſich nicht, fondern ſchwieg. Was war diefes Alles? 
Nichts, als das uns Sündern zugedachte Loos. Seitdem aber jenes 
ſich zugetragen, find die Kreuze, die uns errichtet waren, gefällt, Die 
Pranger, die uns forderten, zurüdgenommen, die Geſchoſſe, die wir 
auf und gerichtet fahen, demontirt; und aus der Königsburg des Herrn 
Zebaoth grüßt uns arme Erdenwaller die weiße Friedensfahne, 

Ja, Freunde, die Sache verhält ſich wirklich fo, wie fie ein alter 
Kirchenlehrer finnig uns befchreibt. Adam war ein König, berrlich 
geihmüdt, und auserfehen, daß er herrſche. Die Sünde aber ent 
thronte den Hochgeftellten, und brachte ihn um Purpur, Diadem und 
Scepter. Nachdem ihm aber über das, was er eingebüßt, Die Augen 
aufgegangen waren, und als er nun den fuchenden Blid zur Erde 
wandte, ob er das DBerlorne wiederfände, Da flarrte, wo die Krone 
ihm vom Haupte ſank, wildes Dorngeftrüppe ihm entgegen; das 
Scepter hatte fi, gleichfam den gefallenen Könige zum Hohn, in ein 
morfched Rohr für ihn verwandelt, und ftatt des Herrichermantels 
hub die getäufchte Hand ein Spottgewand vom Staub der Erde auf. 
Zrauernd fenfte der arme Betrogene fein Haupt. Da rief eine Stim- 
me: „Schaue auf!” Und wie er emporfab, fiehe, welche Erfchei- 
nung ftellte fi) da dem Ueberrafchten dar! Bor ihm fland ein heb- 
rer, geheimnißvoller Mann, der hatte jene ftechenden Dornen vom 
Boden aufgerafft und fie als Krone um fein Haupt geflochten, und 
hatte fich felbit in das Kleid des Hohns gehüllt, und den Rohrſtab, 
dies Sinnbild der Ohnmacht, in die eigene Hand genommen. „Wer 
bift du, wunderbares Weſen?“ fragte ftußend der Ahnherr des menfch- 
lichen Gefchlechts, und erhielt den herzentzüdenden Befcheid: „Ich 
bin der König aller Könige, der, mittlerifch eintretend in dein Loos, 
die eingebüßten paradiefifchen Kleinodien dir zurückbringt!“ Da beugte 
fih der glücliche Alwater Danfgerührt und ehrfurchtsvoll zum Staube, 
und ahnete nun die Ziefen des einjt nach erfahrener Bekleidung mit 
dem Zelle des Opferthiers vernommenen Jchovahwortes: „Adam it 
geworden wie unjer Einer!“ 

Ein Gleichniß hab’ ich euch erzählt; aber ein foldhes, das auf ge- 
fchichtlichem Grunde ruht. Denn in der That hat der große Taufch, 
den Chriftus mit uns eingegangen, der Anwartichaft und dem Rechte 


494 Dad Heilige. 


nach ums in den Vollbeſitz der paradieſiſchen Herrlichkeit wieder ein: 
geſetzt. Und ich fage euch, daß wir das Maß der und zuftehenden 
Befugniffe mit Nichten überfchreiten, wen wir Die trußig freudigen 
Forte des chriftlichen Sängers zu den unfern machen: 

Chrifti Schmach ward meine Ehr’, 

Chriſti Roth mein Reigen; 

Was doch kann mich fhreden mehr, 

Bin ih Chriſti eigen? 


Fluch? — Mein Fluch hat ihn erwärgt! 
od? — Er droht vergebens ! 

Chriſti Dornenfranz verbürgt 

Mir den Kranz des Lebend. — Auen. 


—ao 


XLI. 


Ecce homo! 


nm nn ı 5 


Ihr kennt das Hohelied. Als den feligen Traum einer in Gott 
lebenden Seele von den Tagen des neuen Teftamentes möchte ich e6 
bezeichnen. Wie aus zartem Duft gewoben gehen feine Bilder an 
uns vorüber. Geifterartig tauchen feine Geftalten vor uns auf, und 
ebenso verſchwimmen und verfchmeben fie auch wieder. Aber je fließen: 
der überall die Umriffe find, um fo größer ift der Reichtbum von Zu: 
ftänden und Scenen, den fie wiederfpiegein. Das Hohelied enthält 
die hingehauchten Farbenſkizzen aller Verhältniſſe der inneren Xebensge: 
meinfchaft mit dem Herrn, und zualeih eine Fülle leifer propbetifcher 
Hinüberdeutungen in die Wunderwelt der evangelifchen Geſchichte. 

Vernehmt im „Lied der Lieder” z. B. nur das Wort Cap. S, 11. 
Es ruft bier eine Stimme: „Gehet heraus, und ſchauet an, 
ihr Töchter Zion, den König Salomon in Der Krone, da 
mit ihn feine Mutter gefrönet hat am Tage feiner Hochzeit, 
und am Zage der Freude feines Herzens!” An was gemahnt 
und Diefer geheimnißvolle Zuruf? Iſt's nicht, als entruͤcke er ung 
im Geifte mit magifcher Gewalt über ein ganzes Yahrtaufend hinweg, 
und ftelle und vor die Richtbühne Gabbatha zu Serufalen, wo der 


Bece homo. 495 


wahre Salomo, der Friedefürft vom Himmel, Jeſus Ehriftus, uns ent- 
gegentritt? Und wie begegnet Er uns? Geltönt; aber mit welcher 
fhauerlihen Krone? Mit ftehenden Domen umwand man feine hei⸗ 
fige Stirn. Und wer beging an ihm diefen namenlofen Zrevel? Es 
frönte Ihn feine Mutter”, die Menfchheit, die ihn dem Fleiſche 
nach gebar, und der er je und je nur Liebe und Leutfeligfeit ent» 
gegentrug. Und fiehe, den Zag jeiner tiefſten Erniedrigung erachtet 
der Gemißhandelte felbft für den „der Freude feines Herzens”, ja, 
für „feinen Hochzeitstag.” Und aus welchem Grunde? Weil er an 
diefem Zage, und noch dazu in jener ſchmachbedeckten Martergeftalt 
grade die Sünderwelt fich zum Eigenthum erfauft, und fo die Braut 
ſich erwirbt, die er in fhöneren Schmud, als man Ihm felbft ihn 
gewoben, zu Eleiden gedenft. „Gehet heraus, und ſchauet ihn an!“ 
ruft uns die prophetifche Stimme zu; und was für einen Ausgang 
fann fie meinen, ald den geiftlichen aus der Zerftreuung zur Samm⸗ 
fung, ans dem Lärm der Welt zur befchaulichen Einkehr, und fon: 
derlih aus dem nichtigen Selbftgerechtigkeitswahne zur Buße umb 
in’8 Armefünderthum? Klinge denn das „Gehet heraus, ihr Töchter 
Zion!” in jenem Sinne heute auch in unferm Innern wieder, Damit 
wir das erhabene Bild verftehen lernen, das uns nicht mehr im duf- 
tigen Bereich prophetifcher Vorahnungen nur, fondern auf dem feften 
Boden der Geſchichte heut begegnet. 


Iohannes 19, 4 - 6° 
Da ging Pilatus wieder hinand, und ſprach zu ihnen: Sehet, ich führe ihn her⸗ 
ans zu euch, daß ihr erfennet, daß ich feine Schuld an ihm finde. Alfo ging Iefus 
beraus, und trug eine Dornenfrone und Burpurfieid. Und er ſprach zn ihnen: Se 
bet, weldy’ ein Menfh! Da ihn die Hohenpriefter nnd die Diener fahen, fchrieen fle 
und ſprachen: Kreuzige, Freuzige ! 


„Sehet, weldh’ ein Menſch!“ Pilatus riefs. Das Echo Diefes 
Ruf's tönt in ungeſchwächter Kraft über Die Erde fort, und deutet 
auf eine Erfcheinung hin, wie eine tragifchere und erhabenere nie 
noch die Weltbühne befchritten hat. „Sehet, welch’ ein Menſch!“ 
D, diefes „Ecce homo!« Welch' einen niemals fi) wieder Tegenden 
Wellenfchlag hat e8 in der menjchlichen Gemüthswelt hervorgernfen! 
Selbft die Herzen der Engel am Throne Gottes brachte es in eine 
fo nie empfundene Wallung, und es bewegt fie heute noch; denn es 


496 Dad Heilige, 


rüdt ihnen vor das Auge der Erinnrung das erfhütterndfte, und 
zugleich großartigfte und bedeutungsvollfte Schaufpiel, das auch ih: 
nen je fich Durgeftellt. Freilich ift, was es entfchleiert, auf der einen 
Seite eine Hölle voll Miffethat und Sünde; aber auf der andern 
ein Himmel voll Xiebe und Erbarmung. Wohlen, folgen wir mit 
unfrer Beſchauung dem „Siehe des Römers, der, wenn irgend: 
wo, fo hier als göttlicher Herold vor uns auftritt! Was nehmen wir 
wahr? Die ewige Gottesfonne tief in Wolfen verhüllt; aber nichts: 
deftoweniger fiegreih die ſchwarze Dede mit ihrem Glanz durch 
brechend. Ja, — wer follte e8 denken? — gerade in der in nichts 
als Niedrigkeit und Schmach hinabgetauchten Geftalt, in welcher der 
Herr aller Herrn uns hier begegnet, erweift er ſich als den Richter, 
den Eroberer, und den Beglüder der Welt. Kommt, wir wer: 
den uns hievon im Berfolge unfrer heutigen Betrachtung näher über: 
zeugen. Der Zröfter aber, der heilige Geift, erleuchte unfer inneres 
Auge, und helfe die Tiefe des „Ecce homo!« uns ergründen. “Der 
Pinfel malt’s, die Dichtung beſingt's; aber nur das zerbrochene Herz 
beutet e8 aus, und findet das Leben auf feinem Grunde, 
1, 

Bor Gabbatha ftehen wir im Geift. Die Richterbühne ift noch leer. 
Die Scene hat fich, wie uns bewußt, für eine Weile in das Innere 
des Hofraums verlegt. Was dort eben Gräßliches ſich ereignet, wiffen 
wir. Die Evangeliften bejchreiben’8 mit bebender Hand. Der Gei- 
ßelung gedenfen jie nur vorübergehend mit einem flüchtigen Worte. 
Wir meinen es wahrzunehmen, wie fie vor Diefem Auftritt ihr Ange: 
fiht mit Händen bededen; aber die Thränen, Die heimlich über ihre 
Wangen gleiten, vermögen fie uns nicht zu verbergen. 

Der mwogenden Menge draußen will ſchon Die Ungeduld fih be 
mächtigen, als plöglich die Pforte des Prätoriums fich wieder aufthut. 
Ein Sturm der Berwundrung, ja der Beſtürzung, gebt braufend durch 
das Voll. Was bat Das zu bedeuten? Schauet aufl Pilatus fommt, 
fihtlih bewegt und ergriffen, dahergefchritten, und es folgt ibn, von 
einem hohnlachenden Schergenfchwarm umringt, — ad, welche Er- 
fheinung! Ihr verbüllt zufammenfchandernd euer Angefiht. Ja, thut 
e8, thut es, und geftattet mir, daß id) mittlerweile mit flüchtigen Wor- 
ten eine Geſchichte euch erzähle. 

Es that fih einmal der Himmel über der Erde auf, und ein Het- 
liger trat in Die Menfchenwelt herein, der einzige, den fie feit dem 


Boce homo. 497 


Fall im Paradiefe gefehn. Ein Herrliher war er fonder Gleichen, 
und kam, um das Traumgeficht des DBaters Jakob von der das Pas 
tadies mit der Erde verfnüpfenden Himmelsleiter wahr zu machen. 
Die Liebe war fein Panter, Erbarmen der Pulsfchlag feines Herzens. 
Drei Jahre wandelte er unter den Sterblihen, Licht fpendend den 
in Finfterniß Zappenden, die Hütten des Elends erfüllend mit Wohl⸗ 
that und Hülfe, die Mühfeligen und Beladenen zu ſich rufend, daß 
er fie erquicde, und mit Verheißungen um VBerheißungen wie mit gol⸗ 
denen Himmelslichtern das Dunkel des Todesthals durchwebend. „Ich 
bin nicht gekommen“, rief er, „daß ich mir dienen laffe, fondern daß 
ih diene, und gebe mein Leben zum Löfegeld für Viele.” Ich ent 
fündige euch,” bezengte er; „ich will euch nicht Waiſen laſſen; ich 
führe euch zum Bater, und erhebe euch zu Miterben meiner Herrlich 
keit.“ Und wie entfprach er feinen Bezeugungen mit der That, wo man 
nur wagte, ein Herz zu ihm zu faffen, und kindlich fih Ihm anver 
traute! O, welch’ ein Gaft auf dem fluchbelafteten Adler diefer Erde! 
Hätten doch ſolchen Befuches halber felbft die Engel am Thron die 
Pilger im Todesthal beneiden mögen. Und die Menfchenkinder? — 
„Ste werden”, denkt ihr, „Ihm jauchzend in die Arme gefallen, in 
Zreudenthränen zerfloffen fein, im Triumph Ihn geleitet und nicht 
gewußt haben, was Alles ſie erfinnen follten, um dem bimmlifchen 
Freunde und Erretter ihren Dank zu bezeugen.” — Freilich follte 
man's vermuthen. „Wie, und es gefchah fo nicht?” — Fremde, hebt 
jegt die Augen empor, und ſchauet nach Gabbatha hinüber. „Mein 
Gott!” ruft ihr erbebend, „wer iſt diefer furchtbar Zugerichtete?“ — 
D Freunde, wer glaubt ihr wohl, daß er fei? Faßt ihn genau in's 
Auge, und fagt, ob die Bosheit ſich ärger hätte auslaffen können, 
als fie e8 an diefem Manne getban hat. Ach, zu einem Fafchingss 
fönige hat fle ihn verlarot, und, als wäre er eines ernften Verfahrens 
gar nicht werth, den Stempel der Lächerlichkeit ihm aufgedrüdt. Schaut 
nur den Spottmantel um feine Schultern, das Hiftrionenfcepter in 
feiner Hand, und auf dem Haupt voll Blut und Wunden Die fchred- 
lihe Dornentrone! — „Aber wer ift er denn, der gräßlich Ents 
ſtellte?“ — Ich denke, ihr werdet ernftlich darnach fehon nicht mehr 
fragen. Die Lammesgeduld und übermenfchliche Ergebung, mit der 
er vor euch fteht, macht Ihn euch zur Genüge fenntlih. Nicht mins 
der verräthb Ihn die Majeftät, die troß aller Erniedrigung, welche 
er erfährt, nad) wie vor über feiner Erfcheinung ausgegoflen ruht, 
32 


500 Das Heilige. 

a für einen Robespierre ſchwärmen, als dab wir ed uns einfallen 
laſſen, mit der Liebe zu Jeſu Ernſt zu machen? Uebergießt man nicht, 
fobald wir hiezu uns anichiden, uns, und in uns den Herm felbit, 
mit Schimpf und Scheltwort? O fürmahr, die Sünden, die dort 
an der biuttriefenden Geftalt des Gemißhandelten Jeſu begangen wers 
den, find fo wenig nur Sünden und Zrevel Einzelner, daß bier 
vielmehr nur die Gefammtfchuld der ganzen Menſchheit offenbar 
wird. Ah, jene entſetzliche Greuelſcene des Hochpflafters hat ja noch 
nicht ausgefpielt. Wenn auch in etwas minder grellen Zügen erneuert 
fie fi) irgendwo noch alle Zage. Das „Ecce homo !« weifet nicht 
rüdwärtd nur; es trifft verdammend auch noch die Gegenwart. 
Wehe! zu einem Gabbatha ward die Belt. Die dorngefrönte Mar: 
tergeitalt auf des Pilatus Richterbühne richtet lautlos ohne Unter: 
ſchied uns Alle! — 

2. 

Doch im Nichten und Verdammen ſchließt fi die ſtumme Thätig: 
feit des göttlichen Dulders dort nicht ab. Nicht befchuldigend nur, 
fondern zugleich Ehrfurcht und Huldigung gebietend tönt das „Ecce 
homo« zu uns herüber. Wie tief er erniedrigt erfcheint, der Herr, 
er bleibt doch ein König. Ya, gerade in jenem blutgeneßten Spott- 
anfzuge vollführt er, — wer follte e8 glauben? — ein rechtes Kö⸗ 
nigswerf, und befteigt darin einen Thron, auf dem ihn bis dahin 
fein Auge noch erblidte. Nicht iſt's der Thron eines Beberrichers 
aller Ereatur; auf Diefen batte ihn der Water längſt erhoben. Ver⸗ 
feht euch nicht au dem fchmachbededten Manne! Ein Binf, auch 
mit dem morfchen Rohre nur, und Legionen von Engeln drängten 
fih zu feiner Vertheidigung herzu, und feine Feinde lägen zum Sche 
mel feiner Züße. Ebenſowenig it's der Thron eines Rächers und 
Richters, zu den er fi bier emporfehwingt. Auch dieſen Hat er 
bereitö eingenommen. Irre fih Niemand; unter feinem Spottgewande 
felbft birgt Er no den Donner und den Bliß; und wie aus dem 
Dornbuſche Jothams einft, führe, wenn er es gewähren ließe, auch 
aus feinem Dornenkranze freffend Feuer, die Widerwärtigen zu ver: 
zehren. — „Warum aber, befäße er bien die Macht, bedient er fich 
derfelben nicht?" Antwort: Weil er unter dem Spottfleide noch 
ein anderes trägt: den Purpur der erbarmenden, nad) der Rettung 
der Berlorenen lechzenden Liebe. Der neue Thron, den Er auf 
Gabbatha befteigt, ift derjenige eines Armenfündertönigs und 


Ecce homo, | 501 


Sriedensfürften Der Thron der Gnade iſts, von welchem 
herab Bergebung ftrömen foll, ftatt Vergeltung, und Verhei— 
Bung verlauten, flatt Geheiß. Zu diefem Throne öffnete ſich 
ihm fein anderer Weg, als derjenige, den wir ihn dort eben wandeln 
fehn. Bevor der Fluch dem Segen, das Nichtichwert der Friedens- 
palme weichen konnte, mußten die Verpflichtungen der Sünder erfüllt, 
ihre Schulden abgetragen, und fo der göttlichen Gerechtigfeit genug 
geichehen fein. In Diefem großen Werke ift aber der göttliche Duf- 
der dort begriffen. Leidend erftreitef er fi eine neue Macht; in 
Schmach getaucht umfleidet er ſich mit einer neuen Herrlichkeit, 
„Sehet, welch ein Menſch!“ Ja, faffet ihn euch wohl in's 
Auge, und fchlagt über dieſes Schaufpiel verwundert die Hände zu- 
fammen! In dem Spottmantel, in dem Er dort vor euch fteht, er: 
ringt Er Siege und Triumphe, die er in dem Prachtgewande feiner 
göttlichen Majeftät nimmer errungen haben würde. Er überwindet 
darin die ewige Gerechtigkeit, indem Er diefelbe nöthigt, ihr Todes- 
urtheil über die Sünder in ein Urtbeil der Gnade zu verwandeln. 
Er überwindet darin Das unmiederruflihe Geſetz, indem Er demfelben 
es ermöglicht, den wider und ausgefprochenen Fluch unbefchadet feiner 
Autorität und Würde zurüd zu nehmen. Er überwindet die Sünde, 
der Er ihre verderbende Macht, den Satan, welchem er im Wege 
Nechtens feine letzten Anfprüche an uns entreißt, und den Tod, den 
er feines Stachels beraubt, und welchem Er die Waffenrüſtung eines 
„Schreckenköniges“ auszieht. Ihm, dem bis zur Unkenntlichkeit 
entftellten Manne, gehört hinfort die Erde um den Zahlpreis feines 
Blutes; und feine in Folge der Sünde durch göttliches Verhängniß 
in die Welt eingedrungene verheerende Gewalt bat mehr einen ge 
gründeten Rechtsanſpruch an fie. Er ftreicht von den Säulen der 
Erde die Wahrzeichen und Wappen aller ufurpatoriihen Mächte weg, 
und erfegt fie durch das Kreuzeszeichen, Die Signatur feiner Friedens: 
herrfchaft. Und Keiner darf fich unterfangen, abwehrend zu Ihm zu 
fprechen: „Was macht du?" Er it vollfommen und unanfechtbar 
in Seinem Rechte. Sein ift die Erde, damit Er Seine Liebe 
auf derfelben walten laffe, nicht Seinen Zorn; und wehn er die fün- 
dige hinfort behandelt, als wäre fie aller Heiligkeit und Zugend voll, 
wer will- fich erfühnen, die Befugniß biezu Ihm abzuftreiten? „Se 
het, wel’ ein Menſch!“ Ja, ein feltfamer Schmud, der Sein 
Haupt umgibt; aber wiffet, daß Er in die ſem Kranze eine Macht 


befkpt und übt, deren Er fich, als Er nur noch Die Ihm von Ewig⸗ 
feit her angeftammte Gottheitsfrone trug, nicht rühmen konnte. In 
letzterer blieb Ihm nur Raum, zu einem Schächer zu ſprechen: 
„Berflucht ſeiſt du;“ im jenem eröffnet Er dem armen Sünder: 
„Heute wirft du mit mir im Paradiefe fein!” In der Himmelskrone 
fonnte er eine Magdalena, einen Zöllner, einen Gichtbruͤchigen nicht 
anders, ald mit einem „Hinmweg von mir!” der Verdammmiß über: 
weifen; in feinem Dornenfhmude ſteht es Ihm zu, diefen Schuld: 
Beladenen ein: „&ehet bin mit Frieden, eure Sünden find euch ver: 
geben!" zuzurufen. Im der eriteren herrihte Er wohl aud, aber 
Aber ein dem lintergang geweihtes, hoffnungslos verlorenes Geſchlecht; 
im Domendiadem beberefcht er eine Welt vol großer, herrlicher Zu- 
kunft. „Sehet welch’ ein Menſch!“ — Ein mürbes Rohr ift 
Sein Regentenftab; aber mit dem Allmachtöfcepter, das Er von An⸗ 
fang führte, verrichtete Er die Wunder nicht, die Er mi dieſem 
Zeichen der Ermiedrigung und Ohnmacht thut. Auf jenes inf 
öffneten ſich freilich für Webertreter die Pforten der Hölle, aber auch 
nur fie; auf den Wink des letzteren thun fich für diefelben, fo eft 
Er will, die Thore des verlorenen Paradiefes wieder auf. Mit jenem 
war Er Herr über die Sterblihen nur als über eine verlorene, zur 
Schlachtbank gezählte Horde; mit dDiefem weidet Er in denfelben 
Geichöpfen nun eine Heerde, Die zu ewiger Seligkeit berufen fl. 
Das Scepter Seiner Majeftät bedrohte das Reich der Finfterniß in 
feinem Anrecht an die gefallene Menschheit nicht, indem die vergeltende 
Gerechtigkeit, welde die Veſte des Thrones Gottes if, Seine 
Macht mit unumftößlihen Schranken umgrenzte; wit dem Scepter 
Seiner Niedrigkeit Dagegen ftürzt Er den Herrfcherfiuhl des Agrunds⸗ 
fürften um, und nimmt ihm Land und Leute, und zwar mit einer Be- 
rechtigung, welche die Hölle felbft in Frage au ftellen und auzufechten 
fi) nicht erkühnt. 

Bermögt ihr in dem &emißhandelten dort nın noch den Groberer 
der Belt zu verfennen? Steht in Ihm nicht wirflih der „Stär- 
tere" wor euch, der dem „Starken“ feinen Raub und Hamifch 
nimmt, und der Zwifchenherrichaft aller uns feindlich entgegenftehenden 
Gewalten ein Ende mat? Wiffet aber, daß Er in demfelben Auf: 
zuge, in weichen Er dort dem Rechtsanſpruche nad -die Weit 
Ah unterwirft, auch der Wirkung nad Ddiefelbe fich fort und fort 
erobert. Richt die Geftalt des „Meifters in Iſrael“ ia, no 


Eooe homo. "%08 


diejenige des Herrlihen von Anfang; fondern die Geftalt des 
göttlichen Dulders, in welcher Ex die Herzen derer fich zuneigt, 
de Er mit Seinem Bilute fi) erfaufte Die erften Huldigungen 
Seiner Kinder nimmt Er in der Regel in Seinem Domenfranz ent- 
gegen. In Seinem Spottmantel, und nicht im Purpur Seiner vor⸗ 
weltlichen Majeftät, fammelt Er fi bis heute den Lohn Seiner 
Schmerzen. Die Söhne der Wüfte bleiben Ihm entfremdet, fo lange 
Er ihnen nur im Gewande des Lehrers, oder mit den Infignien 
ſeines übermenjchlichen Königthums entgegentrit. Sobald Er aber 
por ihnen feine Martergeftalt enthüllt, heben fie zu ftugen an, und 
fühlen wie von wunderbaren, magnetifchen Zügen fi) berührt, Er⸗ 
ſchuͤttert bliden fie dem hehren Manne in's blutige Angeſicht. „Ber 
bift Du?” fragt ihr bewegtes Herz. „Du Mann, fo hart gefchla- 
gen, und doch fo ftill und geduldig, wie heißt dein Name? Warum 
umfängt Dich, von deffen Auge nur Liebe ftrablt, fo bittre, fo namen- 
loſe Roth?" — Sie fragen’s; und wie ihnen von Seinen blutigen 
Lippen die Antwort entgegen tönt: „Für Dich, für dich!” da iſts 
Sein Burpurmantel, deſſen Säume fie zuerft erfaffen, Sein Dor⸗ 
sendiadem, dem fie ihre erften Huldigungen zollen, und Gein 
Rohrſtab, umter welchen fie als unter das Scepter ihres Febr 
gen Herm zu freudigem Gehorjam ihren Naden beugen. Ya, das 
„Bcce bomo« ift immer noch die ftille Macht, die Löwen in Lämmer 
wandelt; der wunderthätige Laut, der fleinerne Herzen fprengt und 
fmelgen macht; der feierlide Glockenhall, der dem Herrn die fchönften 
Triumphe einzuläuten pflegt. Mögen es diefe feine Wunderwirkungen 
auch unter und offenbar werden laſſen, das „Ecce homo I« 
3. 

„Sehet, welch’ ein Menſchl!“ Ja, haltet feſt den Blick auf ihn 
gerichtet. Wie dieſer Menſch der Richter und Eroberer, fo if 
Er auch der Beglüder der Belt. Wir wiſſen wol, daß Er heute 
auf Gabbatha nicht mehr flieht. In einem anderen Gewande, ud 
is einem andern Diadem, als in dem wir Ihn dort erbliden, kat Er 
längft den Thron der Herrlichkeit beftiegen. Aber Sein dorngekroͤntes 
Bildniß ließ Er im Spiegel des Evangeliums uns zurid; und, 9 
Der Wunder, die daſſelbe ſeitdem auf Erden ſchon verrichtet bat, amd, 
wo es der heilige Geiſt beleuchtet, och ſtets verrichtet! Wie in jenem 
fmachbedeckten Schmerzensbilde gerade der Herr vom Hinmel Die 
Melt geretiet bat, fo erzeigt Er fich in demfelben auch immer. neh 


als den Befeliger der Bel. In diefer Martergeitaft tritt Er in 
die Thränenflaufen der unter ihrer Sündenlaft Zerknirſchten; umd wie 
fie beim Klange des „Ecce homol« Ihn gewahren, erleichtert ſich 
ihr Herz: dem „Er trägt ihre Krankheit.“ In diefer Geftalt zeigt 
Er fi den Angefodhtenen im Drange der Berjubung; umd Jhn 
erblicken, der ja den Satan unter ihren Füßen zertreten bat, und ihres 
Sieges zweifellos gewiß fein, it für jie eins. In diefer Geſtalt 
font Er zu den von fchweren Schidjalsichlägen hart Betroffenen; 
und mm, daß fie Seiner anflchtig werden, atbmen fie freier auf, 
md jubeln: „Durch's Kreuz zur Krone!“ In Ddiefer Geſtalt 
naht Er Seinen von der Welt verfannten und mit Spott bedeckten 
Kindern; und wie fie Ihn nur durch's Gitter ſchimmern jehen, find 
fie ſchon wohlgemuth wieder und fprechen trutzig: „Nur ber mit 
Burpur, Rohrftab und Tornenfrone! Wir begehren von euch, feinen 
Widerſachern, keinen andern Schmud, als in welden ihr Ihn 
ſelbſt, unfer glorreiches Haupt, einit gelleidet habt!“ — Schweigend 
tritt Er in diefer Geſtalt vor diejenigen bin, die über den ſchnoͤden 
Undank ımd Die Herzenskälte der Welt fich vertrauern wollen; aber 
wie fchnell verkehrt ſich Angefihts Seiner ihr Gram in tiefe Be 
fhämung über ihr Geizen nad) Menjchenlob und eitler Ehre! Im 
Diefer Geftalt bringt er diejenigen zu feiner Heerde wieder, Die ſich 
aufs neue zu den Träbern der Welt verloden ließen. Sein Auge 
blikt fie unter der Domenkrone ber nur einmal mitleidig umd 
warnend an, und jchon liegen fie in Reue zerfchmelzend wieder zu 
Seinen Füßen. In dieſer Geſtalt erjcheint er taufendmal Seinen 
Kindern, wenn die Nacht des Todes fie zu umgrauen beginnt, umd 
ihre Füße fchon im dunkeln Thale wandeln; und wie ihr brechendes 
Auge Ihn erfchaut, wird ihnen, als füufele himmliſcher Friede fie an 
von feinem Dornenkranze, als wanke vor dem Rohr in Seiner Hand 
überwunden der Schredenskönig mit allen feinen Schauern zurüd, 
und als breite ſich der Purpurmantel des himmlifchen Freundes wie 
ein friedfames Ruhezelt über fie aus. Erheitert blicken fie Ihn an, 
und mit einem: „Gegrüßet feift du, o Friedenskoͤnig!“ jcheiden fie 
fimeonifch von binnen. O, erſcheine Er denn fo eint auch uns, 
wenn unfer Tag ſich neigte, und die fette Nacht daherfällt! Laſſe Er 
and vor uns von jenem feinem PBaffionsbilde die Schleier weichen, 
wenn die ernfte Straße ſich vor uns aufthut, die wir einfam und 
allein zu pügern haben! Wenn unter den ohnmächtigen Thränen 


Ecce homo. 505 


der Unfern einft unfre Pulfe ftoden, und das Dieffeitd auf immer 
für uns untergeht; wenn feine menſchliche Kunft mehr bilft, und 
jelbft der Zroft der menfchlichen Liebe nicht mehr haftet: o, dann 
durchichreite Er in jenem feinem Paffionsaufzuge mit PBurpurmantel 
und Dornenfranz auch unfre Scheide -Einfamkeit; und alles Dunkel, 
das uns umgraut, wird ſich bald himmlifch verklären müffen. Denn 
gerade in diefem Seinem Bilde prägt ſich faßlicher und gewaltiger, 
als in irgend einem andern die Wahrheit aus, daß Zodesurtheil und 
Fluch von unferm Haupte auf das Seinige übergingen, damit uns 
im Schmude Seiner Gerechtigkeit ein freier Zugang zum Throne 
der Gnade werde. Ja, wenn nur Er einft mit uns in der einfamen 
Barke ſitzt, Die über den lebten Jordan und hinübertragen wird; 
wenn dem eriterbenden Blicke unfred brechenden Auges einjt nur Er 
noch unverhüllt und gegenwärtig bleibt; wenn beim Schwinden unfrer 
Sinne nur das Eine uns noch verliehen ift, die blutige Geheimfchrift 
Seiner Marter zu lefen und zu verftehn: was bedürfen wir dann 
weiter, damit unſre Fahrt eine glüdliche, eine friedfame, eine Tieb- 
fiche fei? Darum, wenn heut’ oder morgen auch bei uns Noth an 
Mann gehen wird, jo trage der heilige Geift in unfre Kammer nur 
den Ruf herein: „Sehet, welch’ ein Menſch!“ und fchauen wir 
dabei auf, fo ftehe Er vor unferm Glaubensauge fo, wie Er heute 
auf der Höhe Gabbathas vor uns ſteht. O, wie viel eher faßt ein 
armer Sünder fih ein Herz, den Saum Seines Purpurmantels, als 
den Seines Lichtgewandes zu ergreifen! Und aus dem Dornenkranze 
um. feine Stimm tönt Mofis geheimnißvoller Segensfpruh uns an: 
„Die Gnade deß, der im Dornbuſch wohnete, komme über das Haupt 
Joſephs, und des Nafirs unter feinen Brüdern.‘ 





Daß denn Das „Ecce homo !« nie mehr in unjern Herzen verklinge, 
noch je in der Welt unjrer inneren Anfchauungen die Geftalt erbleiche, 
auf die es hinweiſſt! Diefe Geftalt darf, fo lange wir auf Erden 
wallen, aus unjerm Gefichtsfreife nicht mehr entfchwinden, wenn nicht 
der Friede Gottes, der Muth zum Kampfe wider Sünde und Welt, 
der Troft im Leben und im Sterben ums entichwinden follen. In 
dem apoftolifchen „Nichts wiffen und nichts wiffen wollen, als Chris 
flum, und zwar den Gefreuzigten,“ jtehet die Klugheit der Gerechten. 
An der Gemeinfchaft des fterbenden Mittlers täglich uns felbft und 
der Welt zu flerben, um täglich auch mit Ihm zu dem neuen Leben 





506 . Das Heilige. 


in Gott zu erſtehen, ift unfer Beruf. Laffen wir Denfelben uns ge- 
fallen ; wir haben ja bier „Leine bleibende Stadt." Wie lange wird's 
währen, jo tönt uns abermals ein „Ecce homol« an. Werden wir 
aber dann den Bli erheben, fo fteht ein anderes Bud vor uns ent 
fehleiert, als dasjenige, das wir auf Gabbatha erblidien. Der Eh- 
renkoͤnig hat das Kleid des Hohus gegen den Sternenmantel Der gött- 
fihen Majeftät, den Domenkranz gegen die Krone feiner uranfänglichen 
Herrlichkeit, den Rohrſtab gegen das Scepter der Weltherrfchaft ver: 
taufcht. ALS himmliſches Zriedensfcepter neigt Er letzteres freund- 
lich zu uns nieder, fprechend: „Kommt, und ererbet das Reich;“ umd 
während aus dem Innern der himmlifchen Gotteeftadt das große, 
nimmer endende Hallelujah der Seligen uns entgegenraufcht, geleitet 
6 von der Erde her ein verfchwebender Nachhall des oft von uns 
im Glauben gefungenen Pügerfanges: 

Nnfer Weg gebt nach den Sternen, 

Der mit Kıenzen if befekt. 

Hier muß man fi nicht entfernen, 

IR er gleih mit Dint benekt. 

3u dem Schloß ber Ewigfeit 

Kommt fein Menſch hin fonder Streit; 

Die in Salemd Mauern wohnen, 

Zeigen ihre Dornenfronen. — Amen. — 


—4— 
XLII. 
Der Schluß des Prozeſſes. 


Chriſtus erſchien auf Erden, „Das Geſetz zu erfüllen“ — E 
bezeugt dies ausdrücklich ſelbſt Matth. 5, 17. mit dem Zuſatze: „Denn 
ich fage euch wahrlich: Bis dag Himmel und Erde zergehn, wird nicht 
ergehen der Eleinfte Buchitabe, noch ein Züttel vom Geſetz, Dis daB 
ed alles geſchehe!“ — Das Geſetz war in der Welt, mıd uns 
wars gegeben. Es follte in den Tafeln, in die der Finger Gottes es 
eingegraben, nicht ſchlummern bleiben; fondern von dem falten, ſtum⸗ 
men Steine in Das Herz, Das Thun und Weſen der Menſchheit übers 


Der Schluß des Vrozeſſes 607 


gehen, und in Der Weile in ihr lebendig werden, daß es feinen 
thatfächlihen Ausdrud in ihr fände. Aber ad)! lebendig wurde 
es in und nur und verflagend und verdammend, -Da kam Er, 
der unſere Hoffnung, wie unfre Liebe ift, und nahm wirklid das 
Geſetz alfo in fih auf, daß es mit allen feinen Forderungen und 
Geboten Wahrheit und Leben in ihm ward. Alle erdenkbaren Tu⸗ 
genden ſtrahlen uns im reinften Glanze aus feiner Erfcheinung an. 
Jede feiner Handlungen und Empfindungen entjpricht vollfommen nad) 
Form und Inhalt dem Gefeß; und lebteres wurde bis auf Tüttel und 
Jota dergeftalt in Ihn aufgehoben, daß Er das perfönliche Gefeg 
heißen darf, in welchem das in Buchitaben verfußte ſich verleiblichte 
und Zleifh und Blut anzog. Darım war Er aber auch der, an 
welchem Gott all’ fein Gefallen haben konute, und wirklich hatte, und 
der Die Befähigung beiaß, als „anderer Adam“ für uns, die Sünder, 
vermittelnd und erlöfend einzutreten. — Leuchte uns dieſe Wahrheit 
als geiftliche Fackel auf unferm heutigen Betrachtungsgange! 


Joh. 19, 6° — 16. 

Bilatus fpricht zu ihnen: Nehmet ihr ihn hin, und Freuziget ihn, denn ich finde 
feine Schuld an ihm. Die Juden antworteten: Wir haben ein Geſetz, und nad 
dem Geſetz fol er fterben; denn er bat fich felbft zu Gottes Sohn gemacht. Da 
Pilatus das Wort hörete, fürchtete er fh noch mehr, umd ging wieder hinein in dad 
Rihthaus, und Ipricht zu Jeſu: Bon wannen bit Du? Aber Jeſus gab ihm feine 
Antwort. Da ſprach Pilatus zu ihm: Redeſt du nicht mit mir? Weißt du nicht, 
daß ih Macht habe, dich zu freuzigen, und Macht habe, dich loszugeben? Jeſus 
antwortete: Du hätteft feine Macht über mich, wenn fie dir nicht wäre von Oben 
herab gegeben; darum, der mich Dir überantwortet bat, der bat es größere Sünde, 
Bon dem an trachtete Bilatus, wie er ihn losließe. Die Iuden aber ſchrieen und 
ſprachen: Läfleit du Dielen 108, fo bit du des Kaiſers Freund nicht, denn wer ſich 
zum Könige macht, der iſt wider den Kaifer. Da Pilatus dad Wort hörete, führte 
er Jeſum hinaus, und fegte fih auf den Richtituhl, an der Stätte, Die da heißt 
Hochpflaſter, auf hebräifch aber Gabbatha Es war aber Rüfttag in Oftern, um die 
fechite Stunde. Und er fpricht zu den Juden: Sehet, das ift euer König! Sie 
ſchrieen aber: Weg, weg mit dem, freuzige ihn. Sprit Pilatus zu ihnen: Soll 
ich enern König frenzigen? Die Hobenprieiter autworteten: Wir haben feinen König, 
benn den Kaifer. Da überantwortete cr ihn, daß er gefreuziget würde. 


Das gerichtliche Verfahren wider den Herm der Herrlichkeit eilt 
feinem Ende zu. Die Ereigniffe drängen, ja überftürzen fih. Der 
große, Alles enticheidende Moment it nahe, und die Vorgänge neb- 
wen ia wachſendem Maße unfre Theilnahme in Auſpruch. Was in 


unferm heutigen Paffions - Evangelium vorzugsweiſe unjre Aufmerl- 
famfeit auf ſich ziebt, it ein Dreifaches, und zmar- zunächſt Die Bern: 
funa der Suden auf das Geſetz; ſodann das Zwiegeipräd 
zwiſchen Chriitus und Pilatus: und endlich Die vollendete 
Niederlage des legteren. 

Weihen wir dieien geichichtlichen Zügen einige Augenblide ſimigen 
Ermwägens, und laffe der Herr uns auch heute den verborgenen Schap 
im Ader nicht verfeblen! 

1. 

„Kreuzige!“ — Dies die Antwort des Volks auf das bewegte 
und um Verſchonung für Den Herrn der Herrlichkeit bettelnde „Ecce 
homos des ſchon mehr als halb geichlagenen Richters. Dieſes 
„Kreuzige!? wirft den armen Römer vollends aus feiner leßten ver: 
meintlich fihern Pofition beraus. Da ſteht er, nur ein Gegenfland des 
Mitleids und Bedauerns noch, wehrlos und ratblos, zerrifien in feinem 
Innern, und gepeinigt unter den NRutbenitreichen eines beflern Ichs; 
doch ohne Glauben, wenn er auch vom Aberglauben nicht frei iſt, 
und jo ein Spielball der menjchlihen und dämoniſchen Mächte, Pic 
ihn umwalten. Aufs neue bezeugt er die Unichuld des Berflagten: 
aber jtatt folgerecht jegt dem Prozeſſe mit der Areiiprechung Jeſu ein 
Ende zu machen, wirft er ſich bis zu der feigen Ratbsertheilung am 
die Juden weg, fie möchten den Nazarener, an dem er eine Schuld 
zu entdeden nicht vermöge, immerhin nur nebmen, und ibn obne fein 
richterliches ‘Placet tumultuarifch an Das Kreuz fchlagen. Fürwahr, 
allmälig beginnt fat auch das Mitleid mit dem charafter- und ge 
wifjenslofen Manne in unferm Buſen zu verglimmen, und e8 wandelt 
uns ihm gegenüber die Verfuchung an, unjer Verwerfungsurtbeif über 
das durch des Pilatus Schwäche vollends irregeleitete und in feinem 
Wahn beitärkte Volk zu mildern, und es ganz auf jenen zu übertragen. 
Darf es und noch wundern, daß das Volk nur um jo feiter auftritt, je 
haltloſer es den Richter warfen und weichen jieht? „Wir haben 
ein Geſetz,“ ruft es entichieden und beftimnt, „und nach Dem 
Gejege foll er iterben, denn er bat ſich felbft au Gottes 
Sohn gemadt!* Es genüat dem Volfe nicht, Jeſum nur vom 
Xeben zum Zode zu bringen; fondern, um den Schein der Meuterei 
von fi) zu entfernen, will es zugleich, daß Jeſus in feierlicher Erecu- 
tion und unter allen Formen des öffentlichen Rechts die Welt verlaffe. 

Sehr beachtenswerth erfcheint hier zunächft die Seitens der Juden 


Der Stchluß ded Prozeſſeß 809 


gegen Jeſum erhobene neue Anklage, daß er ſich zu „Gottes Sohn“ 
gemacht habe. Sie erklären hiemit gleichjam zu den Alten, daß Je 
ſus fi in der That diefen hohen Ehrennamen beigelegt habe. Daß 
fie ihm daraus ein todeswürdiges Verbrechen machen, das dient ung 
als Mapftab für den Umfang und die Erhabenheit der Deutung, 
welche fie jener feiner Selbftbezeichnung geben zu müſſen glaubten, 
Wie hätte es ihnen einfallen können, in leßterer irgend etwas Fre⸗ 
velhaftes zu erbliden, wenn fie annehmen zu müffen meinten, Jeſus 
habe ſich in feinem höheren Sinne für einen Gottesfohn erflärt, als 
in welchem, fih alle Menfchen, und namentlich die gefeßestreueren 
und gottesfürchtigeren unter ihnen alfo nennen dürften. Aber e8 war 
ihnen eine ausgemachte Sache, Jeſus habe mit der Gottesfohness 
Signatur ſich über Alles, was Menſch und felbft was Engel heißt, 
hoch hinaus, ja Er habe ſich damit Gott dem Allgenugfamen felbft 
wefentlich gleichitellen wollen. Und hätte der Herr weniger gewollt, 
als dies, jo war es bei diefer Gelegenheit feine heilige Pflicht, die 
Ausfage feiner Verkläger al8 eine Lüge abzuweifen, oder als ein 
arges Mißverjtändniß zu berichtigen. Er verfteht ſich aber weder zu 
dem Einen, noch zu dem Andern, fondern ſchweigt, und drüdt durch 
diefes Schweigen jener als Befchuldigung vorgebrachten Angabe offen- 
bar al8 einer gegründeten fein Siegel auf. 

„Wir haben ein Gefeg,” ruft das Volk, Freilich, ein ſolches 
hatten fie; ein pofitives, ein vom Himmel herab geoffenbartes, in 
Wort und Schrift verfaßtes; ein Gefeß, klarer, denn die Sonne, tiefer, 
denn das Meer, und als der reine Abglanz der Heiligkeit Gottes, als 
der durchaus entiprechende Ausdruck Seines unveränderlichen Willens, 
für die ganze Welt, und für Zeit und Ewigkeit gültig. Ja wiffet, 
wann Gott einmal weniger heilig fein wird, als Er es ift, dann, aber 
auch eher nicht, werden die Forderungen jenes Gefeßes fich herabitim- 
men und milden. Wann Gottes Gerechtigkeit einmal in Abnahme 
zu gerathen beginnt, und Seine Wahrheit wanfen wird, dann, aber 
auch erft Dann, mwird’8 auch mit der Mebertretung jenes Geſetzes 
weniger auf fi) haben, und des Geſetzes Fluch minder zu fürchten 
fein. So lange aber in Gott fein Wechfel des LXichtes noch der 
Finſterniß eintritt, behält Sein Gefeß feine Majeftät und unerbittliche 
Strenge; und fo lange Gerechtigkeit und Gericht Die Veften des gött- 
lihen Thrones bilden, ift, wer nicht in Allem, was im Buche des 
Geſetzes gefchrieben fteht, verbleibt, von Gott verftioßen und mit dem 





510 Des Heilige. 


Bann belegt. Das Geſetz, von dem wir reden, Tann Darum Leim bes 
gehrter umd beliebter Gaft auf Erden fein. Ya, fo lange wir außer 
der Gemeinſchaft Chrinti wandeln, tüben wir gerne, das Belek wäre 
gar nicht vorhanden. Denn was thut Das Gele, ald daB es mnite 
Gottentfremdung uns in's Licht ftellt, und vermittelit feiner Drohm⸗ 
gen die Hölle in unfre Gemwilien trägt? Wie viele Tauſende ſchen 
brachte es um ihren Arieden und alle Frende des Lebens, umd ver: 
ferfexrte fie Tebenslänglich in dumpfe Zwinger der Angft und der 
Schwermuth! Was Wunder, wenn Soldye das Geſetz verwüniden, 
und ohne Unterlaß darũber aus find, daſſelbe zu entnernen und aus- 
zuieeren? Denn wäre das Gele nicht in der Belt, fo wäre ah 
Eimde nicht mehr Sünde; und auf wie hreitem Infligem Wege wan⸗ 
deite man Dann dem Hinmel u! ber wüniden, Daß Das Geſet 
nicht fei, heißt begehrten, dab ein Wort nicht eriftire. Denn lebt ein 
Gott im Himmel, fo hat derſelbe au einen Willen an die Kreatur: 
und Gottes, als des perlönlichen Inbegriffs aller Tugenden, Wille 
fann ja weniger beilia nidt fein, als es das bibliſche Gefen ii, 
welches eine „Bolllommenbeit” fordert, „gleich wie der Water im 
Himmel volllommen ift.* 

Die Juden dert baben noch ein Bewußtſein von der Eriflenz eines 
göttlichen Geſetzes. Tie heutige Belt bat dieſes Bewußtſein längſt 
verloren, und Das vofitive Gebot durch eine in ruchloſer Billfür ſelbũ 
beliebte licht: und ferıloie „Moral“ hinweggeſchwemmt. Dieſes mit 
dem verderbten Fleiſch canitulirende Machwerk ichleudert wur feinen 
Fluch, aber zieht ihn unvermeidlihb nah fih. Es iſt Rebellion ge 
gen Das Geſetz, Das Geſetz verfluchen und abſchwächen wollen: und, 
glaubt's nur, zu feiner Zeit wird Das mißhandelte Das an ihm Be: 
gangene Attentat zu rächen miften und in furchtbarer Weite feine Ehre 
fib wieder nehmen. 

„Bir baben ein Geſetz, und nad Dem Geſeßz muß er 
fterben, Denn er bat ſich felbit zu Gottes Sohn gemadt!* 
Ganz richtig geurtbeilt, vorausgeſetzt, Daß Er am dem, was Er Gro⸗ 
Bes von fich bezeugte, gelogen habe! Das Majeſtätsverbrechen einer 
Blasphemie laftete dann auf feinem Haupte. Wiſſet aber, daß ein 
ſolches Verbrechen nicht zwar auf Seinem, wohl aber auf enerm 
Haupte, ja Then Berdammniß brütend anf dem Haupte Derer unter 
euch rubt, die fi vermeſſen, nur für Gerechte in ihnen ſelbſt 
fi) ansingeben. Denn was thin fie Damit, als Daß fie Gottes Wert, 


Der Sqhluß deö Prozeſſes 611 


das „alles Fleiſch“ verdammt, zur Lüge ſtempeln, den Hocherhabenen 
als ein Weſen, das an todten und beflediten Werken, wie unfere Tu⸗ 
genden find, ſich genügen laſſe, in den Staub herabziehn, den Spiegel 
Seines Gebotes, der won einer Gerechtigkeit, die wir felbit befüßen, 
nichts wiffen will, keck zertrümmern, oder mit dem Koth ihres Uns 
glaubens befleden und Chriſtum als einen verirrten Schwärmer ver: 
bächtigen, der etwas völlig Unnuͤtzes und Ueberflüffiges übernommen 
babe, indem er mittleriſch für ein Gefchlecht, das fidh felber Heilandes 
genug fei, habe jterben wollen? O die Nafenden! Durch jede Blatt 
feite des göttlihen Wortes wird ihnen der Stab gebrochen; und zwar 
als Gottesläfterern und Empoͤrern gegen die allerhöchſte Majeftät. 
Denn wonad) gelüftet fie bei Licht befehn? Nach nichts Geringerem, 
als zu fein wie Gott: wie Er unabhängig, wie Er fouverän, keinem 
Höheren verpflichtet, fondern ihre eigenen Gefebgeber, Richter md 
Herren. Auf folhem Begehren und Zrachten aber Tiegt unwiderruf⸗ 
lich das Urtheil des ewigen Todes. Was Raths nun? — Schauet 
Jeſum an! Er fäfterte nicht, da er ſich Gott gleichftellte, fondern war 
der wirklich, für den er fich ausgab. Aber erinnert euch: Er vertrat 
Dich und mich, und in Diefer feiner Stellung traf ihn in der That 
die Sentenz der Bolfsjuftiz: „Wir haben ein Geſetz, und nach dies 
jem Geſetze muß er fterben; deum er bat fich felbft zu Gottes Sohn 
gemacht,“ als eine gegründete. Ahr wißt aber, daß Er wirklich 
geftorben ift, der „Gerechte für die Ungerechten;“ und fo ward Er 
für Alle, die da glauben, „des Geſetzes Ende" Wir ftarben mit 
Ihm, ohne perſoͤnlich das Todesweh zu empfinden. Wir leerten in 
Ihm den Fluchkelch, der uns um unfrer Sünden willen zugemeffen 
war. Hinfort fteht Das Geſetz uns nirgends mehr im Wege, fondern 
darf nur noch in Xiebesdienften fih am uns bethätigen. Nur zu une 
fprechen darf's fortan: „Beſchauet die Gerechtigkeit, die ſich in mei⸗ 
nen Forderungen fpiegelt, und wiffet, daß Diefelbe jebt in Ehrifto Jefu 
Die eure ift!“ Nur verfindigen darf es uns: „Seht, fo perſönlich 
beifig, wie ich gebiete, daß man fei, werdet ihr einft Daftehn, wenn 
die irdene Hütte, im der ihr noch zeitet, zerbrochen wird! Es if 
nur noch Dazu beftellt, uns, denen jept eine Luſt beimohnt nadı dem 
inwendigen Menſchen, demjenigen, der mit feinem Blute uns erfanfte, 
durchaus zu Gefallen zu leben, im jedem einzelnen Falle zu eröfften, 
was dem Herrn angenehm fei, und womit wer ihm obnfehlbar Dienen 
können; umd nebenher feine Drohungen md feine Fläche uns zu zei- 


se Das Heilige. 


gen, wie ein überwundener Zeldberr Den Eiegern die Geicdäge zeigt, 
welche jene mährend der Schlacht durch ihre Meifterichäffe dementir- 
ten. Zu derartigen Ermeilungen nur noch it Das Geſeß ımö jeßt ver 
pflihtet. Es it unier Zreund, ob es auch mitunter noch in finiire 
Larven fi verfleidet, und aufs neue Das Saufen einer geſchwungenen 
Ruthe uns hören läßt. Solches thurs nur, um in die Wunden Sein 
uns zurüd, oder in diefelben noch tiefer uns binein zu treiben. Gaben 
wir aber Ddiefe Freiſtadt wieder gemonnen, fo begrüßt es ıms aufs 
neue in feiner wabren, durchaus veriöhnten Geftalt. Die feindliche 
und bedrohliche Stellung zu uns bat es für immer verlaflen. 
„Ehriftus if des Geleges Ende!“ DO, wer it fih bewußt, 
dag er ein Sünder ift vor Gott, und läfe ſich jatt an Diefer Zeile? 
An ihr fprudelt der Brunnen meines Friedens, fomwie im ihr Das 
Sterbelied tönt, unter dem ich einit janft und felig zu entichlafen 
hoffe. 
2. 

„Er bat fich felbit zu Gottes Sohn gemacht!“ So, ber 
Wahrheit gemäß, das jüdiiche Voll. Pilatus vernahm's, und „fürch⸗ 
tete fih noch mehr, da er das Wort börete.“ Wir begreifen 
dies. Tas Wort Hang mit jenen tiefiten Ahnungen zuſammen. War 
ihm doch lange fchon dem Heiligen gegemüber, als fehe er ſich im 
die Mitte überirdiicher Erfcbeinungen, ja in eine andre Belt ent⸗ 
rüdt. Die Erinnerungen an feine Kindbeitsträume von bimmlifchen 
Weſen, die Wohlthat fpendend unter den Sterblichen erichienen feien, 
von Götteriöhnen, welche die Erde mit ihren Beſuchen beglückten, 
wachten, im Geleite erniterer Nachgedanfen nur, in feiner Seele wieder 
auf; umd wenn es ihm auch nicht in den Sinn kam, binter der Perſon 
des Nazareners einen ſolchen Abgeordneten des Olymps zu wittern, 
jo trat ihm Doch die Realität einer höheren Welt fo fühlbar nahe, 
daß er mit der Aufklärung feines Berftandes in Das größte Gedränge 
fam. „Jeſus erflürte fih alfo felbit für Gottes Sohn!” Dies 
dünft dem Procurator im höchſten Grade merkwürdig und bedeutfam. 
Ales, was er an dem Manne mit eignen Augen wahrgenommen, 
fheint ja nur Diefe feine Ausfage von feiner Perfon zu befiegeln. — 
„Gottes Sohn!* Hätte Pilatus doch in einzelnen Momenten Yes 
ſum fat felbit fo nennen mögen, bätte er dem Gefühl, das ihn übers 
mannte, Worte leihen wollen: und was wäre an dem Wunderbaren, 
wodurch es unglaublich würde, daß Er andrer Herkunft und höherer 


Der Schluß de. Prozeſſes 518 


Natur fei, als Die anderen Menfchen? Pilatus ift tief ergriffen. In 
einem fo nie empfundenen geheimnißvollen Bangen fchauert fein Gemüth 
zufanmen. Er muß gründlicher erforfchen, wer der Nazarener fet, und 
zieht fid) zu dem Ende mit demfelben aufs neue in das Innere des 
Nichthaufes zurück. | 
Hier entfpinnt fih nun zwifchen den Beiden ein denfwürdiges Ge: 
ſpräch. Pilatus eröffnet es mit einer Frage, die nichts Geringeres 
als die Lebensfrage des ganzen Chriſtenthums einfchließt. „Bon 
wannen bift Du?“ fpricht er. Ahr nehmt wahr, daß wir die Vors 
gänge in feinem Inneren richtig beurtheilt haben. Er erkundigt ſich 
mit feiner Frage nicht nach dem Fleden oder der Stadt, fondern viel 
mehr nach der Welt, aus welcher Jeſus flamme. Er will wiffen, 
ob er ein Kind der Erde fei, oder aus einer andern Sphäre der 
Schöpfung, als die Dieffeitige, ausgegangen. Solches ift alfo felbft 
einem Pilatus zum Problem geworden! Wie tageshell muß mithin 
dem Herrn auch noch in feiner Knechtsgeitalt der Stempel der Ewigfeit 
von der Stirn geleuchtet haben! — „Bon wannen bift du?" — 
Man hört's der ganzen Betonung diefer Frage an, daß, wenn der Herr 
erwiederte: „vom Himmel bin ich,* der Landpfleger nicht eben 
befremdet zurüdebeben, fondern nur fprechen würde: „So hat mid 
denn mein Ahnen nicht getäufcht; denn längft war mir's, als feift Du 
nur ein Gaft und Fremdling hier auf Erden!“ Doch der Herr ertheilt 
ihm eine ſolche Antwort nicht; ja erachter es für angemefien, den 
Fragenden ganz ohne Beſcheid zu laſſen. Es darf ung dies nicht 
befremden; denn mas hätte es dem Pilatus gefrommt, wenn vor fei- 
nem Ohre jeßt das große Geheimniß verlautet wäre: „Im Anfang 
war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das 
Wort; und das Wort ward Zleifch?" Das Herz des Heiden war 
biefür nicht zubereitet; md was aus feiner Bruft heraus nah Jeſu 
Herkunft fragte, muß, genau befehn, mehr nur müßige Neugier, als 
Heilsdurft und Hülfsbedürfniß heißen. Ueberdieß würde auch eine 
ſolche Eröffnung über Ebrifti wahre Perfon und Natur die Vers 
antwortung des Heiden nur noch vermehrt, und feine Verdammmiß 
am jüngften Tage defto jchwerer gemacht haben; und fo geſchah es 
denn zugleich aus Mitleid und verfchonendem Erbarmen, daß 
Jeſus jene feine Frage lediglich mit Stillfchweigen uͤberging. Wie 
wenig Pilatıs geneigt gewefen wäre, dem Scepter aud des erkmn- 
ten Gottesfohnes ſich zu beugen, erhellt fchon zur Genuge aus dem 
33 


514 Das Hellige. 


Verhalten, das wir ihn ummittelbar nach feiner Frage beobachten fe 
ben. Denn wie Jefus ihm nicht aljobald mit einer Antwort zu 
Dienften ift, glaubt er fih in jeiner Ehre gefränft, und fährt den 
Herrn im Tone äußerfter Gereiztheit mit den troßigen und hochfah 
renden Worten an: „Nedeft Du nicht mit mir? Weißt du nit, 
Daß ich Macht habe, dich zu Ereuzigen, und Macht habe, 
Dich loszugeben?“ — Hört diefe Rede! Wie tritt es hier wieder 
fo bandgreiflih zu Zage, wes Geiſtes Kind er it! Ad, auch das 
ſchoͤnſte religiöfe. Ahnen, Fühlen und Empfinden des natürlichen Men: 
ſchen iſt nur eine flüchtig aufgefproßte und ebenfo flüchtig wieder ver: 
'welfende Zrühlingsvegetation über einem moralischen Sumpfe. „Von 
neuem geboren werden“ muß der Menſch, oder er bleibt unter 
die Sünde verfauft, wie er es von Haus aus iſt, und fein Leben, 
wie fittlich und chriftfich es fich fohmüde, wird nur eine ununterbrochene 
Kette von Rüdfällen in das alte gottentfremdete Weſen fein. Hört 
den Pilatus: „Redeft du nicht mit mir?“ Gebehrdet fich nicht 
der Mann, als beginge der Herr, indem er ihm nicht fogleich den 
verlangten Befcheid ertheilt, ein Majeftätsverbrehen? Weld eine 
GSelbjterhebung, weldy' ein Hochmuth! „Weißt du nicht,“ fährt 
ex fort, „Daß ih Macht habe, Dich zu Freuzigen, und Macht, 
dich loszugeben?“ O Berblendung, o lächerlicher Bettelitolz ei- 
nes Menſchen, der eben erſt, und obendrein noch feinen Untergebenen 
gegenüber, eine Schwäche beurfundet hat, Die es ihm nicht mehr 
geftatten follte, Das Wort „Macht, zumal, wo es fi von „Kreu—⸗ 
zigen” und „Freiſprechen“ bundelt, obne Errötben auch nur in den 
Mund zu nehmen! 

Doch hören wir den Herrn! Mit der majeltätifchen Ruhe feines 
töniglichen Selbftbewußtfeins entgegnet er dem fo fühn und prahleriſch 
auf feine Vollmacht pochenden Richter: „Du hätteft feine Macht 
über mid, wenn jie dir nicht von Oben herab gegeben 
wäre; Darum, der mich Dir übernutwortete, hat es größere 
. Sünde” Ein hehres Wort, des Sohnes Gottes, des Herm vom 
Himmel volllommen würdig! Nach Ddiefem Worte erjcheint Pilatus 
als ein feinem Dafürhalten nach zwar jelbitändig und unabhängig 
bandelndes, aber doch mur innerhalb beitimmter, von unfichtbarer Hand 
ihm gezogener Grenzen jich bewegendes, und unbewußt einem erbabenen 
Plane dDienendes Werkzeug des lebendigen Gottes, Er vermag nichts 
mehr, als wozu ihn Gott ermächtigt. Trotz feiner Feigheit und Ge⸗ 


Der Schtuß bei Prozeſſes sı8 


wiffenstofigkeit hätte er Jeſum feinen Mördern nicht einmal uͤberant⸗ 
wortet, wenn dieſe Ueberantwortung nicht im Himmel befchloffen ge 
weſen wäre. Freilich wandelt er feinen Weg, aber in Gängelbanden, 
um welche er nicht weiß. Freilich trägt er feine Schuld; aber fl 
verfchuldend, fördert er ein großes, heiliges Werk, das er nicht kennt. 

Dem demüthigen und befchämenden Worte läßt jedoch der Herr alfo- 
bald ein andres und tröftlicheres folgen. „Darum,“ ſpricht er, „der 
mich Dir überantwortete, Der hat es größere Sünde!” Pi⸗ 
latus hatte Die Aeußerung Jeſu von der ihm, dem Landpfleger, vom 
Oben herab gegebenen Macht nicht verftanden, und den Herm darob mit 
Befremdung und Bewunderung angefehn. Auf eben diefes fein Nichtvers 
ftehn aber, das in jeiner ſtutzig Fragenden Gebehrde fich wiederfpiegelte, 
bezieht fih Das „Darum“ des Herrn. „Weil du mich nicht kennſt,“ 
will der Heiland fagen, „noch weißt, wozu ich in die Welt gefommen 
bin, trägit du geringere Schuld als der, der mid) dir in die Hände 
ſpielte.“ Letzterer war zunächft der Hohepriefter Kaiphas, dieſer Sohn 
Abrahams, diefer Meiſter in Iſrael, der im Lichte Moſis und der 
Propheten aufgewachfen war, und mithin wußte, was der Name 
„Gottesfohn‘‘ bedeute, und in der Lage fi befand, Ddiefen Sohn 
Gottes in Ehrifto zu erkennen. Nichtsdeftoweniger ſprach er über den 
Herrn ald über einen Bottesfäfterer das Todesurtheil aus. Diefe Sünde, 
weil in der Tageshelle biblifcher Erleuchtung, und wider befferes Wifs 
ſen und Gewiffen begangen, war eine größere. Sie war e8 darum, 
weil fle nicht aus Schwäche, Tondern aus Vorſatz, nicht aus Webers 
rumpelung, fondern mit Ueberlegung, nicht aus Feigheit, fondern aus 
Bosheit begangen wurde, Benerft aber, wie der Here hier wieder 
ſo groß erfcheint. Wie erweift er fih bier mfs neue als den König 
über Alle, ja, als den Weltenrichter! Mit der Sicherheit eines umfehls 
baren Herzenstündigers wägt er in der Wage des Heiligthums Suns 
den und Schulden ab, beftimmt das Maß der zufünftigen Strafen, 
eröffnet zugleich dem unglücklichen Pilatus noch eine Ausficht auf 
Gnade und mögliche Vergebung, und läßt in letzterem Zuge aljo auch 
wieder fein mitleidiges, nach der Rettung der Sünder Durftendes 
Heilandsberz in die Ericheinung treten. 

3. 

Die Worte des Herrn haben auf das Gennith des Landpflegerd 
ihre Wirfung nicht ganz verfehlt. Wohl fühlt er das Erhabene wie 
das Wohlwollende und Kiebevolle durch Diefelben deutlich bindue), und 


516 Dad Heilige. 


findet fih in Folge deifen veranlaßt, auf die Richterbühne zurückzu⸗ 
fehren, und den Verſuch, Jeſum loszulaſſen, mit neu angefachtem Eifer 
zu wiederholen. Da aber droͤhnt von unten ber das Wort zu ihm 
herauf, das fehon beim Auslaufen aus dem Hafen im Schifflein fei- 
nes auten Willens Maft und Ruder ihm zerfchmettert. „Läffeft Du 
Diefen los,“ fchreit das Bolt, „fo bift du des Kaifers Freund 
nicht; Denn wer ſich zum Könige macht, (wie diefer dein Schüß- 
fing dort,) ift wider den Kaiſer!“ Diefer Ruf traf die ſchwächſte 
und verwundbarfte Seite des Procurators. Er kannte feinen Herrn, 
den Kaiſer Tiberius, zu wohl, um nicht vworherzufehn, daß eine An: 
Hage, wie die eben gegen ihn erhobene, wenn fie zu jenes Obren 
gelange, in feinem argwöhnifchen Gemüthe einen nur zu ſtarken An- 
Hang finden, und ihm, dem Proconful, fein Ant, und wer weiß, was 
Alles fonft noch often würde. Es ftand ihm außer Zweifel, der 
Kaiſer, unter dem, wie ein gleichzeitiger Gefchichtsfchreiber berichtet, 
das Verbrechen der Majeftäsverleßung den Höhepunkt aller Befchuldi- 
gungen bildete, werde ohne vorhergegangene Unterfuchung das härtefte 
Urtheil über ihn fprechen, fobald er vernehmen würde, fein Statt: 
halter habe einen Menfchen in Freiheit gefegt, der Miene gemacht, 
fih zum Könige über Iſrael aufzumerfen. Des Kaifers Gunft galt 
aber dem Pilatus über Alles; denn mit ihr ftand und-fiel Die amtliche 
Würde, die er befleidete. Sa, des Kaifers Zorn würde feine Freiheit 
und fein Leben bedrohet haben; und daß es auch Diefe Güter der Ge: 
rechtigfeit und der Ruhe des Gewiſſens zu opfern gelte, Das ftand dem 
Pilatus fehr in Frage. Später hat er hierüber freilich wohl anders 
geurtheilt, fowie auch Manche unter und, denen es heute gleichfalls 
noch fraglich zu fein fcheint, ob der Friede Gottes der Güter höchftes 
fei, die Sache fpäter wohl einmal in einem andern Lichte anfchauen 
werden. Helfe nur Gott, daß Ddiefen die Stunde ihres „Nüchtern: 
werdens aus des Teufels Strick“ nicht zu fpät, d. h. nicht erft Dann 
erfcheinen möge, wenn feine Wahl mehr für fie fein wird, weil über 
fie, die wider befferes Wiſſen und Gewiflen zu lange und zu hart 
nädig fi den Fluch erwählten, das Gericht der Verftodung bereits 
hereingebrochen ift. 

Sobald Pilatıs das unglüdfelige Wort: „So bift du des Kai- 
fers Freund nicht!“ vernommen bat, ift auch feine legte Wider: 
ftandsfraft gebrochen. Zwar gibt er feine Bemühungen, Jeſum dennoch 
in Freiheit zu feßen, noch nicht gänzlich auf; aber was er zu diefem 


Der Schluß des Broseffeb. 517 


Ende noch unternimmt, das ımternimmt er ſchon mit dem verzweifeln- 
den Bemwußtfein, es fei an einen erwünfchten Erfolg nicht mehr zu 
denfen. Mit dem unftäten Wefen eined Mannes, der fich völlig und 
unrettbar aus dem Felde gefchlagen fieht, tritt er aus dem Präto⸗ 
rium noch einmal hervor, führt den Berflagten abermals mit fi auf 
die Bühne, befteigt mit erfünftelter Feierlichleit den marmornen Rich: 
terftuhl, und beginnt von da aus aufs neue das Volk zu haranguiren. 
Was er aber jegt noch vorbringt, das zeugt Alles nur von der gren⸗ 
zenlojen Verwirrung, die jetzt in feinem Innern berrfcht, und erſcheint 
wie Darauf berechnet, fein Vorhaben vollends zu vereitelt. „Sehet,” 
ruft er, hindeutend auf den zerrifienen, ſchmachbedeckten Dulder, „das 
ift euer König!” — Wer fühlt e8 diefem Zuruf nicht ab, daß ein 
Gemiſch von Mitleid mit dem Mann der Schmerzen und von gallen- 
bitterem Hohn gegen die verhaßten Juden ihm denjelben eingab. Er 
will zu gleicher Zeit die legteren zu Jeſu Gunften fimmen, und ihnen 
einen empfindlichen Schlag verfeßen. Natuͤrlich empfand das Bolt 
nur den giftigen Stachel feiner Rede, und nicht deren Rührkraft; und 
was Pilatus bei einigem Nachdenken fich hätte vorherfagen können, 
das gefchieht: wie eine giftgefchwollene Natter fährt die in ihrem 
Ehrgeiz gekränkte Menge wider ibn auf, und fchreit entfchloffener, 
gereizter, wuthentbrannter, als zuvor: „Weg, weg mit Diefem; 
freuzige!” Sept verliert Pilatus alle Haltung. Die Leidenfchaft 
rüdt ihm fogar den Zweck feines Bemühens aus den Augen. Wie ein 
Wahnfinniger fein eignes Hausgeräth, fo zertrümmert er felbft die 
(este Hoffnung, die für Jeſu Rettung etwa noch vorhanden ift, indem 
er, Del gießend in das Ichon hell genug lodernde Feuer der Volls⸗ 
wuth, hämiſch und mit bitterem Sarkasmus der tobenden Maffe zuruft: 
„Soll id euern König freuzigen?” — „Mich,“ will er fagen, 
„gedenkt ihr bei dem Kaifer al8 den Beſchützer und Mitverfchworenen 
eines Aufrührers anzufchwärzen; aber Die Rebellen feid ihr, denn 
bier fteht ja das Haupt, um das ihr mit euern Huldigungen eud) 
geſchaart!“ — Doch, er weiß felbft nicht mehr, was er fpricht, Innere 
Gefchlagenheit und Verzweiflung, verpaart mit ohnmächtigem Rache⸗ 
durſt umd Tächerlichem Uebermuth laſſen ihn fhon irre reden. Die 
Hohenpriefter wiſſen dagegen die Befonnenheit ſich beffer zu bewahren. 
Auf das höhnifhe: „Soll ih euern König kreuzigen?“ find 
fie alfobald mit einer Antwort zur Hand, die zwar auf fie felbft ein 
entfegliches Licht wirft, aber nicht gefchiekter gewählt werden Zonnte, 


dis Das Heilige 


wenn es Darauf abgeſehn war, durch fie dem Landpfleger Deu meora⸗ 
liſchen Todesſtoß zu geben. Mit erheuchelter Loyalität und Gegeben 
heit gegen den römifchen Oberherrn fchreien fie ihm kurz und bündig 
zu: „Bir haben feinen König, als den Kaiſer,“ und geben ſich da⸗ 
durch den für Pilatus fehr bedrohlichen Schein, als feien fle. es, bie 
flatt feiner, ja fogar gegen ihn, Die gefährdete Autorität und Die 
Kronrechte des Kaifers wahrend zu vertreten hätten. Der Gedanke 
aber, es könne die Sache in gleicher Weife auch von Ziberius an- 
gefehn werden, fo wie die Vorftellung der furdhtbaren Strafe, welche 
derfelbe, falls in feiner finfteren Seele der Verdacht Wurzel fchläge, 
das unterjochte fremde Volk fei ihm treuer gefinnt, ald Die eignen 
Diener, über ihn, den LZandpfleger, verbängen würde, ſchlagen den- 
felben gänzlich dDarnieder. Das Volt möge denn nun mit Jeſu machen, 
was ihm beliebt; Pilatus gibt ihn preis. Das Boll hat den voll 
ftändigften Sieg davongetragen; aber wehe, wehe dem armen unglüds 
feligen Volke! Mit dem beuchleriichen: „Wir haben feinen Kös 
nig, als den Kaiſer!“ worin ed wie den wirklichen Mefftas, fo 
feine Meifiashoffnung überhaupt verleugnete, bat es die Parabel 
Jothams von den Bäumen, die fi) den verzehrendes Feuer fprühenden 
Dornbufch zum König erwählten, zur Erfüllung gebracht, und unbewußt 
für Sahrtaufende fich felber Fluch geweiffagt und das Urtheil gefprochen. 
Bis zu diefer Stunde haben die Juden feinen König mehr, fondern 
leben recht= und heimathlos nur als geduldete Beifaffen unter frem- 
den Sceptern. 


Wir fcheiden von Pilatus. Nicht ohne tiefe Wehmuth jagen wir 
dem beflagenswerthen Manne Lebewohl. Er war zu Beſſerem ange: 
legt, ald wozu wir mit Schaudern ihn ſich entwideln fahen. Er ge 
Dachte aber zween Herrn zu Dienen: dem Gott, der auch in jeinem 
Bufen ſprach, und zugleich der Welt; und daher fein Fall und jein 
Berderben. Er wollte das Rechte, aber er wollte es nicht ganz. 
Er empfand edel, aber er gub dem göttlichen Geifte nicht Raum, 
dag er die Empfindung in ihm zu entichloffenem Willen und durch⸗ 
haltender Gefinnung feſtigte. Die Saat aller der heiligenden Ein; 
drüde, deren er theilhaftig ward, fiel unter Die Dornen feines un⸗ 
gebrochenen Hochmuths und Weltfinnes; und Dieje gingen auf und 
überwucherten und erftidten fie. Pilatus fiel als Opfer feiner Halb» 
berzigleit und Charakterſchwäͤche, wie als folches ohne Unterlaß Un⸗ 


— — — — u > 


Der Schinß des Prozeſſes 519 


zaͤhlige, oft im Schmucke der fchönften Negungen und GntfchlteBun- 
gen, der Gewalt des Satans zur Beute werden. Ueber Ben ferneren 
Lebensgang des Nömers find uns nur fpärliche Kunden erhalten wors 
den. Wir wiffen blos, daß feine innere Stimmung von Jahr zu 
Jahr fich mehr verdüſterte, und feine Härte wuchs, woraus wir nicht 
ohne Grund die Folgerung ziehn, daß ſein Friede dahin war, weil 
das Gewiſſen ihn wegen der an dem Heiligen Iſraels begangenen 
himmelſchreienden Ungerechtigkeit verdammte. Schwerer Bedruͤckun⸗ 
gen halber, die er ſich nachmals erlaubte, wurde er im letzten Re⸗ 
gierungsjahr des Tiberius durch den Proconſul von Syrien dennoch 
ſeines Landpflegeramtes entſetzt, und als Verbannter nach Gallien 
verwieſen. Ob er in feiner Exulanteneinſamkeit etwa noch zur Beſin⸗ 
nung fam, und „den König der Juden“ in feiner Mittlerherrlichkeit 
und BVerfühnerglorie erkennen lernte? Der Zluchbrief, der über des 
Pilatus Haupte ſchwebte, war deutlich genug gefchrieben, um uns 
hoffen zu laſſen, der Inhalt Defielben werde ihm noch zum Betbußt⸗ 
fein gelangt fein, und ein Verlangen nach Entfündung und Gnade in 
ihm entzündet haben. — Die Kirchenväter reden von „Akten“ bes 
Pilatns, die derfelbe über Das gerichtliche Verfahren gegen Jeſum umd 
Aber Jeſu Sterben dem Kaifer Tiberius eingefandt, und durch melde 
er dieſen veranlagt habe, Ehriftum unter die Götter aufnehmen zu 
kKıflen. Wir haben nicht Urfache, die Wahrheit diefer alten Ueberlie⸗ 
ferung zu bezweifeln, und möchten's im Intereſſe derer, bei denen der 
Glaube an die übermenſchliche Majeftät Ehrifti noch nicht Wurzel 
ſchlagen will, ernftlich bedauern, daß jene Urkunden verloren gingen. 
Doch ſcheint mir verherrlichende Schupfchrift für Zefum genug Das 
ganze Verhalten ſchon zu fein, welches wir den Heiden Pilatus der 
Perſon Jeſu gegenüber beobachten fehn. Als ein Zeuge für die Hei⸗ 
figfeit und übermenfchlihe Hoheit des Herm vom Himmel nimmt 
Pilatus feine Stelle im apoftolifchen Glaubensbekenntniß ein; zmaleich 
aber als Zeuge, daß Ehriftus nicht blos nach menſchlichem Willen and 
Nat, fondern in Gemäßheit eines göttlichen Erlöfungs- und Gnaden⸗ 
planes dahingegeben und gefreuzigt wurde, 
Wir Schließen, und zwar unter nachdenklicher Rüderinnernng an das 

Wott des Herrn: „Wer nicht mit mir ift, der ift wider mich;“ 
des Apoſtels Wort: „Es tft ein Löftlich Ding, daß das Herz fefl 
werde, welches gefähieht duch Gnade;“ und an die Bitte Des Pfal⸗ 
: „Erhalte meinen Gang auf Deinen Fußſteigen, daß meine 


520 Das Heilige. 
Zritie wicht gleiten,“ — und itimmen von Herzen ein in den Genfer 


in Degebren nit erfüllen! 
und ſtets in Waffen wachſam fch’n, 
durch Gebet von Kraft ıu Kraft zu geb’! — Amen 


E 
— 
a 


— — 
XLIII. 
Die Marterftraße. 


Als einft der Erzvater Jakob, zweifach bedrobt von ſeinem Schwaher 
Laban und feinem Bruder Eſau, jorgenichmeren und befimmerten 
Herzens an der Spige jeiner Heerden und Hirten dabin zog, begeg⸗ 
neten ihm (nadı 1. Moje 32, 1 und 2) „die Engel Gottes.- 
Staunend jah er das leuchtende Heer daher ziebn, und nannte die 
Stätte „Mahanaim“, d. i. „DoppelsZager,“: denn fein Geleit 
hatte fih in lieblichfter Weiſe verzwiefacht. DO, wie kam jene Er- 
fheinung aus der unfichtbaren Welt dem vielgeprüften Pilger in jenem 
Augenblid fo wohl zu Stätten! Was hätte ihn in feiner Bedrängniß 
nachhaltiger ermutbigen fönnen, ala ſolche Begegnung? Wenn fi 
das holde Geſicht auch bald wieder einen Blicken entzog, ſo wußte 
er doch, Daß es feines Herrn und Gottes Abficht geweſen ei, ihm 
nur einmal für einen Moment die unfichtbare Schirmwacht zu ent: 
ſchleiern, welche jederzeit ihn umgebe, und auf Die er allewege zu 
rechnen befugt ſei. Jakob war fehr, jehr frob, und bevor David es 
noch ausfprach, hat des Erzpaters Seele ſchon frohlockt: „Der Engel 
des Herm lagert fi um die ber, die Ihn fürchten, und büft ihnen 
aus!" 

Denft aber, welche Ehre für arme Sünder, im Geleite bimmlijcher 
Gefährten ihre Straße zu ziehen! Welche Beruhigung für die Wan⸗ 
derer im Thränenthal, fich in der Liebeshut der „itarfen Helden“ 
geborgen zu willen, Die allegeit das Angefiht ihres Vaters fehn im 
Himmel! — Wie aber kommen Adams gefallene Kinder zu ſolcher 


Die Marterftraße. 521 


Auszeichnung und Erhöhung? — Wißt ihr nicht, wie fie Dazu gelang: 
ten, fo follt ihr e8 heute im Wege eigner Anſchauung erfahren. Sie 
verdanken fo unvergleichlichen Vorzug einem Manne, der für fie einen 
Gang that, auf welchem freilich feine „Mahanaim“ ihm begegneten. 
Auf dieſen Gang richte fi) heute unfer betrachtender Blid, Moͤge 
die aanze Bedeutung defielben fih uns erfchließen! 


Matth. 27, 31. Marc. 15, 20. Joh. 19, 16. 

Da überantwortete er ihn, baß er gefreuziget würde. Da fle ihn verfpottet hatten, 
nahmen fie Jeſum, zogen ihm den Purpurmantel aus, und zogen ihm feine eignen 
Kleider an, und führten ihn hinaus, und hin, dad fie ihn freuzigten. Und er trug fein 
Kreuz, und ging hinaus zur Stätte, die da heißet Schädelftätte, welche heißt auf 
ebräifh: Gabbatha. 

Ein Lämmlein geht uud trägt die Schuld 
Der Welt und ihrer Kinder; 

Es geht und träget in Gebuld 

Die Sünden aller Sünder. 

Es gebt dahin, wird matt und krank, 

Es gibt ih auf die Würgebank, 

Berzihr’t auf alle Kreuden. 

Es nimmet an Schmach, Hohn und Spott, 
Angſt, Wunden, Striemen, Kreuz und Tod, 
Und ſpricht: Gern will ich's leiden! — 

Heute, Geliebte, jehen wir dieſes uns Allen fo wohl befannte Dich- 
terwort buchftäblih wahr und wirklich werden. Der große Sünden⸗ 
träger gebt feinen lebten Gang für uns, den Gang zur Schlachtbant 
und zum Sühnaltar. Geben wir ihm im Geifte auf feiner Marter- 
firaße das Geleit, und fehen wir zuerft, wie er in leßtere übers 
antwortet wird; dann, was an der Schwelle derſelben ihm 
widerfährt; und endlich, wie.er fie wirklich antritt. 

Möge auch in und eine Wahrheit werden, was wir Ddenfelben 
Sänger, deffen Worten wir eben laufchten, fo brünftig geloben hören: 
„Mein Lebensbächlein ſoll fih Dir und Deinem Namen für und für 
in Dankbarkeit ergießen; und was Du mir zu gut gethan, das will 
ich ftets, fo tief ich kann, in mein Gedächtniß fchliepen! ” 

1. 

„Da überantwortete Ihn Pilatus,* bebt unfre heutige Ge 
ſchichte an. Wie das fo traurig, fo erjchütternd klingt! Armer Pilatus! 
wenn du wüßtefl, wen, und was Alles du in diefem Manne bins 


520 Das Heilige. 


Zritte nicht gleiten 3“ — und ftimmen von Herzen ein in den Genfer 
des kirchlichen Sängers: 

Ach, lege deinen edlen Geilt 

Uns zur Beſatzung in ben Willen, 

Dad, wenn und Satan fünd’gen heißt, 

Wir fein Begehren nicht erfüllen! 

3a, laß uns ſtets in Waffen wachſam ſteh'n, 

Um durch Gebet von Kraft zu Kraft zu geh’n! — Amen. 


— ¶ —— 
XLIII. 
Die Marterſtraße. 


Als einſt der Erzvater Jakob, zweifach bedroht von feinem Schwäher 
Laban ımd feinem Bruder Ejau, forgenfchweren und befimmerten 
Herzens an der Spige jeiner Heerden und Hirten dahin zog, begeg: 
neten ihm (nach 1. Mofe 32, 1 und 2) „Die Engel Gottes. 
Staunend ſah er das leuchtende Heer daher ziehn, und nannte Die 
Stätte „Mahanaim”, d. i. „Doppelsfager,*: denn fein Gelat 
batte fih in lieblichfter Weife verzwiefadht. O, wie kam jene Er 
fiheinung aus der unfichtbaren Welt den vielgeprüften Pilger in jenem 
Augenblid fo wohl zu Statten! Was hätte ihn in feiner Bedrängniß 
nachhaltiger ermuthigen können, als folche Begeanung? Wenn fid 
das holde Geficht auch bald wieder jeinen Bliden entzug, jo wußte 
er Doch, daß es feines Herrn und Gottes Abficht geweſen ſei, ihm 
nur einmal für einen Moment die unfichtbare Schirmwacht zu ent 
fehleiern, welche jederzeit ihn umgebe, ‚und auf Die er allewege zu 
rechnen befugt ſei. Jakob war fehr, jehr froh, und bevor David es 
noch ausfprach, hat des Erzvaters Seele ſchon frohlodt: „Der Engel 
des Herrn lagert fih um die ber, die Ihn fürchten, und hilft ihnen 
aus!“ 

Denkt aber, welche Ehre für arme Sünder, im Geleite himmliſcher 
Gefährten ihre Straße zu ziehen! Welche Beruhigung für Die Ban 
derer im Thränenthal, fich in der Liebeshut der „ſtarken Helden‘ 
geborgen zu wiffen, die allezeit das Angeficht ihres Vaters fehn im 
Himmel! — Wie aber kommen Adams gefallene Kinder zu folder 


Die Marterhräße. 521 


ng und Erhöhung? — Wißt ihr nicht, wie fie dazu gelang- 
ollt ihr es heute im Wege eigner Anſchauung erfahren. Sie 
ı fo unvergleichlichen Vorzug einem Manne, der für fie einen 
at, auf welchem freilich Feine „Mahanain“ ihm begegneten. 
m Gang richte ſich heute unfer betrachtender Blid, Möge 
: Bedeutung defielben fih uns erjchließen! 


Matth. 27, 31. Marc. 15, 20. Ich. 19, 16. 
rantwortete er ihn, daß er gefreuziget würde. Da fle ihn verfpottet hatten, 
Jeſum, zogen ihm den Burpurmantel aus, und zogen ihm feine eignen 
‚ und führten ihn hinaus, und hin, daß fie ihn freuzigten. Und er trug fein 
d ging hinaus zur Stätte, die da heißet Schädelftätte, welche heißt auf 
Babbathe. 


Ein Lämmlein geht uud trägt die Schuld 
Der Welt und ihrer Kinder; 

Es gebt und träge in Geduld 

Die Sünden aller Sünber. 

Es gebt dahin, wird matt und krank, 

Es gibt fi) auf die Würgebank, 

Verzicht't auf alle Kreuden. 

Es nimmet an Schmach, Hohn und Spott, 
Angſt, Wunden, Striemen, Kreuz und Tod, 
Und fpridt: Gern will ich'ß leiden! — 

Geliebte, jehen wir diefes uns Allen fo wohl bekannte Dich⸗ 
suchftäblic wahr und wirklich werden. Der große Sünden- 
ht feinen legten Gang für uns, den Gang zur Schlachtbank 

Sühnaltar. Geben wir ihm im Geifte auf feiner Marter- 
18 Geleit, und fehen wir zuerft, wie er in leßtere über- 
tet wird; dann, was an der Schwelle Derjelben ihm 
ihrt; und endlich, wie.er fie wirklich antritt. 

auch in uns eine Wahrheit werden, was wir Denfelben 
deffen Worten wir eben laufchten, fo brünftig geloben hören: 
tebensbächlein foll fi Dir und Deinem Namen für und für 
barfeit ergießen; und was Du mir zu gut gethan, das will 
. fo tief ich kann, in mein Gedächtniß ſchließen!“ 


1. 
überantwortete Ihn Pilatus,* bebt unfre heutige Ge⸗ 
n. Wie das fo traurig, fo erfchütternd Mingt! Armer Pilatus! 
; wüßte, wen, und was Alles du in diefem Manne bins 


522 Das Gelfike. 


giebt! Wir haben nur erſt ein Weniges gekoſtet won feinem Hin⸗ 
melbrod; aber es ift fein ‘Preis in der Welt zu nennen, um den wir 
Ihn bingeben würden. „Herr, wohin ſollen wir geben! Da kek 
Worte des ewigen Lebens!“ — Sa, Freunde, theils geftügt auf bie 
anädige Bewahrung, die Er jelbft und zugeſagt, theils gedrutzta 
von Der lebendigen Empfindung, daß wit Ihn ſchlechthin nicht uch 
entbehren fönnen, fprechen wir in großer Zuverficht mit der Braut 
des Hohenliedes: „Ich halte Ihn, und werde Ihn nicht lat 
fen, bis ih Ihn bringe in meiner Mutter? Haus, in meiner 
Gebärerin Kammer!’ — Ueberhäuft und mit Schimpf und Schmach; 
feheltet uns „Finſterlinge“, „Froömmler“, und wie ihr wollt; wir ar 
men Sünder werden ewig darob frohloden, daß wir den gefmiben 
haben, der vor dem fehauerlicheren Schelten des allmächtigen Gottes 
uns ficher ftellt. Nehmt, wenn es euch beliebt, uns Haus und Hof, 
entzieht uns Amt, Brod und was immer fonft: was iſts? Gollten 
wir Den darum fahren laffen, der für himmlifches Obdach ums forgt, 
und das Manna der Ewigfeit uns bricht? — Nein, nimmer, nimmer! 
Schleppt uns zu Folter und Blutgerüſt, zerfchellet, zerfägt, zerfcheitert 
uns: fo wahr der Herr lebt, werden wir noch mit unfern zudenden 
Faſern Den umfaffen, ohne den wir uns auf ewig der Hölle preis 
gegeben wüßten! Freilich befennen wir mit tiefer Beugung, daß anch 
wir noch häufiger Verleugnungen Seined Namens uns fchuldig me 
hen; aber fam e8 dazu, fo gehen wir bitterlidh weinend mit Petrus 
hinaus, und, nachdem Er aufs neue uns getröftet, ſprechen wir aufs 
neue mit verftärktem Nahdrud: „Wir überantworten Ihn niemals 
mehr! Wir verzichten auf die Freundfchaft, Die Gunft und Ehre Sei: 
ner Widerfacher! Ob und die ganze Welt geboten würde, Jens iſt 
uns für nichts mehr feil! Unfre Einigung mit Ibm trägt den Stan: 
pel, trägt die Signatur der Ewigkeit!“ 

„Da überantwortet er ihn.“ — Großer, verhängmtßvoller Au: 
genblid! O, wenn Pilatus ahnete, weſſen Werkzeug er in biefem 
Momente fei! Aber er kennt weder das fo ſchmählich Preis gegebene 
Wort: „Alle hat Gott die Welt gelicht, daß er feinen emgeborenen 
Sohn dahingab,“ noch den Ausſpruch des Apoſtels: „Der auch fe 
nes eignen Sohnes nicht verfchonet bat, fondern hat Ihn für und 
Alle dahin gegeben, wie follte Er uns mit Ihm nicht Alles fchenfen?" 
Uns find diefe Zeugniffe bekannt; wir wiſſen um ihre geheimmißvekt 
Tiefe, und ſenken unter dem Klang der Worte: „Da Äberantwor 


Die Marterſtraße sas 


eteer Ihn“ das Haupt zur Bruft, und finken nieder, und beiten an 
m Staube — „ Da.” — Sa, jebt durfte e8 geſchehen. Er war num 
tig und zubereitet fin den legten großen Sühnungsakt. Das Gefeß 
atte Er erfüllt, jede Glaubensprobe fiegreich beftanden, in allen Feuer⸗ 
geln als ein lauteres, fchladenreines Gold ſich ausgewieſen. Er war 
as „Lamm ohne Fehl“, der Gehorjame fonder Gleichen, und ein 
olches Opfer eben war's ja, das von dem Gott der Heiligfeit er⸗ 
wdert wurde. Gr mußte ſich erft krönungswürdig erfinden laſ⸗ 
m, bevor er fähig war, fremden Fluch zu tragen. Jeßt its geſche⸗ 
en. „Da gab er Ihn hin.“ — Schließt den Tempel jebt, ihr 
Sbhne Aarons! Die Bilder und Schatten, mit denen ihr verfehrtet, 
aben ausgedient, nachdem der „Körper“ erjchienen ift. Legt Stirn⸗ 
inde und Bruftfchild ab, ihr Pfleger des Heiligthums; denn wiffet, 
aß mit Beiden urbildlich jegt ein Andrer ſich fehmüdte, und 
wer Prieſterthum zu Ende iſt. Ya, eigentlicher, als ihr, ift ſelbſt 
zilatus jegt ein Hoherpriefter, indem er das wahre Sühn⸗ 
pfer zur Schlachtung überliefert; und jener kahle Hügel Dort, der 
innen Kurzem Die Drei Todespfähle tragen wird, überragt an hei⸗ 
ger Bedeutung eure Altäre, ja wird fie für immer unter fid) begraben. 
m dem Momente, da der Römer Jeſum feinen Mördern preisgab, 
ad, — fo denfe ich mirs, — die vollendeten Gerechten droben an- 
etend auf ihre Angefichter bingefunfen; denn ihnen war es ja nicht 
erborgen, was in jenem Alkte Drunten eben Großes und Folgenret- 
es vor fih ging. Sollte doch jetzt dem Schloß der Seligfeit, in 
em fie, theilweife feit Jahrhunderten bereits, ihr Hallelujah fangen, 
achträglich das Fundament unterlegt, und für die Lebenskrone, 
ı der fie längit ſchon prangten, der bis dahin noch ungezahlte blutige 
reis entrichtet werden. Ihre Aufnahme in die Wohnungen der Se 
gfeit geſchah einft lediglich unter der Borausfegung und auf Grund 
nes fpäter für fie zu zahlenden Löſegeldes; und dieſe unumgäng- 
de Bedingung fahen die Verklärten mın auf Erden zur fchließlichen 
zollziehung kommen. — Wer wars, den Pilatus bingab? Ein 
Rann; aber in dem Einen eine Schaar, die Niemand zählen konnte; 
ı Alle, Alle in dem Einen, die je mit Lebterem in Glauben und 
iebe ſich vergliedern würden. — Sehet, Freunde, idy bin ein Sünder, 
leich wie ihr, umd habe dennoch tiefen, feligen Frieden. Leider! 
wehe auch ich wider Willen meine Schuld noch täglidy größer; aber 
uwe iſts von mir, Daß ich um deßwillen verzagen und werzweifeln ſollte. 


524 Das Heilige. 


Wohl tenne ih das Wort: „Ich will den aus meinem Buche tilgen, 
der an mir fündigt;* aber bin mir nichtsdejloweniger mit Freuden 
bewußt, daß mein Name im Himmel angefchrieben fteht. Wohl weiß 
ih: „So Jemand das ganze Geſetz hält, und veritößt an Einem mr, 
der ift des Ganzen ſchuldig;“ aber das Geſetz macht mid) darum Doc 
nicht mehr zittern noch zagen. Wohl höre ich den heiligen Sänger 
rufen: „Du bift nicht ein Gott, dem gottlofes Weſen gefällt; wer 
böfe ift, bleibt nicht vor Dir;“ aber dennoch, wie ich mich auch felbft 
verdammen muß, hoffe ich zuverfichtlich, ewig vor Gott zu bleiben. 
Wohl lefe ich im alten, wie im neuen Teftamente: „Unſer Gott ifl 
ein verzehrend Feuer;“ aber das hindert mich nicht, als ein liebes 
Kind mit einem: „Abba, mein Vater!“ in diefes Gotte Arme mid) 
zu werfen. — Ihr fragt erjtaunt, von wannen ich mir foldye Freiheit 
nehme? — Ich weije euch fehweigend nad Gabbatha himiber. Dort 
findet ihr die Löfung des wunderbaren Räthfels. In dem Wanne, 
den dort Pilatus bingibt, wurzeln meine Hoffnung und mein Friede. 
Denn ich war's, der, mit Ihm bingegeben, in Ihm feine Sunde 
büßte, feine Schuld bezahlte, und die Gerechtigkeit erwirfte, der Die 
Krone verheißen if. Er war mein Bürge und Vertreter; Er ftand 
an meiner Stelle; und fo iſt's nunmehr an mir, zu jubeln: „Was 
kann mir jet noch fchaden der Sünden große Zahl? Ich bin bei 
Gott in Gnaden! Die Schuld ift allaumal bezahlt durch Ehrifti theures 
Blut, daß ich nicht mehr darf firsten der Hölle Qual und Glut!“ 


Die Heberantwortung ift vollbracht. Der Herr Jeſus befindet fi 
in der Gewalt feiner Feinde: ein Lamm unter Wölfen, eine Taube 
in der Geier Krallen! O wie hatte David Recht, daß er lieber in 
Gottes, als in der Menfchen Hände fallen wollte! Sebet, wie fie 
den Heiligen dort zwifchen haben. Aufs neue begeifern fte Ihn mit 
den ausgefuchteften VBerhöhnungen, reißen ihm dann fehonungslos und 
tob von feinen bluttriefenden Gliedern den PBurpurmantel wieder ab, 
und legen Ihm feine eigenen Kleider wieder an, nicht aus Mitleid 
etwa, jondern weil ihnen dünft, daß die ſchauerliche Execution, zu 
der man ihn abzuführen jeßt ſich anichidt, weniger mehr den Spaß 
und Scherz vertrage, jondern einen gewiflen feierlichen Ernft erfor- 
dere. — Sind nicht auch die neueren Feinde Ehrifti mit ihrem Ver⸗ 
fahren gegen Ihn in einem ähnlichen Stadium angelangt? — Als 
vor fünfzig Jahren wie eine verpeftete Atmofphäre die franzöflfche 


Die Marterftraße. 525 


Aufflänmg über die Völfer ſich ergoß, da ftand Ehriftus wieder als 
Spottfönig auf der Bühne der Welt; und wer Wik und Laune 
zu befien glaubte, trug fie zu Markte, um Ihm und feiner Sache 
Damit den Stempel des Lächerlichen aufzudrüden. Seitdem hat 
der Prozeß eine amdre und ernftere Phyfiognomie gewonnen. Mit 
ziemlicher Einmüthigfeit gefteht man in unfern Tagen zu, daß Ehriftus 
für die bloße „Perfiflage” zu groß, zu edel fe. Man achtet feine 
Perfon wie feine Lehre einer „wiſſenſchaftlichen“ Behandlung und 
Beleuchtung würdig, und legt dem Schmachbedeckten in ſoweit feine 
„eigenen Kleider‘ wieder an, als man Ihm die Ehre „eines der 
MWeifeften und Zrefflichiten, die je Die Erde betreten,” unbedenklich, 
zurüd gibt. Aber dieſe ganze Feierlichkeit ift, bei Licht befehen, 
gleichfalls nichts Anderes, als eine folenne Einleitung zu einem Kreu- 
zigungs-Akte. Chriftus wird — allerdings mit Anſtand und Ernft 
— ‚im Namen der Wiffenfchaft” für einen bloßen Menſchen 
erflärt, und Damit natürlich als ein Schwärmer, ja als ein Gottes: 
fäfterer an's Fluchholz verwiefen, indem Er ja eidlich verficherte, Daß 
Er mehr fei, al8 ein Menfch, und fomit nach dem Urtheil der neue- 
ften Wiffenfchaft eines blasphemifchen Meineids fi ſchuldig machte, 
Fürwahr, alles gegentheiligen Scheines ohnerachtet, iſt der antichri- 
ftifche Geiſt feit einem Jahrzehnt nur in eine neue und bedenflichere 
Entwidelungsphafe eingetreten, und feiner vollendeten Reife um ein 
Bedeutendes näher gekommen. Hinter dem Hohn und Spott der 
früheren Zeiten flad immer noch ein verflagendes Gewiffen, das man 
gewaltfam nieder zu halten und zu betäuben ftrebte. Hinter dem neu: 
ften Unglauben lagert die tieffte, hoffnungsloſeſte Todesruhe. Man 
iſt fih mit philofophifhem Hochmuth der unumftöglichen Begrün- 
dung feiner Anfchauungen von Ehrifto gewiß, und fo hat fich der 
Unglaube zum „Eräftigen Irrthum“ ausgebildet. 

Der Kleiderwechjel, der dort im Hofraum des Prätoriuns vorge- 
nommen wird, gemahnt mic) zugleich an einen Akt aus unjerm eignen 
Leben, Ic) fage: „aus unferm Leben,“ weil ich nicht zweifle, Daß 
wenigftens Manche unter eudy mit mir daffelbe erfahren haben. Auch 
wir hatten einmal in den Zagen unfrer Blindheit den Herm Jeſum 
der Herrlichkeit feines angeftanmten Schmuds entkleidet, indem wir 
Dies und Jenes Ihm abzuerlennen und vermaßen, und ebenfalls faum 
etwas mehr, als einen jüdischen Rabbi, oder einen „Weifen von Na: 
zareth” in Ihm übrig Tießen. Wie haben wir aber nachmals einge: 


526 Des Heilige. 


fenft, als Bott der Herr uns die Kleider mmferer ertränmten Gereil- 
tigfeit abnabım, und uns im Spiegel eines Gefehes Die wahre Geftalt 
unfres Innern zur Anſchauung brachte! Wie eilig, Immanuel! Tegten 
wir da Teine „eignen Kleider“ Tir wieder un! Zuerfſt bekamft Du 
von unfern Händen Deine Meſſiaskrone zurüd, dam Dein Ritt 
ler- und Priefterkleid, und endlih Tein Ehrenfönigsriadem: 
denn Das gewedte Bedürfniß unires Herzens batte uns den Blick für 
Deine Schoͤne entzaubert und geichärft. Unter vielm Thränen der 
Reue, wie der Bonne, Neideten wir Dich in Deine urſprüngliche 
Gewandung wieder ein. Jetzt ftebit Tu in Deinem vollen, unver: 
fürsten Echmude vor uns, und wir werden nicht mehr aufhören, nie 
beugend vor Tir mit Jakob au frobloden: „Juda! Du biſts! Die 
werden deine Brüder loben!“ 

Nachdem die Kriegsknechte ihre Vorbereitungen getroffen, tancdht, 
nicht im Schattenriſſe mehr, iondern verwirklicht jetzt, Das furcht⸗ 
bare Zeichen auf, Das feitdem zur Standarte des Reiches Ehrifti und 
zum Wahrzeichen ımfres Heils und unterer Hoffnung aeworden if. 
Zwei Jahrtaufende hindurch wurde es immer neu den Gläubigen 
Iſraels vor Augen gemalt. Schon in der eigentbümlichen Art, in 
welcher der fterhende Alwater Jakob mit gekreuzten Händen feine 
Enfel Ephraim und Manaſſe ſegnete, ipiegelte fih’s. Nicht minder 
fbimmerte e8 Durch die ſogenannten „Webeopfer“ der heiligen Hütte 
und des Tempels hindurch, welche bekanntlich in Der Weile hin und 
ber beweat au werden vileaten, Daß Die Form eines Kreuzes zum 
Vorſchein Fam. In der Witite erhob ſich Das Zeichen als Träger Dee 
ebernen Schlangenbildes, und der Geiſt der Weiſſagung verwob es 
mit in die Bildiprache Des Pſalters Davids, in dem er Den fünftigen 
Meſſias die Worte auf die Lippen legte: „Sie baben mir Hände 
und Füße durchgraben.” — Seher, dort trägt man co nun berzu. 
Nach Roͤmerfitte mußten alle zur Strafe des Kreuzes Vermtbeilten 
den Bulfen, an dem fie verbfuten follten, jelbit zum Richtplag tragen, 
und auch der göttliche Dulder wird mit diefer Schmach und diefem 
Mühſal nicht verihent. Ohne Barmberzigkeit legen fle auch Ihm 
den graufigen Pfahl auf den wund aegeißelten Rüden; und nachdem 
fie zwei ſchwere, zu demfelben Tode verurtheilte, und mit gleicher Lafl 
bebürdete Verbrecher Ihm zum Geleit gegeben, öffnen fie Das Hoftbor 
des Prätoriums nad) der Straße bin, um endlih Das lange ſchon 
mit Ungeduld des erſchütternden Schaufpiels harrende Volk zufrieden 


Die Marterſtraße | 1] 


zu Hellen. Ein dumpfes Gemurmel teuflifcher Schadenfreude und tiefer 
Deftürzung geht wie ein Meeresbraufen durch die Maffe, als die drei 
Kreuzträger zum Borfchein kommen. — Der Zug ſetzt ſich in Bewegung. 
Boran ein bemwaffnetes Geſchwader zu Fuß und zu Rob; dann von ih⸗ 
ren Henkern umgeben die drei Schlachtopfer mit ihren Gterbebetten; 
binter dieſen die bürgerlichen und firchlichen Autoritäten der Nation, 
und endlich Das nachdrängende u die unabfehbure Gaffermaſſe. 


Wir fchließen uns ftill im Beifte an. D welch’ eine Straße, bie 

wir bier betreten! — Denkt, fo führt die unglücielige Erde den 
wieder ab, der in Engelgeleit und unter himmlischen Lobgefängen zu 
ihr hernieder fam. So vergilt fie Ihm die unermüdfiche Xiebe, mit 
der Er das Füllhorn aller erdenflihen Wohlthat und Gnade über fie 
ausgoß! O, wer nod) geneigt ift, es zu bezweifeln, ob die Menſch⸗ 
heit ohne Dazwifchenkunft eines Mittler der ewigen Verdammniß 
würdig war, der richte den Blick auf diefen Marterpfad und überzeuge 
fih hier eines Anden! Denn warum wird der Heilige fo dahin 
geichleppt, als weil man die Sünde zu brünftig liebte, um einen Mamm 
nicht bis in den Tod zu haflen, der als den Erlöfer von derfelben 
fi zu erfennen gab, 

Sehet, dort wankt Er feuchend unter feiner fchweren Bürde bin. 
Entſeßlich und grauenvoll it feine Lage. Alle feine Freunde haben 
ihn verlaffen, und felbit der Himmel ſchweigt über ihm, als hätte 
auch er fih von ihm losgeſagt. Die Jungfrau Veronika, — fo 
meldet eine alte Sage, — tritt fchluchzend aus dem Volksgewühl zu 
ihm heran, und trodnet ihm mit mitleidiger Hand den Blutſchweiß 
von der wunden Stime, Zum Dank für diefen Dienft läßt ihr der 
Herr Sein Bid in ihrem Tüchlein zurück. Es ift dies Dichtung num, 
nur Legende; aber der Gedanke darin ift finnig und wahr. Wen 
dig Liebe dem Heilande zuführt, dem drüdt Er als Geſchenk der Ge 
genliebe Sein Bildniß, und zwar das dorngekrönte, in's Herz, daß, 
wer ed von Ihm empfangen, es fortan als theuerftes Vermaͤchtniß mit 
ſich trägt, und zeitlebens von dem Haupt voll Blut und Wunden das 
Ayge nicht mehr wenden kann. — Einer andern Legende nad) trik, 
wie Jeſus vorüber wandelt, der Jude Ahasverus aus feiner Hilte, 
und verfeßt in teuflifchem Haffe Dem Heiligen Ifraels einen Fußtritt, 
vor Dem derfelbe unter feiner Laſt zu ſchwanken beginnt, ja zu Boden 
zu finfen droht. Dafür aeg donners auch den Frevler die Fluch 


326 Dad Geige. 


verfündigung an, daß er fortan umftät md rubelos in ber Welt 
umberziebn und nicht ſolle iterben können, bis der Herr wiederfoume. 
Ahasverus it der „ewige Jude.“ Auch bier if’& wieder eine Mu 
the, mit der wirs zu tbım baben; aber and fie bat ihre Wahrheit 
amd ihren tiefen Zinn. Der „ewige Jude“ it dus Volk Ifrael 
felbit, Das den Herm ber Herrlichkeit gefremigt hat, und im Düme- 
niſchem Wabne die gräßliche Verwünſchung über fi ausſprach: „Sein 
Blut komme über uns und unire Kinder!" Jegt ſchweift es flüchtig 
und heimathlos umber, ein Fremdling ımter allen Voͤllern, ein Feg⸗ 
opfer Der Belt: und ftirbt nicht, und wird nicht fierben, bis ber 
Her zur Vollendung feines Reichs auf Erden wiederleommen wir. 
Dann aber ttirbrs, nämlich als Volk Des Vannes und der Acht, 
um, feinem wahren Könige David Hoflanna fingend, ald ein neues, 
berrliches Geichlecht wieder aufzueriteben. Tie WBunderiterne der dem 
Samen Abrahams gegebenen Verbeigungen leuchten über Jahrtanſende 
bin, und jenden ibre Etrablen bis an das Ende der Zuge. 

Dort führen fie den Mann der Schmerzen bin. Man vermag den 
Gedanken nicht zu denken, wer mit dem Holz des Fluchs belaſtet 
Diefe Straße ziebt, ohne daß einem dus Herz ver Staunen und Be 
flürzung zu eritarren drobt. Aber Heil uns, daß Er diefen Gang 
gegangen it! O, bemerkt nur, wie ſich bier die Geſtalt Des „Lam⸗ 
mes, das der Belt Simde trägt” fo Deutlih in Ibm ausprägt! Se 
bet ibn an, und ſagt, ob euch nicht it, als vernäbmet ihr von feiner 
flummen Lippe in erneutem Klange das alte Wort: „Opfer und 
Gaben hat du nicht gewollt, aber den Leib bunt du mir zubereitet. 
Siebe ib fomme; deinen Willen, mein Gott, tbue ich gern, und dein 
Gele babe ich in meinem Herzen!“ Würe Er zurückgebebt vor die: 
ſem Todesgange, fo bildete feine Marteritrage nur Diejeniae uns vor, 
auf welcher wir einit jelbit Die Welt zu verlaifen hätten. Statt der 
Kriegsfnechte gäben uns Die Engel des Abarımda Das Geleite: ftatt 
des Fluchholzes belaſtete uns der Fluch Des Geſetzes ſelbſt: ftatt der 
Stricke umwänden uns die Bande des ewigen Zorns, und die Ver: 
zweiflung peitjchte ung mit ihren Feuergeißeln. Jet tragen uns da⸗ 
gegen einſt auf fichter, von himmlischen Verheißungskerzen erbellter, 
Bahn von der ewigen Liebe gefendete Friedensengel in Abrabame 
Schooß. Wem danken wir dies? Allein dem Manne, der dort unter 
der entjeglichiten aller Bürden dahinwankt, und Alles mit ſich davon 
trägt, was Verderben drohend uns entgegen ftand. 


sn. 


Die Morterfirae. 529 


Freilich kann fich’S immer noch ereignen, daß wir während unfrer 
Erdenwallfahrt in ähnliche Straßen bineingewiefen werden, wie dort 
unfer Haupt fie zieht. Denn die Welt haffet feine Glieder, wie Ihn 
ſelbſt, und der Satan hört nicht auf, die Erlöfeten zu begehren, daß 
er fie fichte wie den Waizen. Aber tiber unfern Schmach⸗ und 
Martergängen ift, der Himmel nicht mehr verfchloifen, noch dunkelt 
über ihnen mehr die fchwarze Wolfe der Verwerfung und des Fluchs. 
Gottes Schwert kehrte in feine Scheide zurüd, und Friede und Hoff- 
nung beißen die holden Gefährten, die uns zur Seite gehen. Chris 
ſtus hat unſern Zhränenwegen das Grauen, unfern Drangfalen die 
niederfchlagende Macht, unfern Schmachen und Nöthen den tödtlichen 
Stachel genommen, und uns in Die Lage verfeßt, mit dem Eöniglichen 
Sänger fprechen zu Dürfen: „Und ob ich ſchon wanderte im finftern 
Thal, fo fürchte ih Fein Unglück: denn Du bift bei mir; Dein 
Steden und Stab tröften mich!“ 

Gefegnet fei und denn der Kreuz: und Martergang unfred Friedenss 
fürften! Unterlaſſen wir e8 nicht, Ihn täglich auf demfelben im bes 
ihaulichen Geifte zu begleiten. Er wird ung Die eigenen Schmerzens⸗ 
gänge unausſprechlich verfügen: denn warum geht Er diefe fchredens- 
volle Straße, als damit wir die unferen mit aufgerichtetem Haupte, 
weil frei von Bann und Sorge, gehen könnten. Er trägt auf dieſem 
Seinem Gange nicht allein alle unfere Sünden zu Grabe, noch bricht 
Er nur durch alle Hemmniſſe, Die den Zugang zum Vater und vers 
fperrten, uns offne Bahn; Er macht uns zugleich alle Marawaffer 
in der Wüfte trinfbar, und läßt uns nur übrig, in die Worte des 
alten Dichters einzuftimmen: 

D große Lieb’, o Lieb’ ohn' alle Maaße, 
Die dich gebracht auf dieſe Marterſtraße! 
Ich lebte mit der Welt in Luſt und Freuden, 
Und Du mußt leiden! 


Ach, großer Koͤnig, groß zu allen Zeiten, 

Wie kann ich g'nugſam ſolche Treu' ausbreiten? 
— Keimn's Menſchen Herz vermag ed andzubenfen, 

Mas Dir zu fhenfen! — Amen. 


— 


34 


530 Dei Geige. 


XLIV. 
Simon von Kyrene. 


In der ganzen altteftamentlidhen Geichichte begegnet uns faum ein 
rührenderes und ergreifendered Bud, als dasjenige, das nach 1. Mel. 
22, 6—3 iu dem Gange Abrabuns und Iſaals zum Derge Mein 
uns fich darjtellt. Der ehrwürdige Patriarch bat, ob mit gebrochenen 
Baterberzen auch, in unbedingtem Geheriam dem harten Befehle ſeines 
Dundesgottes ſich gefügt, und fchreitet eben bin, um den ihm gebotenen 
nnerbörten Opferaft zu vollgichen. Sein einziges geliebte® Kind, der 
Zräger der ganzen Zukunft jeined Hanſes, wandelt arglos zu feiner 
Ceite. Am Fuße des verbängnigvellen Hügel angelangt, wimmmt 
Abraham dem Laitthiere Das Bündel des für die Braudopferflamme 
gefpultenen Holzes ab, und legt's, — ihr könnt euch denfen, mit weis 
hen Empfindungen, — feinem Ziaaf auf die Schulter. Er feibft 
ergreift das Schlachtmefjer und die Fackel. So fleigen fie ſchweigend 
zur Auhoͤhe binan. Unterweges ſchlägt Iſaak feine Augen zu feinem 
Bater auf und ſpricht: „Mein Bater!* — „Hie bin ih mein Sohn,“ 
erwiederte Abrabım. In rübrender Einfalt fübrt der erftere fort: 
„Siehe, bier in Zeuer und Holz; wo it aber dus Lamm zum Brand» 
opfer?* — Tu entgegnete Abrabam, Die aufquellenden Thraͤnen ge 
waltfam in fich niederfümpiend: „Gott wird ibm, mein Sohn, zum 
Brandopfer ein Lamm erieben.“ — „Ind die Beiden,“ meldet die 
Geſchichte, „gingen mit einander.“ 

Wer verfemt in dieſer Scene das Vorbildliche und prophetiich 
Bedeutiame? Iſt fie Doch Durch und Durch Davon durchwoben. Sa, 
ſcheint's Doch fait, als bube Diefer Aft nur um jeiner typiſchen Hin- 
tergründe willen in's Leben treten iollen. Der opfernde Vater, der 
zum Brandopfer bejtimmte Schn, und leßterer das Holz, auf dem 
er verbluten foll, felbft zu feinem Zodeshügel tragend! Welche tiefe, 
finnvolle Bilderichrift! Wir werden dieſelbe heute zu ihrer Verwirk⸗ 
fihung kommen ieben, und zwar an Dem „Lamme,“ auf dus der 
Bater Abraham unbewußt weiſſagend als auf Dusjenige binmwies, wel: 
ches Gott fi) in der That zum Brandopfer erjeben werde. 





Simm von Kyrene. 581 


Matth. 27, 82. Mars. 15, 21. Fuc. 23, 26. 

Und indem fie hinaus gingen umd ihn hinfährten, fanden fie einen Menſchen vom 
Kyrene mit Namen Simon, der ein Bater war Aferandri and Rufi, ber vom Felde 
fam und vorüber ging, den ergriffen fie, und legten das Kreuz auf ihn, und zwangen 
ihn, daß er Jeſn fein Kreuz uachträge. 

Je weiter wir in der Pafflonsgefchichte vorwärts fchreiten, um deſto 
deutlicher tritt e8 in dieſer felbft zu Tage, aus welchem Gefichts- 
punkt die Marter Jeſu anzufchauen fei. In Gethfemane umgraute 
uns noch tiefes Dunkel, und wir mußten anderswoher die Fackeln 
entnehmen, die daſſelbe uns erhellen konnten. Bor dem Gerichtähof 
des Hohenpriefterö, wo wir den Heiligen Iſraels Die ſchwerſten Be 
fhuldigungen mit bedeutſamem Schweigen über fi ergehen lafen 
fahen, ftellte fid’s ſchon klarer in’s Licht, Er ftehe an der Sünder 
Stelle. Handgreiflicher trat Dies Stellvertretende feines Leidens auf 
Gabbatha in die Erfcheinung, und namentlich in jenem unerbörten 
Tauſch und Werhfel, der Dort zwiſchen Ihm, dem Gerechten, und dem 
Mörder Barabbas vor fich ging. Nicht minder unverlennbar prägt 
ſich m dem Bilde, das heute vor unfre Blicke tritt, die Wahrheit 
aus, daß Chriſtus mittlerifch unfern Fluch getragen habe. And Toms 
men wir erſt zu der Scene, wo Er, der der Krone des ewigen Les 
bens würdig war, mit dem herszerreißenden Schrei: „Mein Got, 
warum haft du mich verlaffen!” in den Abgrund eines verfluchten 
Todes hinunter fährt, jo werden wir uns vollends überzeugen, daß 
entweder die äußerfte Blindheit, oder der verſtockteſte Eigenſtun dazu 
gehöre, um noch bezweifeln zu können, daß es das Strafleiden eines ver 
urtheilten Sünders, und nicht das Züchtigungsleiden eines nur geprüf⸗ 
tem Heiligen war, unter welchem der große Dulder fein Königshaupt 
zum Zode neigte. Es führt und demnach auch unfer heutiges Evans 
gelium fo wenig aus dem Heiligthum der Paifion heraus, daß es 
uns vielmehr nur noch tiefer in dafjelbe hinein geleitet, und den 
theuren Wahrheiten, die wir mit weitem Aufthun unferes Mundes 
bis hieher euch zu verfündigen die Freude hatten, ein neues ie 
gel der Beglaubigung aufdrüdt. Oft geichiehts, daß man ſich bei 
der Geſchichte Simons von Kyrene in der Wahl des Themas ver: 
greift, indem man von der Schmach meint handeln zu müſſen, welche 
jeder wahre Chriſt in der Nachfolge feines Herm zu gewärtigen habe, 
Es ftellt fi aber Größeres, Wichtigeres, Höheres bier unfrer Erwäs 
gung dar als dies, Wie überall in der Baffionsgeihichte, fo heißt 

34° 





532 Das Heifige. 


auch bier das Thema: „Ehrikus if ein Fluch für uns, Die Fluchbe⸗ 
ladenen.“ Kommt, wir betrachten zuerſt den Herrn Jejum mit 
dem Krenz des Sünders; und dann den Sünder mit dem 
Krenze Jeſu! 

Sei der Herr uns nabe, und eröffne Er und dad Verftändniß eines 
der bedeutſamſten Lebensbilder ſeines Gwangeliums! 


1. 

Pilatus hat, von der furchtbaren Conſequenz der Feinde Jefu aus 
dem Felde geichlagen, den Heiligen Jiraeld gegen die Stinme des 
Rechts in einer Brust den Hünden der Mörder übergeben, und dieſe 
beeilen fih, mit der Hinrichtung jo jchnell als möglich zum Ziel zu 
kommen. Einem Rebellen ſtand nach geichebener Verurtheilung eine 
Appellation nicht weiter zu; im Gegentheil gebot ein romiſches Geſetz, 
daß ein ſolcher unmittelbar nach geſprochener Sentenz zum Hochgericht 
abzuführen ſei. Dieſen Artikel glaubte man nun auch auf Deu au 
wenden zu müſſen, den man als einen Aufrührer gegen Gott, gegen 
Moſes und gegen den Kaiſer nicht ſchnell genug aus der menſchlichen 
Geſellſchaft entfernen zu können meinte. Bir befinden uns bereits, 
wie ihr wißt, im Geiſte mit ibm auf der Straße zu feinen Todes⸗ 
bhügel. Langfam, in Staubmwolfen gehüllt, bewegt Der Zug fi) vor- 
wärts. Welch' ein Zuſammenlauf von allen Seiten! Welch' Getũm⸗ 
mel und dumpfes Getöſe! Lanzen, Helme und gezuckte Schwerter 
bligen im Sonnenjchein. Waffenknechte zu Zuß und Roß, Prieiter und 
Schriftgelehrte, Vornehme und Pöbel, beulende Weiber und fchreiende 
Kinder, Juden und Heiden: Alles in bunten Gedränge durcheinander. 
An der Spige des Zuges, von Scharwächtern umringt, und unter 
dem Gewicht der Werkzeuge der ihnen zugeduchten Todesmarter müh⸗ 
fam vorwärtsfeuchend, die drei Delinquenten: zwei Rebellen und Mör⸗ 
der, und zwilchen dieſen Er, dem genau beſehn ullein Das ganze 
graujenvolle Schmugepränge gilt. Ach jebt, ein blutiger Mann, dem 
Anſcheine nad) der jchuldbeladenfte der dreie. Aber wir fennen Ihn! 
Auh Er trägt jein Kreuz, und in dieſer einer Stellung nimmt 
Er im höchiten Grade unjere Theilnahme in Anſpruch. 

Kreuze befam man unter der Herrichaft Der Römer oft zu feben. 
Gar häufig wurde irgend ein rebelliicher Sclave zu dieſer Ichmählichiten 
und qualvolliten aller Strafen verurtbeilt und abgeführt. Mit dem 
Kreuze jedoch, Das wir den Heiligen Iſraels nad) Golgatba tragen feben, 
hat es eine ganz bejondere, höcht eigentbümliche Bewandtniß. Diefes 


Simon von Kyrene. 533 


Inftrument wurde nad) einem Modell der unfichtbaren Welt gezimmert, 
Bei der Fertigung diefes Marterpfahls begegneten fi, wenn ich fo 
fagen mag, ein Höllenplan und ein Plan des Himmels. Seit Jahr⸗ 
taufenden war die Geftalt Diefes fchauerlichen Baums im oberen Hei- 
ligthum fchon befannt. Ja, von Ewigkeit ber ftand der fchredfiche 
Umriß deſſelben vor dem Bewußtfein des allmächtigen Gottes, und 
wurde den alten Vätern, wie uns bereits befannt, in mandherlei ge 
heinmißvollen Schatten vor Augen gemalt. Um dieſes Sreuzesholz 
feiner innerften Bedeutung nad) zu verftehen, ift e8 erforderlich, Daß 
wir uns in die Gefchichte des Volfes Gottes vertiefen. In die Wüfte 
treten wir zuerft zurück, in welcher Yfrael vierzig Jahre hindurch in 
Wanderzelten wohnte. Was erbfiden wir hier? Inmitten des Lagers 
erhebt fi) eine freuzförmige Panierftange, an Die man eine fupferne 
Schlange, alfo das Bild der Sünde und des von Gott verfluchten 
Thiers, befeftigt hat. Das Volk ward von giftigen Nattern gebiffen, 
und.die Wunden drohen unvermeidlichen Tod. Aber wer im Glauben 
das erhöhte Fluch⸗ und Sündenbild anfchaut, ift alfobald genejen. So 
hat der Allmächtige felbft es veranftaltet, und die Erfahrung befiegelt 
Gottes Verheißung. Wir ftugen über dieſe unerhörte Sache, und 
möchten’8 ja nimmer wagen, nach eigenem Ermeffen in jener Baniers 
ftange ein Bild des Kreuzes Chrifti, in dem Sindenbildniß an ders 
felben einen Schatten Christi felber zu erbliden? Erſchiene nicht 
eine folche Vergleichung einer fluchwürdigen Läfterung ähnlih? Und 
dennoch, was vernehmen wir Joh. 3, 14? Da tritt der Heiland 
felber auf, und fpricht: „Im gleicher Weife, wie Mofes in der Wüſte 
eine Schlange erhöhte, muß des Menſchen Sohn erhöhet werden, 
auf daß Alle, die an Ihn glauben, nicht verloren werden, fondern 
das ewige Leben haben.” Dürfen wir jeßt noch Anftand nehmen, in 
jener Stange ein prophetifches Vorzeihen Des Holzes zu gewahren, 
mit welchem wir heute den Herrn der Herrlichkeit bebürdet fehen, 
und das Fluch» und Sündenbild der ehernen Schlange als einen Tys 
pus deſſen aufzufaffen, der, obwol perfönlich jedes Sündengiftes 
baar, nichtsdeftoweniger, auf daß die fündige Welt durch Ihn genefe, 
„zur Sünde gemacht” ward, und als ein Träger des Fluches auf 
Golgatha zwifchen Himmel und Erde fehwebte? — Treten wir jeßt 
in die „heilige Hütte“ des auserwählten Volkes ein, und werfen 
einen Blick in die ehrwürdigen Rollen des göttlichen Geſetzes. Was 
fefen wir da 5. Mof. 21? „Wenn Jemand eine Sünde gethan bat, 


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gewährt fi. Schlagt Galat. 3, 13 auf. Da tritt der Apoſtel 
lus uns entgegen, und verfündet ohne Hehl und Umſchweif: „Chri⸗ 
Rus hat uns Iosgefauft von Dem Fluche des Geſetzes, du er ward 
ein Fluch“ (griebüih: „Katara« d. i. ein Gegenſtand göttlicher 
Berdammung,) „für uns; denn,” jo führt der Apoſtel fort, „verfludht 
it Jedermann, der am Holze hängt, auf daß der Segen Abrahä 
unter die Heiden fäme in Ebrifto Jeſu.“ Und indem Paulus, der 
bocherleuchtete Gottesmann, Solches fügt, läftert er nicht, fondern 
fpriht nur eine Wahrheit aus, welche uns in veränderten Ausdrudis- 
Formen taufendmal in der Schrift begegnet. Was er aber mit jenen 
Worten jagen will, Das, meine ich, liege zu Bar zu Tage, als daß 
wir es aud nur einen Augenblid verfennen könnten! — 

3a, jene beiden Typen: die Panierftange mit dem Schlangenbilde 
und Die göttliche Verordnung in Betreif der Geheniten verbreiten 
uns Das hellfte Licht über das ſchauerliche Ho, das der Sohn Got- 
tes dort zum Marterberge ſchleppt. Diefer Block ift offenbar der 
Pfahl, über welchem der Verbeifung nad) Das Weiter der göttlichen 


& 


Simon von Kyrene. 535 


Gerichte ſich entladen follte; er ift das Schaffot, wo nach Römer 3. 
„Gott, wegen der Nachficht mit den Sünden, welche vorhin gefchahen 
unter göttlicher Geduld, feine Gerechtigkeit zu beweiſen,“ befchloffen 
hatte; Die Schlachtbank, auf der es zu Gunften der Sünderwelt 
mit dem im Paradieſe gedrohten Fluche an der heiligen Menſchheit 
des großen Bürgen zur Vollziehung kommt; der Brandopferaltar, wo 
das Lamm Gottes der ganzen Summe jener Strafen fid) unterziehen 
wird, die von Rechts wegen mich treffen mußten; und das Sterbe⸗ 
lager, auf welchem der Tod, deffen Gewalt der Teufel hat, und dem 
ih durch ein Urtheil des allerhöchften Gerichtshofs verfallen war, 
einen Andern ergreifen und zu Grunde richten foll, auf daß er feiner 
Anfprüche am mid für immer verluftig gehe. Sagt nun, ob je in 
einer Zimmerftätte der Welt ein wunderbareres und verhängnißvolleres 
Inſtrument zufammengefchlagen wurde, als das Holz, das ihr dort 
auf der Straße zum Galvarienberge ſich fortbewegen ſeht. Es ift der 
Zodtenfarg einer Welt: denn die ganze unzählige Schaar, Die je 
ſelig werden wird, ift, in Gottes Augen, mit Ehrifto an diefem Pfahl 
geftorben. Es ift der Bliableiter über unferm Gefchlecht, der den 
zerfchmetternden Strahl von uns ableitete, indem er ihn an ſich 309. 
Die Wetterfcheide iſt's, wo über uns die Zorneswolfen ſich zertheilen; 
ja der Lebensbaum, deffen Blätter den Völkern zur Genefung dienen, 

Jeſus trägt das Holz Wenn er je auch in feiner äußeren 
Stellung als der Zluchbeladene erfohien, dann hier. Fürwahr, 
wenn Gottes Stimme unmittelbar vom Himmel herab gerufen hätte: 
„Dieſer Gerechte ift jebt der Träger des Urtheils, Das auf euerm 
Haupte lag!” fo hätte uns dies hiedurch nicht gewiffer werden Tönnen, 
als es durd) das Tebendige Bild der Kreuztragung uns ſchon wird. 
Eine gewaltige Sprache hat diefes Bild, und ſchließt's ſchon einem eins 
fältigen Kinde auf, worin der legte Grund der Paffion Chrifti zu juchen 
fein müffe. Außerhalb Serufalems, wie ihr wißt, treffen wir den heiligen 
Dulder. Die Schrift legt auf den Umftand, daß man ihn aus der heilt- 
gen Stadt hinweggeführt, ein großes Gewicht. „Welcher Thiere Blut, * 
fpricht der Apoftel Ebr. 13, „getragen wird durch den Hohenpriefter in 
das Helligthum für die Sünde, derfelbigen Leichname werden verbrannt 
außer dem Lager. Darum auch Jeſus, auf Daß er heiligte das Volt 
durch fein eigenes Blut, hat er gelitten außen vor dem Thore.“ Bes 
herzigenswerther Ausſpruch! Hier wird uns Ehriftus offenbar als Das 
wahrhaftige Gegenbild des altteftamentlichen Sündopfers dargeftellt, 


536 Des Heilige. 

Weil wir nun aber willen, was es mit jenen Sändopfern für eine 
Bewandini hatte, und wie bei diefem gottesdienitlichen Alte dem 
DOpferthiere die Sünden der liebertreter zugerechnet, jened Dann ale 
ein Gegenftand des Abſcheus gefchlachtet, und fein Leichnam wicht al: 
fein aus der Nähe des Tempels entfernt, ſondern gar zur Bezeichnung 
defien, was von Nedhtswegen den Simdern gebühre, mit Feuer 
verbrannt, die Sünder aber nad) ſolchem Opferwerk Iosgefprochen und 
nuſträflich erklärt wurden: fe fpringt es wieder fonnenbell in die Au- 
gen, daß der Apoftel in der angezogenen Stelle nichts Anderes fagen 
will und fagen fann, als daß Ehriftus bei feiner Begführung aus 
den Thoren der Stadt zurechnungsweiſe in der That mit unfern Sim 
den beladen gewefen fei, und unfern Fluch getragen babe. Go find 
wir es alſo, die dort zum Hochgerichte wandern; denn Er gebt dieſen 
Gang an unferer Stelle. Daß dem wirklich alſo fei, und Er diefe 
Straße nit mehr als der heilige Jeſus, fondern als der all 
gemeine und öffentlihe Sünder ziehe, das fehen wir bei jedem 
Schritt, den Er weiter vorwärts thut, ungweideutiger in die Erſchei⸗ 
nung treten. Weil Er aber ud im Himmel jebt als ein Solder 
betrachtet wird, fo ift e8 begreiflich, daß der ewige Vater es über fi 
vermag, folcher namenlofen Schmach und Qual Ihn preiszugeben. 
Sa, darum eilt kein Engel aus der Höhe Ihm zu Hülfe; fein Feuer 
fallt darum vom Himmel, die Mörder zu verzehren; vielmehr jagen 
die Wolfen ftill und ſchweigend über der fehredlichen Scene bin, 
als würde Droben qut geheißen, was drunten Fürchterliches vorgeht; 
ja, der Gerechte kann darum unter der Laft feines Holzes ſterbens⸗ 
müde faft zuſammenbrechen, ohne daß es Jemanden im Himmel 
und auf Erden zu jammern feheint. Die Pforten des ewigen Heis 
ligthums find verfchloffen, die FZenfter der Wohnung des Allmädy 
tigen zugefchoben; und der Gott, der den gerechten Loth aus der 
Mördergrube Sodoms, den Daniel aus dem Löwenzwinger errettete, 
dem wuthfchnaubenden Laban gebot, daß er mit Jakob nicht anders 
rede, denn freundlich, und allen feinen Heiligen zurief: „Füuͤrchtet 
euch nicht, denn ich bin mit euch!” Diefer „Hüter Iſraels“ fcheint 
über feinem Geliebteften zu fchlafen und zu fchlummern, und im Blid 
auf den, der ihm der Nächfte ift, feines fügen Verheißungswortes: 
„Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergeffen,“ u. ſ. w. vergeffen 
zu haben. Ja, alle die Umftände, unter denen wir den Heiland hier 
erbliden, find furchtbar und herzerihütternd; aber alle rufen fie ung 


Simon von Kyrene 537 


mit gewaltigftem Nachdrud zu: „Sehet Jeſum bier belaftet mit 
dem Fluch der Sünder!“ 
2. 

Jeſum mit dem Kreuz des Sünders haben wir angeſchaut. 
Jetzt wechfelt die Scene, und ein neues Bild, der Sünder mit 
dem Kreuze Ehrijti, tritt vor unfre Blide. 

Eine Strede weit bat fich der Heilige mit feiner fchweren Bürde 
fortbewegt, da wandelt feine blutdurftigen Begleiter Die Sorge an, 
er möchte unter feiner Laft zufammenbrechen, und vor der Hinrichtung 
noch) feiner Erfhöpfung erliegen können. Um dem vorzubeugen, fuchen 
fie Jemanden zu erjpäben, dem für den noch übrigen Theil des Wer 
ges das Todesholz Zefu aufzulegen wäre; und bald fällt auch ihr Auge 
auf einen eben vom Felde kommenden Fremdling, den fie um fo lieber 
zu ihrem Vorhaben ſich auserlefen, da fie in feinen Mienen geheime 
Sympathieen mit dem Nazarener wahrzunehmen glauben. Simon 
war es, aus Kyrene in Afrika gebürtig. Ob er damals ſchon zu den 
heimlichen Freunden Jeſu gehörte, wird nicht gemeldet. Gewiß aber 
ward er vom Volk dafür gehalten, und wahrfcheinlich nicht ohne 
Grund. Wenigftens werden Simons Söhne, Alerander und Rufus, 
nachmals als wahre Ehriften genannt, und der Schluß von den Söh- 
nen auf den Vater dürfte ja wohl feine Berechtigung haben. Genug, 
diefer Jude Simon wird angehalten, und ihm das Kreuz des Herm 
aufgezwungen. Er fträubte fi Anfangs gegen diefe Bebürdung und 
Schmach; doch wußte er ſich bald zu bequemen, und bequemte ſich 
dann auch gern. 

Angefichts diefes Simon von Kyrene pflegt man des Wortes Jeſu 
zu gedenken: „Wer mein Jünger fein will, der nehme fein Kreuz 
auf fih und folge mir nach,” und ift dann, wie fchon erwähnt, ges 
wohnt, aus Anlaß dieſes Paffionsabfchnittes von der Schmach zu 
handeln, die man um Chrifti willen zu erdulden habe. Aber told’ 
Thema, will mich bedünfen, liegt doch nicht jo ganz, wenigftens nicht 
zunächit in dieſer Gefchichte, indem Simon ja nicht fein Kreuz, 
fondern dasjenige, an welchem Chriftus verblutete, auf fih nahm, 
So fpiegelt fi) in der fumbolifchen Geftalt des Kreuzträgers etwas 
ganz Anderes ab. Sie veranfchauficht uns die innere Glaubenss 
ftellung, die wir zum Kreuze Ehrijti, d.h. zu dem an demielben 
vollzogenen Opfer: und Erlöfungsalte, einzunehmen haben. Wir follen 
Kreuzträger werden in demjelben Sinne, in welchem Simon 


538 Des Heilige. 


es war; nur geiftlicher Weiſe. Wir find’s, wenn das Kreuz Chriſti 
das unfre ward im Wege der Selbftbefhuldigung, der Glaus 
benszueignung und des fortgefeßten Sterbens mit Ehrifto. 
Ber unter uns im Geifte Ebriftum unter der Laft feines Marter- 
pfahls gen Golgatha wandeln flieht, wird in fofern fofort dem Simon 
ähnlich werden, als er, von Mitleid und Rechtsgefühl gedrungen, das 
gräßliche Holz nicht müßig zufchauend auf dem ſchuldlos Berurtheilten 
ruben laffen, fondern e8 ergreifen, und auf die gottlofen Juden, die ja 
eigentlich daran gehörten, oder auf eine blinde unbarmberzige Macht, 
die er Schickſal nennt und Ohngefähr, oder gar auf Gott den 
allwaltenden felber werfen wird, den er insgeheim darob anflagt, 
Daß Er fo fhreienden Ungerechtigkeiten nicht gefteuert habe. Aber in 
diefer Weiſe Ehriftum entbürden wollen, zeugt nur von großer Her: 
zensblindheit. Allerdings hebt alles Ehriftenleben damit an, daß man 
ümerlich gendthigt wird, dem Herm Jeſu das Kreuz abzunehmen; 
nicht aber, um e8 auf Andre zu fchleudern, fondern es in aufrichtigem 
Selbſtgericht auf ſich Telbft zu nehmen. Dan wird von Dem er- 
leuchteten Gewiffen in das Bewußtfein der eigenen Fluchwürdigfeit 
hineingedrängt. Man fchaudert davor zurüd, und fträubt fich Dawider 
ms allen Kräften; aber umſonſt! Bor uns fteht, jebt nicht mehr miß- 
verftanden, das heilige Geſetz, der furchtbare Gottesfpiegel, und wer 
will e8 unternehmen, den zu hintergehen oder zu belügen? Vielleicht 
geſchieht's, Daß der Blig, der uns zerfchmettert, zuerft nur aus einem 
Gebot wider uns hervorzudt, wie z. B. ein Zachäus dem achten, 
der Schächer dem fehsten, die Samariterin dem fiebenten der 
zehn Worte ihn entfahren ſah. Da meint man anfänglich noch, in 
die übrigen neune fich retten zu können, und wirft ſich etwa als 
in eine vermeintlich fihere Schanze in das erfte Gebot: „Du jollft 
feine anderen Götter neben mir haben!“ Aber der Geift, der num 
einmal mit und angebunden hat, führt uns immer tiefer in den in⸗ 
neriten Weſensgehalt des göttlichen Geſetzes ein; und fo heißt es 
denn zu und: „Du, der du das erfte Gebot gehalten haben willft, 
liebteft du Gott den Herrn von Kindesbeinen auf von ganzem Herzen, 
von ganzem Gemüth und aus allen Kräften?” Man vernimmt die 
Herz und Nieren prüfende Frage; und wie beeilt man fich, dem erften 
Gebote wieder den Rüden zu kehren! Man flieht num etwa zu Dem 
fehsten. Iſt man fih doc bewußt, Niemanden je nach dem Leben 


geftanden, gefchweige, einen wirklichen Todſchlag begangen zu haben, 


Simon von Kyrene. 539 


Nichtsdeſtoweniger hört man fich jegt von dem Zuruf angedonnert: 
„Wer feinen Bruder haſſet, der ift ein Todſchläger,“ und auch die 
vermeintliche Veſte des fechsten Gebots bat feine Breſche. In das 
neunte wirft man ſich. Eines „Falfchen Zeugniffes,” denkt man, 
babe man ſich nicht ſchuldig gemacht. Aber „wie?” heißt es nun, 
„auf Das neunte Gebot wagft Du dich zu berufen? Logeſt, betrogeft, 
beuchelteft und fchmeichelteft du nie?” — Man bört's, aber läßt die 
Stimme im Gewiffen nicht zu Ende reden, fondern zieht fich ohne 
Zaudern etwa auf das fiebente zurüd. „Dieſes hielt ich,” ſpricht 
man mit großer Zuverficht; „ich brach die Ehe nicht!” Aber alfobald 
dröhnt das Wort uns entgegen: „Wer ein Weib anfiehet, ihrer zu 
begehren, hat die Ehe gebrochen;“ und man fleucht vor dem ſiebenten 
Gebote wie vor einen Feuer, das uns zu verzehren droht. Wohin 
denn nun? Zu dem fünften Gebote etwa? — Ach, auch Vater und 
Mutter verklagen uns! — Zu dem ahten? — Es fcheint in der 
That, als wolle wenigftens dieſes ung vertreten; denn wir find ja 
feine Diebe? Aber wehel nicht ferne von ihm ſteht das zehnte 
mit feinem: „Laß dich nicht gelüſten!“ Diefes ftellt und nun vol 
lends bios, und macht dem ganzen Prozeß mit einem Generalvers 
werfungsurtheil über uns ein Ende Da iſt's denn mit allen ımferm 
Selbfiruhm aus. Zwar zögert man noch, auf ihn Verzicht zu lei⸗ 
ſten. Man rafft die fogenannten „guten Werke” in feinem Leben zus 
fammen; aber kaum bat man begannen, dieſes zweideutigen Schaßes 
fih zu getröften, al8 auch ſchon aus dem Heiligthume Gottes her ein 
Richt Darüber ſich ergießt, in deſſen feheinenden und brennenden Strah⸗ 
ten auch unfer Beftes als eine wurmftichige Frucht unreiner Eigenliebe 
fidy darftellt. So ift man denn gendthigt, fich felbft den Stab zu 
breden. Was droht aber Uebertretern wie die, als welche wir uns 
feldft erfunden haben, für die Zukunft ihres Lebens? — Man Tieft: 
„Zrübfel und Angft über alle Seelen, die da Bofes thun;“ — 
„Gottes Zorn vom Himmel wird offenbaret werden über alles gott⸗ 
loſe Weſen!“ Man lieft's, und bebt zufammen. „Wehe mir,” ruft 
man, „ich Unglüdfeliger bin alfo verdammet, verflucht, verloren!“ 
Man wills noch nicht glauben; aber da ſchallts von allen Seiten: 
„a, dul“ Und es ift, als riefen’s die Wände unferer Kammer 
wand die Sparren im Gebaͤlk. Tanſende von Erinnerungen aus der 
Vergangenheit unfres Lebens fammeln fi) gleich Hachegeiftern um uns 
ber, und freien: „Du bi der Mana des Todes!“ Dis in unſre 


> Das Gele. 


Zrämme binem Deiber es mi aub, Yuied idreiiube „du Bis“ 
m den Etemen meine wis zu ion, mub auf jedem mumderer Zax 
ixhl s eicrieben Se müiicn wu em aalab are. EG hridi 
Kreuz wird uns anigelsden, ?. 6: wur umden vell des 
Kreuzes idultiz, indem wu dem Afude, meiden Seraö Deren erlag, 
uns ijelbü verralen tublen. 

Haben wu m in Nom Sim Dei Arım Eher uf mb ae 
newmen, ie vie mm ter Get, ter mm zetemmuiegt hat, zu jemer 
Zu zub wiederzm zu triüre. ini dem Schutern mut Schammen Der 
Eeclbürerdammung szudt mn in den Hutiuhenen Summen 
der Berishuung wur ui. Man altem in Eineli Are dei 
verbanzuiävelle Geb, an weihen ta8 Urtbeil Limzü velljegen wart, 
Dad um3 ein cwiges Berderken trebte: mm erfragt Dead 
in ieiner Irsünellen Zieie, ma> tritt im ein gamı mened Rerbältuif 
u dem Gbrülnäfreuge cin: in tasjenixe zündtnehumender Ihmermmmg 


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mehr nur aus Roth, als ihen aus Eui. Es wikrärcht der 


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Segen des neuen Tages muter dem Krane. Pelauiht man und 
in miſerm Ränmerlein: unter dem Krenze beten wir. Spreden mir: 
„Abba, lieber Vater! fo its das Ara, dus und Nu beberit macht. 


Simon von Kyrene. 541 


füllen Herzenspfalmen. Ruht ein Freudenſchimmer auf unferer Stirn, 
jo iſt das Kreuz die Sonne, von der cr ausfloß. Sind wir recht 
getroft, fo find wir’s in Des Kreuzes Schatten. Weberwinden wir die 
Verſuchungen des Böfewichts, To ift Ehrifti Kreuz die Fahne, unter 
der wir fiegen. 

Freilich umfaßt man das Kreuz nicht immer gleich innig und gleich 
warn. Man trägts oft wohl gleichgüftiger wieder, ja verdroffen, wie 
eine Laſt. Dies ift der. Fall, wenn fich entweder unvermerkt die 
Wurzeln unſres Lebens wieder tiefer in den Boden Diefer Erde ſenk⸗ 
ten; oder wenn der Herr einmal „unferen Berg ſtark machte,” und 
wir auf's neue Anlap nahmen, in eigenem Werk und Weſen uns 
zu befpiegeln. Aber der Gott, der eben fo treu im Demüthigen 
it, wie im Zröften, weiß ums dann das Kreuz fchon wieder füß 
zu maden, indem Er unfern alten Menfchen felbft einer erneuers 
ten Kreuzigung preis gibt, und unter allerlei Noth, Schmach und 
Drangfal das Bewußtfein unfres Elendes in uns belebt und frifcht. 
Ueberhaupt kommen die Erfahrungen Aller, die im Glauben das 
Kreuz Ehrifti auf fih nahmen, darin überein, daß fie je länger je 
mehr auch in das Sterben deflen, der am Holze hing, Telbft mit 
hineingezogen werden. Sie nehmen ab, Sie werden ihrem Bewußtfein 
nach perfönlich ärmer, unwerther, hülfsbedürftiger. Ja, es bleibt ih⸗ 
nen mit der Zeit in ihnen felber nichts mehr, deſſen fie fich noch 
als eines rundes ihrer Rechtfertigung getröften könnten. Je voll 
fländiger fie aber mit allem eigenen Schiffhruch leiden, um fo köftlicher 
wird ihnen, als die einige Rettungsplanfe in der Brandung, das 
Kreuz von Golgatha. Wie wird e8 nun mehr und mehr fo innig 
feſt umflammert, wie body und laut gepriefen, und mit wie heißen 
Thränen gerührten Danks bethaut; und wie bewegt fich zulegt in 
immer enger gezogenen Kreifen, den ihre Sonnen umkreiſenden Plas 
neten gleich, das ganze innere Leben um das Kreuz! 


Gefalle es denn dem Herru, die Geftalt des Kreuzträgerd Simon 
an unferm inwendigen Menfchen immer deutlicher auszuprägen! Ent 
jchleiere Er uns, damit jenes Bild fid) völlig in uns ausgebäre, ims 
mer umfafjender das Verderben, womit wir von Natur behaftet find! 
Nur jo werden wir das Kreuz Ehrifti tragen lernen mit heiligem 
Stolz. Nur jo wird uns daſſelbe zum Baum des Lebens fid ver: 
flären, von dem wir himmlifche Friedensfrüchte brechen. Nur fo wird 


542 Dal Sehe. 


ed und zur Bunderwair, verminelk mweldher wir Belt, Ted uud Zeukel 
übersenden. Team: 


XLV. 
Die Töchter Jeruſalems. 


„Beine nicht!“ rief der Herr nab uc. 7, 13 jener tramernben 
Bünse bei Rain zu. Im Pieiem „Beine nicht!“ eutichleiert ſich 
uns die eigenite Signatur jeiner amtlichen Eribeinmg und WBirliem- 
keit auf Erden. Mit io beidem Gruße mäberte er ſich überall den 
mübfeligen und beladenen Herzen: und ieim „Weinet nicht” war wich, 
wie in den mebriten Füllen Das uniere: ein leeres Wort und ein 
„leidiger Troit;” ſondern wit Kräften Gottes ging es verpaart md 
tbat Bunder der Heilung. Kam Gr ja doch, mm die Uriadh aller 
Tbränen auf Erden aufmibeben und unire Klage zu verwandeln in 
einen Reisen. Auf Grund feiner Berdienfte ron mit velleiter Des 

hi und im umfaflenditen Sinne dur die Zbrünenfammern 
aller göttlich Beträbten jegt wie Zeitwelaumenball der Zumf: „Weine 
nicht; denn es bat überwunden der Löwe aus um Stumme Tuba!“ 

Ein einziges Mal nur wihrend feines ganıen Erdenwandels 
ſprach der Zürit des Friedens Weinet!“ Wie triftigen Grund 
zum Trauren mußte das Auge des Herzenskündigers da entdedien: 
Ber möchte nicht gern erfahren, was Ihn au Dieler feiner Abweichung 
von feiner gewohnten Zuſpruchsweiſe zu bewegen vermochte? Nun, 
Zreunde, wir fommen in umferm Betrachtungsgange beute zu der 
Scene, ans der jenes fein einziges: „Weiner!“ zu uns benibertönt, 
umd werden vernehmen, was es Tei, um das Der Herr gebeut, Daß 
wir weinen jollen. 


N 





Die Töchter Jernſalems. 548 


Sur. 23, 27— 31. 

Es folgte ihm aber nach ein großer Haufe Bolfd, und Weiber, und bellagten und 
beweinten ihn. Jeſus aber wandte fi um zu ihnen und fprah: Ihr Zöchter von 
Jerufalem, weinet nicht über mi, ſondern weinet über euch ſelbſt und enre Kinder, 
denn fiehe, es wird die Zeit fommen, in welcher man fagen wirb: felig find die Uns 
fruchtbaren, und die Leiber, die nicht geboren haben, und die Brüfte, die nicht ge⸗ 
fäuget haben. Dann werben fle anfangen zu fagen zu ben Bergen: fallet über und! 
und zu den Hügeln: dedet und! Denn fo man dad that am grünen Holz, was will 
am -biirren werden? 

Sp taucht denn in dem Schauerbilde von nichts als Grauſamkeit 
und Härte, das auf der Straße nad) dem Bafvarienberge fi uns 
darftellt, endlich audy einmal ein Zug der Menfchlichleit auf, der 
uns in etwa wenigftens das gepreßte Herz erleichtern will Es kommt 
an den Tag, daß für den Heiligen Iſraels auch außerhalb des Heinen 
Kreifes feiner Jünger noch nicht alles Mitgefühl erftorben fei. Es 
geben fich innige Sympathieen für ihn fund, ja Thränen des Schmers 
zes fließen um den hart geprüften Dulder. Doch fiehe, Ihm felbft 
gewähren dieſe Kundgebungen mitleidiger Theilnahme keine Labung ; 
vielmehr fteht er ſich veranlaßt, diefelben abzulehnen, ja zu fchelten. 
Dies befremdet uns, ja flößt uns Beflürzung ein; denn wir fehen 
bier, wie fcharfer Sichtung felbft auch die Empfindungen des Wohl; 
wollens für den Herm noch unterworfen werden, und wie nahe die 
Gefahr Liegen müfje, fi) einbilden zu können, man liebe Ihn jet mit 
der Liebe, welche die Seele des neuen Lebens bildet, während man 
dieſer Liebe doch noch völlig baar ift. 

Kommt, forſchen wir der Urfache nad), aus welcher der göttliche 
Dulder eine Feier feiner Baffion, wie fie in den weinens 
den Frauen auf feiner Kreuzesftraße Ihm entgegentrat, 
verwerfen mußte; und vernehmen wir fodann, welches 
diejenigen Empfindungen feien, mit denen er fih auf 
feinem legten Gange von uns begleitet ſehen wilf. 

Möge e8 denn dem heifigen Geift gefallen, uns nicht allein zu dem 
rechten Begriffe wahrer Bafftonsandacht zu verhelfen, fondern 
vor Allenı auch das Weſen der letzteren felbft uns bleibend einzuhau⸗ 
hen! Ze doch Er allein, der Died vermag. Auf dem Boden ber 
Ratur wachfen Die Blumen nicht, an denen auch das Auge und das 
Herz Gottes ſich erlaben mögen. 

1. 
Die Straße, Die von Yernfalem nach dem Galvarienberge führt, iſt 


544 Das Geilige. 


mit Bollsmaffen bededt. Möchte fie es geiftlicher md kirchlicher 
Weiſe auch noch bente fein! denn eine andre führt nicht zu Heil md 
Leben. Freilich ſind's nicht lauter Paffionsfeiernde, Pie dert 
zwifchen Serufalem und Golgatha uns begegnen. Bielmebr dürfte 
folder nur ein fehr geringes verſchwimmendes Häuflen vorhanden 
fein. Aber lieber entjchiedene Widerſacher auf der Krenzesftraße, 
als dieſe ‚Straße vereinfamt und leer! Ad, in unjern Zagen, wud 
feider! auch in diefer unirer Stadt, ericheint fie fehr verödet! Auf den 
Straßen zu den Gößentempeln der Belt und den Zummelpläßen ter 
Augen» und Fleiichesluft wimmelts und wogtd. Wie Biele aber 
ſind's noch, denen höher Das Herz zu ſchlagen pflegt, wenn es zu if 
nen heißt: „die Paffionszeit ift mieder da, und wir fdhiden ums dafs 
neue an, dem Marterhügel zuzumandern, wo wir die Gründe unjerer 
ewigen Erlöfung legen ſehen?“ — Unzählige ımter uns, beforge id, 
fterben fort und fort des ewigen Zodes. Aber acuten Kraufheiten 
erliegen die wenigiten mehr von ihnen. Die Meiften fterben an der 
Bleich⸗ und Dörrfucht des vollendetiten Indifferentismus. Iſt's doch 
mit ihnen allmälig dahin gediehen, daß jelbit Das Erhabenjte unter 
dem Himmel fie langweilt, und die Worte: Kirche, Gottesdienft, Bre 
digt fie nur noch gähnen machen. Die Unglüdfeligen! Sie willen 
nicht, Daß fie in dieſen bedenflichen Lebenszügen jchon die Brandmale 
des über fie bereingebrochenen Gerihts, ja die Signaturen, wenn 
auch nicht jchon der Verwerfung, fo doc der Verwerflichkeit 
an fi) tragen. Der Satan ſelbſt fcheint dieſe Menfchen irgend eines 
energiichen Angriffs kaum mehr werth zu achten. Sie fallen ihm wie 
abgeftorbene Bäume von jelber zu, und er findet fie in feinen Neben, 
ebe er noch diefelben ausjpamnt. 

Ihr, meine Freunde, gehört zu dieſer beflagenswerthen Gattung 
nicht. Euch treifen wir ja noch im Geifte auf dem Wege zur Schi: 
delſtätte. Ya, diefer Weg ift der Weg zum Himmel; aber, jehet euch 
vor: denn auch er hat feine Riffe und Gruben, die in Die ewigen 
Wüften münden! „Eine große Menge Volks,, lefen wir in un 
ferm Evangelium, „folgte Zefu nad.” Es waren Died Teineswes 
ges Lauter Gegner und lebelgefinnte. Biele unter ihnen begehrten 
nur zu fehen, „wo es mit Jeſu hinaus wolle,” und nahmen alje 
mindeftens ein geichichtliches Intereſſe an feiner Perfon und Sache. 
Wiffet aber, daß Solches zum Seligwerden noch nicht ausreicht. 
DBedenkts, die ihr mit jenen Leuten auf gleichem Standpunkt euch 


Die Töchter Zetufaleme. " - 545 
befindet. Es begegnen und heut zu Tage nicht Wenige wieder, und 
ihre Zahl nimmt zu, die, wie andere auf Politif, Kunft, oder auf 
was fonft für ein geiftiges Feld es fei, fo mit ihrer Theilnahme auf 
die Angelegenheiten des Reiches Gottes, der Kirche und des Ehriften- 
thums fich geworfeu haben. Welche Fortfchritte das Evangelium mache 
in der Welt, wie e8 um den Sirchenbefuch ftehe da und dort, was 
diefer und jener Verein Erkleckliches zu Stand und Weſen bringe, 
was zur Hebung des öffentlichen Gottesdienftes gefchehen könne, wie 
das Anfehn der kirchlichen Bekenntniſſe zu ſtaͤrken fei, was dieſe und 
jene Secte glaube oder Iehre, ja fogar, in welchem Sinne man das 
eine oder andre Dogma aufzufaflen, und wie man's am richtigften zu 
formuliren habe: Das find die Gegenftände, für die fie ſich intereffl- 
ten, nach denen fie zu fragen, von denen fie zu reden lieben. Schön 
dies und loͤblich! — Aber es kann der Fall fein, daß fie mitten in 
dem heiligen Lande, in welchem fie mit ihren Intereſſen fich bewegen, 
ebenfowohl nur der Berdammniß erntgegenreifen, wie die DBejam- 
mernswürdigen, die in den Steppen der äußerften Gleichgültigkeit, 
oder gar in den Sümpfen der Frivolität ihr Element gefunden haben. 
Es gibt eine natürliche Theilnahme an den göttlichen Dingen, und 
mitunter fogar eine recht rege, durch welche dem alten Menfchen Fein 
Haar gekrümmt, und dem Fürften der Finſterniß in keinerlei Weiſe 
das Spiel verdorben wird. In dem Bewußtfein, Daß es eine folche ges 
be, geſchah es, daß einmal ein alter an chriftlicher Erfahrung gereifter 
Prediger einem jungen vielgereiften Theologen, der mit den Worten 
fih bei ihm einführte: „Es wird Ihnen angenehm fein, etwas aus 
dem Reiche Gottes zu vernehmen?“ die furze und trockne Antwort gab: 

„Rein!* Der junge Mann ftugte, verftunmte, und z0g verlegen 
wieder ab, Später aber it ihm dieſes dürre „Nein“ zum Segen 
geworden, indem es ihm bei tieferem Nachdenken zu der gerade ihm 
befonders heilſamen Einftcht führte, daß man an firchlichen Angelegen- 
beiten faſt fchwärmerijchen Antheil nehmen könne, ohne darum jelbft 
ein wahrer Chriſt zu fein. Wie jene Theilnahme felbft bis auf 
die Paſſionsgeſchichte ſich erjtreden könne, begreift fich leicht. Diefe 
Geſchichte, Die mit der reichen Mannigfaltigkeit ihrer Scenen, Perföns 
lichkeiten und Charaftere einen Spiegel der Welt abgibt, wie follte 
fie nicht auch ſchon da eine anziehende Kraft ausüben können, wo fie 
nur, abgefehen von jedem religiöfen Bedürfniß, das noch gänzlich 
ſchlummern kann, einer Empfänglichleit für rein Menichliches bes 

35 


546 Das Hrüige. 


gegnet? Aber eine ſolche Theilnabme ik eben weſentlich ven Eriner 
anderen umierfchieden, und but mi diem Glaubensichen, auf des 
allein Gottes Augen jehen, nichtd gemein. 

Etwas edlerer Ranır, ald das eben bezeichnete, it das Jutereie 
derjenigen, deren Befreundung mit der Geſchichte und Suche Ebrifli 
in der Verehrung deö legteren alö des „Heiligen in Iſrael“ wur 
zelt. Gimelne dieſes Schlages befunden fi wohl auch unter jenem 
nachdrängenden Volke, und auch unter uns begegnen ums ſolche höher 
bejaitete Raturen nicht felten. Chriſtus ſchwebt ihnen als das voll 
endete Ideal fittlicher Menſchengröße ver dem jtaunenden Blid. Arch 
fie find der Ueberzeugumg, daß Ebritus in der Menſchheit Geikalt 
gewinnen, und Alles in Allem bei ibr werden muijle, wenn der Zelt 
ein goldenes Zeitalter ericheinen ſolle. Es bindert fie auch niches, 
mit lebhafter Empfindung die Paſſion des Herr mit uns zu feiern, 
indem fie hochherzig ergrimmen wider das ruchloje Geſchlecht, Das 
den einzig Tadelloien, der die Erde betrat, and Kreuz jchlagen komme. 
Aber beten fie auch mit uns: „D Lamm Gottes unichuldig, Das du 
trägeit die Enden der Belt, erburme did unſer?“ O nein, 
fommt ihnen nicht in den Sinn. So wenig fie eine Ahnung Davon 
haben, daß Ehriftus, dem fie als der „Blüthe” und dem „Muſter⸗ 
bilde der Menichheit” geru alle Ehre amgedeiben laffen, noch etwas 
Höheres gemwejen fein könne, als Dies, ebenjowenig laffen fie ſichs 
träumen, daß der Menjchheit, wenn ibr gebolfen werden jolle, irgend 
etwas Weiteres obliegen möchte, als Daß fie nur unter Zuſammenraf⸗ 
fung ibrer eignen Kräfte und mit Durchhultender Willensenergie jeuem 
lebendigen Borbilde ſich zu verähnlichen firebe. Seht, jo geben Diele 
trefflichen Leute allerdings mit uns den Kirchenweg, ja in einem ge 
wiffen Einne fogar den Weg nah Golgatha; und dennoch fieht 
ed außer Zweifel, daß ihnen jelbit noch die erjten und weſentlichſten 
Erforderniffe des wahren inneren Chriftenthums: das zerbrochene Her 
und der lebendige Glaube an Chriſtum als an den Gott gleichen 
Mittler völlig abgehen. Entrüftet über die Mörder Jeſu, wiſſen fie 
nicht, DaB fie jelbit deren Bluturtheil mit unterzeichnen. Denn ins 
dem fie über den Menfchen in Jeſu nicht hinaus wollen, fiempeln 
ja aud) fie Ihn, der eidlich betheuerte, daß er weſentlich eins fe 
mit dem DBater, zu einem todeöwürdigen Gottesläſterer. Scheltend 
auf die Pharijäer find fie im Grunde ſelbſt nur Sinnesgenofien ders 
felben; denn fo wenig, wie Diefe, mögen auch fie von einem Seins 


4 


Die Töchter Jernſalems 547 


etwas wiffen, der fie ald Sünder behandeln, und ihnen zumuthen 
will, fih durch Ihn erlöfen zu laffen. 

Ein drittes Verhältnig zu Chriftus, und namentlich zu dem Paf- 
fionschriftus, veranfchaulichen uns die Frauen, die wir in ımferm 
Auftritte weinend und wehllagend dein göttlichen Dulder folgen fehen. 
Hier foheint uns nun die rechte Baffionsandacht zu begegnen. Hier 
erbliden wir inniges Mitgefühl mit dem Mann der Schmerzen, herz 
liche Rührung im Hinblick auf fein Kreuz, ja Thränen, Angefichte 
der fpottenden Feinde um Ihn geweint, und in Diefem Allem unums 
wundenes Bekenntniß, daß ein Unfchuldiger zum Richtplab gefüh⸗ 
ret werde, der der achtungsvollften Liebe, nicht aber der Verhoͤhnung 
und des Hafjes werth ſei. Was will man mehr, als hier zufammen 
trifft? Der Herr unterläßt es auch nicht, diefe theilnehmenden Ber 
gleiterinnen Seiner Beachtung zu würdigen. Er wendet ſich nach ihr 
nen um Wozu? Wir denken, fie zu loben, zu tröften, und fi 
felbft an ihrem Anbli zu ftärken und aufzurichten. Aber wie ges 
fyieht uns, da wir gerade das Entgegengefegte eintreten jehen? “Der 
Herr weift die Traurigkeit der Weinenden ald eine verirrte ab, und 
richtet ihre Thränen als etwas Unnützes und Unfruchtbares. Er, der, 
wie Er überall, und auch in den tiefiten Leidenswegen, die vollfons 
menfte Klarheit und Faſſung des Geiftes fich zu bewahren wußte, fo 
auch nicht einen Augenblick die Ihm aufgetragene hirtliche Fürforge 
für die verirrten Schafe aus dem Haufe Iſrael aus den Augen verlor, 
ruft den Weinenden hinter Ihm zu: „Ahr Töchter Jeruſalems, 
weinet nicht über mich, fondern weinet über euch und eure 
Kinder!” Ein ernſtes beberzigenswerthes Wort, von dem nicht jene 
Frauen allein, fondern zugleich gar Manche unter und getroffen wers 
den! Ja, es fchlägt Alle, deren Andacht zum Kreuz ebenfalls nur in 
einer natürlichen Rührung über das Tragifche des Lebensausgans 
ges des Gerechten befteht, und die aud) nichts Anderes, als Thräs 
nen des Mitleids und der Smpfindfamkeit für den Heiland haben, 
Wie viel gemüthliches Zerfließen, dus bei lebhaften Veranſchaulichun⸗ 
gen der Marter Jeſu, bei muſikaliſchen Oratorien, bei feierlichen Kir⸗ 
chenfcenen, oder liturgifchen Andachten vorkommt, wird hier als uns 
reines Opfer vom Herm ſelbſt zurüdgewiefen! Kaum zu ermeflen ift 
es, welch’ eine Zülle von Unbußfertigkeit und phariſäiſch felbftgerechten 
Weſens hinter folhen Gefühlftrömungen fich verfteden kann. Der Eine 
iſt bei feiner Bafflonsandacht im Grunde nur gerührt über die eigene 

35" 


bus Das Heilige. 


Tugend. Er denkt: „Es liebt die Welt, das Edle zu fchwärzen! Wie 
einſtmals Du, da du zum Kreuze gingft, fo werde auch ich mißkannt 
auf Erden!“ Und diefes Gedenken ift’s, was ihm das Herz bewegt. 
O frevler Hochmuth des nichtswürdigen Sünders, in folcher Weiſe 
den Gerechten aus der Höhe ſich an die Seite ftellen zu wollen! — 
Ein Andrer fpricht bei fih: „Mit Dir, du Mann der Schmerzen, will 
ich mich tröften in meinem Unglüd; mit Dir, der du einft auch nicht 
auf Rofen wandelteft, aber durch's Kreuz zur Krone hindurchdrangſt!“ 
Er ſpricht's, und ihm zerſchmilzt bei Diefem Gedanken das Gemüth. 
O ftrafbare Verblendung! Als litte auch er, wie jener, ſchuldlos, und 
als wäre Gott verbunden, ihn für fein Leiden ſchadlos zu halten! 
Was ift Pharifäismus, wenn es dies nicht ift? — Ein Dritter — 
und Diefer zählt feine Genoffen nad) Zaufenden — rechnet fi) die Zäh- 
ren des Mitgefühls felbft, die die Marter Chrifti ihm entloden, zur 
Gerechtigkeit, und erhebt fie als vermeintliche Zeugniffe für feine 
„Herzensgüte” zum Grunde feines Zroftes und feiner Hoffnung. Bes 
klagenswerthe Veritrung! „Weinet nicht über mich!” ruft der 
Herr. Bernehmt ihr's? Er verbittet ſich's, daß man Ihn bedaure, 
und beflage. Er ift fein Unglüdlicher gewöhnlicher Art. Er unterliegt 
feiner Lebermacht, weder einer menfchlichen, noch derjenigen dräns 
gender Umſtände und Berhältniffe Er ftände augenblicklich ftatt mit 
dem Kreuze, in der Krone vor uns, wenn Er wollte. Ganz frei 
gab Er fih in feine Marter hin, um zu vollenden, was Ihm fein 
Bater aufgetragen hatte; und der Name eines „tragifchen Lebensaus⸗ 
ganges,“ im hergebrachten Sinne leidet auf die Paffion des Herm 
durchaus Feine Anwendung. Nirgends ift weniger der Ort für Thrä- 
nen der Sentimentalität und des Mitleids, als an feinen Marterftät- 
ten. Indem man fi) folchen Rührungen überläßt, verfennt man den 
Herrn, ja würdigt Ihn herab, und verfehlt für die eigene Perſon 
den Weg des Heils, der und von Gott gewiejen if. Darum ruft 
der Herr ein für allemal in die Welt hinein: „Weinet nicht über 
mich!” und ftellt fich damit aus der Reihe gewöhnlicher Elender umd 
Unglüdlicher völlig heraus. 


2. 

Afo Thränen gehören zur Paffionsandacht nicht? — Wohl ge- 
hören fie dazu; aber ihr Gegenftand muß ein andrer fein, als Die 
Berfon des Herrn. Hört Ihn felbft: „Weinet,“ fpricht er, „über 
euch, und eure Kinder!” — „Ueber uns?" — Ia, Freunde, ja} 


— 


Die Töchter Iernfalemb, 549 


In der Hinfchlachtung des Herm vom Himmel gipfelt und vollendet 
fih die Schub der Welt. Die Welt war fündig vom Fall im Pa- 
radiefe an. Daß fie es war, trat in den Tagen Noahs, Nimrods, 
der Richter und der Könige Iſraels grell zu Tage. „Die Miſſethat 
der Amoriter” aber war „noch nicht voll.” Damit auch der Tegte 
Scheingrund zu Entjchuldigungen und Befchönigungen fhwände, muß« 
ten der Heiligungshaß, der Undank und die gottentfremdete Selbſt⸗ 
ſucht der Kinder Adams noch unzweideutiger fich offenbaren. Dem 
menfchlichen Gefchlechte wurde Gelegenheit geboten, fein innerftes 
Weſen fund zu geben, als ſich die Heiligkeit in Perfon ihm ge 
gemüberftellte, und Gott der Herr über daffelbe dus Züllhorn feiner 
Erbarmungen ausgoß. Beides geſchah in der Sendung Ehrifti, des 
eingeborenen Sohnes, des guten Hirten. Wie erwies fih nun die 
Belt? Sie liebte die FZinfterniß mehr, denn das Licht, entbrannte 
wider den, der fie von der Sünde zu erlöfen fam, in Haß, und 
ftieß ihn von fih, der durch den Mahnruf zu Wiedergeburt und 
Belehrung ihren Hochmuth kränkte. An's Kreuz ſchlug fie den He 
zold und Zräger der Gnade Gottes. — „Die Welt?" — Sa fiel 
Schaue nur näher zu, und du wirft Dich ſelbſt mit unter dem Haufen . 
finden, der dort den Herm der Herrlichkeit zur Schlachtbank führt. 
Irgendwo erblicit du dein eigenes Angefiht. Iſt's nicht in Judas, 
fo doch in Hannas; iſt's in dieſem nicht, dann in dem heuchlerifchen 
Kaiphas, oder in dem verweltlichten Pilatus, oder in der gewiſſenlo⸗ 
fen Rathsheren einem, oder in wen font es fei. Irgendwo begegnet 
Dir der Spiegel, der dir deine eigene moralifche Geftalt zurückwirft. 
Schaue dich um, und fage, ob ſich die Scenen Gabbathas und Gols 
gathas nicht geiftlicher Weiſe unausgefegt erneuern? Ob nicht auch 
heute noch ein gewiffer Muth dazu erforderlich ift, den Namen Jeſu 
auf offenem Markte zu befennen? Ob nicht nad) wie vor Diejenigen, 
die Chriſtum lieben, fi Frömmler und Heuchler gefcholten hören mäfs 
fen; und ob diejenigen, die den Fuͤrſten des Friedens Andern anpreis 
fen wollen, nicht faft überall nur auf grimmige Abwehr floßen? Ja, 
greife nur in deinen eigenen Bufen, und fprich, ob du, wie du biſt 
von Natur, mit Zefu zu ſchaffen haben magſt? Was regt fi) in Dir, 
wenn Er dir anfinnt, daß du Dich zu Seinen Schäden und Zöllnern 
herunterfegen, oder deinen Mammon, oder was fonft für ein Goͤtze 
es fei, ihm opfern folleft? Oder wenn Er auf dem Wege deiner 
finnlihen Erluftigungen mit aufgehobenem Finger Dir entgegentritt, 


550 Dei Heihge. 


und von dir begehrt, daß tu Gott lebeſt und nicht der Welt, ud 
auf Gottes Stege wandelũ, nicht auf dem Deinen: maß ii, Das bu 
Daun zu enwñnden vilegit? Dis etwas Anderes, ald Abneigung, Bi- 
derwille, Unmutb und Verdruß? Hort tu nicht von Allem licher, eis 
von Ibm, und fällt Dirs jemals ein, zu Gottes Füßen Danfbar u 
zerichmelzen, wenn dich Die Berihaft antönt: „Alto bat Gott Die 
Welt geliebt, Daß er ſeinen eingebemen Zchn dahin gab?* D Pr 
der, bis zu dieſem Augenblid noch ſcheint Ghriiius unter uns mm 
Dazuiieben, Damit an Abm unſere Verderbtbeit und Beriunfenbeit in 
die Erideinung trete. Wie dem, daß wur jen: Weinet nidt 
über mid, ſondern weinet über euch,“ nicht verteben, sder 
ale auf uns feine Anwendung leidend überbören wollen! Fürnwahr, 
alle rechte Pamñonsandacht bebt damit an, daß wir webllagend wuire 
Hände über das eigue Haupt zuſammenſchlagen, und uns ſelber rich⸗ 
ten, verdummen und des ewigen Todes wert erfennen. 

Screckliche Tinge bekommen die Töchter Seruialems zu bören; wicht 
aber, damit fie bemumgslos verzweillen ſollen. Bielmebr its au 
bier die Das Verlorne jnchende Liebe, Die zu ibnen redet, und fie zur 
quien Snınde noch zur Buße leuten mochte. Weinet über end 
und eure Kinder!“ Unverfennbure Anipielung auf den entjegfichen 
Fluch, den dus beihörte Belf vor Gabbatba auf fich herabbeſchwor; 
und fomit zualeih Bezeichnung der Sünde, welche ald die Haupt 
jünde Jiraels, und Folglich auch als Die Huuptquelle ihres ganzen wach 
maligen Elendes vor Allem zu beweinen fe. „Es werden Tage 
fommen,“ fährt der Herr fort, „in welden man jagen wird: 
Selig find die Unfructbaren, und die Keiber, die nicht 
geboren haben, und die Britite, Die nicht geſäuget baben!“ 
Welch eine Verkündigung! Was zu auter Zeit in Jftael als ein 
großes Unglüd und eine ebenio große Schmach beflagt zu werden 
pflegte, nämlich unfructbar und finderlos zu jein, das wird alsdaun 
als ein beneidenswerther Vorzug geprieſen werden! — „Dann,“ führt 
der Herr tert, (ſowobl bier, wie bei der vorbergehenden Rede unver 
kennbar auf Ausiprüce der Propheten Jeſaias md Hoica bimüber 
Deutend: denn im Worte feines Vaters lebte er, als in dem eigents 
lichen Elemente feiner heiligen Seele) — „Dann werden fie ans 
fangen au fagen au Den Bergen: Faller über uns; und au 
den Hügeln: Bededer uns!“ Offenbar erweitert ſich bier der 
Gefichtskreis Des Herm über die Schredfenstage Des Untergangs Yes 


Die Töchter Jernſalems. 551 


rufalems hinaus. Unverkennbar greift Sein Wort, ſich verallgemei⸗ 
nernd, bis auf Das Weltgericht des, jüngften Tags hinüber. Die als 
dann als ſolche werden erfunden werden, welche in hartnädigem Uns 
glauben und andauernder Unbußfertigfeit Ihn, ihren treneften Freund 
umd einigen Seligmacyer, verwarfen, werden ſich in eine Lage vers 
feßt erbliden, in welcher fie die Vernichtung dem ferneren Dafein 
vorziehen werden. Sie werden die Berge anrufen, über fie zufams 
menzuftürzen, und für immer fie unter ihrem Schutte zu begraben, 
Aber die Berge fteben und fallen nur auf Gottes Geheiß, ımd Bolt 
der Herr, ihr Feind jebt, hat Anderes über fle beichloffen, als die 
Bernihtung. So werden file denn zu den Hügeln flehen, daß fie 
vor dem Angefichte des zürnenden Richters fie bedecken möchten; aber 
fein Schlupfwinfel wird auf und unter der Erde zu finden fein, der 
dann den verfolgenden Blicken deſſen fie entrüde, welder „Augen 
hat, wie Feuerflammen.“ Schmerliche Ausfiht! Und erwäget nur: 
der hier die Schleier lüftet, ift nicht etwa ein wilder Eiferer, auf 
deffen Drohungen nicht gar zu viel Gewicht zu legen wäre; ſon⸗ 
den Der iſt's, der die Wahrheit und zugleich Die Leutſeligkeit fels 
ber iſt. Wie wird hiedurch der Nachdrud jenes Zurufs verftärkt, in 
dem eine Bußpredigt am und ergeht, wie eine gemaltigere und ein 
dringlichere auf Erden nie vernommen ward. — Der Herr fchließt 
feine Anfprache an die Töchter Serufalens mit dem Ausruf: „So 
man das am grünen Holze thut, was will am dürren 
werden?" Diefe Worte koͤnnen nicht mißverftanden werden. Der 
große Kreuzträger ftellt fich hier felbft als einen Spiegel des Zornes 
Sottes dar. Weil Er der Gerechte, ja das Keben felber iſt, 
beißt Er das „grüne Holz." Für feine Berfon gebührte Ihm Hert⸗ 
Tichteit und Wohlfein, nicht aber Leiden. Dennoch erduldet er 
namenlofe Schmach und Folter. Was aber über Ihn ergeht, Das 
muß mit demjenigen, was den Gottlofen gedrohet ift und bevor 
ſteht, gleicher Natur und Gattung fein. Berhielte fich's anders, fo 
hätte die Schlußfolgerung, die der Herr ımd aus Seinen Nöthen 
auf das zufünftige Geſchick der unbußfertigen Sünder ziehen heißt, 
feine Wahrheit, und der von Ihm aufgeftellte Vergleich wäre un- 
angemeffen. Waren e8 „Gnadenleiden“ nur, welche Jeſum trafen, 
wie fonnten dieſe dann zu einem Maßftabe für das künftige Loos 
derjenigen dienen, mit denn die Gnade gar nichts mehr zu fchaffen 
bat. Es waren aber Chriſti Leiden ſtellvertretend übernommene Straf- 








Das Allerheiligite 


— — — — 


Das Allerheiligſte. 


— — — — 


xuvi. 
Die Kreuzigung. 





„Der Herr ift in feinem heiligen Tempel; es fei vor 
ihm ftille alle Welt!" Mit diefen Worten des Propheten Ha- 
 bakuf (Kap. 3, 23.) begrüße ich euch heute, geliebte Freunde, da 
wir im Begriffe fiehen, in das Allerheiligfte der evangelifchen 
Geſchichte einzutreten. 

Der feierlichfte aller Zage in Iſrael war bekanntlich der große 
jährlihe Verföhnungstag, der einzige Zag im Jahre, an welchem 
der Hohepriefter in das Allerheiligfte des Tempels einging. Ehe er 
diefe geheimnißvolle Stätte betrat, mußte er, — fo gebot es das 
Geſetz, — jeglichen Schmuds fich entäußern, und vom Haupte bis zu 
den Füßen in fchlichte weiße Leinewand fich Heiden. Dann nahm 
er die Schale mit dem Opferblut in feine Hand und, vor Ehrfurcht 
bebend, fchob er den Vorhang zurüd, um anbetend und gebeugt dem 
Gnadenſtuhl zu nahen, und ihn mit dem verfühnenden Bfute zu bes 
fprengen. Nicht länger jedoch verweilte er an dem heiligen Ort, als 
bis das priefterliche Werk verrichtet war. Dann trat er wieder vor die 
verfanmelte Gemeine heraus, und verfündete im Namen Jehovas allen 
bußfertigen Herzen Gnade und Bergebung. 

Bir werden diefen ſymboliſch höchſt bedeutfamen Akt jet zu 
feiner vollen thatfächlichen Verwirklichung gedeihen jehen. Der Un⸗ 
vergleichliche, von dem das ganze altteftamentliche Prieſterthum goͤtt⸗ 
licher Abficht gemäß nur ein vorbildender Schatte war, verliert ſich 
hinter den Dichten Vorhang einer bis zum Aeußerften fich fleigernden 
Erniedrigung und Qual, um, fein eignes Blut in Händen tragend, 
mit Gott, feinem Vater, priefterlih für uns zu handeln. Dem Ge- 
fihtötretfe der begreifenden Vernunft entrückt, und nur der glaͤubigen 


558 Dei Ylcıhelige. 


Abuung mod erreichbar, feht Er, was Mofes biſdernd im dus bie 
tige Zignrenmwerf der beiligen Hütte verwob, nah allen Seiten jept 
in That ud Weſen um. Tas Bie werden wir mu dem Saul: 
blei unirer Gedanlen nie gumz ergrinden; aber wi fs, daß er 
dort umire ewige Grlöiung zur ichließlichen Vollendung brachte. 

Brüder! wonit werden wir Dielen feierlich erbabenen Momenten 
zu begegnen haben? Mindeitend mit beiliger Zummiung des Ge⸗ 
mũths, mit andüchtiger Beicheufichleit, mit glänbig jeliger Bertiefung 
in das große Neuterwerk, und mit dankbar zerfließenter Anbetung au 
Gottes Throne! 

Werde dieſes Alles von der Hund der Gnade und gewäbrt! 

„Der Herr if in feinem beiligen Zempvel; es jei vor 
Ihm ſtille alle Belt! 


Matth. 27, 33. 34. Marc. 15, 22. 23. 25. ſac. 23, 32. 33. 
3eh. 19, 18. 

a4 wurben aber end Kingefährt pucca anbere Iebeilhäke, bei fie mit ihn ab» 

gethan würden. Und ba Re an die Stätte lamen a en eigen, DD 

dollmetſchet Schäbelltätte, it nfen, 1m ser wie Bein zu trinfen. Und de 


fe ihn, aud mit ihm zwern lebelfhäter zu bei vn ein. einen zur Rechten und 
einen zur Linken. Iefum aber milten inne. De ward die Erifi erfüllet, bie da 
ne Er ik unter die Uebelthäter gerechnet. Und es war um bie dritte Stunde, Dei 
e ihn 

„Allda kreuzigten fie ihn.“ — Ber, der e8 nicht ſchon wüßte, 
follte glauben, daß in dieſen wenigen ſchlichten Worten dus größte 
und folgenreichfte Ereigniß der Weltgeſchichte, ja eine Begebenheit 
uns berichtet werde, welche Jahrtauſende hindurch angebahnt und vors 
bereitet ward, und den Mittelpunkt aller Beranftaltungen und Pläne 
Gottes bildet! Und doch ift dem fo! Zritt aber nicht gerade vermöge 
Diefer wortlargen Darftellung die Thatſache ſelbſt nur um fo grös 
Ber hervor, und müffen wir nicht zugeftehn, daß der Ebarafter nüch⸗ 
terner Gegenftändlichleit, der überhaupt der Gefchichtichreibung der 
Evangeliften, diefer ungetrübten Spiegel der Großthaten Gottes, eigen 
if, überaus wohlthuend und glaubenftärkend auf uns einwüft? 

Wir langen heute auf der Schädelftätte an. Wohlan, Jeſu Ans 
kunft auf feinem Zodeshügel, der Kreuzigungsatt und das 


aufgerihtete Kreuz feien die Gegenftände unfrer näheren Betrach⸗ 
tung! 

Wenn es je zu und geheißen: „Zeuch deine Schuhe von den Füs 
Ben, denn der Ort, da du fteheft, ift ein heiliger Ort,“ Dann wahrlich 
heute! Dringe denn diefer Zuruf uns zu Herzen, und zu einer heiligen 
inneren Feier werde uns unfer heutigen Anſchauen und Erwägen! 


Wir treten noch einmal auf * Marterſtraße zurück, und ſchlie⸗ 
Ben uns im Geiſte dem Zuge zum Hochgerichte wieder an. Eben 
bewegt er ſich an den Felſengräbern der Könige Iſraels vorüber, 
Die alten Kronenträger fehlafen in ihren Kammern; aber ein Mor: 
genroth des Auferftebens umzuckt ihr verdorrtes Gebein, da der Fürft 
des Lebens an ihnen vorüberwandelt. — An dem Schauergrunde 
Gehenna geht es jept vorbei, dem mit dem Blute der ſchrecklichen 
Molochsopfer gedüngten. Es gibt aber ein entjeglicheres Gehenna 
noch, als diefes; und wer unter uns wäre Dem entronnen, hätte 
das Lamm dort nicht zu feinem ſchweren Todesgange fich vertan, 
den? — Bir find am Fuße des verhängnißvollen Hügeld ange 
langt. Ehe wir aber weiter fchreiten, werfen wir noch einen Blick in 
das Bolfögedränge hinter und, und fpähen, ob denn unter all dem 
Haß und Groll, der dort wie eine Höllenbrandung auffchlägt, nir⸗ 
gends auch nur eine Spur von Mitgefühl und herzlicher Verehrung 
für den großen Dulder ſich entdeden laſſe. Und fiehe, einem holden 
Sternbilde gleich in ſchwarzer Nacht, begegnet ımferm überrafchten 
Auge ein thenerwerthed Häuflen. O, wir kennen fie bereits, diefe 
in Thränen zerfließenden Geftalten. Zuerſt gewahren wir Die geſeg⸗ 
nete Mutter der beiden „Donnersjöhne”, die liebe Salome Bors 
feuchten will fie ihren Kindern mit ihrer Zreue bis in den Zod; umd 
wir wiflen, daß fi ein Johannes und ein Jakobus, dieſer erfte 
Maͤrtyrer des neuen Friedensreihes, nachmald einer ſolchen Mutter 
volltommen würdig erwiefen haben. Neben Salome wandelt Mas 
ria, die Blutsverwandte, vielleicht die Schwefter der gebenedeiten 
Jungfrau. Auch ihr ward die große Gnade, zwei Söhne, Jako⸗ 
bus den Jüngeren, und Yofes in die nächſte Gemeinidhaft des 
großen Meifters aufgenommen zu fehn. Aber ad! als das Schwerdt 
über den Hirten kam, Hatten auch fie mit der übrigen Heerde fid 
zerſtreut, und feitdem war's der herrlichen Mutter, als liege es ihr, 
wun ob, für ihre Kinder einzutreten, und durch Die eigne Treue Die 


nen mit Dem Wanne, olme weichen ibr die Erde ein dunfies Grab, ja 


eine Mörterböble dünfı.’— Ber ıber ik die Baufente dert, gelebut 
auf den Jünger, „den eins lieb baue“? Dieie vor Allen tierf Ge 
beugte, Die ihr abgehärmtes Angeſicht in ibr Ihränentudp werbälft, 
wer ik fie? Die ſchwer geprüfte Mutter üts, am welder jet die 
Veiſſagung des alten Eimeond Ah afült: „Ein Schwerdt wir 
Durch deine Seele dringen!” Daß uber dies Bert in ſolcher Beik 
ſich erfüllen würde, das batte faum ihre büiterke Abımay übe ver: 
gefviegelt. Zürwabr, was lie empfindet, empfand fein zweites Ken 
oem Da 

mit deinem Eimer! Siebſt tu dein Kind zum 

Kreuze sichn, fo Er das feine. In er dab Sein Son, der Den 
‚ wie er der deine id! — D, febt den lichen Junger, wie 

er, obwohl troſtlos ſelbſt, die Schmerzensteiche ſich be 


nicht gar ausgefiorben if. Und fie flirbt nimmer aus; feid Darm 


Setzen wir uns, Geliebte, nach dieſem flüchtigen Rückblick auf Das 
Geleit des Herrn mit dem wogenden Zuge wieder in Bewegung! 
Aur wenige Schritte noch aufwärts, und das Ziel der ſchauerlichen 
Wanderung ift erreicht. Wo befinden wir uns? Wir iteben anf der 
Höhe des Ealvarienberged. Golgatba: fdhandererregender Name! 
Bezeichnung der verhängniß> und ſchreckensvollſten Stätte der gan- 
zen Erde! Gebet, ein nadter, fahler Hügel, nur mit Miſſethaͤter⸗ 
blut gedüngt, und bededit mit den verdorreten Gebeinen gerichteter 
Aufrührer, Mordbrenner, Giftmiſcher und anderer Auswürflinge der 
Menſchheit. Eine Stätte des Fluchs, wo nimmer die Liebe waltet, 
jondern nur die nadte Gerechtigkeit mit Schwerdt und Wage auf 
dem Throne ſitzt. Ein Rabeuftein, vor dem ſich ſegnet, wer an ihm 


Die Krenigumg- sot 


woräbergeht; ein nächtlicher Sammelplatz hungriger Schafale und Hyd« 
nen! Und denlt, Diefer Ort voll Graufens fell zu dem Berge fi 
verflären,“ von dannen unfre Hülfe kommt, und defien Gcheimniffe 
„viele Könige und Propheten zu fehen begehrten, und haben fie nicht 
gefehn.” Fa, auf Diefem fehauerlichen Hügel werden unfre Rofen 
blühen, und unfre Heils⸗ und Sriedensquellen fprudeln. Das Bella 
unfrer Bergung liegt auf dieſer Höhe; Das Bethanien unſrer Ruhe 
und ewigen Erquickung thut bier fih vor uns auf. Wohl hatten 
Die Alten mit ihrer befannten Behauptung, daß der Berg Golgatha 
den Mittelpunkt der ganzen Erde bilde, inſofern volllommen Recht, 
als derfelbe wirklich den Sammelplatz abgibt, wo die Erldfeten der 
Belt, ob leiblich auch durch Land und Meer gefchieden, tagtäglich 
im Geifte zufammentreffen, und mit dem Kuß der Liebe fich grüßen. 
Richt minder Recht hatten fie mit ihrer Sage, daß unter dem Cal⸗ 
varienhügel der Vater Adam begraben ruhe. In der That ifl dieſer 
Hügel Adams Grab, fofern unter Ieterem der gefallene Sündenmenſch 
verflanden wird, den wir Alle in und tragen, und der auf Golgatha 
wirklich mit Chrifto gefreuzigt ward. Auffallend erſcheint's, daß die 
Gelehrten heute noch Darüber ftreiten, wo der Berg Golgatha gelegen 
babe, und daß zu einer ficheren Ermittlung diefer Stelle faum mehr 
eine Ausficht vorhanden ift. Aber nach Bottes Abfiht follte jener 
Berg ind Geiftige aufgehoben werden, ımd fo iſt's geſchehn. An 
der Welt gläubiger Anfchauungen fand er feine bleibende Stelle, 
Auf jener araufenvollen Höhe endet nun die Erdenlaufbahn des 
Herrn der Herrlichkeit. Dort fleht er, der einzig grüne, gefunde und 
fruchtbeladene Baum auf Erden, und an dDiefes Baumes Wurzel 
legt die Art! Welch’ ein Zeugniß wider die Welt; und welch' ein 
Allee, was Gott und Vorſehung heißt, vernichtender Widerfpruch, 
fände leßterer nicht in dem Geheimniß der flellvertretenden Genug⸗ 
thuung feine Löfung. Tort ſteht Er, mit Schmach und Schmerzen 
überhäuft, und von den Medelthätern, unter Die er gerechnet ft, kaum 
unterfcheidbar. Aber geduldet euch! Nur einige Jahrzehnte no, und 
Serufalem, dad ihn verwarf, preifet Ihn in Geſtalt eines rauchenden 
Schutthaufens als den Liebling Gottes, am welchem ungeſtraft fich 
Niemand vergreifen könne; und, umflofien vom Lichte des Heiligthums, 
fteigen in Drei Welttheilen lebendige Völkerdenkmale auf, welche Die 
Inſchrift tragen: „Chriſto, Dem Welterneuerer!“ he es jedoch 
zu Diefer Wendung der Dinge kommt, gilt es noch eine ſchauerliche 
36 


562 Dei Ierheifighe. 


Das Leben. Die Stinde jeiner Bluttaufe iſt vorbunden. Sammelt 
end, Freunde, fommt und jeher! 


2. 


Herr Gott! was begibt fib auf dem Wurterberge! O Herz, du 
Stein in unjerm Bujen, warum zeripringit du niht? Warum, du 
fpröder, ftarrer Zels, löſeſt Du dich nicht auf in blutige Thränen? — 
Bier im ſchrecklichſten aller Hundwerfe verwilderte Männer treten auf 
den Heiligen Iſraels zu, und bieten ibm zuerit, wie es gebräuchlich 
war vor der Execution, ein betüubendes Getränf aus Bein und Mor: 
then. Der Hear verihmäht Dielen Tranf, weil er mit ungetrübten 
Bewußtiein dem Rathe feines Gottes ſich unterziehn und die lebten 
Tropfen feines Fluchkelchs trinfen will. Da nehmen die Henker das 
Gotteslamm in ihre Mitte, und beginnen ihre Arbeit an Ihm da 
mit, daß fie mit rohen Züuften die Kleider ihm vom Leibe reihen. 
So ſteht Er nun da, Er, deilen Kleid einſt „Licht“ war, umd 
die Sterne des Himmeld der Saum jeined Gewandes, ein nadter 
Mann, nur mit dem Purpur feines Blutes noch bededt; und nackt 
und jeglihen Schmucks entblößt nicht wor den Menfchen nur, fons 
dern im Lichte der Stellvertretung aud vor Gott; gemahnend au 
den nadten Adam im PBaradiefe, nur daß Gr nicht, wie jener, vor 
der Stimme Gottes hinter die Bäume jich verbirgt, ſondern todes⸗ 
freudig ihr entgegentritt; gemahnend zugleih an den altteftament- 
lichen Hohenprieiter, ſein geheimnißvolles Vorbild, der, che er das 
Vollk verfühnend das Allerbeiligfte betrat, jeglichen Zierrath gegen eine 
fchlichte weiße Leinewand vertaufchte. Nachdem man den Herm entfleis 
det, und unter göttlicher Zügung nur feine Mittlerzier, Die Dornen: 
frone, ihm belaflen hat, ftredt man ihn nieder auf das Holz, an 
dem er verbluten foll, und führt jo, ohne es zu wiffen und zu wollen, 
den im 22. Pfalme prophetifch vorgebildeten Moment herbei, aus wels 
dem die Meffiasflage uns antönt: „Sei nicht ferne von mir; denn 
Angft ift nahe, und ift bier fein Helfer! Große Farren haben mich 
umgeben, und der Böfen Rotte bat ſich über mich hergemacht!“ — 
D, welch’ ein Sterbebette für den König der Könige! Freunde, fo 
oft wir auf dem weichen Pfühle des Friedens Gottes ruhen, oder in 
trauten Bruderkreifen, Lieder der Hoffnung fingend, an ımfrer Pilger: 
frage felig beifammenlagem, laßt es uns nicht vergeffen, daß der 


Die Krenggung 563 


Grund, um deswillen uns fo fänftig gebettet wurde, einzig darin zu 
fuchen fei, Daß der Herr der Herrlichkeit einft, ein. geduldiges Lanım, 
auf jenes Schauerlager für uns fich niederftredte. 

D, feht ihn liegen! Die heiligen Arme gewaltfam über das Quers 
bolz ausgeredt, die Füße auf einander gelegt, und mit Striden ums 
wunden! So lag einft Iſaak auf dem Holze des Altars Morijas; 
aber die Stimme, die dort vom Himmel rief: „Lege deine Hand 
nicht an den Knaben!“ fchweigt über Golgatha. — Die Henker greifen 
zu den Hämmern und Nägeln. Doch wer gewinnt es über fich, dem, 
was fich jet ereignet, weiter mit zuzufchauen? Eine tiefe, ängftliche 
Stille tritt unter der Gaffermaffe ein, ähnlich derjenigen, die in einem 
Zrauerhaufe einzutreten pflegt, wern man anhebt, den Sarg zu ver: 
nageln. Und wohl nicht auf Erden nur, fondern auch im Himmel 
entftand in diefem Augenblide eine tiefe, feierliche Stille. — Die 
entfeßlichen Eifen, in höllifher Effe geglüht, und doch auch wies 
der im Heiligthume der Ewigkeit vorgefehn, werden den Händen und 
Füßen Des Gerechten aufgefeßt, und — die dumpfen Hammerfchläge 
fallen! Hörft du fie dröhnen, Menfh? Auf Dein Herz donnern fie 
zu, in grauenvoller Sprache Zeugniß gebend von Deiner Sünde, und 
zugleich vom Zorne des allmächtigen Gottes! O, wie viele Schläfer - 
find fchon unter dem Wiederhall jener Hammerfchläge wach geworden 
von ihrem Zodesfchlaf, und nüchtern aus des Teufels Strick! Ers 
wache auch du, fchlaftrunfener Sünder! Auch du in fleifchliche Sicher⸗ 
heit Eingewiegter, werde endlich einmal nüchtern! — Wie Manchem 
fhon zerbrach unter jenen Schlägen in heilfamer Buße das troßige 
und flolzge Herz! O, warum zerbricht es Darunter nit auch Dir? 
Denn wiffe, daß Du jene Hämmer einft mitgeſchwungen haft, und daß 
du den himmelfchreiendften Frevel, mit dem fich je die Welt beladen, 
in deiner eignen Rechnung verzeichnet findeſt! — Sehet, die Nägel 
fehlugen durch, und aus Händen und Füßen entquillt dem Heiligen 
das Blut. — DO, diefe Nägel haben den Feld des Heiles uns geöffe 
net, daß er fein Lebenswafler, die himmlifche Balfamftaude gerißt, 
daß fie uns ihre Narde gebel Ja, die Handfchrift, die wider uns 
war, haben fie durchbohrt, und als nichtig an das Holz geheftet, und 
find, indem fie den Gerechten verwundeten, wie der Nagel der Jael 
dem Heiden Siffera, fo der alten Schlange tödlich durch's Haupt ges 
drungen. D, daß nur Niemand an dem angehefteten Manne fich jept 
verſehe! Diefe Durchgrabenen Hände fegnen flärker, als fie jegneten, 

36* 


| 


fie noch frei und umgehmden fich bewegten. Sünde eined wen 
derbaren Banmeikters ũnd fie, die den Zenmel einer ewigen Sirde 
bauen; ja, eines Helden Hin, Die Tem Starten ſeinen ganen Hank 
rath nebmen. Und glaubr's, es it fein Heil und feine Hülfe, als al- 
fein in dieſen Händen! Und tieie blutenden Füße treten gewäal⸗ 
tiger auf, als da noch feine Feñel ihre Schrüte bemmte. Leber die 
Höhen Zaniender von Feinden, tie fur zuver noch kübn ihr Haupt 
erhoben, fdhreiten fie füegreich jeßt einber. Hügel md Berge emiedri- 
gen fie unter ihren Zritten, die fie im unbiutigen Zuitande wimuner 
erniedrigt baben würden. Und fein Blüben it noch Grünen in der 


Ä 


üite Dieier Welt, als allein unter Dem Rauichen Diejer Füße. 

er entieplichite aller Alte it vollgogen, und das propbetiiche Pialm- 
: „Sie baben mir Hände und Züße durchgraben“, u 
feiner Erfüllang gelangt. Da wird denn der Zub des Holzes näher 
an die aufgeworiene Grabe, in der es haften ich, berangerüdt. Kräf- 
fige Männer ergreiten das an feiner Epige befeitigte Seil, und be 
ginnen zu ziehen, umd das Kreuz mit jeinem Opfer richtet ſich ax, 
bebt fich, Heigt zur Höhe. So ſpeit die Erde den Fürften des Le 
bens von ihrem Angefichte binweg, und wie es jcheint, will auch der 
Himmel Ihn noch nicht haben. Doch laflen wir die Schleier über 
dieſe Schreden fallen! Gottlob! in jenem Warterbifde gebt über der 
fündigen Erde ja eben die Sonne der Gnade anf; md der Held ans 
Juda fleigt in die TS pbüre der „Geiſter, Die in der Luft herrſchen“, 
nur empor, um dieſelben in einer gebemmißvollen Schlacht zu unſern 
Gunſten ewig zu entwaffnen. 

O jehet, welch' Schauſpiel, das fich jegt uns darſtellt! In dem 
Momente, da der Gelreuzigte an jeimem Holze fib zur Höhe auf 
fhwingt, fällt, aus feinen Wunden trinfelnd, ein Purpurregen durch 
die Luft, und benept die Marterftätte, und Die Eimderborde, Die fie 
mfteht. Dies Sein Vermächtniß für jeine Kirche! Er babe Dank 
für ſolchen Nachlaß! Diefer roienfarbene Thau ift wunderthätig. Auf 
geiftliche Steppen fallt er, und fie bfühen wie die Lilien. Wir fprew 
gen ihn am die Schwellen unfrer Herzen, und find gefihert vor allen 
Würgern und Racheengeln. Auf Tas Eis des Nordpols ſenkt ſich 
diefer Thau, und das taujendjäbrige beginnt unter ibm zu ſchmelzen. 
In die Glut des Südens ftrömt er nieder, umd die Luft wird durch ihn 
fühl und lieblih. Wo dieſer Regen fällt, ſprießen Gottesgärten anf, 
erblühen Rofenfelder; und was ſchwarz ift, wird in dieſem Bade 


— 


1» 


Die Kreugigung. 565 


weiß, was befledt, wird rein wie Licht der Sonne. Ya, was der 
Thau und Regen der Ratur, die ohne denfelben bald zur den Wüſte 
würde, das ift für die menfchliche Gemüthöwelt der Purpurregen, den 
wir Dort vom Kreuze riefeln ſehn. Kein Gedeihen ohne ihn, ohne ihn 
fein Wachsthum und fein Grünen, fondern überall nur Verwüſtung, 
Unfruchtbarkeit und Zod. Wollen wir drum etwas thum, fo laßt ums 
das Kreuz umfaflen, und einftimmen in das alte wohlbelanute Besslein: 

D, daß mein Herze offen ftünd, 

Mud fleißig möcht‘ auffangen 

Die Tröpflein Bluts, die meine Sünd’ 

Am Holze dir abdrangen. 

Ach, daß fih meiner Augen Brunn’ 

Aufthaͤt, und mit viel Stöhnen 

Heiße Thraͤnen 

Bergöfle, wie die thun, 

Die fi in Liebe fehnen! 

3 
Da ragt's denn, das verhängnißvolle Holz: ein Felſen, an dem Die 

Feuerwogen des Fluchs fich brechen, eine Wetterſtange, an der ein 
Blitz herunterfährt, der unabgeleitet die ganze Welt zerfchmettert 
hätte! Er, der erbarmungsvoll diefen Strahl auf fich zu lenken ſich 
erbot, dort ſchwebt er, zwar in tiefe Nacht verhüllt; aber nichtsdefto- 
weniger der Morgenftern, der der Welt einen ewigen Sonnentag 
verkündet; ein Auögeftoßener zwar von Himmel und von Erde, aber 
. gerade als folder das Beide verfnüpfende Band, und der Vermittler 
ihrer erneuerten und ewigen Befreundung! Ach, feht, feine biutigen 
Arme find weit auseinander geredt: allen Sündern breitet er fie ent- 
gegen. Seine Hände zeigen gen Aufgang und gen Niedergang: von 
den Enden der Erde wird Er fich feine Kinder ſammeln. Des Kreu- 
ges Spiße deutet aufwärts in die Wolfen: weit über die Welt hinaus 
wird die Wirkung defjen fich erſtrecken, was eben auf feiner Höhe ſich 
vollzieht. Des Kreuzes Zuß haftet im Grumd der Erde: zum Wun⸗ 
derbaume ergrünte das Kreuz, von welchem wir die reife Frucht einer 
ewigen Verſoͤhnung brechen. O, Freunde! hinfort bedarf es weiter 
nichts mehr, als daß Gott ein Weinen durch unfre Reihen fende, 
wie das Weinen zu Bochim, und dann vermittelft des heiligen 
Geiſtes das Marterbild am Holz uns verfläre: fo find wir aller 
Grdenforge und Noth entrüdt, und gehn unter Dem Geläute himmli- 


ſher Sabbathaloclen mit allen Bedürfniffen unfres Herzens froh vor 


566 Ss Alerheilighe. 

Anker. Richts bedarf es hinfüro mehr, als daß wir, unfrer Rat 
lofigkeit bewußt, die Hömer jenes Altars umfafien, welchen das Bint 
geröthet, das „beflere Dinge redet, denn Abel“: und der Mann der 
Schmerzen thut die Fülle feiner Schätze vor uns auf, md im über: 
fhwänglich gefteigertem Maße erfüllt fi an und das Gegenswert 
des Patriarchen Jakob über feinen Joſeph: „Die Segen deines 
Baters geben höher, denn die Segen meiner Voreltern, und fleigen 
bis zur Wonne der ewigen Hügel!” 

Dort ftebt e8 aufgerichtet, Das Panier des ueuen Bundes, da, 
wo es verftanden wird, nicht minder Schredden um ſich ber verbreitet, 
als Entzücden, und nicht minder Wehklagen wirkt, als Jubel md Froh⸗ 
loden. Noch heute ſteht's, und es wird ewig ftehen, umd fürdhtet ſich 
vor denen, die es fällen möchten, nicht mehr, als der Stab Mofis 
einft ſich fürdhtete, da die Stäbe der Zauberer ihn umziſchten. Und 
wo immer es entjchleiert in die Erfcheinung tritt, da iſt's auch von 
Kroftäugerungen und Wunderwirkungen umgeben. Durd) die Böller 
tragen wir, und erobern ohne Schwerdtichlag Land um Land md 
Deite um Veſte. Sehet, wie die Miffionsfelder grünen, umd fid 
ein Geiftesfrühling über die Heidenfteppen breitet! Hört, wie von 
den Infeln des Meers die Friedensherfen zu uns herübertönen, md 
fhaut, wie zwifchen den Gisbergen des Nordlands die Herzen in 
göttlichem Liebesfeuer zu erglühn beginnen! Woher diefe Bandlungen 
und Auferftebungswunder? Woher diefes NRaufchen und fi) Regen 
auf dem großen Zodtenfelde? Das Kreuz wird durch die Lande bin 
durchgetragen, und unter feinem Schatten ergrünt das Erdreich, umd 
belebt fih Das Erftorbene. Ya, wo dieſes wunderbare Holz mit der 
richtigen Deutung feiner Hieroglyphenſchrift fich zeigt, pflegen „Bike, 
Donner und Stimmen“ von ihm auszugeben. Steine fchmelzen in 
feiner Nähe, Zelien zerfpringen vor ihm, und Gewäfler, längſt zu 
Lachen abgeftanden, fchlagen, als ob ein bemegender Engel in fie bin⸗ 
abgeftiegen wäre, aufs neue frifche und gefunde Wellen. 

„Ich bin mit Ehrifto gefreuzigt,” frohlodt der Apoftel, und 
bezeichnet mit dieſen Worten die ganze Frucht, die Das Kreuz allen 
Gläubigen getragen hat. „Nicht feine Sünden find e8,* will er fa- 
gen, „über welche dort der Fluch einberbrauft, fondern die meinen: 
denn der Mann des Todes dort am Marterpfahle bin ich ſelbſt. 
Ich büße, ich biute, ich verſchmachte dort; ich zahle meine Schulden: 
Denn Ehriftus zahlt und büßt an meiner Stelle!" Wei aber Banins 


RN 


. Die Krensigumg. "567 


fih hier rühmt, das kommt uns Allen zu, vorausgefebt, daß auch 
wir durch das lebendige Band des Glaubens und der Liebe mit dem 
Gefreuzigten eins geworden find. ‘Freilich werden wir dann in die 
Gemeinfchaft des Kreuzes Chrifti auch in dem Sinne mit binmf- 
gehoben, daß unfer natürliches Ich zum Tode verurtheilt, und unfer 
alter Menfch fammt Lüften und Begierden tagtäglich, bis der Lanzen- 
ſtich des leiblichen Zodes ihm ein ewiges Ende macht, theild durch die 
Demüthigungen, die Gott uns zuſchickt, theils durch den Geift der 
Zucht, der in und wohnt und waltet, dem bittern Prozeſſe eines fort- 
gehenden Sterbens unterworfen wird. Unter diefen Todeswehen aber 
fehn wir das Kreuz von Golgatha erft feinen vollen Friedensglanz 
entfalten. Wie ein Regenbogen wölbt fich's über unfre Nacht, wie 
eine FZeuerfäule leuchtet's auf allen unfern Kummerftraßen uns voran. 
D, freue e8 denn auch uns feine Friedenslichter auf den Pilgerpfad! 
Schlage e8 als Baum der Freiheit und des Lebens auch in unferm 
Daſein ſtarke Wurzeln! Werfe es, im Glauben erfaßt, auch uns 
feine Himmelsfrüchte in den Schooß, und erwarme und erweitre fich 
in feinem Schatten auch und Herz und Gemüthe zu dem Sange: 
Sei gefegnet, theures Kreuz, 

Schanplatz ew'ger Siege, 

Sterbebett all’ meines Leid's, 

Meines Friedens Wiege! 


Grabftein über'm Afchenfrug 

Meiner Sünden alle; 

Kreuz, daß meinen Tod erſchlug, 

Sei gegrüßt mit Schalfe! — Amen. — 


—eobedor —— 


XLVII. 
Die Kleidertheilung. 





Unſrer groͤßten Dichter einer, und zugleich einer der, wie man es 
nennt, „vom Gfüde bevorzugteſten“ Menſchen, die vielleicht je auf 
Erden gelebt, bekennt auf der Höhe eines 75jährigen Alters, er 
wiſſe fih aus feinem langen Leben auch nicht einer Zeit von vier 


568 Das Ußerpeilighe. 


Wochen zn Armen, in der er ein eigentliches Behagen empfunden 
habe, „Es war,” spricht er, „das ewige Waͤlzen des Steines, der 
immer auf’8 neue gehoben fein wollte." — Dagegen bezeugt der Apoftel 
Baulus Phil. 4, 11 von fih: „Ich babe gelernt, bei was ich im- 
mer bin, vergnügt und zufrieden zu fein;” und mit der That feines 
ganzen Lebens hat er dieſe Ausfage befiegelt. 

Welch' eine Kluft zwifchen diefen beiden Männern! Der eine, von 
Geſchick und Welt auf den Händen getragen, wälzt, fo lange er at 
met, den Stein des Sifpphus. Der andre, meiſt von der Welt mit 
Füßen getreten, und ein Srenzträger, wie wenige, liegt fein Lebenlang 
mit feinem Herzen an der Küfte eines unwandelbaren Friedens vor 
Anker, 

Bemeßt nach dem grellen Abftande, in welchem ſich Diefe beiden 
Männer zu einmder befinden, den ungleichen Werth einer zweenfachen 
Erbſchaft: der Erbfchaft, mit welcher die Welt ihre Kinder abzulsh⸗ 
nen pflegt, und derjenigen, deren die Reichsbuͤrger Ehrifti fich zu ge 
tröften haben. Die eine iſt gerfließender Schaum, der den Gaumen 
reizt, aber nimmer fättigt. Gründliche Befriedigung und wahre Be 
glückung gewährt einzig und ewig nur die andre 

Welches ift das Vermähtniß, das und Ehriftus binterlaffen hat? — 
Kommt! Einen Theil deffelben, und einen weientlichen Theil werdet 
thr in diefer Stunde näher famen lernen. — 


Matth. 27, 35. 36. Marc. 15, 24. Kur. 23, 34* Joh. 19, 23. 24. 

Die Kriegsknechte aber, da fie Iefum gefrenzigt hatten, nahmen fie feine Kleider, 
und machten vier Theile, einem jeglichen Kriegsknechte einen Theil, dazu auch den 
Rod. Der Rod aber war ungenähet, von oben an gewirfet durch und dur. Da 
ſprachen fie untereinander: Laſſet und den nicht zertheilen, fondern darum Ioofen, 
weß er fein foll. Auf daß erfüllet würde die Schrift, die da faget: Sie haben meine 
Kleider unter fich getheilet, und haben über meinen Rod dad Loos geworfen. Sol⸗ 
ches thaten die Kriegäfnechte, und dad Bolt ftand und fahe zu. Und fie faßen allda 
und hüteten fein. 

Ein merkwürdiger Vorgang, zu dem wir heute kommen, merkwürdig 
auch ſchon für den, der mit uns noch nicht glauben kann, noch 
mag. Ein Beerbungsakt vollzieht fih in der Scene, bei Dem, theil⸗ 
weife wenigftens, wir felbft fehr nahe betheiligt find. Ein Sterbe 
bette gibt ſich uns hier zu fohauen, ein Erblaffer, ein VBermächtniß, und 
Beerbte. Selig, wer den leßteren ſich beigugählen berechtigt if} 


Die Meibertheilung. 569 


Kommt, treten wir dem Auftritt näher, und richten ımfere Blicke zu- 
exit auf den Zeftatorz dann auf deſſen Nachlaß; und endlich auf 
die Erben. 

Verleihe der Herr, daß die Begebenheit, deren wir heute Zeugen 
fein werden, ſich ihren geiſtlichen Sinne nad) vollſtaͤndig unter uns 
erneuern möge! 

1. 

Zeftator heißt, wie ihr wißt, derjenige, der eine Erbichaft hin- 
terläßt. Ein ſolcher begegnet uns in unfrer heutigen Geſchichte. Frei- 
lich follte man ihn am legten an einer Stätte fuchen, wie die, an der 
wir heute wieder zufammentrefien. Bir ftehen auf der Höhe Golgathas, 
Allerdings iſts ein zum Theil glänzen der Kreis, der uns hier um- 
gibt. Ratheheren, Prieften und Cohortenführern begegnet unfer Auge. 
Da follte man nun wohl meinen, daß, wenn ein Teftator ſich hier 
befinde, derſelbe nur ımter diefen Würdeträgern zu fuchen fein müſſe. 
Aber dem ik nicht alfo. Schauet über euch, und gewahrt zwifchen 
den zwei Genoffen feines Unglüds den blutigen Mann am Holz des 
Fluches. Nein, wer fo ftirbt, wie diefer hart Gefchlagene, der ſtirbt 
nicht wohl. „Unfer Ende,” möchten wir rufen, „fei einft nicht wie 
dieſes Dulders Ende!" D Schauer ohne Gleichen! Entjelich find 
Die Schrecken, die ihr feht. Aber was find fie gegen Die geheimnißvol⸗ 
len Qualen, die erft hinter Dem Vorhang der außeren Gefchichte 
ihn überfluthen? Ach, weich’ ein Abfchied von der Belt! Ein Heer 
hohnlachender Höllengeifter die Umgebung feines Sterbelagers ; bie 
Dede, in die er gehüllt if, der Fluch des Geſetzes; die Atmofphäre, 
in der ex verathmet, Durchglüßt von Grimm und Zom; fein lepter Zranf 
Die Roth, die Angft eines Verworfenen ; das Abfchiedslied, das ihm 
gefungen wird, ein fatanifcher Hohn und Spott; feine einige Zuflucht 
ein verhülltes Baterantlig, Das ihn eines fpürbaren Liebesblickes wicht 
wehrt würdigt; feine Ausficht ein Tod, „deſſen Gewalt der Teufel hat; 
und der ihm die Augen zudrüdt, kein Engel mit der Palme, fonts 
dern eben jener finftere Schreckenskönig!“ Faßt dieſes Alles in einen 
Blick zufanmen, und was werdet ihr fagen? Nicht wahr, das heißet 
Armuth, Elend, Roth und Drangfal, und ift ein Sterben in der 
vollften und fehauerlichiten Bedeutung diefes Wortes! Aber wie ge- 
febieht euch, Brüder, wenn ich euch nun eröffne, dieſer ärmfte aller 
Armen fei eben der, den wir zu fuchen ausgegangen ſind? „Wie,“ 
böre ih auch fagen, „Der doch nicht der Zeflator ma?" — Bir 


570 Yal Baheiighe. 
—— — ja, Gremde, Er ii es, und fein Anderer. 


Ga, a he he an hen der 
fie gilt, im Biderfprucdhe fieht. Sie ik fein bitterer Hohn, ſendern 
tiefe Wahrheit. Jeſas von Razaretb, König der Juden!“ 
beißt fie. — Wie,“ ruft ihr, „der Elende dort ein König!" — D FZrem: 
de, er ift ein Mehreres uud Größeres noch, deun Das! Die Jeile dert 
befagt zu wenig. Wir fireichen fie, und fegen flatı ihrer: „eins 
von Nazareth, der König aller Könige!’ — Der „König allaı 
Könige?" — Nein, au dieſer Zitel redet noch zu unbeftimmt. Er 
weiche einem anderen, die Aufichrift laute: „eins von Razaretb, der 
Sohn des lebendigen Gottes!" — Doch auch diefe Siguatur 
genügt noch nicht. Wir tilgen auch fie, und fchreiben: „Iefus von Ra- 
zareth das A und D, der Erfte und der Lepte, der Schöpfer 
und Träger aller Dinge, Gott hochgelobet in Ewigkeit!“ 
Bei die ſem Epitaphium mag's verbleiben! — „Und die ſe Bezeich⸗ 
nung hätte wirllich Grund?" — Den feſteſten und ummuftößlichkten ! 
Er war’s, Er iſt's auch zwifhen den Schuern feines biutigen 
Sterbebeites noch, und wird e8 ewig fein. Sein iſt Alles: Him⸗ 
mel und Erde; die Seligleiten des Paradiefes; die Lebensbänme am 
Strom der Gottesftadt, und die Ehrenfrone an deren Säulen. Bas 
er aber von Aufang ber befuß, befaß er einzig nur für fi, und höd- 
fiend ein Etwas nur davon für Die treu gebliebenen heiligen Engel. 
Uns Sündern durfte er auch nicht das leifefte Schimmerchen von 
feinen Herrlichleiten zu Theil werden laſſen, wenn er feiner Ehre und 
feiner Majeftät nichts vergeben wollte. Die göttliche Gerechtigfeit, die 
uns verdammen mußte, legte gegen jede Mittheilung folcher Art den 
entichiedenften Einfprudy ein; ebenfo die göttliche Heiligkeit, die nur 
Sündenreine fegnet, und die göttliche Wahrheit, die nie leere Worte 
macht, und fomit auch feine Drohungen ausfpricht, die fie nicht mit 
der That beflegelte. Wollte nun der reiche Herr vom Himmel nichts: 
Deftoweniger dies und jenes von feinem Eigenthum auf uns vererben, 
fo war vor Allem noth, daß er jene erhabenen Widerfacherinnen um: 
jeres gefallenen Gefchlechts in einem heiligen von Gott felbft verord⸗ 
neten Wege zufrieden ftellte. Und biezu hat er ſich verftanden, ins 
dem er es übernahm, an unferer Stelle den Gehorfam zu leiften, 
ben wir ſchuldig blieben, und an feiner Perfon den Fluch vollziehn 


Die Kleidertpeifüng. 571 


zu laſſen, der auf uns laſtete. Und fiehe, Beides vollführte er in 
den graufigen Momenten, in denen er heute und begegnet, und baut 
fo durch ftellvertretendes Erdulden unfres Unglücks Seinem eigenen 
Glüde zu uns Unglüdswürdigen die Brüde, Weil er aber durch 
diefe Genugthuung fich die Vollmacht erwirbt, uns, die Sünder, in 
die Gemeinſchaft feiner Seligfeit aufzunehmen, fo dürften wir wohl 
daran thun, die Infchriften, die wir eben auf fein Kreuz gefebt, wie 
gegründet fle an fich auch immer feien, Doch wieder zu entfernen, und 
es bei der erften und urfprünglihen: „Yefus von Nazareth, 
König der Juden,” zu belaffen. Sie bleibt an ihrem Orte die 
bezeichnendfte: denn warum litt und ſtarb der Herr, als weil er nicht 
blos der Sohn des lebendigen Gottes und nur ein Befehlshaber 
über die Welt und ihre Kreaturen fein, fondern zugleich der König 
und fegnende Friedensfürft eines aus den Sündern gefammelten geift- 
lichen Ifraels werden wollte, 
2. 

Den großen Zeftator Fennen wir. Der blutende Mann am Holze 
ift es. Eben dadurch, daß er dort hängt, erwirbt er fich die Ermäd- 
tigung, die rechtmäßig enterbten Adamskinder in ihr verfcherztes Erbe 
wieder einzufeßen. Worin befteht aber feine Nachlaſſenſchaft? Theil- 
weife, und zwar ihrem edelften Beſtandtheile nach, fpiegelt fie fich 
in unferer heutigen Geſchichte. Ein Kleinod fchimmert Daraus hervor, 
mit welchem wir zugleich das Unterpfand empfangen, daß e8 uns an 
feinem Guten mangeln werde. Laßt von der Höhe des Kreuzes 
den Blick zu defien Zuß hemmieder gleiten. Da Tauern vier Henlers- 
knechte bei einander, mit großer Gefchäftigfeit ein eigenthümliches Wert 
verrichtend. Sie haben den Mann beerbt, den fie an's Holz gefchla- 
gen haben. Sie erbten Alles, was derfelbe noch befaß: feine Klei⸗ 
dDungsftüde Eben find fie damit befchäftigt, das weite Ober: 
gewand zu zertrennen, und es ftüchweife unter fich zu vertheilen. Wie 
fie aber das Unterfleid näher befchauen, erkennen fie in ihm ein 
feltenes Kunftwerk; denn das Gewand ift ohne irgend eine Naht, 
und durch und durch aus einem Stück gewoben. „Diefer Rod,“ 
denfen fie, „darf nicht zerfchnitten werden,” und kommen mit einander 
überein, das Loos um ihn zu werfen. Sie werfen’d; und der Glüd: 
liche, dem der Zreffer fällt, ift im Beflg des ganzen Rockes. 

Faffet diefe würfelnde Gruppe unter dem Kreuze nun wohl in’ 
Auge Was diefelbe bier vornimmt, ift überaus bedeutfam und 


572 Dad Ukerheilighe. 


finnreich. Auf den erften Blick möchte man wicht weniger deuten, als 
eben dies; aber ſchon der Umftand, daß uns fünmmtl — na 


heiligen Geiftes jene Kleidertheilung melden, verbärgt uns deren ſum⸗ 
bolifches Gewicht und göttlichen Gedanfeninhalt. Hiezu kommt, daß 
die Söldner, natürlich ohne es zu ahnen, mit ihrer Kleidertpeilung, 
fowie mit der Werfung des Looſes um den ungenähten Rod, eime 
faft taufendjährige biblifche Weiffagung zur Erfüllung bringen. Ihr 
lefet in unjerm Gvangelium bei fänmtlichen Evangeliften Die Worte: 
„Soldyes geſchah, auf daß die Schrift erfüllet würde.” Und es iſt 
euch bekannt, daß es der 22. Pſalm ift, auf den diefer Fingerzeig 
hinüber deutet. Yu dieſem heiligen Liede, das ald ein prophetiſcher 
Herzenderguß des gefchlachteten Gotteslammes bezeichnet werden darf, 
fpriht der Mittler im voraus durch den Mund Davids, feines leben 
digen Schattens, die Gedanken und Empfindungen aus, die einft am 
Kreuzeöftanme ihn bewegen würden. „Hunde,“ heißt es dafelbft un⸗ 
ter anderem, „haben mich umgeben; der Böfen Notte hält mich um- 
zingelt. Sie haben meine Hände und Füße durdhgraben. Ich möchte 
alle meine Gebeine zählen. Sie aber ſchauen ihre Luſt an mir.“ 
Und num folgen die Worte: „Sie theilen meine Kleider un: 
ger fi, und werfen das Loos um mein Gewand.” Bas 
fagt ihr zu diefer Stelle? Muß em Ausſpruch des Geiftes der Weiſ⸗ 
fagung, wie Diejer, nicht auch Die Ungläubigſten überrafchen umd 
flugig machen? David vermochte wenigitens das Letztere in jenen 
Worten nicht von ſich felber auszufagen. Dieſer Zug paßte nur zum 
Bilde des Dulders, in deffen Leben wir ihn fi) heute thatſächlich 
verweben fehen. Der Blutende auf Golgatha ift alfo der geheim: 
nißvolle Mann, der fid) im 22. Pialme als den Mittler der Welt ans 
fündet. Wenn nun fohon Das dem ımjcheinbaren Alte der Kleider: 
theilung ein nicht geringes Gewicht verleiht, daß er den Herm Jeſum 
als den wahren Meffias kenntlich macht; fo werden wir das Haupt- 
gewicht deflelben doch noch in etwas Anderm entdeden. — Ber 
Allem fragt ſichss, aus welhem Grunde der Herr in jene pros 
phetiſchen PBaffionsklagen des genannten Pſalms die Worte habe ein- 
fließen laffen: „Ste haben meine Kleider unter ſich getbeilt, 
und das 2008 geworfen um mein Gewand.”  Gewiß that Er 
dies nicht allein in der Abficht, irgend einen am fi) geringfügigen 
Umftand nambaft zu machen, aus defien ſpaͤterem Eintreffen erhellen 


Die Kleidertheikung. 578 
follte, daß Er in der That der verheißene Mefftas fei. Bedenkt, daß 
e8 vielmehr feine wirklichen Betrachtungen und Gefühle am Kreuze 
find, die er im 22. Pſalme ausfpricht. Theils find es Klagen und 
Aeußerungen des Schmerzes, theils aber auch herzerhebende Berge: 
genwärtigungen der unvergleichlichen Früchte, die aus feinen Leiden 
den Sündern erwachfen würden. In die letztere Klaffe füllt der Aus: 
fpruh: „Sie theilen meine Kleider,” u. f. w. Der Her ride 
tet fi darin an den gefegneten Crgebnifien feines Blutvergießens 
auf. Worin aber erblickt er diefelben? Darm natürlich nicht, daß 
fih die Simder in feine irdifchen Kleider theilen würden. Offen⸗ 
bar aber nimmt Er diefe äußere Kleidertheilung als ein finnvolles 
Symbol, und fieht darin eine andere ungleich höhere, weil geifl- 
liche, abgefchattet. „Aber welche andre” — So, Geliebte, würden 
wir noch fragen können, wenn in der heiligen Schrift nirgends fonft 
von einer Bekleidung die Rede wäre, die Ehriftus ums erworben 
habe. Nun aber wißt ihr, daß einer folchen hänfig Erwähnung ge 
ſchieht. Diefes geiftliche Mleidervermächtniß foll ums dort finnfich ver: 
anfchaulicht werden. Sehet, Dies der Zweck jened Vorganges auf 
der Schädelftätte. 

Es ift der ernfteften Beherzigung wertb, was wir von Adam 
fefen. Ehe er der Sünde Raum gab, prangte er in dem weißen 
Ehrenfleide einer volllommenen Unfchuld. Als ein liebes Kind ward 
er gehalten in des Vaters Haufe. Er durfte Ihm nahen und an 
fein Herz fich werfen, wann und wo e8 ihm beliebte. Alles war ihm 
unter feine Füße gethan, und feine Seligfeit floß in nie erfchöpften 
Strömen. Die heiligen Engel waren feine Gefpielen, und der Friede 
Gottes feine Speife früh und ſpat. Kaum aber, daß der unglück⸗ 
felige Fall gefchehen war, verkehrte fic fein ganzes Verhältniß. Wir 
fehen ihn jegt vor dem Angefichte Gottes fliehen, ja fi) verbergen; 
und hören ihn das: „Adam, wo bift du?“ mit dem Mäglichen Rufe 
erwiedern: „Ich fürchte mich, denn ich bin nadend; darum verftedte 
ich mich!“ Was aber offenbart fich in dieſem feinem Belenntniß, als 
unfer eigener natürlicher Zuftand. Adams traurige Blöße ift die unfre. 
Auch wir „ermangeln‘‘, wie der Apoftel fpricht, „Der Herrlichkeit, Die 
wir vor Gott haben follten,” Nadt find wir. Nicht ein Faden der 
Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, ift und geblieben. Bis auf den letz⸗ 
ten Schimmer hat die Sünde uns den Glanz unferer urfprüngfichen 
Schöne abgeftreift. Diefer Umftand ift aber entfelich und verhäng- 


mei left, ie gewiß find wir ven der ⸗ 
geſchleñen, baben wir nicht eine Heiligfeit im Licht Seiner Augen 
zu itellen, die fidy Ibm, wenn auch im verjüngten Maßntabe, als em 
reiner Abylanz Seiner eigenen Bolllommenbeit zu erfenuen gie. We: 
ber aber ſelch Geihmeide nehmen? Vom eignen Webitubl beben 
wirs micht ab. Aber es wurd anderweit für und geiergt. Hört ibr 
den Ruf: „Zieber an den Herrn Jeium Ehritum" Dies 
ter Ruf bilft ıms auf die Srur der ſelignen Eutdeckung. 

Wir fehren zu den Kriegäfnechten unter Dem Kreuz zunid. Sie 
find eben beſchäftigt, in das Obergewand des großen Sterbenden 
fh zu tbeilen. Hier it ibnen eine Zerſtückelnug nicht verwehrt. 
Sie bleiben damit ganz in dem Pille, das fie ımd unter göttlidher 
Tirecien vor Augen malen ſollen. Das Obergewand verriunbild- 
Iuht die auswirfende Kraft: und Lebensfülle Jein, md in zwei⸗ 
ter Bedeutung die uns zugedachte Geittesbegabung Dieſe iſt 
tbeilbar, und erideint in Der Gemeine der Gläubigen aud ver: 
tbeile. Tem Einen fiel von dieiem Rablaß mehr, Tem Andern 
meniger zu. Tem wurd Me Gnadengabe der „Erlenntniß“, Jewem 
die des „Weilfagens nach demſelben Get”, einem Dritten Die Des 


Die Kleidertheilung 975 


Berge verfebenden „Blaubens“, einem Vierten die der „Geifters 
unterfcheidung”, u. |. w. Zum Seligwerden wird irgend ein bes 
fiimmtes Maß dieſer Geiftesgaben überall nicht erfordert. Ein 
Erbftüd aber gibt e8, das für Jeden, der im Gericht beftehen will, 
ſchlechthin unentbehrlich ift. Auch deſſen Sinnbild findet ihr in den 
Händen der Söldner unter dem Kreuze. Seht, außer dem Ueberwurf 
des Herm ift ihnen noch eine andere Beute zugefallen; und fie bil 
det den eigentlichen Kapitalfchag ihrer Erbfchaft. „Es ift der 
Zeibrod des Schmerzendmannes, den Er unter dem Mantel zu tras 
gen pflegte: ein merfwürdiges Kleid, aus weißem Linnen, ohne Naht, 
aus einem Stück; alſo ein Kleid, wie es der Hohepriefter anlegen 
mußte, wenn er am großen Verföhnungstage in's Allerheiligfte einging. 
Daß man einen folchen Priefterrod auf der Bruft Jeſu findet, daß 
derfelbe auf der Mörder einen fi) vererbt, und zwar ganz und uns 
getheilt ihm zufällt, das ift Alles höchſt bedeutfam. Einem Kinde 
fann e8 nicht entgehen, daß e8 bier vor einer thatfächlichen Geheim⸗ 
fchrift ftehe, Hinter -der irgend etwas Großes und Tiefes zu fuchen 
fein müffe. „Was ift aber der Kern diefer heiligen Symbolik?“ — 
Wer wäre unter euch, Freunde, der das nicht ahnete? — 

Unter dem glänzenden Gewande feiner wunder= und thatenreichen 
Erſcheinung trug der Heiland noch ein andres: das Kleid Seines 
bis in Noth und Tod hinein geleifteten volllommenen Gehorſams. 
An demfelben mangelte nichts. Diele Augen haben es gemuftert: 
Menfhenaugen, Eungelaugen, Augen der Teufel; aber alle haben fle 
ihr Wunder dran gefehen. Selbſt die Augen Gottes befchauten’d mit 
Entzüden, und vom Himmel fiel die Stimme: „Dieſer ift mein lieber 
Sohn, an dem Ih Wohlgefallen habe!’ — Es war ein Kleid, nur aus 
den goldenen Fäden der reinften Gottes: und Menfchenliebe gewirkt; 
und wie ohne Fleck, ſo ohne Naht: aus einem Stüde war es gewo⸗ 
ben. — Ihr jeht, diefer Gerechtigkeitsſchmuck des Sohnes Gottes 
ift’s, der uns durch den „ungenähten Rod“ verfinnbildficht werden 
follte, um den dort am Kreuze das Loos geworfen wird. „Aber 
wie?” fragt ihr befremdet. „Auch er gehörte zu der Nachlaffenfchaft 
Jeſu für die Sünder” — Ohne Zweifel! Hört die Schrift! „Gleich⸗ 
wie durch Eines Menſchen Ungehorfam Viele Sünder geworden find“, 
jagt Paulus, „alfo werden durch Eines Gehorfam Viele Gerechte.“ 
Und wiederum: „Gleichwie durch Eines Sünde die Verdammniß über 
alle Menfchen gefommen ift, alfo ift auch durch Eines Gerechtigkeit 


576 Bas Bäcrheiigße. 


die Rechtfertigung des Lebens (d. i. die das Beben ſchafft,) über alle 
Menichen gekommen.“ — Nicht bles Bergebung war uud zugedack, 
fondern noch ein Beiteres und Größeres. Paulus beyengt Apfig. 26, 
18, e8 habe ibn der Her verfichert, daß die Semen empfaben fellten 
„Bergebung der Sünden, und das Erbe fammt den Heili- 
gen.” Hier wird alfo ein Zwiefahes nambaft gemacht. Berge: 
bung würde uns nur gegen die verdiente Strafe fihern, ab mit em 
negativen Gut der Unverdammlichkeit belehnen. Aber nah 
dem Rathichluß des erbarmenden Gottes fellten wir auch poſitir 
erhöht, geſegnet und beiefigt werden; und hiezu bedurften wir eimer 
Gerechtigkeit, die uns nicht allein der verſchonenden Sroßmutb, 
fondern zugleich dem Tiebenden Bohlgefallen des heiligen Gettes 
empföhle. Und auch fie erwarb uns Ebriflus, indem Er im fleliver: 
tretender Erfüllung des Gefehes jenen unvergleichlihen Gehsrfam 
Gott vor Augen fiellte, der, wie er Seitens Gottes uns aus Gmaten 
zugerechnet, fo unfrer Seits durch den Glauben ergriffen wir, 
und, nach gefchehener Aneignung, die Junge unfres Herzens und zu 
dem Sange des Propheten löit: „Ich freue mid) in dem Herm, ud 
meine Seele iſt fröblich in meinem Gott; denn Er bat mich ange 
zogen mit Kleidern des Heils, und mit dem Rod der Gerechtigfeit 
mich gefleidet, wie ein Bräutigam mit priefterlihem Schmucke fi 
ziert, und eine Braut in ibrem Gefchmeide pranget. Denn glei wie 
die Erde ihr Gewächs hervorbringt, und der Gurten fein Geſäctes 
wachſen läſſet: aljo wird der Herr Herr Gerechtigkeit und Lob wach⸗ 
fen laften vor allen Voͤlkern!“ — 
3. 

Von der Erbſchaft richten wir einen flüchtigen Blid noch auf die 
Erben. Wer überfonmt den koſtbaren Schmuck? Denkt! der Mir: 
der einer, die unter Dem Kreuze beiſanmen fipen, iſt der Glückliche. 
Dieſer Umſtand bejagt uns nad) Gottes Abflht, daß feine Gottle⸗ 
figfeit, wie groß fie inmmer fei, al® ſolche unbedingt von der Erb⸗ 
ſchaft ausichliege. Es kommt nur darauf an, daß das Siunbißdfide 
der Stellung jener Henker, und ihres Verhaltens zu dem Klei⸗ 
nod, fih wejentfich in uns erfülle — 

„Ihrer Stellung’ — So is! „Sie hüten das Kreuz,“ 
und bezeichnen uns damit die Landungsfäfte, zu der als zu umfrer 
fegten Zuflucht der Wind des Herzensbedürfniffes auch unfer Schiff 
fein treiben muß. — „Ihres Verhaltens zu dem Kleinod — 


X 


Die Meivertheilung. 677 


Allerdings! denn zuerft wiſſen fie die Koſtbarkeit des ungenähten 
Nodes zu würdigen; zum Andern fehen fle ein, daß derfelbe nur in 
feiner unzerftüdten Ganzheit einen Werth habe und ein wahrer 
Schatz fei; und endlich laſſen fie ſich's gern gefallen, daß fie zum Be⸗ 
fiß des feltnen Gewandes durch Wurf des Loofes, mithin ohne eignes 
Berdienft und völlig Eoftenfrei, gelangen follen. — Berfteht ihr. diefe 
Bilderfchrift? Ich denke nicht, daß fie einer weiteren Deutung für 
euch bedürfen wird, Werdet arme Sünder, lemet Gottes For- 
derungen an euch verftehen, und feid Damit zufrieden, aus Gnas 
den gerecht zu werden: fo hat ſich das Symbol unter dem Kreuze 
in fein thatfächliches Gegenbild in euch umgeſetzt. — 

Wie wird der Erbe des ungenähten Rodes über den ihm zugefal- 
lenen Gewinn gejubelt haben! — Wir, Freunde, erbten das Gewand, 
das und zu Gegenftänden des göttlihen Wohlgefallens madt; 
und die Saiten unfrer Herzensharfen follten [hweigen? — Ohne 
Zweifel legte der Glückliche fein Erbitü unverzüglich an, und trug’s 
hinfort. Laffen wir den Winf nicht außer Acht, der au uns 
hiedurch gegeben it: „Ziehet an den Herm Sefum Chriſtum!“ — 
Sicher fiel e3 jenem Menfchen niemals ein, dem kunſtreich gewobenen 
Kleide fremdartige Lappen aufzufegen. Hüten auch wir und vor dem 
Wahn, als fei die Gerechtigkeit, die wir in Ehrifto haben, unfrerfeits 
irgendwie noch durch eigene Zuthat zu ergänzen; haften wir vielmehr 
die Begriffe: Rechtfertigung und Heiligung wohl auseinander! 
— Schon jenes irdiſche Kleid des Gefreuzigten wird auf das Gemüth 
des Söldners, deſſen Eigenthum es ward, muncherlet Einfluß aus- 
gebt, und ihn bald bewegt, bald erjchüttert, bald befchämt, bald er: 
hoben, und jedenfall das Bild des Mannes, von dem er es ererbte, 
nimmer im Spiegel feiner Erinnrung haben erbleichen Taffen. Ermeſſet 
darnach, mit wie gewaltigen und heilfamen Wirkungen erft das Wefen 
jenes Schattens, die Ehriftusgerechtigkeit felbit, für Das Herz 
und Leben derer verpaart gehen wird, die fle in lebendigem Glanben 
fich anzueignen mußten! — Der Waffenknecht mochte, was feine 
Oberfleider betraf, mitunter ärmlich genug einhergehn; und doch 
war ihm, ſchaute man tiefer, nicht abzuftreiten, daß er foftbarer ge⸗ 
fleidet fei, al8 mancher König. Verhält ſich's nicht gleicher Weile 
mit den Kindern Gottes, deren Außerer Aufzug oft, namentlich in 
Tagen der Anfechtung, nichts weniger als glänzend iſt; und Doc ruhet 
das Auge ded ganzen Himmels auf ihnen mit Luft, und am fie ergeht 

37 


378 Des Aerheilighe. 


das Wort des göttlichen Bräutigams im Hobenliede: „Tu Pitt aller: 
Dinge Ichon, meine Zreundin, und it fein Zleden an dir!“ 


Wünſcheu wir ıms denn Glüd, tbeure Brüder, zu dem ummergleid- 
lichen Erbtbeil, das der Mann am Areuze ums binterlafien bat. Halter 
wir, jo viele unirer Grund Tuben, den Beerbten uns beizuzäblen, das 
Bewußtſein m uns wach und friſch, Daß wir in Chrüte ver Get 
fhen gerechtfertigt find, und die Liebe Gottes nice nah dem 
Grade unirer periönlichen Heiligung uns zugemeilen wird. \umer 
geläufiger werde uns die Glaubenslooiung, mit der wir Die Bel 
überwinden: „Jebova Zidkenu“, d. i. „Der Herr it uniere 
Gerechtigkeit!“ und immer entichiedener beige eö in ımierm riefen 
Innen: 

Weil ganz muß fein, ohn' Fled und Naht, 
Was Sort nicht ſoll verfinden, 

So geb’ ich's aui, mein'n Hodzeitälaa 
Im eignen Werk zu Inden: 

Und fude draußen alle Pracht 

Die einſt mich Ihmud’ und fröne. 

Mir felber fag’ ih gute Nacht, 

Und leb' in Ehriki Ehöne! — Amen. 


—8>0 — 


XLVII. 
Die Ueberſchrift. 





„greibeit und Gleichheit!“ hieß Das Loſungswort Des be 
fannten Aufrubrs der Rotte Korah in der Wüſte. Nicht Moies 
und Aaron allein follten berrichen, tendern ein Jeder im Wolfe 
gleihberechtiat, und „die ganze Gemeine beilig fein.” — 
Ta fprach der Herr zu Moſe: „Sage den Kindern Iiracl, ımd nimm 
von ihnen zwölf Stäbe, von jealihem Züriten ihrer Väter Günter 
einen: und ichreibe eines jealihen Stummfürften Namen auf feinen 
Stab. Aber den Namen Aaron follit du ichreiben auf 
den Stab Levi. Tem je für ein Haupt ihrer Väter Hänier ſoll ein 


Die Heberfärift. 579 


Stab fein. Und lege fie in die Hütte des Stifts vor der Bundes- 
lade, da Ich euch zeuge. Und welhen Ich erwählen werde, 
dDeffen Stab wird grünen, daß Ich vor mir fille das Murren 
der Kinder Ifrael, Das fle wider euch murren!“ 

Ihr wißt, der Befehl Jehovas wurde vollzogen. Die Stämme 
brachten ein jeder feinen Stab, und Mofes legte fie an den bezeichnes 
ten Ort im Heiligthume. Des andern Morgens aber, da er die Hütte 
öffnete, fand er „den Stab Aarons grünen, und die Blüthe 
aufgegangen, und Mandeln tragen.” (4 Mof. 17, 8) Er 
zeigte ihn dem Volke als ein göttlich Zeichen, daß dem Stamme Levi 
das Priefterthum und die Pflege der heiligen Hütte gehöre. — 

Wir fommen heute auf unferm Betrachtungsgange zu einer Stätte, 
wo wir in ähnlicher Weife und unter ähnlichen Verhälniffen, wie 
einst im Lager Afraels, ein dürres Holz mit dem Namen eines großen 
Hohenpriefterd bezeichnet finden, Auch Ihm wurde Seitens einer 
wilden Meutererbande das Fönigliche wie. das priefterlihe PBrimat 
beftritten. — Hat e8 Gott dem Herrn gefallen, auch Ihm Zeugniß 
zu geben? Hat auch fein Stab gegrünt, in Blüthen fich gekleidet, 
und Mandeln getragen? — Ich denke: ja; und noch Föftlichere trug 
er, als der Stab Levi. Er hat e8 den Stäben aller Gewaltigen und 
Weiſen in der Welt an Fruchtbarkeit zuvorgethan. Kommt, Freunde, 
und befchauen wir uns dieſes Wunder in der Nähe! 


Matth. 27, 37. Marc. 15, 26. Fuc. 23, 38. Ich. 19, 19— 22, 

Und oben zu feinem Haupte hefteten fle die Urfache feines Toded, was man ihm 
Schuld gab, befchrieben. Und Pilatus ſchrieb die Ueberſchrift, und fegte fie oben 
auf dad Kreuz, und war gefhrieben: Jeſus von Nazareth, der Juden König. Und 
es war geſchrieben auf hebraifhe, griechifche und lateiniſche Sprache. Diele Ueber⸗ 
ſchrift Tafen viele Juden. Denn die Stätte war nah bei der Stadt, da Jeſus gekreu⸗ 
zigt ward. Da fprachen die Hohenpriefter der Iuden zu Pilato: Schreibe nicht: ber 
Zuden König, fondern daß er gefagt babe: Ic bin der Juden König. Pilatus ant- 
wortete: Was ich gefhrieben habe, das habe ich gefchrieben ! 


So ftehen wir denn wieder auf dem Marterberge. Lautes, wildes 
Getümmel um uns her. Bom Kreuze des göttlichen Dulders ſchim⸗ 
mert die Auffchrift uns entgegen: „Jeſus von Nazareth, der 
Yuden König.” Dreifach wurde fie daran verzeichnet, und zwar, 

auf daß alle Welt fie Täfe und verftünde, in der griechifchen, latei⸗ 
nifchen und hebräifchen Sprache, alfo in den drei Sprachen der Theo⸗ 
37 


BB Dad Aüerheiligfe. 


logie. Pilatus hatte es fo verordnet, theils durch eine dunkle ehr: 
furchtsvolle Ahnung dazu beftinunt, theils in der Abſicht, zu qu 
ter Letzt noch den verhaßten Juden einen Schlag zu verfeßen. As 
Diefe die Anfchrift lefen, eilen fie ergrimmt zum Procurator, md 
herrfigen ihn an: „Nicht, wie du gefchrieben haft, Darf es heißen! 
Herunter mit jener Tafel vom Kreuze des Läſterers! Schreibe, a 
babe aumaßend geſagt, daß er der Juden König ſei!“ Pilatus 
aber entgegnet kurz und entſchloſſen: „Was ich gefchrieben habe, des 
babe ich gefchrieben!" — Recht fo, Pilate! Was du fchriebft, fchrieht 
du nicht in Willkühr; fondern ein Andrer führte Dir Dabei die Hand, 
Geweiffagt haft du, wie einft Bileam, und bit mit Deiner Aufſchrif 
wider Wiffen und Wollen ein Zeuge der Wahrheit geworden! 

„Jeſus von Nazareth, König der Juden.” Dieſer Titel 
fei unfer beutiges Thema; und in den gefreuzigten Manne den wir: 
lichen König Iſraels anzuſchauen, fei der liebliche Zweck unfrer ferneren 
Betrachtung, Wir erkennen ihn ald den König am Kreuz zuerft m 
der Majeftät, die ihm dort umgibt; dann an den Stiegen, Die ram 
Holz davonträgt; zum dritten an der Reichsgründung, die er u 
ſelbſt vollzicht; zum vierten an den Gerichten, die er dort verhängt, 
und endlih an dem Regimente, das er vom Holze herab ausübt. 

Begleite der Herr unfre Erwägung mit feinem Segen, und helfe Ex, 
daß fid) die Schrift des Kreuzes in das Mark unfrer Herzen übertrage! 

1, 

Den König Iſraels willft du ſchauen! Komm, Freund, md 
folge mir! Wohin? Nach Zerufalem ehva? Nein, nach dem Marter: 
hügel Golgatha! Siehft du den Mann dort in feinem Blute jchwin. 
men? — „Wie,“ fprichft du, „dieſer ein König?’ — Schüttle niet 
das Haupt, fondern wife: Dir nur fehlt Das Licht, nicht Ihm de 
Majeftät. Tritt in die Tempelhallen des alten Teſtaments zurück und 
fiehe da in heiligen Liedern und Gottesſprüchen die Kerzen brennen, 
die dir Golgatha beleuchten. Zünde deine Fackel an den Pſalmen 
Davids an, in denen dur einen großen König flagen hörſt: „Sie baden 
mir Hände und Füße dDurchgraben, und geben mir Galle zu trinken in 
meinem Durfte;” und er bleibt doch ein König! — Vernimm den alten 
Prophetenfprud) des Sehers Jeſaias von einem Manne, der zwar „u 
unferer Miffethaten willen werde zerichlagen “ werden, „auf Deflen 
Schultern“ aber nichtödeftoweniger die „Herrichaft ſei,“ und deſſen 
„Friedens Fein Ende werden“ folle auf Erden. Lies Sacharias Wert: 


Die Heberfchrift. 581 


„Schwerdt mache dich auf über den Mamı, der mir der Nächte 
it!“ und höre den Herold durd) die Wüfte rufen: ‚Siehe, das tft 
Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt.” Eile mit diefen Lichtern 
nad der Schädelftätte zurüd, und fage, ob dich's noch fo fehr be- 
fremden fann, über dem mittleren der drei Kreuze die Schrift zu fin- 
den: „Jeſus von Nazaretb, der Juden König!” Eine 
ganze Wolfe heiliger Zeugen umgibt gefenkten Haupts das Kreuz: 
ehrwürdige Geftalten, erprobte Heilige; Patriarchen und Seher, Sän- 
ger und Propheten, Könige und Priefter. Nein, dieſe macht das 
Königsbild in feinem Blut nicht irre. Anbetend, umd nicht flugend, 
lefen fie die Schrift der Kreugestafel: „Jeſus von Nazareth, 
König der Juden.“ 

Fragſt du, wo denn die Majeftät Diefes Königes ſei? Fürwahr, fte 
iſt vorhanden, wenn auch augenblicklich wie der Goldglanz der Bun- 
deslade unter den Widderfellen. Aergere dich nicht an der dunklen 
Wolke, die Ihn umgraut! Der Blid des Glaubens auges dringt 
durch fie hindurch, und begegnet in duftigem Hintergrunde einem Res 
genbogenkranz von Engelhäuptern und Seraphsangefichtern. Sehen 
fie traurig, weil ihres Königs Auge im Zode bricht, fo tragen fie 
doc die Balmen jchon in den Hünden, mit denen fie. Ihn zu ſei⸗ 
ner Thronbeiteigung begleiten werden. Und wer ift dort in den ent 
legneren Firnen der himmliſchen Welt die leuchtende Schaar, die in 
Anbetung verfunfen unter den Bäumen des Lebens auf ihren Ange: 
fihtern liegt? Die Heiligen Gottes find’, die ſchon das Reich er: 
erbten, che noch der Herr der Herrlichkeit zur Erde niederftieg. Aber 
Er ſprach, als fie den Staub der Pilgrimfchaft vom Fuße ſchüttel⸗ 
ten: „Ich Taffe mein Leben für diefe Lämmer!“ und auf dieſes 
Königswort hin öffneten fih auch ihnen die Paradieſesthüten. He- 
noch iſtss, und Methuſalah, Noah md Abraham, Iſaak 
md Jakob, Moſes und Elias, und wie fie weiter heißen. 
Seit lange ſchon genoffen fie die Früchte der Verdienfte ihres Bür⸗ 
gen, bevor derfelbe noch fein Werk auch nur begonnen hatte. Nun 
fehen fie Ihn den verheißenen Sold für jie bezahlen, und Die Woh- 
zung der Seligkeit, in der fie haufen, mit den Stützpfeilern des Rech⸗ 
tes untermauern. Und was bleibt ihnen übrig bei dieſem Anblid, 
als ambetend vor dem Wunderbaren in den Staub zu finfen, und 
zu befennen, daß fte auch mit ihren verflärten Augen die Tiefen 
einer ſolchen Erbarmung nicht zu ergründen wüßten ? — Und ſchauet 


582 Das Alerheiligke. 


weiter noch im Geifl. Die Menfchenheerde dort aus allen Voͤllem, 
aus allen Zahrhunderten, die Augen ſehnſuchtsvoll zum Kreuz empor: 
gerichtet, den Blick voll heiligen Friedens und ftiller Hoffnungsfeig- 
feit, wer ift fie, Ddiefe in unabfehbaren Kreifen den Todeshügel um 
drängende Schaar? Seine Gemeine iſt's, das Volk der Grlöjeten, 
überall und zu allen Zeiten die Beften und Edelften der Menſchheit in 
fi) fchließend. Seht, Weihrauchfchalen in ihren Händen! Bon nichts 
mehr wollen fie wiffen, diefe Feiernden, ald von dem erwürgten Lamme. 
Herrliche Belränzung des Marterberges! Lieblicher Ehrenbogen um 
den Kreuzespfahl! — Wiſſet, dergleichen Gefichte fiehet Der Glaube, 
der die Schleier zu heben verfteht, und in das Inwendige ſchauet. 
Und wie er diefe Bilder fieht, verwandelt fih das Kreuz vor ihm in 
einen Thron, in ein Diadem der Dornenfranz um des Schmerzens⸗ 
mannes Stim; und mit ehrfurdhtsvoll gebeugtem Knie lieſt er die 
Pilatusinfchrift: „Zefus von Nazareth, der JZudenkönig!‘ 

Ja, e8 gibt fich am Kreuze eine Majeftät fund, zu deren Gemah- 
rung ed des Glaubensauges nicht einmal bedarf; eine Majeftät, wie 
diejenige der aufgehenden Sonne, wenn eben noch die Schatten und 
Nebel drunten ihr Wefen trieben, als wäre ihnen auf Erden Di 
Reich befchieden. Aber nun tritt fie hervor, „wie ein Bräutigam and 
feiner Kammer,” und fchreit nicht, noch Täffet fie ihre Stimme hören 
auf den Gaſſen; und nichtsdeftoweniger jagen die Schatten vor if 
rem Angeficht auseinander, und Die Nebel zerrinnen in nichts unter 
dem lange ihrer Flügel. So bethätigt fi) des Menfchen Sohn an 
feinem Hol, Er, „die Sonne der Gerechtigfeit mit Geneſung m 
ter ihren Flügeln.” Welch’ ein fatanifcher Rauchqualm um ihn ber! 
Welch' wüftes, höllifches Nachtgewölfe, das Ihn umgibt! Hört Diele 
Hohngefchrei aus den aufgeriffenen Mäufern des Volks und jene 
Führer: „Er hat Andern geholfen, er helfe ihm felber, ift er der 
Chriſt, der Auserwählte Gottes! Bift du der Juden König, To zeigt, 
und ſteig' herab vom Kreuze!“ Aber fehet den Verhöhnten, wie unte 
diefer Höllenbrandung in feinem heiligen Königsangefichte auch nich 
eine Miene ſich verändert, Mit erhabener Ruhe ſchaut er von jeine 
Höhe darein, und die Küjterer find befchämt, verwirrt, und fallen in 
ihre eignen Schwerdter, inden fie, während fie den Herrn der Her 
lichkeit zu läftern vermeinen, nur mit lauter Stimme als denjenige 
Ihn preifen müffen, „der Andern geholfen habe.” Wir geimahren 
dieſe feine koͤnigliche Ruhe, diefen uͤbermenſchlichen Gleichmuth, dieft 


Die Meberfihrift. 583 * 


himmlische Geduld; und Angefichts ſolcher Majeftät, die allein ſchon 

hinreicht, feine Widerfacher zu vernichten, meinen wir die Anfchrift auf 

jeinem Hole nur um fo glänzender erftrablen zu fehn: „Jeſus 

von Nazareth, der Juden König.“ | 
2. 

Ja, Er iſt's! Du erkennſt Ihn an feinen Siegen, die Er am 
Kreuzespfahl erringt, und deren eriter als ein glorreiher Doppel: 
fieg erfcheint, indem Er ihn über fich ſelbſt und zugleich über den 
hölliſchen Verſucher davon trägt. Ein mächtiger Anfechtungs- 
ſturm dringt auf Ihn ein, und zwar in dem aus dem Volk zu 
Ihm heraufdröhnenden Rufe: „Er hat Andern geholfen; ift er 
der Ehrift, der Auserwählte Gottes, fo helfe er ihm 
jelber und fteige herab von feinem Kreuze.” Ein flar- 
fer Anlauf des Böfewichts; faft ein ftärferer noch, als den er auf 
der Zempelzinne einft mit feinem „Biſt du Gottesfohn, fo laß dich 
hinab!’ wider den Herrn wagte. Wie fehr entſprach jenes angera- 
thene: „Steig herunter!“ den Bedürfniffen der menfclichen Na⸗ 
tur unſres Friedensfürften! Folgte Er diefem Winfe, ſo war nicht 
allein Er ſelbſt mit einem Male von aller feiner Qual erlöft, fondern 
auch der fäfternde Widerfacherhaufe auf eine beifpiellofe Weije aus 
dem Felde geichlagen, und fat noch unzweideutiger, als es nachmals 
durdy Jeſu Auferstehung von den Zodten gefehah, von deſſen Gott- 
heit überführt. Verlockender Gedanfe, mit einem Schlage die wü- 
thende Rotte verſtummen zu machen, und ihre Kniee in den Staub 
zu zwingen! Aber hinweg mit ihm! Iener Rath ift nicht gehener! 
Ein FZalftrid ift er; eine Leimruthe des liftigften Vogelſtellers; ja 
ein Fels unter dem Waſſer, an dem furz vor der Einfahrt in den 
Hafen noch das Schiff des ganzen Verföhnungswerks ftranden foll, 
Jeſus durchſchaut das teuflifche Gewebe, und fpricht im Geifte: 
„Hebe dich hinter mich, Satan!” Nein, nicht herunterfteigen, ſon⸗ 
den biuten, opfern und den Sold der Sünde zahlen 
will Er. Mit erhabenem Schweigen weiftt Er die Aufforderung 
ab, und bleibt an feinem Holze, Auch nicht einmal vorübergehend 
nur bat der Held in feiner Bahn gewanft. Kommt, flechten wir 
Ihm einen Delzweig durch die Dornenfrone, und umwinden mit Feier: 
fränzen die Kreuzesinſchrift: „Feſus von Nazareth, Der Juden 
König!” 

Ya, ein Löniglicher Sieger hängt in Ihm am Kreuze. Du möchteft 


er 5684 Das Akterheitigfte. 


denken, Niemand fei befiegter je geweien, ald Er. ber das Fem⸗ 
rohr des Glaubens belehrt dich eines Anderen. In dem Gemälde, 
das Durch dieſes angefchaut fich dir entfchleiert, fichft Du das Auge 
Immanuels nicht brechen, fondern zerichmetternde Blitze ſprühen; 
feine Hände nicht gefeffelt, fondern frei ein wunderbares Kriegsfchwert 
ſchwingend; feine Züge nicht im Stod, fondern binraufchend über einen 
flurmumtobten Plan. Heiß it der Streit; wild das Getümmel; ein 
Kampf der Verzweiflung, der fich entipann, und die Menfchheit de 
Preis, um den die Schlacht geichlagen wird. Die ftreitenden Par: 
theien der „Fürft über das Heer des Herm,” und — die Hölle 
Wie toben und fperren fih die Abgrundsengel! Es foll ihnen der 
Raub genommen, das Scepter entwandt, und das Recht, das fie 
durd) Gottes Gericht über uns gewonnen haben, wieder entriffen wer 
den; und der Mann im Dornenkranze its, Der ihre Macht bedroht 
und brechen will. Da bleibt denn im Rüſthaus des Höllenpfuhles 
nichts unergriffen, wa® irgend Hoffnung auf Steg gewährt. Aber der 
„Held aus Juda“ fpottet der „bebenden Lanzen.“ Er biutet, aber 
dieſes Blut ift der Feinde Sturz, Er fällt in der Widerfacher Hände; 
aber dies wird das Mittel, uns aus ihren Händen zu erlöjen. Er 
läßt ſich feffeln von den Belials-Rotten; aber feine Ketten gebüren 
unfre Freiheit. Er leert den Zorneskelch; aber nur, Damit er ibm 
für uns mit lauter Gnade fülle. Er läßt fih in die Ferſe ftechen; 
aber in demfelben Augenblick zertritt er der alten Schlange den Kopf; 
und nad einer ganz andren Kriegsregel, als die gewöhnliche, erjchlägt 
er den Feind, wie Sinifon, mit feinem Falle. Solches thut der Ram 
am Hole. Mag nun der Eine klagen, daß der „Schönfte der Ma: 
ſchenkinder“ fo erniedrigt fei, und ein Andrer ſich heiſer fchreien: 
„Steige herab, und zeige, wer du biſt;“ wir Hagen und fchreim 
alfo nicht, Die wir mit Glaubensaugen zu ſchau'n verftehen. Uns 
dünkt, daß Er nicht herrlicher erfcheinen würde, wenn Er, umflunge 
von Engelharfen, in majeftätifchen Glanz vom Kreuz herniederſtiegt, 
als er dort in feiner Blutgeftalt vor unfern Augen ſchwebt. Wir fehe 
unfern Michael mit Siegesſchmuck bededt auf taufend Drader 
bäuptern ftehn, und rufen, in Die Pofaune des Triumphes ſtoßend: 
„Sefus von Nazareth, der Juden König!” — 

Ein dritter Sieg wird am Kreuze errungen, von allen der größte 
und wunderbarfte. Ich nenne ihn den Sieg des Gefepgebers 
über das Gefeg. Wiſſet, an Luft und Liebe und zu reiten, 


Die Ueberſchrift. 685 ; 


gebrachs im Himmel nicht. Im reichften Maße waren fle vorhanden. 
Nur fehlte die Berechtigung zu dem großen Werl. Das Geſetz, 
das heilige und unverbrüchliche, war der Riegel vor der Schatzkammer 
der Erbarmung. Das Gefeß legte gegen unfere Erlöfung fein Veto 
ein. „Kein Heil den Sündern,” ſprach ed, „bevor fie zahlten, was 
fie ſchulden!“ Und fiche, felbit die ewige Majeſtät fah fich gebunden 
durch dieſen Einfpruch. Aber die himmlische Weisheit wußte Rath, 
auch Diefe Feſſel rechtmäßig zu löfen. Der ewige Sohn flieg zur 
Erde nieder, um das Nein des Gefeßes in Inuter Ja zu verwandeln. 
Er Tieß fih „unter das Geſetz“ thun, und erfüllte es ftellvertretend 
in einer Weife, daß er auftreten und fprechen durfte: „Wer kann mich 
einer Sünde zeihen?“ Doh dadurch war der Riegel von den 
Gnadenfchleufen noch nicht weggefchoben. Es galt auch noch Erduldung 
des Fluchs, dem wir durch Schändung des Gefeges verfallen waren. 
Er unterzog fih auch Dem, und trank den Zorneskelch. Blieb ein 
Tropfen darin zurüd? „Nicht einer!” urtheilt das Geſetz. Und wie 
mn der Gnadenruf vom Hinmel niedertönt, hat das Gefeg nichts 
mehr dawider einzuwenden. Die göttliche Gerechtigkeit tritt ihrer 
hehren Schweiter, der Liebe, das Scepter ab, und zwar ohne hier: 
durch ihrer eignen Glorie auch nur im Geringften etwas zu ver 
geben. Wir ftaunen ob diefer Ueberwindung des Geſetzes ohne Ge- 
waltthat im Wege Nechtens, und Iefen huldigend die Kreuzesfchrift: 
„Sefus von Nazareth, der Juden König!” 


Ja, er iſts! Aber wo ift fen Reich? Eben pflanzt Er’s von 
feinem Holz herab. Dieſe Blutstropfen dort find das Gold, um das 
Er fi fein Volk erfauft, und dieſe Sterbefeufzer, die feiner Bruft 
entfteigen, die Glocdenklänge, mit denen der Geburtstag feines ZJions 
eingeläutet wird. 

Nicht dort hat Er fein Reid) gegründet, wo Er das Volk um fich 
verſammelte, und predigend zu ihm redete auf dem Berge der Se- 
ligkeiten. Nicht dort, wo Er Zunfen der göttlichen Wahrheit fireute 
Durch Die Nacht, und vor dem Yadeljcheine feines Himmelslichtes Die 
Schatten des Todes auseinanderftoben. Nicht dort, wo Er die fin- 
fern Geifter bannte, und durch feine Wunderhülfen Schaaren Muͤh⸗ 
feliger fi zu ewigen Danke verpflichtete. Nicht dort, wo Er mit 
dem Glanze feiner Thaten die Welt entzüdte, und fi) von den Ho⸗ 
Rannc’s der Begeifterten umllungen hörte, Hätte Er nach dieſen 


: 586 Das Alerheiligke. 


Triumphen die Welt wieder geräumt, fo wäre Alles beim Alten ge 
blieben auf der Erde, und Er felbit ohne Königreich und Leute. Kein 
Jeruſalem erhübe ſich im ZTodesthal; feine Fahne der Freiheit wehete 
von Zion; fein Zuda Gottes „gen Morgen gelagert“ begegnete unjerm 
Bid, und fein Bruderchor zöge duch Die Wüfte, und jünge: „Bir 
reifen nach) dem Vaterland!” Nein, mit Lehre, Predigt und Exempel 
war's hier nicht gethan. Auf „Bundesblut“ mußte Die neue Stadt 
gegründet werden. Und es geihah! Die durdhbohrten Hände dert 
am Pfahl des Fluches eroberten die Welt, und bauten inmitten dei 
Reichs der Finſterniß das Reich des Lichtes und des Friedens. O 
Wunder fonder Gleihen! Ja, Pilate, was du gejchrieben haft, ge 
fchrieben bleibe es für die Ewigkeit: „Jeſus von Nazareth, 
der Juden König!“ 
4. 

Die Juden abmeten nicht, daß Er es fei. Sie mwagten zu rufe: 
„Sein Blut komme über uns und unfre Kinder!“ Ihr wißt, das Blut 
ift gefommen, und zwar mit der Stimme, die die Unglüdjeligen 
in ihrem Wahnſinn zu hören begehrten. „Wehe“, fchrie das Bin, 
und forderte Rache wider fie vom Himmel. Schaut, was fidh ereignet: 
Schweres Wettergewölf zieht fich über Jerufalem zuſammen. Lodernd 
Kriegesfackeln brechen us Land. Ein Wald von Zeindeslangen un 
ftarrt Die heilige Stadt. Der Tempel geht in Flammen auf. Die 
Mauern jlürzen. Kein Stein bleibt auf dem andern, und das Blut 
der Kinder Abrabams fließt in Etrömen. Und was dem Schwert 
entrann, muß hinaus in's Weite, fort von den geliebten Hügeln, ven 
den Gräbern der Väter fort in ode, unwirthbare Fremde. Und Zirad 
bleibt das gejchlagene Volk bis diefen Tag, und fehleicht nur nod 
umber als Mumie feiner einftigen Herrlichfeit, Aber nach göttlicer 
Abſicht geichiebt's, daß dieſe achtzehnhundertjährige Salzſäule, dieſts 
Wunder des brennenden Buſches, der Doch nicht verbrennt, nach wie vor 
vor unjern Augen dajteht. Dies Volk foll uns in feinem Elend em 
bleibend Denkmal fein, Daß Der, deffen Blut jie über fich hereinde 
ſchwuren, ein König war und ift, der fich nicht ſpotten läßt. Und in de 
That, nicht weniger leſerlich, als an das Kreuz, iſts dieſem Wolfe mit 
den Zeuerlettern des Gerichtes an Die Stirn gefchrieben: „Iefus von 
Nazareth, der Juden König!" Doc wir harten einer Zeit, und 
fie it nicht mehr fern, da der Herr auch noch in einer andern und 
erfrenlichern Weiſe an diefem alten Bundesvolle es offenbaren wird, 


Die Ueberſchrift. 587 


daß Er fein wahrer und eigentlicher König fei. Wenn fie einft „wei- 
nend kommen werden und betend,” und Er die Verftoßenen „aus dem 
Lande der Mitternacht fammeln” und „auf geraden Wegen, längs Waf- 
ferbädhen hin, fie leiten, und zu ihnen jagen wird: Ich bin Sfraels 
Bater, und Ephraim ijt mein eritgeborner Sohn:“ dann wird aud) 
der hartnädigfte Unglaube nicht mehr ftußen, fondern ehrfurchtsvoll 
die Hände falten, wenn er am Kreuz Die Inſchrift Tiefet: „Jeſus 
von Nazareth, der Juden König!” 


Ja, unfer König ift er! Vom Holze herrſcht Er. Vom Holze führt 
Er das Regiment in feiner Friedensſtadt bis Diefe Stunde. Wohl 
hängt Er heute dort nicht mehr; aber wo Er fih dem Glaubensauge 
darftellt, und, um Großes auszuwirken, in Gefichten fih offenbart, 
erfcheint Er nad) wie vor in feiner Blutgeftalt, am Holze fchmebend. 
Vom Kreuze her nimmt er die Starfen zum Raube, und führt Er in 
den Siündern das Gnadengericht zur Buße aus. Vom Kreuze her 
erniedrigt Er die „hohen Augen”, und fehmelzt die fteinernen Herzen 
im Feuer feines Liebesblids. Vom Kreuze ber tröftet Er die befüm- 
merten Seelen, und trocdnet die weinenden Augen der Zerfnirfchten. 
Bom Kreuze her erwedt Er das Jauchzen in der Hebräer Lager, und 
ermuntert fein Volk zum Freudenreigen vor der Bundeslade DO, 
in wie mannigfaltigen Erweifungen tritt e8 tagtäglich in die Erfchete 
nung, daß Er als der Gefreuzigte der wahre König des geiftlichen 
Iſraels fei. Ja, der in der Dormenfrone regiert die Welt der Geifter 
und der Herzen, und die größten Wunder, in denen Er auf Erden 
fid) verherrlicht, verrichtet Er mit feinen durchgrabenen Händen. Darum 
bleibt Golgatha die Stätte unfrer Huldigungen, und der Ort, wo 
wir nicht aufhören, anbetend zu rufen: „Sefus von Nazareth, 
der Juden König!” 


So hat denn in der That, fo lange die Welt fteht, feine Men- 
fhenhand etwas Gewifferes und Gegründeteres gejchrieben, als was 
Pilatus höchft: providentiell an die Kreuzestafel ſchrieb: „Jeſus 
von Nazareth, der Juden König!” Wartet nody eine kurze 
Meile, und Zeichen am Himmel, Engelerfcheinungen, fallende Sterne, 
und Gräber eröffnende Poſaunenklänge werden es beftegeln. So ent: 
falte ich denn feine blutbenegte Fahne auch vor Dir, Gemeine! und 
rufe Dir als ein Herold Gottes zu: „Schwöre zu Diefem heiligen 


588 Das Allerheiligſte. 


Banner! Huldige dem Monarchen in der Dornenkrone, und baue 
auch du mit der Schaar, die Niemand zählen kann, ehrfurchtsvoll das 
Knie vor der KreuzessAuffchrift: „Jeſus von Nazareth, der 
Juden König!” 

Eine große, ernſte Woche iſt's, Geliebte, in die wir miteinander cin 
getreten find. Diefe Char⸗ und Gnadenwoche, wie ift fie überfchwäng- 
(ich reich an Weckſtimmen, Bußrufen, und Lodungen und Heimfuchungen 
der Erbarmung! In diefer Woche ging einſt der König Iſraels feine 
Marterſtraße. In diefer Woche brach fein heiliges Auge im Zode für die 
Sünder. Die ganze felige Bevölkerung des Himmels liegt in dieſer Woche 
um den Stuhl des Lamınes auf dem Angefiht. Und eure Kniee follen 
fteif, eure Naden flarr, eure Zungen flumm, und eure Herzen kalt 
und fteinern bleiben? O, das fei ferne! Zu einer Woche der Hulk 
digungen werde fie auch in unfrer Mitte! Hier find meine Hände; 
wer nimmt fte, und fohließt fi mir an, dem Schmerzensmanne Her 
und Leben darzubringen? Was bisher fern geftanden, der Sind 
verhaftet und der Welt, das trete endlich herzu, und ergieße fi in 
Reuethränen zu feinen Zügen! Was erft mit halbem Herzen Ihm 
angehörte, Das werde ausgeboren in diefer Woche und ganz Sein 
eigen! Was laͤngſt ſchon Ihm ſich zugefchworen, fpreche, den Bund 
erneuernd, im Blid auf die Urkunde feiner einftmaligen Uebergabe 
mit Pilatus: „Was ic gefchrieben babe, das habe id ge 
fhrieben!“ und das grüße fich unter einander frohlodend mit dem 
Rufe: „Süd zu dem Könige auf dem Kreuzesthrone!” 

Brüder, es wird fo gar lange nidyt mehr währen, fo leſen wird 
nicht mehr auf den Holze blos, fondern in flrablendern Lettern af 
dem wallenden Königsmantel des Wiederkehrenden: „Jeſus von 
Nazareth, der Juden König!" D, da dann Keiner von und 
zu den Bergen fprechen müffe: „Fallet über uns!“ und zu den Hi 
geln: „Bedecket uns;“ fondern ein Jeder mit freiem Gewiſſen Ihm 
entgegenjubeln könne: 


Sei und gegrüßt, du Hort Fahr' immer bin nun, Belt! 

Und Brüurgam unfrer Seelen, Eintt Sterne, Sonn’ und Mond! 
Der du erfheinft, hinfort Wir haben Ihn ja jekt, 

Dich ganz und zu vermäblen!' — Indem die Fülle wohnt! — Amen 


— OB OO 


Bater, vergib. 589 


XLIX. 
Vater, vergib! 

Gemahnend an den ſiebenſtimmigen Poſaunenakkord, unter 
deſſen mächtigem Schalle einſt, wie Joſna 6, A berichtet wird, die 
Manern Jerichos zufammenftürzten, und der hiedurd) den Iſraeliten 
den Eingang in's gelobte Land eröffnete, durchtönen das geheimniß- 
volle. Dunkel der Paffionsgefchichte fieben Worte, die Größeres be- 
wirkten, als das Gejchmetter bei Sericho, und die wie fieben wunder: 
bare Glockenklänge daherziehn, der fluchbeladenen Welt ihre Erlöfung, 
den Mühfeligen und Beladenen den Sabbath Gottes einzuläuten. Wie 
fieben Himmelslichter bligen fie auf, diefe Worte, und beleuchten uns 
das Heiligthum des Herzens Jeſu, und zugleich die innerften Tiefen des 
Kreuzgeheimniffes. Sieben Blüthen erfchließen in ihnen fich an dem dür⸗ 
ren, ſchauerlichen Kreuzesſtamm, zwar biutbethaut, aber darum gerade 
himmliſche Freude und Erquickung hauchend. Die einzelnen Töne ber 
fiebenfachen Harmonie begegnen uns vertheilt in den vier Evangelien. . 
Keiner der Evangeliften hat die Worte alle; fondern der eine be 
wahrte uns Diefe, Der andre jene.» Auch Diefer Umftand gehört mit 
zu den Zeugniffen, daß die vier Bücher, die fie uns hinterließen, 
ein Ganzes bilden. Bier Stimmen, aber nur ein Chorus, nur 
eine schon durch ihren Siebenklang als heilig bezeichnete Sym⸗ 
phonie. Daß dem Lucas die Aufzeichnung des erften jener Worte 
zufiel, entfpricht feinem apoſtoliſchen Sonderberufe; dem vorzugsweife 
war ihm die Aufgabe geftellt, Chriftum als den barmherzigen Sün⸗ 
derfreund ung vorzuführen. Und wie verherrlicht fich der Herr in 
diefer Eigenfchaft namentlich in dem Auftritte, bei dem wir heute 
auf unferm Betrachtungsgange. angelangt find. — Seine große hohe: 
priefterliche Fürbitte tönt uns an, Ich weiß nicht, was vor unferm 
Ohre Erwünfchteres und Süßeres verlanten könnte! — 


Matth. 27, 32—44. Marc. 22, 32. Fuc. 23, 34% 35. 37. 


Und die vorüber gingen, läfterten ihn, und fhüttelten ihre Köpfe und fpradhen : 
ini dich! wie fein zerbricht Du den Tempel Gottes, und baueſt ihn in dreien Tagen! 


590 Daß Allerheiligſte. 


Hilf dir nun felder! Biſt du Gottes Sohn, fo fteig herab vom Kreuze! Debgleihen 
auch die Hobenpriefter verfpotteten ihn untereinander, fammt den Schriftgelehrten uud 
Aelteften und ſprachen: Andern bat er geholfen und Tann ſich ſelbſt nicht helfen. I 
er Chriſtus, der König in Iſrael, To fleige er nun vom Kreuze, daß wir fehen, fo 
wollen wir ihm glauben. Er hat Gott vertraut, ber erlöfe ihn nun, lüſtet es ibn; 
denn er bat gefagt: Ich bin Gottes Sohn, der Chrift, der Auserwählte Gottes. G 
verfpotteten ihn auch die Kriegsknechte, traten zu ihm, und brachten ihm Eflig und 
ipraden: Bift du der Juden König, fo Hilf dir felber! Deffeldigengleichen ſchmahten 
ihn auch die Mörder, die mit ihm gefreuzigt waren. Jeſus aber ſprach: Bater, ver- 
gib ihnen, denn fie wiſſen nicht, was fie thun! 


Wir treten in die Schauernacht des Hügeld Golgatha zurüd; do 
heute nur, um diefelbe von einem Sonnenftrahl der Erbarmung durd- 
zudt zu jehn, wie cin befeligenderer Die fündige Erde niemals ange 
leuchtet hat. In der Zürbitte des Blutenden am Kreuz entfaltet 
diefer Strahl feinen Glanz. In ihr wirft zugleich der göttliche Dulder 
von feinem Holz herab die erite Frucht feiner Paffton der Menſchheit, 
die zu erlöfen Er gefonmen, in den Scooß. DBerfenfen wir und 
mit unter ganzen Andacht in das bewundrungswürdige hobepriefter- 
fihe Gebet, und nachdem wir uns den Inhalt deffelben vergegen- 
wärtigt haben, betrachten wir den Berehtigungsgrund, auf dem 
die Bitte fußt, und endlih die Schranken, innerhalb deren fie 
Erhörung findet, 

Sei der Herr nicht ferne von uns, und fchaffe Er dem Worte fer 
ner Gnade einen reichen Wiederhall in unfern Herzen! 

1. 

Entfeglicd gehtss auf Golgatha her. Ein Chor aus dem Abgrımd 
herauf brauft dem himmliſchen Chore voran. Die Macht der Finfter: 
niß erfchöpft fih in Ergüffen der Wuth und Läfterung; und weh: 
Daß gerade Die Männer, Deren Beruf es ift, das Heilige zu hüten, 
als die eifrigften Werkzeuge der Hölle fid) erfinden laſſen! Ohne es 
jedoh zu ahnen, verfehlen diefe Beltalsfinder ihres Zweckes dei. 
Sie beabfichtigen den Mann am Kreuz berabzuwürdigen, und mil 
fen ih nur verberrlichen, Sie find darüber aus, Ihm die legten 
Reite feiner Krone vom Haupt zu reißen, und heben nur die Schleier 
von feiner Majeftät. Vernehmt die Spottreden, mit Denen fie den 
Heiligen begeifern; aber bemerft zugleich, wie dieſe Ausbrüche kei 
Licht befehn nur die ehrenditen Zugeftändniffe für Ihn enthalten. 
„Er bat Andern geholfen,” beginnen fi, „und fann ibm 
ſelbſt nicht helfen!” Zürwahr! dies unumwundene Belenntuip 


. Bater, vergib, 591 


feiner Haffer, daß er „Andern geholfen“ habe, ift von hohem 
Gewicht, indem es der gefchichtlichen Wahrheit der meffianifchen Wuns 
der, Heils- und Erlöfungsthaten Jeſu, die uns die Evangelien be- 
richten, ein neues Siegel der Beglaubigung aufdrüdt. „Er hat Gott 
vertraut“, fahren fie fort. Ermeſſet hienach, Geliebte, wie unzweis 
dentig fich in feiner ganzen Erfeheinung fein gen Himmel gefehrtes 
und Gott ergebened Weſen ausgeprägt haben müſſe, daß es felbft . 
einer flumpffinnigen Brut, wie jene Nichtswürdigen, nicht verborgen 
blieb! „Er hat geſagt,“ rufen fie, „Sch bin Gottes Sohn, 
der Auserwählte Gottes!" Kaum es ums anders, als höchft 
willfommen fein, auch durch feine grimmigften Gegner es beftätigen 
zu bören, Daß der Herr fidh felbft für den Sohn Gottes erklärt, 
und alfo mit dem Geheimniß feiner ewigen Geburt nicht hinter dem 
Berge gehalten habe? „Der du den Tempel zerbricht,” zifcheln 
fie weiter, „und baueft ihn in dreien Tagen, Hilf dir nun!“ 
Seht, wie fie auch das befiegeln müffen, daß er auf das beftimmtefte 
feine Auferftehung von den Todten vorherverfündigt habe, Nicht min- 
der beglaubigen fie Durch ihr: „Iſt er der Ehriftus, der König 
von Sfrael, fo fteige er nun herab vom Kreuze,” daß der 
Heiland ſich wirklich und wiederholt dieſe bedeutfamen Titel beigelegt 
habe. Was beginnen fie alfo, die Läfternden Buben? Sie wollen 
in ihrem Grimm einen Edelftein zerfchlagen, und geben demfel- 
ben, indent fie ihn zertrimmern, nur Raum, in feinen funkelnden 
Splittern noch erjt recht feine Nechtheit zu bewähren. Sie zerpflüden 
un ihrem Zorne eine Wunderrofe Gottes; aber bringen gerade Dadurd) 
nur, ohne es zu ahnen, den Glanz und Schmelz der einzelnen Blätter 
diefer Blume des Himmels erft recht zur Erfcheinung. — 

Der Herr vernimmt an feinem Kreuze die giftigen Stachelreden, 
die von unten her zu ihm herauffchallen. Er weiß, woher fie font 
men, und wem die Xäfterer, ohne daß es ihnen fund ift, als Organe 
dienen. Gr hört aus ihren Wuthergüffen nur einen roheren Wieder: 
ball jener Zumuthungen heraus, mit denen der DVerfucher, der Fürſt 
des Abgrunds, einft in der Wüſte Quarantania an ihn herantrat. 
Wie aber dort, fo iſt auch hier das Bewußtfein, daß er auf einer von 
feinem himmliſchen Vater Ihm gewiefenen Straße fi befinde, der un: 
durchdringliche Schild, mit dem er alle jene Feuerpfeile des Böfewichts 
auffängt und entkräftet. DO, daß wir einen Blick jetzt in fein Inneres 
werfen könnten! Aber tiefes Schweigen verhüllt uns daſſelbe gleich) 


580 Des Abcrheilighr. 

logie. Pilatus batte es io verordnet, tbeils Durch eine Dumfle der 
furchtönolle Ahnung dazu beitimmn, theils in der Abi, zu ze 
ber Legt noch den verbaßten Juden einen Schlag zu veriegen Alt 
dieſe die Inichrift leien, eilen tie erarimmt zum Precurater, m 
berrihen ihn an: „Nicht, mie du aeichrieben bait, Durf es beiben! 
Herunter mit jener Tafel vom Kreuze Des Lällerers! Schreibe, a 
babe aumaßend geſagt, daß er der Auden König tet!“ Pils 
aber entgegnet kurz und entihlenen: „Was ich geichrieben babe. tar 
babe ich geichrieben!" — Recht io, Tilute! Was Du ſchriebñ. tchriekt 
Du nicht in Willführ; ſondern ein Andrer fübrte dir dabei Pie Hm. 
Geweiſſagt baft du, wie einit Bileam, und bit mit Deiner Anficeii 
wider Wiſſen und Wollen ein Zeuge der Wahrheit gemerden! 

„Jeſus von Razaretb, König der Juden.“ Dieier Zud 
fei umjer beutiges Thema: und in dem gefreuzigten Manne den mil: 
lichen König Jiraels anzuichuuen, ſei der liebliche Zweck unirer fermeren 
Betrachtung. Wir erkennen ihn als den König am Kreuz zuert u 
der Majejtät, dieihn dort umgibt; Dann an den Ziegen, Meerm 
Holz davonträgt; zum dritten an der Reibsgrüundung Me al 
ſelbſt vollzicht; zum vierten an den Gerichten, die er dort verkän, 
and endlid an dem Regimente, das er vom Holze berab ausübt. 

Begleite der Herr ımire Erwägung mit feinem Segen, und helfe &, 
daß ſich die Schrift des Kreuzes in Das Marf unirer Herzen übertrage! 

1. 

Ten König Siraela willit du ſchauen! Komm, Freund, und 
folge mir! Wohin? Nach Iernfnlen enma? Nein, nach Dem Warter: 
hügel Golgutha! Ziebit du den Mann dert in feinem Blute ſchwim— 
men? — „Wie,“ ſprichſt Du, „Dieter ein König?“ — Schüttle nict 
das Haupt, ſondern wiſſe: Dir mur fehlt Das Licht, nicht Ihm die 
Majeität. Zritt in die Zenwelballen Des alten Teitaments zurück und 
fiehe da in heiligen Liedern und Gortesipricen die Kerzen brennen, 
die Dir Golgatba beleuchten. Zünde deine Zadel an den Pfalmen 
Davids an, in Denen Du einen großen König flagen hörſt: „Zie baben 
mir Hände und Füße durchgraben, und geben mir Galle zu trinfen in 
meinem Durſte;“ und er bleibt Doch ein König! — Vernimm den alten 
Prophetenipruch Des Schers Jeſaias von einem Manne, der zwar „um 
unferer Miſſethaten willen werde zerichlagen “ werden, „auf Deifen 
Schultem“ aber nichtödeitomeniger die „ Herricbaft jei,“ und deſſen 
„öriedens fein Ende werden“ folle auf Erden. Kies Sacharias Wort: 


— 





Die Heberfhrift. 58 


„Schwerdt mache dich) auf über den Mann, der mir der Nädfte 
it!” und höre den Herold durd) die Wüfte rufen: „Siehe, das tft 
Gottes Lamm, das der Welt Sinde trägt.” Eile mit diefen Lichtern 
nah der Schädelftätte zurüd, und fage, ob dich's noch fo fehr be- 
fremden kann, über dem mittleren der drei Kreuze die Schrift zu fin- 
den: „Jeſus von Nazareth, der Juden König!” Eine 
ganze Wolfe heiliger Zeugen umgibt gefenkten Haupts das Kreuz: 
ehrwürdige Geftalten, erprobte Heilige; Patriarchen und Seher, Sän- 
ger und Propheten, Könige und Priefter. Nein, Diefe macht das 
Königsbild in feinem Blut nicht irre. Anbetend, und nicht ſtutzend, 
lefen fie die Schrift der Kreugestafel: „Jeſus von Nazareth, 
König der Juden.” 

Fragſt du, wo denn die Majeftät dieſes Königes fei? Fürwahr, fle 
ift vorhanden, wenn aud augenblidlich wie der Goldglanz der Bun⸗ 
deslade unter den Widderfellen. Aergere Dich nicht an der dunklen 
Wolfe, die Ihn umgraut! Der Blid des Glaubensauges dringt 
durch fie hindurdy, und begegnet in duftigem Hintergrunde cinem Re 
genbogenfranz von Engelhäuptern und Seraphsangefichtern. Sehen 
fie traurig, weil ihres Königs Auge im Zode bricht, fo tragen fie 
doch die Balmen ſchon in den Händen, mit denen fie Ihn zu ſei⸗ 
ner Thronbefteigung begleiten werden. Und wer ift Dort in den ent 
fegneren Zirnen der himmliſchen Welt die leuchtende Schaar, die in 
Anbetung verfunfen unter den Bäumen des Lebens auf ihren Ange 
fihtern liegt? Die Heiligen Gottes ſind's, die fehon das Neid) er- 
erbten, ehe noch der Herr der Herrlichkeit zur Erde niederftieg. Aber 
Er ſprach, als fie den Staub der Pilgrimfchaft vom Fuße ſchüttel⸗ 
ten: „Ich laſſe mein Leben für diefe Lämmer!“ und auf Diefes 
Königswort hin öffneten ſich aud ihnen die Paradiefesthüren. He- 
noch iſts, und Methufalab, Noah und Abraham, Iſaak 
md Jakob, Mofes und Elias, und wie fie weiter heißen. 
Seit lange ſchon genoffen fie die Früchte der Verdienfte ihres Bür- 
gen, bevor derſelbe noch fein Werk and nur begonnen hatte. Nun 
fehen fie Ihn den verheißenen Sold für fie bezahlen, und Die Woh- 
nung der Seligfeit, in der fle haufen, mit den Stüßpfeilern des Rech⸗ 
tes untermauert. Und was bleibt ihnen übrig bei dieſem Anblick, 
als anbetend vor dem Wunderbaren in den Staub zu finfen, und 
zu befennen, daß fie auch mit ihren verflärten Augen die Tiefen 
einer ſolchen Erbarmung nicht zu ergründen wüßten? — Und ſchauet 


552 Sei Ycfenge. 
weiter neh m Ge. Tue Merickenbeerde dert sus allen Böllern, 
aus ıllen Jahrhunderten, tie Auges kburuheieel mm rem; euper- 
gerichter, den Blick voll beiligen Friedens mu? Killer Demmmgsielig 
fer, wer iä ne, dieſe u mmabrehburer Ketten den Zedestiuel um 
drãngende Shaun? Seine Gemeine uts, das Bell der Grlötere, 
überall und zu allen Zeiten die Berten mut Edeliten ter Meuichbeu in 
ſich ſchliehend. Sebt, Beibtauchichalen in ibten Hinten! Ben wide 
mehr wollen He wiñen, dieſe Feiernden, als veu dem erwürgtze Sram, 
Herrlihe Bekrãmmg des Marterberges! Sieblüber Ehreubegen m 
den Arenzespiahl! — Biner, dergleichen Geñchte neber der Glaube, 
der tie Schleier zu beben vericht, und im das Irendige Ichune 
Und wie er Diele Bilder iebt, vermutet ih dus Krag rer ibm in 
einen Thron, im ein Diadem der Dornenkranz um des Schmerzen 
mannes Stim; und mit ebrfurchtsvoll gebengtem Auie lielt er Die 
Plamsinihrift: Jeſus von Razaretb, der Andenföänig!‘ 
Ja, es gibt ih am Areme eine Majeñät ind, zu Deren Gem 
rung es des Glaubensanges nicht einmal bedarj; eine Majeñät, mie 
diejenige der aufgebenden Sonne, wenn eben noch die Schatten uud 
Nebel drunten ihr Weſen trieben, als wire ibnen auf Erden das 
Reich beichieden. Aber num tritt fie bervor, „wie ein Bräutigam ans 
feiner Kammer,“ und jchreit nicht, nech länſet fie ihre Stimme bören 
auf den Gaflen; umd michtsdeitoweniger jagen Die Schatten vor ib 
rem Angefiht auseinander, und Die Nebel zerrinnen in nichts unter 
dem Glanze ihrer Zlügel. So berbürigt fh des Menihen Sobn ın 
feinem Hol, Er, „die Sonne der Gerechtigkeit mit Geneſung m: 
ter ihren Zlügeln.” Welch' ein ſataniſcher Rauchqualm um ihn ber! 
Welch wüſtes, hoͤlliſches Nuchtgewölfe, das Ibn umgibt! Hört dieſes 
Hohngefchrei aus den aufgeriſſenen Mäulen des Volks und jener 
Zührer: „Er bat Andern gebolfen, er belfe ibm ielber, iſt er der 
Ehrift, der Auserwählte Gottes! Biſt du der Juden König, To zeige, 
und fteig’ herab vom Kreuze!“ Aber ſehet den Verböbnten, wie unter 
Diefer Höllenbrandung in jeinem heiligen Königsangefichte auch nicht 
eine Miene fid) verändert. Mit erbabener Rube ſchaut er von jeiner 
Höhe darein, und die Läſterer find beichämt, verwirrt, und fallen in 
ihre eignen Schwerdter, indem fie, während fie den Herrn der Herr: 
lichkeit zu Läftern vermeinen, nur mit lauter Stimme als denjenigen 
Ihn preifen müflen, „der Andern geholfen habe.” Wir gewahren 
dieſe feine Lönigliche Ruhe, diefen übermenjchlichen Gleichmuth, dieſe 


Die Meberferift. 583 ee 


himmlifche Geduld; und Angefichts ſolcher Majeftät, die allein ſchon 
hinreicht, feine Widerfacher zu vernichten, meinen wir die Infchrift auf 
feinem Hole nur um fo glängender erftrahlen zu ſehn: „Jeſus 
von Nazareth, Der Juden König.“ 

2. 

Ja, Er iftis! Du erkfennft Ihn an feinen Siegen, die Er am 
Kreuzespfahl erringt, und deren erjter als ein glorreiher Doppel: 
fieg erfcheint, indem Er ihn über fich felbft und zugleich über den 
hölliſchen Verſucher davon trägt. in mächtiger Anfechtungs- 
fturm dringt auf Ihn ein, und zwar in dem aus dem Volk zu 
Ihm heraufdröhnenden Rufe: „Er hat Andern geholfen; ift er 
der Ehrift, der Auserwählte Gottes, fo helfe erihm 
felber und fteige herab von feinem Kreuze” Ein flar- 
fer Anlauf des Böfewichts; faſt ein ftärkerer noch, als den er auf 
der Zempelzinne einft mit jeinem „Biſt du Gottesfohn, jo laß Dich 
hinab!“ wider den Herrn wagte. Wie fehr entſprach jenes angera- 
thene: „Steig herunter!” den Bedürfniffen der menfchlichen Na⸗ 
tur unfres Friedensfürften! Folgte Er dieſem Winfe, fv war nicht 
alfetn Er felbit mit einem Male von aller feiner Qual erlöft, fondern 
auch der läſternde Widerfacherhaufe auf eine beifpielloje Weife aus 
dem Felde gefchlagen, und faſt noch unzweideutiger, als es nachmals 
durch Jeſu Auferstehung von den Zodten gefchah, von deffen Gott- 
heit überführt. Verlodender Gedanfe, mit einem Schlage Die wi- 
thende Notte verftunmmen zu machen, und ihre Kniee in den Staub 
zu zwingen! Aber hinweg mit ihm! Iener Rath ift nicht geheuer! 
Ein Fallſtrick ift er; eine Leimruthe des fiftigften Vogelſtellers; ja 
ein Fels unter dem Waffer, an dem furz vor der Einfahrt in den 
Hafen nod) das Schiff des ganzen Verföhnungswerks firanden foll, 
Jeſus durchſchaut das teuflifche Gewebe, und fpricht im Geifte: 
„Hebe dich hinter mich, Satan!” Nein, nicht herunterfteigen, ſon⸗ 
dern biuten, opfern und den Sold der Sünde zahlen 
will Er. Mit erhabenem Schweigen weißt Er die Aufforderung 
ab, und bleibt an feinem Holze. Auch wicht einmal vorübergehend 
nur bat der Held in feiner Bahn gewankt. Kommt, flechten wir 
Ihm einen Delzweig durch die Dornenfrone, und umwinden mit Feier⸗ 
fränzen die Kreuzesinfchrift: „Sefus von Nazareth, Der Juden 
König!” 

Ya, ein Löniglicher Sieger hängt in Ihm am Kreuze. Du möchteft 


584 Dab Akerheiligkr. 


deuten, Niemand jei befiegter je geweien, als Er. Aber das em 
rohr des Glaubens belehrt dich eineö Andern. In dem Gemälde, 
das Durch Dieies angeſchaut ſich Dir entichleiert, fiebit Du das Auge 
Immanuels nicht brechen, ſondern zerichmetternde Blige ſprüben; 
feine Hände nicht gefeflelt, Tondern frei ein wunderbares Kriegsſchwen 
fhwingend; jeine Züße nicht im Stock, ſondern binraufcbend über einen 
flurnumtobten Plan. Heiß it der Streit; wild das Getiumel: ein 
Kampf der Verzweiflung, Der fi entipann, und die Menſchheit der 
Preis, um den die Schlacht geichlagen wird. Die fireitenden Rar: 
theien der „Fürſt über das Heer des Herrn,“ und — Die Hölle 
Wie toben und jperren fid) die Abgrundsengel! Cs toll ibnen der 
Raub genommen, Das Ecepter entwandt, und das Recht, das fie 
durdy Gottes Gericht über uns gewonnen haben, wieder entriffen wer: 
den; und der Mann im Dornenkranze iſts, der ihre Macht bedroht 
und brechen will. Da bleibt denn im Rüſthaus des Höllenpfubles 
nicht8 unergriffen, was irgend Hoffnung auf Sieg gemwübrt. Aber der 
„Held aus Juda“ jpottet der „„bebenden Lanzen.“ Er biutet, aber 
diejes Blut ift der Feinde Stun. Er fällt in der Widerſacher Hände; 
aber dies wird das Mittel, uns aus ihren Händen zu erlöien. Er 
läßt ſich feifeln von den Belials-Rotten; aber feine Ketten gebüren 
unfre Zreibeit. Er leert den Zorneskelch; aber nur, Damit er ibn 
für uns mit lauter Gnade fülle. Gr läßt jih in die Ferſe ſtechen; 
aber in demjelben Augenblid zertritt er der alten Schlange den Kopf; 
und nach einer ganz andren Kriegsregel, als Die gemöbnliche, erichlägt 
er den Feind, wie Simſon, mit jeinem Falle. Solches thut der Mam 
am Hole. Mag nun der Eine flagen, daß der „„Schönite der Men⸗ 
jchenfinder” jo erniedrigt ſei, und ein Andrer ſich heiter ſchreien: 
„Steige herab, und zeige, wer du biſt;“ wir lagen und jchreien 
aljo nicht, die wir mit Glaubensaugen zu ſchau'n veriteben. Uns 
dünkt, daß Er nicht herrlicher eribeinen würde, wenn Er, umflungen 
von Engelbarfen, in majeſtätiſchem Glanz vom Kreuz berniederitiege, 
als er dort in feiner Blutgeitalt vor unſern Augen ſchwebt. Wir jeben 
unſern Michael mit Siegesſchmuck bededt auf tauſend Drachen 
häuptern ftebn, und rufen, in die Poſaune des Triumphes ſtoßend: 
„Jeſus von Nazuretb, der Juden König!” — 

Ein dritter Sieg wird am Kreuze errungen, von allen der größte 
und wunderbarfte. Ich nenne ihn den Sieg des Gejepgebers 
über Das Gejeg. Wiſſet, an Luft und Liebe und zu reiten, 


Die Ueberſchrift. 585 


gebrach's im Himmel nicht. Im reichften Maße waren fle vorhanden, 
Nur fehlte Die Berehtigung zu dem großen Werk, Das Gefeg, 
das heilige und unverbrüdhliche, war der Riegel vor der Schaßfammer 
der Erbarmung. Das Gefeß legte gegen unfere Erlöfung fein Veto 
ein, „Kein Heil den Sündern,“ fprad) es, „bevor fie zahlten, was 
fie ſchulden!“ Und fiehe, felbft die ewige Majeität fah fich gebunden 
durch Diefen Einſpruch. Aber die himmlifche Weisheit wußte Rath, 
auch Diefe Feſſel rechtmäßig zu Löfen. Der ewige Sohn flieg zur 
Erde nieder, um das Nein des Gefehes in lauter Ja zu verwandeln. 
Er ließ fih „unter das Geſetz“ thun, und erfüllte es ftellvertretend 
in einer Weife, daß er auftreten und fprechen durfte: „Wer kann mich 
einer Sünde zeihen?“ Doch dadurd war der Riegel von den 
Gnadenfchleufen noch nicht weggefchoben. Es galt auch noch Erduldung 
des Fluchs, dem wir durch Schändung des Gefeßes verfallen waren. 
Er unterzog fih auch Dem, und tranf den Zomesfelh, Blieb ein 
Tropfen darin zurüd? „Nicht einer!“ urtheilt Das Gefeg. Und wie 
nun der Gnadenruf vom Himmel niedertönt, hat das Geſetz nichts 
mehr dawider einzuwenden. “Die göttliche Gerechtigkeit tritt ihrer 
hehren Schweiter, der Liebe, das Scepter ab, und zwar ohne hier: 
durch ihrer eignen Glorie auch nur im Geringften etwas zu vers 
geben. Wir ftaunen ob Diefer Heberwindung des Geſetzes ohne Ge- 
waltthat im Wege Nechtens, und leſen buldigend die Kreuzesfchrift: 
„Zefus von Nazareth, der Juden König!” 


Sa, er iſt's! Aber wo ift fein Reich? Eben pflanzt Ers von 
feinem Holz herab, Diefe Blutstropfen dort find das Gold, um das 
Er fich fein Volk erfauft, und dieſe Sterbefeufzer, die feiner Bruft 
entfteigen, die Slodenklänge, mit denen der Geburtstag feines Zions 
eingeläutet wird. 

Nicht dort hat Er fein Reich gegründet, wo Er dad Volk um fich 
verjammelte, und predigend zu ihm redete auf dem Berge der Se 
figfeiten. Nicht dort, wo Er Zunfen der göttlichen Wahrheit ftreute 
durch Die Nacht, und vor dem Kadelfcheine feines Himmelslichtes die 
Schatten des Todes auseinanderftoben. Nicht dort, wo Er die fürs 
ftern Geifter bannte, und durch feine Wunderhuͤlfen Schaaren Müh— 
feliger fi zu ewigem ‘Danke verpflichtete. Nicht Dort, wo Er mit 
dem Glanze feiner Thaten die Welt entzücdte, und fih von den Ho⸗ 
ſtanna's der Begeifterten umllungen hörte, Hätte Gr nah dieſen 


568 Das Ukerbeiligke. 

Banner! Huldige dem Monarden in der Dornenkrone, md benge 
auch du mir der Schaut, die Niemmd zäblen kann, ebrfurchtsvoll das 
Kuie vor der Kreuzes-Aufibritt: „Jeſus von Nazaretb, Der 
Juden König!“ 

Gine große, ernite Woche tits, Geliebte, in Die wir miteinander ein: 
getreten find. Tiefe Char⸗ und Gnadenwoche, wie it fie überichmung- 
lich reich an Beditinmen, Bußrufen, und Lockungen und Heimjuchungen 
der Erbarmung! In Diefer Woche ging einit der König Iſtaels ſeine 
Marterfirage. In dieier Woche brach ein beiliges Auge im Tode für Die 
Sünder. Tie ganze ſelige Bevölkerung des Himmels liegt in dieſer Woche 
um den Ztubl des Lammes auf Dem Angeiiht. Und eure Kniee jollen 
fteif, eure Raden itarr, eure Zungen itumm, ımd eure Herzen falt 
und fleinern bleiben? O, das ſei feme! Ju einer Woche der Huf 
digungen werde fie auch in unirer Mitte! Gier find meine Hände; 
wer ninmmt fie, und ſchließt fich mir an, dem Schmerzensmanne Her 
und Leben durzubringen? Was bisber fern geitanden, der Sünde 
verhaftet und der Welt, das trete endlich berzu, und eraieße ſich in 
Reuetbränen zu feinen Zügen! Bas erit mir balben Herzen Ibm 
angehörte, Da8 werde ausgeboren in dieier Woche ımd ganz Sein 
eigen! Was längit ſchon Ibm fi wugeichworen, ipredhe, den Bund 
erneuernd, im Blick auf Die Urkunde feiner einitmaligen Uebergabe 
mt Plans: „Bas ich neichrieben habe, Das babe ich ae 
ſchrieben!“ und dus grüße fih unter einander froblodend mit dem 
Rufe: „Glück zu dem Könige auf dem Kreuzesthrone!“ 

Brüder, es wird je gar lange nicht mebr währen, ſo leien wir's 
nicht mebr auf dem Holze blos, ſondern in itrablendern Yettern auf 
dem wallenden Königömantel des Wiederkehrenden: „Jeſus vor 
Razuretb, der Juden König!“ O, daß dann Keiner von una 
zu den Bergen ſprechen müſſe: „Fallet über uns!“ und zu den Hü— 
geln: „Bededet uns; jondern ein Ieder mit freiem Gewiſſen Abm 
entgegenjubeln könne: 


Sei und gegrüßt, dan Hort Fabt' immer bin nun, Welt! 

Und Brüurgam unfrer Seelen, Sinft Steme, Sonn’ und Mond! 
Der du erſcheinſt, binfort Wir baben Ibn ja jekt, 

Dich ganz und zu vermäblen!' — In dem bie Fülle wohnt! — Amen. 


— GB — 


Baier, vergib. 589 


XLIX. 
Bater, vergib! 


— — — — 


Gemahnend an den ſiebenſtimmigen Poſaunenakkord, unter 
deſſen mächtigem Schalle einſt, wie Joſua 6, 4 berichtet wird, Die 
Mauern Jerichos zufammenftärzten, und der hiedurch den Ifraeliten 
den Eingang in's gelobte Land eröffnete, durchtönen das geheimniß⸗ 
volle Dunkel der Paffionsgefchichte fieben Worte, die Größeres be: 
wirkten, als das Gefchmetter bei Jericho, und Die wie fieben wunder⸗ 
bare Glockenklänge daherziehn, der fluchbeladenen Welt ihre Erldfung, 
den Mühfeligen und Beladenen den Sabbath Gottes einzuläuten. Wie 
fieben Himmelslichter blißen fie auf, diefe Worte, und beleuchten uns 
das Heiligthum des Herzens Jeſu, und zugleich die innerften Tiefen des 
Kreuggeheimniffes. Sieben Blüthen erfchließen in ihnen fich an dem dür⸗ 
ren, ſchauerlichen Kreuzesftanım, zwar biutbethaut, aber darum gerade 
himmliſche Zreude und Erquickung hauchend. Die einzelnen Töne der 
fiebenfachen Hamtonie begegnen uns vertheilt in den vier Evangelien. - 
Keiner der Evangeliften hat die Worte alle; fondern der eine be- 
wahrte uns Ddiefe, der andre jene.» Auch diefer Umſtand gehört mit 
zu den Zeugniſſen, daß die vier Bücher, die fie uns binterließen, 
eın Ganzes bilden, Vier Stinmen, aber nur ein Chorus, nur 
eine fchon durch ihren Siebenflang als heilig bezeichnete Sys 
pbonie. Daß dem Lucas die Aufzeichnung des erften jener Worte 
zufiel, entfpricht feinem apoftolifchen Sonderberufe; denn vorzugsweiſe 
war ihm die Aufgabe geftellt, Chriſtum als den barmberzigen Sün⸗ 
derfreund uns vorzuführen. Und wie verherrlicht fich der Herr in 
diefer Eigenfchaft namentlich in dem Auftritte, bei dem wir heute 
auf unſerm Betrachtungsgunge. angelangt find, — Seine große hohe: 
priefterliche Fürbitte tönt uns an. Ich weiß nicht, was vor nnjerm 
Ohre Erwünfchteres und Süßeres verlauten fönnte! — 


Matth. 27, 32—44. Marc. 22, 32. Fuc. 23, 34% 35. 37. 


Und die vorüber gingen, läfterten ihn, und fehüttelten ihre Köpfe und ſprachen: 
Beni dich! wie jein zerbricht du den Tempel Gottes, und baueit ihn in dreien Lagen ! 


5% Des Alerjeilighe. 


Hilf Dir num ſelber! Bir du Gottet Sohn, fo Reig herab vom Kreuze! Desgleichen 
auch Die Hobenprieiter veripotteten ihr untereinander, fammt den Ehriftgelehrten nd 
Aelteſten und fpraden: Antern bat er geboiien und kann ſich ſelbit wicht belfen 3% 
er Chritud, der König in Jiraei, io Heige er num vom Krenze, dab wir fchen, fe 
wollen wir ibm glauben. Er bar Gott vertraut, ber erlöfe ihn wum, lüftet es ihn; 
Denn er bat geiagt: Ich bin Gones Sohn, der Chrint, der Auserwählte Goties Es 
veriporteten ibn au bie Kriegäfnebte, traten zu ibm, und brachten ibm Effig uud 
ſprachen: Biſt du der Iuden König, jo bilr Dir felber! Deſſelbigengleichen fcamäbten 
ihn auch die Mörder, die mit ibrı gefren:igt waren. Jeſus aber fprach: Pater, ver- 
gib ihnen, denn fie willen nit, mas fie than! 


Bir treten in die Schauernacht des Hügel Golgatha zurück; doc 
heute nur, um diejelbe von einem Zomnenitrahl der Erbarmung durch⸗ 
zudt zu ſehn, wie ein beieligenderer die jündige Erde niemals ange 
leuchtet bat. In der Zurbitte des Blutenden am Kreuz entfaltet 
diejer Etrahl feinen Glanz. In ihr wirft zugleich der göttliche Dulder 
von feinem Holz herab die erite Frucht jeiner Paſſion der Menſchheit, 
Die zu erlöfen Er gekommen, in den Schooß. Verſenken wir ums 
mit ımjrer ganzen Andacht in dad bewundrungswürdige bobepriefter- 
lihe Gebet, und nachdem wir uns den Inhalt defielben vergegen- 
wärtigt haben, betrachten wir den Berehtigungsgrund, auf dem 
die Bitte fußt, und endlih die Schranfen, innerbalb deren fie 
Erbörung findet. 

Sei der Herr nicht femme von uns, und jchaffe Er dem Worte fei- 
ner Gnade einen reichen Wiederball in unjern Herzen! 


1. 

Entjeglih gebrs auf Golgatba ber. Gin Chor aus dem Abgrund 
herauf brauft dem himmliſchen Chore voran. Die Macht der Finfter: 
niß erfchöpft jih in Ergüffen der Wuth und Läjterung; und wehe! 
daß gerade Die Männer, Deren Beruf es it, Das Heilige zu hüten, 
al8 die eifrigiten Werkzeuge der Hölle fich erfinden laffen! Ohne es 
jedoch zu ahnen, verfeblen dieſe Beliulsfinder ihres Zweckes doc. 
Ste beabfihtigen den Dann am Kreuz berabzumürdigen, und müj: 
fen ihn nur verberrlihen. Cie find darüber aus, Ihm die legten 
Reite feiner Krone vom Haupt zu reißen, und heben nur die Schleier 
von feiner Majeitit. Vernehmt die Spottreden, mit Denen fie den 
Heiligen begeifern; aber bemerft zugleih, wie Diefe Nushrüche bei 
Licht beſehn nur die ehrendſten Zugeftändniffe für Ihn enthalten. 
„Er hat Andern geholfen,” begimmen fie, „und kann ihm 
felbit nicht helfen!“ Zürmwahr! dies unummundene Bekenntniß 


. Bater, vergib. 591 


jeiner Haffer, daß er „Andern geholfen“ habe, ift von hohem 
Gewicht, indem e8 der gefchichtlichen Wahrheit der meffianifchen Wuns 
der, Heils- und Erlöfungsthaten Jeſu, die uns die Evangelien be- 
richten, ein neues Siegel der Beglaubigung aufdrüdt. „Er hat Gott 
vertraut“, fahren fie fort. Ermeſſet hienach, Geliebte, wie unzwei⸗ 
deutig fih in feiner ganzen Erfcheinung fein gen Himmel gefehrtes 
und Gott ergebened Weſen ausgeprägt haben müſſe, Daß es felbft. 
einer flumpffinnigen Brut, wie jene Nichtswürdigen, nicht verborgen 
blieb! „Er hat geſagt,“ rufen fie, „Ich bin Gottes Sohn, 
der Auserwählte Gottes!" Kaun es uns anders, als höchft 
willfommen fein, auch durch feine grimmigften Gegner es beftätigen 
zu hören, Daß der Herr fih felbft für den Sohn Gottes erklärt, 
und alfo mit dem Geheimniß feiner ewigen Geburt nicht hinter dem 
Derge gehalten habe? „Der du den Tempel zerbrichſt,“ zifcheln 
je weiter, „und baueft ihn in dDreien Tagen, bilf dir nun!” 
Seht, wie fie auh das befiegeln müffen, daß er auf das beftimmtefte 
jeine Auferftehung von den Todten vorherverfündigt habe. Nicht min- 
der beglaubigen fie durch ihr: „Sit er der Ehriftus, der König 
von Sfrael, fo jteige er nun herab vom Kreuze,” daß der 
Heiland fich wirflid und wiederhoft diefe bedeutfamen Titel beigelegt 
habe. Was begimen fie alfo, Die Täfternden Buben? Sie wollen 
in ihrem Grimm einen Edelftein zerfchlagen, und geben demfel- 
ben, inden fie ihn zertrümmern, nur Raum, in feinen funfelnden 
Splittern nod) erft recht feine Aechtheit zu bewähren. Sie zerpflüden 
in ihrem Zorne eine Wunderrofe Gottes; aber bringen gerade dadurd) 
nur, ohne es zu ahnen, den Glanz und Schmelz der einzelnen Blätter 
diefer Blume des Himmels erft recht zur Erſcheinung. — | 
Der Herr vernimmt an feinem Kreuze die giftigen Stachelreden, 
die von unten her zu ihm berauffchallen. Er weiß, woher fie fom- 
men, und wem Die Käfterer, ohne daß es ihnen Fund iſt, ald Organe 
dienen. Er hört aus ihren Wuthergüffen nur einen roheren Wieder: 
ball jener Zumuthungen heraus, mit denen der Verſucher, der Fürft 
des Abgrunds, einft in der Wüſte Quarantania an ihn herantrat, 
Wie aber dort, fo ift auch hier das Bewußtfein, daß er auf einer von 
jeinem himmliſchen Vater Ihm gewiefenen Straße ſich befinde, der un: 
durchdringlihe Schild, mit dem er alle jene Feuerpfeile Des Böſewichts 
auffängt und entfräftet. O, daß wir einen Blid jet in fein Inneres 
werfen Eönnten! Aber tiefes Schweigen verhüllt uns daffelbe gleid) 


592 Dab Aterheifigfe. 


einem Zempelvorbang. Ob in diefen Momenten, da das Maaß der 
wider ihn ausgeſchäumten Kränkungen überlief, die Gluth einer hei⸗ 
figen Entrüftung in Ihm empor ſchlug? Ob durch feine Seele jetzt 
Donner rollten, wie das „Anathema Maran atha!“ des Apo—⸗ 
tele? Ob fein Herz mit einem „Vergilt den Böfewichtern nach ib: 
ren Werken!" an Den ſich wandte, der fih einen „ Rächer der 
Böfen“ nennet? und ob in den Tiefen jeines eigenen Gemüthes 
wohl ein richterlihes „Wehe! * verlautete wider die Kinder Belials, 
die Fluchwürdigen? Wäre es der Fall geweien, feine Heiligfeit 
würde Dabei rein ausgegangen fein, und felbft die Hölle hätte Ihm 
die Ehre geben müffen, daß Er Recht daran thue, von der Erlöfung 
einer Brut, wie Das Gefchlecht der Kinder Adams, für immer abzuftehn. 

Doc ftille! — Seht, feine Lippen bewegen fih! — Er will reden. 
Was werden wir nun vernehmen? Wird etwas der eben bejzeich⸗ 
neten Art vom Kreuze nieder Donnern? Man möchte e8 erwarten. 
— Geht, Er öffnet jenen Mund. Aber — was tft das? Dür— 
fen wir unfern Obren trauen? „Vater,“ beginnt er; — Doch mie 
weiter? Etwa: „Leberhebe mich dieſes Kelchs?“ — Nein, nein, 
den Kelch trinft er gern. Weiß Er doch, wanm Er ihn leert. — 
©o denn: „Bater, lindre meine Noth?“ — Auch nicht einmal dus! 
An ſich denkt der Dulder gar nicht, fondern nur an feine Peiniger, 
an feine Mörder. Und was beanfprucht er fiir dieſe? — Das Ge: 
. ih? — Behüte! — So dem Schonung etwa und Milderung 
ihrer Strafe? — Freunde! es betet in dem Blutenden ein König, 
und der fpendet, wo er ſchenken will, nicht Halbes. „Vater,“ 
ruft er, „vergib ihnen!" — Wie? — wirflih? ihnen? — Wen 
meint er? — Die Satansknechte doch wohl nicht, die ihn an's Kreuz 
gefchlagen? Dody nicht die heizlofen Tiger, Die jeßt noch mit den 
giftigen Bilfen ihres Spottes Ihn zerfleifhen? — Ja, ſie find 
ed, ſie, die er bei feiner Kürbitte im Auge hat. Für fie begehrt 
er Gnade und Bergebung! Wir jenfen unſer Haupt und beten 
an. Welch' ein Wort das: „Vater, vergib ihnen;“ und in dem 
Worte, welch' eine That! Sa, diefe That it größer, ald die alän- 
zendften Wunder, mit Denen er wie mit leuchtenden Denfmalen jeinen 
Weg durch die Welt bezeichnete. Wohl ſchön war Chriſtus in dem 
Berflärungsafte Tabors; aber bier jtrahlt Er in noch hehrerem Lichte, 
„Vergib ihnen!“ DO, ift es möglich? Mit dieſem Worte, dus Te 
ehrlich gemeint iſt, wie es klingt, bededt er die fchuldbeladenen Häup- 


Bater, vergib. 593 


ter feiner Mörder felbft mit dem goldnen Schild der Liebe, um ges 
gen die Gefchoffe des wohlverdienten Gotteszornes fle zu fihern. Mit 
diefem Worte, Das felbit Die Engel in anbetendes Erftaunen verfegen 
mußte, nimmt er die Bluthunde in die Arme feiner Barmherzigkeit, 
und trägt fie zu den Thronesftufen feines Vaters empor, um fie ſei⸗ 
ner Gnade zu empfehlen. Denn wiffet, das „Vergib ihnen!“ 
heißt im Munde Jeſu nicht blos: „Rechne ihnen nur dieſe an mir 
begangene Mörderfchuld nicht zu.” Nein, wo Jeſus fein: „Vergib!* 
fpricht, da umfchreibt e8 einen weiten, weiten Kreis, und umfaßt 
tügend das ganze Schuldregifter. In Seinem Munde heißt das 
„Vergib“: „Verſenke das ganze Sündenbild ihres Lebens in des 
Meeres Tiefe, und gedenfe feines ihrer Fehle mehr; fondern bes 
tradhte Die Sünder hinfort als rein vor Dir, und verfahre mit ih- 
nen als mit Heiligen!” — Es gibt Menfchen auf Erden, für die 
Niemand mehr beten mag, weil fie gar zu tief verfanfen. Es gibt 
folche, die nicht einmal felber mehr für fih zu beten wagen, weil 
ihr Gewiffen ihnen zeugt, daß Nichtswürdige, wie fie, auf Erhoͤ⸗ 
rung nicht mehr rechnen dürften. Welch’ eine Ausficht wird Leuten 
diefer Gattung bier eröffnet! Ach, wenn denn für fie auf Erden 
auch Fein Herz mehr fchlägt, jo mag ja das Herz des Königs 
aller Könige noch für fie fchlagen. Wenn unter ihren Freunden 
denn auch feiner mehr fich findet, der ihrer fürbittend gedenken mag, 
fo fchämt fich vielleicht der Herr der Herrlichfeit noch nicht, 
ihren Namen zu des Baterd Thron zu tragen! O, weldhe Hoffnung 
erblüht auf Golgatha der Sünderwelt! — Und wenn der große 
Fürfprecher dort für einen Miffethäter eintritt, wie fchlägt Das 
durch! — Proteftire eine ganze Welt: — Er betet felig, wen er 
will. Mit unabweisbarer Macht dringt feine Stimme an des Ewi⸗ 
gen Herz. Seine Anliegen find Gebote. Berge von Sünden zer: 
ftieben vor Seiner Fürſprache. — Wie höchſt bezeichnend und tief 
bedeutfan ift es, daß der Herr mit jenem „Vater, vergib!’” den 
Siebenklang feiner Kreuzesworte eröffnet! Diefes „Vergib“ beleuch⸗ 
tet uns nicht blos den Himmel der Leutfeligfeit und Liebe, den er im 
Bufen trägt; zugleich zuckt'ss wie ein erhellender Blig durd) das Dunfel 
der ganzen Paffionsnacht, und entziffert und die geheimnißvolle Stel 
fung, welche der Heilige Iſraels hier als Bürge, Mittler und Hoher⸗ 
priefter einnimmt. 

38 


2 

„Ms Hoherpriefter®" fragt ihr. Freilih ja! Fühlt ihr's doc 
alle, daß er mur in Eigenjchaft eines jolchen eine Bitte wie diejenige 
wagen fonnte, die und eben aus jeinem Munde anflang. Bon feiner 
eigenthũmlichen göttlichen Beamtung abgeſehen, erſchiene jene feine 
Bitte als ein Titanenſturm gegen die Ordnung Gottes; ja, als ein 
empöreriſcher Verſuch, den Thron des Allmächtigen von ſeinen Grund⸗ 
veſten, welche Recht und Gerechtigkeit heißen, herunterzuſetzen. 
Wie kann Der heilige Gott mit Sündern verkehren? ‘Darf Er 
etwas Anderes, als ein: „Hinweg von mir, Berledte!” für fie ba 
ben? Wie darf der Gott der Gerechtigkeit Miſſethäter behan- 
deln gleih Gerebten? Muß Er nit, wenn Er fich jelbft nicht wi- 
deriprechen will, „einem Jeglichen vergelten nach jeinn WBerken" — 
Wie ziemt es dem „Gott der Weisheit“, blindlings in den Mar 
ſchenhaufen hinein zu greifen, um den, den Er gerade erbafcht, zu 
Seiner Herrlichkeit zu erheben? Gebührt ſich's nicht vielmehr, daß 
Er forglich fichte und Icheide, und wäre es nicht ohne dies um feinen 
Ruhm, ein Gott der Ordnung zu fein, geichehen? Vermag der 
wahrhaftige Gott Gefege zu geben und Drohungen ergehen zu 
laffen für die Liebertreter, um dennoch, wo wirflih das Gefe mit 
Füßen getreten ward, jein „Berflucht fei jedermann, der nicht bleibt 
in Allem” begnadigend zu breden und zurüd zu nehmen? Un 
möglih! — Will Er nicht felbit aegründeter Anklage verfallen, To 
muß Gr trog alles menjchliben „vergib, vergib“ Fluch zahlen, 
wem Fluch gebührt, und Zorn, wen Zorn. Alles dies fteht feljenfeit. 
Und dennoh — — Seht, dort hebt e8 feine Flügel den Thron der 
Majeitit entgegen, Das aroße „Beraib!” vom Marterbügel, umd 
durchkreuzt dem Anicheine nach alle jene ewigen und unantaftbaren 
Sapungen und Schranken. Ja, Die Berge Sinai und Ebal fehiebts 
zur Seite, und beachtet Den Cherub des Geſetzes nicht, der die Pforte 
des Paradiefes hütet und beordert üt, nur Gerechte einzulaffen. 
Unbefümmert um Das Flammenſchwerdt deffelben ſchwingt ſich's mit 
ſcheinbar unerhörter Kühnbeit über die ebernen Wälle der taufend- 
fachen göttlichen Fluchdrohungen hinaus, welche den Unreinen uner- 
birtfih den Zugang zu Gottes Wohnungen verfperren, und verlangt 
in grellftem Widerfprucdy mit der unauslöfchlichen Auffchrift über dem 
ewigen Heiligthume: „Ich will den aus meinem Buche tilgen, der au 
mir jündigt,” für Rebellen, Gottesläfterer und Mörder Begna- 


Bater, vergib. 505 


digung, ja den Einlaß in die Behaufungen der feligen Gottesfinder. — 
Solches thut das „Vergib!“ „Und wäre doch fein Himmelsfturm ? 
— a, Freunde, es ift ein folcher; aber ein wohlberechtigter, ein 
tief gegründeter, ein heiliger! Die Gnade begehrende Liebe am Kreuz 
ift auch eine allen Gottesordnungen unterthänige Liebe. Was etwa 
von Schein der Vermeſſenheit ihr anhängt, ift nichts, als eben Schein, 
Sie weiß, was fie thut, indem fie ihr „Bergib! zu dem empors 
ruft, bei welchem „fein Wechfel ift des Lichtes, noch der Finſterniß.“ 
Sie ift ſich der „„Ziemlichkeiten des Haufes Gottes” in dem Augen- 
blide wohl bewußt, da fie Segen und Freiheit für. Leute begehrt, die 
das Geſetz verdammt und zur Hölle verweifen muß. Sie richtet fich 
mit ihrer Bitte nicht an eine göttliche Willführ, die nicht eriftirt; 
jondern appellirt wie an Gotte8 Barmherzigkeit, fo zugleih an feine 
Gerechtigkeit. Ihr „Vergib“ ftößt feine der göttlichen Ordnungen 
um, fondern läßt fie alle unverfehrt und unangetaftet ftehn. Ja, fie 
ift jo weit entfernt, zu wollen, daß der Allmächtige irgendwie fich 
jelbft, oder fein Wort verleugne, daß fie vielmehr Gottes Ehre als 
das höchſte und letzte Ziel all’ ihres Thuns und Zrachtens im Auge 
hat, — „Aber fann Gott in Ehren bleiben, wenn er Mörder mit 
Gnadentronen lohnen ſoll?“ — Ja, Freunde, Er fann; und Dies 
ift eben das „Endlich große Geheinmiß der Gottfeligfeit”, von wel- 
hem und das Evangelium die Siegel bricht, das aber nur dem 
Glauben fich erfchließet. Der Zefus, der bier für feine Mörder 
bittet, fteht eben aud an dieſer Mörder Stelle, und vertritt fie 
Haben fie das Geſetz gebrochen, fo tft er der Bürge, der ed an 
ihrer Statt erfüllt, Sind fie die des Todes Schuldigen, fo iſt er 
das Lamm, das ſich für fie von Gott zur Sünde machen ließ, damit 
die Sünde ihnen nicht mehr zugerechnet werde, Beluden fie ſich mit 
dem Fluche des Geſetzes, fo ift er der Mittler, von dem gefchrieben 
fteht: „Chriſtus hat uns erlöfet vom Fluche des Geſetzes, da er 
ward ein Fluch für uns.” Sind fie nad) Gottes Necht den Mächten 
der Finfterniß verfallen, fo gibt er als williges Opfer ſich den Feuer⸗ 
pfeilen derfelben bloß. Trifft fie das Urtheil: „Welches Tages du 
von Diefem Baume iffeft, wirft du des Todes fterben,” fo läßt er 
diefes Urtheil an feiner heiligen Perfon vollziehn, Damit es heißen 
könne: „Iſt Einer für Alle geftorben, jo find fie Alle geftorben.” — 
„Mio Genugthuung, Sühne, Stellvertretung®” — Ja, Freunde, Dies 
find. die inhaltfchweren Worte, welche den Grund der Berechtigung 
38” 


596 Daß Merheiſigte 


euch bezeichnen, von Dem die Fürbitte Jeſu getragen wird. Jetzt mu 
die ganze Welt verftummen, und die Hölle dazu, wenn Gott felbit 
Läſterer und Mörder, für welche Jeſus in den Riß trat, zu Gnaden 
annimmt. Denn allen Ordnungen Des ewigen Heiligthums ift ihr 
volles Recht wiederfahren, und Die Gerechtigkeit im Throne kann 
nicht Ginfpruch mehr erbeben, wenn Die ewige Liebe Simder ſegnend 
an ihr Herz drückt. Wie trofmwoll aber und tief beruhigend ift es, 
die görtliche Bergebimgsgnade auf ſolchen Zundamenten rubn zu ſebn! 
Jetzt begreiten wir fie wohl, die Betonung volllommener Gewißbeit, 
Zeitigfeit und Zuverficht, womit das große Wort „Bater, vergib!“ 
Dahertönt. Der Hobeprieiter ſpricht's aus dem Allerheiligften heraus, 
und zwar in dem Momente, in welchem er eben dic Schuld der 
Schuldigen bezahlt. Daß er dies wirflih thue, und bierin Die 
wahre Bedeutung feines Leidens zu ſuchen fei, Das will er von feiner 
Kreuzesböhe herab ein für allemal tbatjächlich der Sündermelt ver 
Augen malen; und darım Tendet Er gerade aus feinem Blute ber 
aus Dies entichiedene unbedingte Gnadengeiuch zu Gunſten der ärgs 
ſten Sünder, feiner Mörder, binauf gen Himmel. — 
3. 

„Aber wie fonnte der Herr Diele verftodten Böfewichter gerade der 
göttlihen Barmherzigkeit empfehlen?“ — „Verſtockte“, merkt euch 
dies wohl, Geliebte, waren fie mit nichten, die er bei feiner Für: 
bitte im Auge hatte. Für Menfchen, Die die „Sünde zum Zode* 
begangen haben, üt freilich fein Heil und feine Rettung mehr, mıe 
denn auch nach apoſtoliſcher Weilung für ſolche nicht mehr gebetet 
werden fol. Ter Herr meiß aber wohl, was er thut. „Vergib ib: 
nen?” beginnt, er ullerdings ganz allgemein; aber alfobald befchränft 
er jelbit feine Worte, und zwar To, daß fih .B. ein Judas, md 
gewiß auch manche der Obern Des Nolfs, aus dem Segensfreife Seiner 
Zürbitte ausgeſchloſſen jeben. Dieſer Zufag „Sie willen nit, 
was fie thun!“ zieht Die Schranfe. Durd ihn hebt der Her 
aus dem großen Haufen, der ihn umgibt, eine Auswahl von Men: 
fchen beraus, der allerdings die mehriten feiner Kreuziger beigehören 
mochten. Es waren Leute, Die nicht, wie jene Pharifäer, Die Jeſum 
beichuldigten, die Teufel durch der Teufel Cherften auszutreiben, Die 
Sünde wider den heiligen Geiſt begangen hatten, fondern in einer, 
allerdings nicht unverfchuldeten, Verblendung Jeſum dem Zode 
übergaben. — Beachtet nun zuerft das erhabene Selbſtbewußtſein, 


Bater, vergib.. 597 


das der Herr auch bier wieder, auf der unterften Stufe feiner Er- 
niedrigung, in dem „Ste wiffen nicht, was fie thun!” Fund 
werden läffet. Denn was iſt's doch, das hinter dem mit Nachdrud 
ausgefprochenen „Was“ verborgen liegt, ald ein: „Wenn fie fidys 
bewußt gewefen wären, daß fie es in mir nicht allein mit einem Un: 
fchuldigen und Gerechten, fondern mit dem Herm der Herrlichkeit zu 
thun hätten, fie würden mich nimmermehr gefreuzigt haben!” Dann 
liegt in dem „Sie wiffen nit, was fie thun!” der Gedanke: 
„Vergib ihnen, Vater! Denn indem fie mich hinopfern, zahlen fie ja 
in meiner Perfon unbewußt Das Löſegeld für fi, und ermöglichen’s 
dadurch, daß Du unbefchadet deiner Gerechtigkeit Dich über fie erbar- 
men kannt.” Endlich und vorzugsweife ift Das „Sie wiffen nicht, 
was fie thun!“ in demjelben Sinne aufzufaflen, in welchem ich 
verftanden werden müßte, wenn ich von Jemandem, den ich aus feiner 
Noth zu retten gekommen wäre, der aber meine Abficht verkennte, und 
ſchnöde mid) zurückwieſe, ebenfalls fpräche: „Er weiß nicht, was er 
thut!” Es wäre in foldyem Falle meine Meinung diefe: „Geduldet 
euch; bald, wenn er inne geworden fein wird, wer ich bin, und zu 
weldyen Ende id in feine Hütte trat, wird er ſich befinnen, und 
ſich Schon anders zu mir ftellen!” Ich fpräche mit meinem Worte eine 
Weiffagung aus; und eine folche enthält unverkennbar auch das 
„Sie wiflen nicht, was fie thun,” des Herrn. Es liegt darin eine 
verhüllte Vorherverfündigung der zukünftigen Buße und Umkehr 
derer, für die er bittet. Wurde ihnen doch auch fchon in dem „Va⸗ 
ter, vergib ihnen!” ein mächtiger Antrieb zur Buße mit auf den 
Weg gegeben, und eine lieblihe Brüde zur Sinnesänderung gebaut, 
Und blickt nur eine Heine Strede vorwärts, fo feht ihr fchon, zu⸗ 
nähft in dem römifchen Hauptmann unter dem Kreuze und deſſen 
Schildträgern, jene Weiffagung dem Anfange nad) in Erfüllung gehen. 
Beachtet dann die Volksmaſſen, wie fie an ihre Bruft fchlagend von 
Golgatha nad) Serufalem zuridwogen, und wenigitens theilweife 
unverfennbare Spuren aufrichtiger Neue blicken laſſen. Gewiß waren 
unter diefen auch fie, denen das „Vater, vergib!” gegolten hatte. 
Und waren fie unter dieſen nicht, dann unzweifelhaft unter Den 
drei Taufend, denen am Pfingfifeite das Wort der Apoftel durch's 
Herz ging. Denn hört dort Petrum reden. „Diefen Jeſum,“ fpricht 
er, „welchen ihr gefreuzigt habt, hat Gott zum Herm und Ehrift 
gemacht.“ Die Geſchichte aber meldet von dieſen Kreuzigern: 


598 Das Alerheilighe. 

„Da fie das hörten, fpradhen fie: Ihr Männer und Brüder, was 
follen wir thun?“ a, Diefe waren es, die einſtmals „nicht wußten, 
was jie thaten.” Jetzt ward es ihnen had. DO, wie ſchlug mm 
nachträglich nody Das „Bater, vergib ihnen!” beugend und zer⸗ 
malmend an ihr Herz! Wie ergoß fi erft jet Die Liebe, die in 
jenen Worten einjt ji fund gegeben, alö eine zerfchmelzende Ziegel: 
gluthb dur ibre Seelen! Wehe, ibren einigen Retter und Seliy- 
macher fchlugen fie ans Holz! Wie, daß unter ſolcher Erwägumy 
ihre Augen nicht zu Tbränenquellen bätten werden follen? Die Buße 
aber, die dem Bergebumgstroite erit den Raum bereitete in ihrem In⸗ 
nern, vollendete fi) dann auch in Hingebung an den Herm und in 
Treue gegen ihn bis m den Tod. Seht, fo bat das „Vater, ver: 
gib ihnen, denn fie willen nicht, was fie thun!“ weder die 
Satzungen der göttlichen Gerechtigkeit, nod die ein für allemal Seitens 
Gottes feitgeitellte Heilsordnung irgendwie verfehrt. Die Ge 
rechtigleit blieb in ihrem Glanze kraft der Genugthumg des ein 
geborenen Sohnes, und ber Heilsordnung ward in der zu feiner Zeit 
eintretenden Buße und Belehrung derer, denen das „Bergib!” ge 
golten, ihr volles Recht. — 


Freuen wir uns denn, geliebten Brüder, daß das beg 

und unentbebrlichite aller Güter, die göttlihe Abfolution, die 
Vergebung der Sünden, jo voll md fo rehtsfräftig ms 
erworben ward. Was beifen uns alle Schaͤtze der Welt, wiffen wir 
und im Himmel nicht angejchrieben und beerbt? — Bedenkt aber, daß 
die am Kreuz erworbene Vergebung, ob immer fie and) ein reine 
und freies Geſchenk der Gnade jet, Doch denen ewig vorenthaften 
bleibt, die da willen, was fie thun, indem fie Ehrifto ihr Her 
veriagen umd eben jo wenig auch denjenigen zu Theil wird, Die in 
ihrem unwifjenden und mabnbefangenen Biderftreben gegen 
Ihn verharren. Darım auf aus dem Zodesfchlafe der Sicherheit! 
dem Pharijäertruge Valet gegeben! die Sünde, die uns anflebt, ai 
Eünde verdammt! und Daun — (dies it die Straße, die zum Leben 
führt,) fo bußfertig als glänbig zum Kreuz getreten mit des 
Sängers Worten: 

Erweitre Dich, mein Herzend Schrein, 

Du ſollſt ein Schaghaus werben 


Der Schaͤcher. 599 


Der Schaͤtze, die viel größer fein, 

Als Himmel, Meer und Erben. 

Meg mit den Schägen dieſer Welt, 
Und Allem, was dem Fleiſch gefällt! 
36 hab’ ein Beſſ'res funden: 

Mein großer Schak, Herr Jeſu Ehrift, 
Iſt dieſes, was gefloflen ift 

Aus deines Leibed Wunden! — Amen. 


— — 
L. 
Der Schäder. 





Wenn der Apoftel Hebräer 9, 8 bezeugt, es fei, fo lange Die erfte 
Hütte geftanden habe, „der Weg zum Heiligtbum noch nicht 
geoffenbart” gewefen, fo fommt es ihm nicht von ferne in den Sinn, 
den Alten etwa die Hoffnung des ewigen Lebens abfprechen zu wollen. 
Wie Abraham fehon jene „Stadt“ fuchte, die einen „Grund“ hat, 
und deren „Baumeiſter Gott” ift, fo wußte David, „der Herr führe 
aud) über den Zod;” und die beiden Entrüdungswunder, an Henoch 
und Elias vollzogen, ftanden hell genug am Himmel der Gefchichte, 
um in Iſrael vermittelt ihrer Leuchtthurmfchimmer das Bewußtfein 
von einer zufünftigen Welt gegen jede Gefahr auch nur einer zeit- - 
weiligen Verdunklung zu fichern. Indeß, wurde auch das Dafein des 
himmliſchen Heiligthums nicht bezweifelt, fo lag doch der Weg dahin 
noch in Wolfen, und die Hoffnung auf eine einftige Aufnahme in 
Daffelbe war ſchwankend und ſchwach. Warum dies? In den Zagen, 
da das Geſetz noch regierte, überwog in Iſrael das Schuldgefühl 
dasjenige der Rechtfertigung bei weitem. Ya, von Redtfertigung 
im vollen Sinne diefes Wortes war überhaupt noch faum die Rede; 
vielmehr erfchien der Troft augenblicklicher Straferlaffung und Berge: 
bung als das Höchſte, zu dem ein gottesfürdhfiger Sünder gelangen 
fonnte. Auch dem Frömmften blieb Gott fremd und ferne, und Die 
Wohnung Gottes trat vor ihm wie das Allerheilgfte des Tempels in 
undurchdringliche Verhüllungen und unnahbare Weiten zurück. Wie 


600 Dad Alerpeiligke. 


begreiflich alles dies! Das Geheimniß der WBiedereinfleidung des 
gefallenen Adamsjohns in allen Schmud feiner urfprünglichen Heilig: 
feit vermittelft Uebertragung eines fremden Gehorfams lag noch, wenn 
auch von ferne gezeigt, unter fieben Siegeln verſchloſſen. Chriſtus 
mußte erft wirklich erfchienen fein, und fein Werk geſchichtlich vollen- 
det haben, ehe das Gottesktindfchaftsbewußtfein, und mit ihm die Hoff 
nung des ewigen Lebens, in den Herzen armer, fehüchterner Sünder 
Raum gewinnen und Wurzel fchlagen fonnte. Chriftus kam. Und 
wollt ihr fehn, wie er den bis dahin verfchloffenen, oder doch immer 
noch tief umwölften Weg zum Heiligthume, und das Heiligtum ſelbſt, 
eröffnet bat, fo folgt mir heute nach Golgatha! 


Suc. 23, 39— 43. 


Aber ber Mebelthäter einer, bie da gehenft waren, läfterte ihn, und ſprach: Bik 
bu Chriſtus, fo hilf dir felbft und und. Da antwortete der andre, firafte ihm und 
fprah: Und du fürchteſt dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher Berdamm- 
niß bit? Und zwar wir find billig darinnen, denn wir empfangen, waß unfre Xheten 
werth find; diefer aber hat nichts Ungeſchidtes gehandelt. Und ſprach zu Iefu: Her 
gedenfe an mich, wenn dn in dein Reich fommft. Und Jeſus ſprach zu ihm: Wahe⸗ 
lich, ich fage dir, heute wirft du mit mir im Barabiefe fein. 


Welch' eine Gefchichte! Wüßte ich doch kaum eine zweite, in der fo 
das Anziehende mit dem Ehrfurchtgebietenden, das Rührende mit dem 
Erhabenen fid) verichmölze, wie in Diefer! Allbefannt ift fie, umd 
Doch immer wieder neu; unzählige Male betrachtet, aber niemals noch 
“ erfchöpft. In welchen Glanze erfcheint uns hier das Kreuz! Im 
welcher Verklärung das Blut, das daran vergoffen ward! Kommt, 
treten wir erwägend einem Vorgange näher, in welchem fich nichts 
Geringeres, al8 ein Borfpiel des jüngften Gerichts uns darſtellt, 
indem Himmel und Hölle fich vor uns aufthun, und die Looſe der 
Entfheidung zur Rechten und zur Linfen fallen. 

Wir werfen zuerft einen Dli in die Herzen der beiden Schä- 
her, und vertiefen uns dann in Das große königliche Berheißungs: 
wort Immanuels. 

Ein Bild der Menfchheit in der Verſchiedenheit ihrer Stellungen 
zu Chrifto dämmert in der bedeutfamen Scene vor uns auf. Verleihe 
Gott in Gnaden, daß wir uns mit gutem Grunde in dem Schächer 
zur Rechten wiedererfennen mögen! 


Der Schaͤcher. boi 


1. 

Aufwärts die Blide! Die drei Sterbebetten dort zwifchen Himmel 
und Erde bilden den Mittelpunkt unfrer heutigen Betrachtung. Die 
drei Blutenden find infofern ſämmtlich in gleicher Lage, als fie alle 
auf der legten Station ihrer Erdenwallfahrt angelangt find, und un- 
mittelbar vor dem ermften, dunkeln Borhange der verhängnißvollen 
Ewigkeit ſchweben. Der in der Mitte zieht, ob auch von wilden 
Sturm umbrauft, friedfam zur Einfahrt in den Hafen feine Segel 
ein. Die beiden Andern dagegen jehn wir ſchiffbrüchig und bedroht 
vom fürchterlichften Untergange mit der Brandung ringen. Sie öffnes 
ten dem Wahn ihr Herz, jagten mit der empörerifchen Loſung „Frei- 
heit, Gleichheit und Genuß“ der zeitlichen Ergößung nad), und wur- 
den, unaufhaltfam von Sünde zu Sünde fortgeriffen, endlich als Meu- 
terer aufgegriffen, und zur Sühne der öffentlichen Gerechtigkeit an's 
Kreuz gefchlagen. Die Luft ift kurz, die Reue lang. Was brachten fie 
aus ihrem gottvergeffnen Treiben an Beute mit heraus, als neben dem 
leiblichen Elend, darin wir fie fchmachten fehn, den Wurm in ihrer 
Bruft, der nicht ftirbt, und das Feuer im Gebein, das nicht erlifcht? 
D, Unvernunft und Raferei, ftatt Gott, dem Allerhöchften, dem Teu⸗ 
fel fi zu Dienft begeben, deſſen Eöftlichfte Löhnungen immer nur 
Belfazersfefte und Henfermahle find. Millionen Sünder haben’s mit 
dem Schredenderempel ihres Lebensendes lauter, als es mit Worten 
geichehen könnte, in die Welt hineingerufen: „Ihr, an den Scheide; 
wegen, geht um Gottes und des Heild eurer Seelen willen nicht Links, 
denn zur Linken Hafft die Hölle!” Dennoch find fie nicht zu zählen, 
die ohne Unterlaß, jener Heerde vergleichbar, unter welche die unſau⸗ 
bern Geifter fuhren, ihren bethörten Vorgängern taumelnd in das 
Meer des Berderbens nachſtürzen; und das Berzweiflungsgewinfel in 
den ewigen Wüften wächft von einer Nachtwache zu der andern. 

Die beiden Miffethäter haben eine Zeitlang ſtumm dahingehangen ; 
aber von dem wunderbaren Mann, der zu ihrer Seite in feinem Blute 
fhwimmt, und in dem die lebenvolle und leibhaftige Erfcheinung einer 
übermenfchlichen Heiligkeit und Liebe auch ihnen keineswegs ganz vers 
borgen blieb, den Blick nicht wenden Fönnen. Endlich regt fid) der 
zu Zefu Linken; aber wehe! in ganz andrer Weife, als wir es zu hoffen 
wagten. Mit einftimmend in die Läfterreden, die eben von unten ber 
zu dem Marterlamme emporzifchten, fpricht er zu dem Mann im Dors 
nenkranze: „Bift du Ehriftus, fo hilf dir felbft und uns!“ 


802 Das Ußerheiligke. 


Zreilich ift der Sinn diefer Worte wenigftend mehrdeutig. Unverkemn⸗ 
bar hat auch jenes Mordlind von dem Manne zu feiner Seite den 
Eindrud empfangen, daß er, falls er nur wolle, fich felbft und ihnen 
wohl möchte helfen können; und jene feine Anſprache an ihm war 
wirklich ein, wenn and) verzweifelter, Verſuch, den Herm bei feiner 
Ehre zu faflen, und ihn dadurch zu einer That der Rettung zu be 
wegen. Aber das Mißtrauen, das er in die Bereitwilligkeit Defjelben 
zur Vollziehung eines ſolchen Wunders ſetzte, überwog im ihm weit 
die Hoffnung; und fo ging fein Wort zugleich, ja vorwiegend, als 
Laut der Verftimmung und eines bitteren Zroßes gegen Chriſtim 
aus ihm hervor. Aber wer gab ihm den Gedanken ein, Daß ber 
Hear, wenn er auch das Vermögen dazu befäße, ihm Dennoch nicht 
werde helfen wollen? Sein Gewiflen zeugt ihm dies. Die fleden: 
lofe Reinheit des geheimnißvollen Dulders warf auch bis in deu 
dunkeln Spiegel des Bewußtſeins dieſes Webelthäters einen hellen 
Wiederſchein, und verdammte ihn vermöge der bioßen Entfaltung 
ihres Glanzes in feinem Jımerften als eine fittliche Mißgeburt. Aber 
war diefes innere Gericht nicht für ihn ein Segen? Es hätte ibm 
zum Segen werden können. jedenfalls führte es einen entfcheidenden 
Moment für ihn herbei. Hätte er der auf ihn eindringenden Wahr⸗ 
heit Raum gegeben, und, mie das hehre Bild des Heiligen ihn 
richtete, fo fich felbft gerichtet, er würde dann feinen Fuß auf bie 
Straße des Heils geſetzt, und jeine arme Seele, wie verkommen fe 
war, gerettet haben. Aber er wollte in feinem Bettelftolz ſich felbft 
behaupten, und ftatt Buße und Beugung entzündete fih in ihm em 
teufliicher Haß gegen den, der jchon durch feine Gegenwart das Brand- 
mal der Nichtswiürdigfeit ihm an die Stim drüdte. Co fuhr's dem 
wie ein giftiger Natternbiß aus ihm heraus, das Wort: „Biſt du 
Ehriftus, jo Hilf Dir felbft und uns!“ „Hilf dir ſelbſt!“ 
Elender Menſch! Wie hätte der, dem es ein Geringes wur, mü 
einem Worte die Bande der Hölle und des Todes zu fprengen, 
fih nicht jelber jollen helfen können, wenn höhere Rückſichten nicht 
zu einem Andern ihm geratben hätten? — „Hilf uns!” O Srechbeit 
obne leihen, den Herrm vom Himmel in dem Börtlein „uns“ mit 
fih, dem Kinde Belinls, auf eine Linie herunterziebn, und obendrein 
die Hülfe deſſen beanfpruchen zu wollen, wider welchen er jein Her 
verhärtete und verftodte! Doch ſchlagen Radıflänge jenes im bitie 
Galle getauchten Schächerworts immer noch haufig genug am unfer 


Der Eiger. 603 


Ohr. Wie oft hören auch wir mit verbiffenen Lippen fagen: „Schweigt 
nur von euerm Gott; denn ift er, warum laͤßt er uns in unferm 
Elend ſtecken?“ Schauerlicher Hochmuth des verfommenen Sünden- 
wurms, Menſch genannt! Was verdienft du Beſſeres doch, trogiger 
Rebelle wider die Ordnungen feines Reichs, als daß er in deinen 
Noͤthen dich verfchmachten laſſe. Sie erft in der Afche, und unter: 
wirf dich rüdhaltlos feinem Scepter: und warte Dann ab, ob er etwa 
Gnade werde vor Recht über Dich ergehn laffen. Aber das eben magft 
du nicht, und findeft Dich um deines Widerftrebens willen gegen ihn 
in deinem Innern gerichtet. Das peinigende Gefühl feines Zornes 
aber fleigert in deinem Herzen die Empörung gegen ihn, und vollendet 
deine Abneigung zu Haß und Erbittrung, O, die mit ihren Fluch⸗ 
liedern wider „den alten Gott”, die wuthfchäumenden LKäfterer Jeho⸗ 
va's, deren Zahl in unfern Tagen Legion beißt, zeugen vermittelft 
ihrer Läfterımgen doch nur für den Hocherhabenen, wider den fie to- 
bend den Schild erhuben. Denn woher ihr grimmiges Gebelle wider 
den Allerhöchften, fühlten fie nicht feine richterlihe Hand auf ihrem 
Halfe? Woher ihr immer wiederholtes, Teidenfchaftliches Verneinen, 
Daß er fei, fünden fie ſich nicht Durch feine Heiligkeit eingefchnürt und 
beengt? Bon Gott macht fi nun einmal Niemand völlig 106. Viel⸗ 
mehr ift ein jeder gezwungen, in feiner Weife ihn mit verherrlichen 
zu helfen. Chret er Gott nicht mit feiner Xiebe, fo ehret er ihn mit 
feinem Haß. Daß Gott ein verzehrend euer, bezeugt der Zitane in 
feinem Himmelsfturm fowohl, wie der Seraph auf den Feuerflügeln 
feiner Inbrunſt. 

Dem Schächer zur Linken wird feine Antwort. Für den Räuber 
und Mörder in ihm wäre noch Hülfe gewefen; aber für den unbuß⸗ 
fertigen Spötter und Das verhärtete Kind des Unglaubens gibt 
es feine Rettung mehr. Der Herr muß den Tinglüdfeligen fahren 
laſſen. Man dente: Der Herr, der einige Retter im Himmel und 
auf Erden! Wer erzittert nicht? Aber Gott ift ein Gott der Ord⸗ 
mmg, und aud) feine Gnade feine Willkühr. Wendet den Blick jebt 
und fchaut zur Rechten des göttlichen Dulders. Hier bereitet fih ein 
Schauſpiel vor, an dem ſich unfre Seele von der Beftürzung, womit 
das vorhergehende fie erfüllte, wieder erholen mag. Der erquickliche 
Gegenſatz ftellt fi) uns in dem andern Schächer dar, der zwar nicht 
weniger tief verfchuldet ift, als fein bejammernswerther Schickſals⸗ 
gefährte; den wir aber am Rande der Hölle noch zur guten Stunde 


604 Des Ulecheiligße. 


den Strick des Satans yerreiien und vom fich werfen, umd Dun in 
einen eg fich bimiberichwingen jebn, der auch moch auf der legten 
Station vor dem Berderbens - Abyrunde nicht zu jpät betreten wird. 
Was auf Das Herz dieſes Mannes, der, wie man and Den ewangeli- 
chen Berichten ichliegen möchte, nicht fange vorber felbit noch im Das 
allgemeine Gejpötte wider Jejum mit eingeitimmt batte, vorzugöwetie 
einen jo geſegneten und jo energiih umgeſtaltenden Einflug geübt, 
wird und ausdrücklich wicht gemeldet. Gewiß aber war es, mem 
nicht das Wort des Herm auf dem Wege: „Weinet nicht über mid, 
tondern über euch, und eure Kinder,” io Doch jein Drobender Zuraf: 
„Geſchiehet Died am grünen Hol, was wird am dürren mwerden;” 
und wenn auch dieſes nicht, ſo unfehlbar jein berzergreifendeö Gebet 
für jeme Mörder, und überbaupt der ganze Glanz der Hoheit und 
Heiligfeit, in dem er ſtrahlte. Genug, die Veränderung, die im umern 
des armen Sünders ſich vollzogen bat, gibt ſich als eine Durdhgreifende 
und enticheidende fund, und ericheint wenigitend ald Anfang einer 
vollftändigen Wiedergeburt und Emeurung des beiligen Geittes. Det 
hängt er, noch ſtumm, an jeinem Holze; aber jede Miene ſeines dem 
göttlichen Dulder zugefehrten Angefichts redet, und eröffnet uns Blide 
in die Belt jeines Junen. Dan fieht es deutlich, wie die böjen 
Geiſter von ihm gewichen find, und mn ein feierlicher Engelzug bei 
liger Gedanken und Bewegungen Durch jeine Seele ſchreitet. De 
haͤmiſche Ausfall ſeines Unglücksgenoſſen zur Linken Jen Löfr ihm 
erit die in Zerfnirihbung und Ehrerbietung ichweigende Junge. Gt 
muß Einſpruch erbeben gegen Das zufummenfaffende „uns“ im dem 
laͤſterlichen: „Huf uns, wenn du Chriſtus biſt!“ Er muß fi) losſagen 
von folder Blaspbemie. Er fennt das Gewicht, je wie den umgehen: 
ren Ernſt des Augenblids, der Angefichts der fich öfnenden Emiy 
feit für ihn gekommen üt, und weiß jich binfidhtlih des Verbältai: 
jes zu dem Torngefrönten mit feinem Mitihuldigen in feiner ges 
ftigen Gemeinihaft mehr. Er bat an dem hehren Manne genug ge 
fehn, und genug von ihm gehört, um ſich fügen zu müffen: „Die 
fer it der verheißene Zroft Iſraels; oder dieſer Zroft wird nimmer 
kommen!“ Er erblidt in Ibm, wie den hellen Spiegel jeiner eignen 
Berwerflichkeit, fo zugleich den einzigen und legten Anfergrund für 
feine Hoffnung. Nicht zu befchreiben it darum das Entfeßen, das 
ſich feiner bemächtigt, da jenes frevle Wort feines Mitgehenkten daher⸗ 
tönt, — „Und Du,” beginnt er, freilich richtend, aber hiezu befugt, 


Der Schaͤcher. 605 


weil er zuvor ſich felbft gerichtet, „Fürchteft Dich auch nicht vor 
Gott, Der du doch in gleiher Berdammniß biſt?“ — Ad, 
ihm felbft erbebte das Gebein bei dem Gedanken an den Richter der 
Lebendigen und der Todten. ‚Und du,” dies ift der Sinn feiner 
Worte, „der du felbft am Todespfahle in deinem Blute fchwinmft, 
der Ewigkeit fo nahe ftehft, wie ich, fürchteft dich nicht vor Gott, 
der den Sündern ein verzehrend Feuer iſt, und der eben fo gewiß, 
als er diefen Gerechten rechtfertigen wird, denen fluchen muß, die, 
wie du, demfelben Hohn zu fprechen fich erfühnen! Irre Dich nicht, 
Gott Täßt ſich nicht fpotten!” — Ach, wie rührend und wie herz 
ergreifend ift diefe Bußpredigt des einen Delinquenten an den andern! 
Dod hört ihn weiter! „Und wir,” fährt er fort, find billig in 
Diefem Gerichte; denn wir empfahn, was unfre Thaten 
werth find.” O hört diefe Sprache aufrichtiger Beugung vor der 
Majeftät des Geſetzes! Vernehmt diefe lautere Selbftanflage, in der 
er fi) allerdings, was die Verſchuldung angeht, dem andern Schächer 
vollfommen gleichftellt. Fürwahr, wo foldhe Sprache ertönt, da fchickt 
fih fchon der Himmel au, die weiße Fahne auszufteden. Und denfe 
nur Niemand, e8 hafte etwas Entehrendes an folcher Sprache. Im 
Gegentheil ift fie die Sprache männlicher Selbftbefreiung aus dem 
Strid der Lüge, muthiger Huldigung, der Wahrheit dargebradht, und 
entjchloffener Umkehr vom Wege der Finfterniß auf den des Lichtes 
und des göttlichen Heils. Einer der geläufigften Kunftgriffe des 
Fürften diefer Welt, wodurd er feine Schlachtopfer an feine Fahnen 
zu fefleln wußte, beftand von Alters her darin, Daß er den Menfchen 
die Buße als etwas Unwürdiges, Crniedrigendes und Weibifches dars 
zuſtellen ſuchte. Wir halten dafür, daß umgefehrt Faum etwas ver- 
ächtlicher fein könne, als abflchtlich den Spiegel meiden, der uns die 
Dinge zeigt, wie fie find, und auf dem Ruhepolſter einer jämmer- 
lichen Selbfttäufchung fein Behagen finden. — Doch hören wir den 
Schächer! „Diefer aber,” fährt er fort, „hat nichts Unge— 
fhidtes gehandelt.” Welch' ein neues, Tiebliches Zeugniß Dies 
für die Unfchuld Jeſu! DO, wie muß es aus der ganzen Erfcyeinung 
des Herrn jo deutlich herauszulefen gemwefen fein, Daß er, wie der 
Apoftel fagt, „von feiner Sünde wußte!” Aus allem Schmach⸗ und 
Beichuldigungsgewölf, womit die Hölle Täfternd ihm bededte, brad) 
immer wieder das Licht feiner göttlichen Unfträflichkeit und Schöne 
fo fiegreich hervor, daß die Blindeften verwundrungsvoll davor zurüd= 


606 Das Uccheiägße. 


bebten, und allaugenbfidfich feine befannte WBeifiagung fait buchikibiih 
fih erfüllte: „Wenn Diele ſchweigen, io werden die Eteine mir He 
fianna ſchreien!“ 

Doch hört weiter! Jetzt folgt dus wahrhaft iritaumenswärdige. 
Das Gnadenwerk im Herzen des Schaͤchers wirft feine legten Schleier 
ab. Wer bütte Denken mögen, daß wir in jener Schuuerböbe fo eiwas 
erleben würden! Nachdem der Schächer jeinen Lüfternden Mitzebenften 
zurechtgewieſen, und ibm das Eine, mas Roth iſt, fo derüthig mad 
liebevoll, wie eindringlich und ernſt an das Herz gelegt bat, neigt er 
jein Antlig wieder dem Manne zu, der je länger je mehr feime eimige 
Hoffnung und feine ganze Liebe ward, und fpricht zu ihm fo anfpruchs⸗ 
los und gebeugt, wie bingebend und vertrauensvoll: „Herr, gedente 
an mid, wenn dn in deinem Reihe kommſt!“ Was if das! 
Bir find überrafcht, wir trauen unjern Ohren mm. Welch' Belenzt 
niß; und das in dieſer Stunde, unter dieſen Umſtänden, von Die: 
fes Mannes Lippen! Hier üt ein göttlich Hellſehn in tieffter Nacht! 
Reichte doch kaum irgend eines Apoſtels Erleuchtung bis zu der Glau⸗ 
benshöbe dieſes Schächerd binan. „Herr,“ ipricht er; nicht: „Rab 
bi,” nit: „Lehrer oder „Meiſter;“ nein, in dem „Kyrie“ legt er 
ihm den Majeftätstitel bei. Aus der Geftalt eines zertretenen Burmsd 
greift er damit den himmlischen Ehrenkönig heraus. „Gehe du,” 
will er fagen, „in Schmach und Unglüd fo tief verhüllt, wie du nur 
magft; ich kenne dich doch! Tu bit mehr, unendlich mehr, als alle 
Menichen find! Du bit nicht von der Erde: du famft von Oben!“ 
„Gedenke mein,“ führt er fort, mit unausjprechlichem Anfchmie 
gen und trauteftem Kindesfleben. O wie inbaltreich it dieſer Seuf⸗ 
zer! Er it Ausdrud lebendigiter Ueberzeugung von dem Dafein ei 
ner zufünftigen Welt: denn nicht Hülfe für die leibliche Noth, in der 
er fchmachtet, jondern etwas gar Anderes und Höheres begebrt der 
Schächer. Es ift ferner lautes Zeugniß von der Rothwendigfeit einer 
Bermittelung, wenn Sünder felig werden follen. „Vertritt mich!“ 
will er fagen, „fpricd für mich Sünder qut, lege ein Wort der Em; 
pfehlung für mich ein.“ Sa, es ift unverbolenes Bekenntniß: „Du, 
Mann im Domenkrange, bift der Mittler; darum fliehe ich zu Dir mit 
der Juverficht, deine Fürſprache bei dem Bater, aber auch nur fie, 
werde mid vom ewigen Tode retten!“ — Dem flehentlihen „@es 
dDenfe mein!“ läßt der Schächer die Worte folgen: Wenn Du in 
Deinem Reiche (nicht: in dein Reich) kommſt.“ Was will ex du 


der Schacher 607 


wit fagen? Etwa: „dein Entwurf fanf nicht in den Staub? Stirb 
mu; auch aus des Todes Kerker gehft du triumphirend wiederum her: 
vor! Dein Reich wird fiegen, und dein Thron ewiglich beftehn!?“ 
Gewiß, Geliebte, nichts Anderes, als dies, hat er im Sinne „Dir,” 
will er fagen, „gehört die Welt; die Fahne deines Friedensreiches 
wird wehn von einem Pol zum andern! Wenn du denn Deinen 
Thron wirft aufgerichtet haben, o, jo würdige auch mid), den armen 
Schaͤcher, der Aufnahme unter die Geringften deiner Knecdhtel" Geht, 
dies iſt feine Meinung. Welch” ein Herold von Ehrifto in tieffter 
Kreuzesnacht! Weldy ein heller Leitftern für Alle, die auf dem ſturm⸗ 
bewegten Meere des Lebens noch den Nubehafen fuchen! Erftaumen 
muß man über den hohen und Durchfchauenden Glauben diefes Schaͤchers. 
Aber ihr überzeugt euch hier auf’s neue, wie ſchnell dein erachten Heiles 
bedürniß die tiefften Geheimniffe des Himmels fich erfchließen. O, 
würdeft nur erft einmal auch du mit Schmerzen deiner Gottentfrem- 
dung Dir bewußt, und fühlteft, daß du feines Dinge fo fehr bends 
thigt feieft, al8 der Gnade; fürwahr, es fenkte bald auch auf Dich der 
Geiſt der Erleuchtung fih herab, und auch du gewahrteft, über alle 
deine Zweifel binweggehoben, im Evangelium und deffen Heilsordnung 
nicht lauter Weisheit nur, Zufammenhang und göftliche Vernunft, 
fondern zugleich den einzig erdenfbaren Rettungsweg für Weſen, die, 
was fie auch immer zu leugnen fich erfühnen, Doch das nicht leugnen 
fönnen, daß fie Schuldner find wor dem Geſetz, und des Ruhms er: 
mangeln, den fie vor Gott haben follten. Ya, e8 begegnete uns dann 
bald auch auf deiner Lippe das Wort, welches nicht weniger dem 
Könige auf feinem Thron, und dem Zugendhelden in feiner Bürgers 
trone, als dem Bettler hinter feinem Zaun, und dem geächteten Sträfs 
fing im der Kette den Loſungsruf bezeichnet, auf welchen allein der 
Hüter bei der Himmelspforte einft das Schwerdt vor ihnen fenten 
wird; ich meine da8 „Herr, gedenfe an mid in deinem Reichel” 


Der Schächer hat geredet. Vernehmt nun des Herrn Antwort. 
Das Großartigfte will fih vor uns entichleiern. Der Hohe und Er: 
babene, den der Schächer hinter der dorngefrönten Blutgeſtalt ent- 
deckte, tritt nun wirflih in der vollen Glorie eines folchen hervor. 
Golgatha wird zur Krönungshöhe, das Kreuz zum Thron des Welten- 
richters. Der Mann im Dornenkranze nimmt das an ihn gerichtete 
Gebet des armen Suͤnders an, und drückt dem hohen Glauben deſſelben 


608 Das Allerheiligſte. 


das heftätigende Siegel auf. Nein, kein ablehnendes: „Du verirrteit 
dich mit deinen Hoffnungen!” fein zurechtweifendes: „Du fchwärnft, 
und erwarteft von mir zu Großes!” vielmehr ein ermunterndes: „Hoffe 
fühner noch, denn du verfiehft dich an mir nicht!” Mit dem vollen 
Bewußtfein des eingeborenen Sohnes vom Vater, der er war, fo wie 
des wahren umd einigen Mittlerd zwifchen Gott und den Menſchen, 
fpricht er, den Blick voll Huld und Gnade dem Schächer zugewandt, 
und laut, daß Alle, die umberftehn, e8 vernehmen: „Wahrlich, ih 
fage dir, heute wirft du mit mir im Paradiefe fein.” Da 
habt ihr das große königliche Wort, welches, wenn es auch mur das 
einzige Zeugniß Jeſu von fich felber wäre, die Frage, wer Er ſei, für 
immer entfcheiden würde. Da habt ihr's, das Wort, das, Die Macht 
des Todes brechend und einen Himmel voll Troſt erfchließend, wie 
ein Zriedensaflord des Paradiefes fchon über Millionen von Sterbe 
betten hingeflungen ift! Das Wort, das auch vor unfern Ohren 
einft ertönen möge, wenn unfre Füße fehon im dunfeln Thale war 
dern! Das Wort, das die ganze Frucht des Leidens und Sterbens 
Ehrifti, des Blutbräutigams, in Eins zufammenfaßt! Da fchwebt es 
bin mit feinem feligen Klange, und fucht auch unfere Herzen, wm 
jest fchon ein Stüd Himmels in fie hineinzutragen. O, nehmt & 
wohl in Acht, Diefes Wort! Es ift die föftlichfte Gabe, die der Her 
von feinem Kreuze uns in den Schooß geworfen. 

Jede Silbe in dem Worte werde von uns wohl erwogen. „Bahr: 
lich,“ beginnt der Herr; und dieſes „Amen“ oder „Wahrlich“ if 
das Infiegel auf feinem Worte. Wie ſchwer wiegt diefe Betheurung 
von folhem Munde an der Schwelle der Ewigfeit ausgeſprochen! 
Wie iſt fie jo ganz dazu gemacht, all unfre Zweifel zu zerftreuen! Un⸗ 
ausfprechlich erhebend ift die Wahrnehmung der Zülle von Zuverfiät 
und Gewißheit, die ſich in dem Zuruf des Herm an den Schaͤcher 
fundgibt! Felfenfeft fteht es ihm felbit, daß er „der Weg, Die Wahr: 
beit und Das Leben“ fei; unerſchütterlich feſt, daß er die Schlüſſel 
der Hölle und des Todes trage, den Sünder durch die Todesnächte 
in das ewige Leben führen werde, und jenes Leben ein feliges, ein 
Paradies fei. Wie aber gereicht Diefe feine eigne Gewißheit unferm 
Glauben an Ihn zur Befeftigung und zur Belebung! Was neben jener 
feiner Zuverfiht in feinen Worten uns fo hoch entzüdt, ift der die 
jelben in höherem Chore durchtönende MWiederhall der Armenfünder; 
bitte, Das „Herr!“ des Schächers erwiedert der Dorngekrönte mit 


der Schaͤcher. 008 
feinem: „Ih fage dir!“ Denn was befagt dies Anderes, als: 
„Ih bins! Du haſt dich nicht an mir verfehn! Du fannft zu hoch 
nicht von mir denken!“ Auf das „Gedenke mein” erfolgt des Herm 
„Mit mir wirft du fein;* d. h. „Ich werde deiner nicht erft zu ges 
denken brauchen: denn man gedenkt der Fernen und nicht der Ges 
genmwärtigen.” — Dem „Gedenke meiner einft* antwortet der Herr 
mit feinem „Heute.” „Nicht in ferner Zukunft erſt,“ will er fagen, 
„jondern heute fchon ift dein Erlöfungs- und dein Krönungstag!* 
— Auf des Schähers: „Wenn du in deiner Königsherrlichkeit er⸗ 
fheinft," entgegnet der Herr: „Ich bin ſchon König! Ich nehme 
dich mit in's Paradies! Mit diefer blutenden Hand öffne ich die 
die Pforten der Welt der Seligkeit!“ — Es wirken die Worte des 
erhabenen Dulders an den Schächer endlich auch Dadurch fo über- 
aus wohlthuend auf uns ein, daß fie ein untrügliches Zeugniß von 
der Bollfommenheit und Allgenugfamfeit der durch ihn vermittelten 
Erlöfung für uns in fi tragen. Denn auf welchen Grund hin ges 
ſchieht es, daß Jeſus einem Sünder, den nad) Gottes Recht der 
Fluch des Geſetzes treffen mußte, fo zuverfichtlich ftatt des Fluches 
die Seligkeit zufpriht? Nicht auf den Grund einer willführlichen, 
göttlihen Amneftie, die mit dem Weſen eines volllommenen Gottes 
fi) nimmermehr vertrüge; nicht auch auf den einer vworausgefeßten 
fhwächlichen Vaterliebe Gottes, vor deren Augen zulegt der Unter⸗ 
ſchied zwifchen Gerechten und Ungerechten fid) verwifchte, und Die 
ihren Thron über den Zrümmern der Heiligkeit, Gerechtigkeit umd 
Wahrheit errichten müßte; fondern er verheißt das Paradies Tediglich 
auf Grund feines ewig gültigen Mittler» und Hohenpriefterwerfes. 

Ein großes, ſinn- und gedankenvolles Schaufpiel, dad dort an den 
drei Kreuzen auf Golgatha fi) uns darftellt! Ein Bild der Welt! 
Ehriftus in ihrer Mitte; aber den Einen ift er gefeßt zum Auferftehn, 
den Anden zu Falle; ein Geruch des Lebens zum Leben jenen, und 
Diefen ein Geruch des Todes zum Tode. Jeſu LZeutfeligkeit feiert dort 
ihren Triumph und erfcheint in Strahlen der Verklärung. Denn feht: 
Ein Sünder zu feiner Rechten, ein Sünder zu feiner Linfen; aber er 
ſchämt diefer Gefellfchaft fih fo wenig, daß er fich vielmehr in ihr, 
weil er hier feine Menfchenfreundlichfeit bethätigen, hier heilen und ers 
retten kann, erft recht zu Haufe, in feinen Elemente fühlt, — Ihr feht 
an den drei Kreuzen ferner eine thatfächliche Auslegung feines Wortes: 
„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben,” Denn wer dienf 

39 


610 Das Alerheiſigte 
dem Schächer zur Rechten, im Gegenfaß feines Unglücksgenoſſen auf 
der andern Seite, als Brücke, über weldhe er aus dem Fluchſtande 
in den der Gnade hinüberjchreitet? Wer wird ihm, und in einem 
gewiffen Grade jeinem Schickſalsgefährten nicht weniger durch feine 
bloße Ericheinung zu Dem wunderbaren Lichte, defien Strahlen ihm 
fein Innerſtes beleuchten, und alle Zrugbilder des Wahnes ihm zer 
bligen? Und wer ninunt ibm endlich Das Zodesbewußtjein aus der 
Bruft, und jebt an deſſen Stelle die ſeligſte Lebenshoffnung; ja flößt 
dieſſeits der Gwigfeit jchon feinem Herzen ein neues Leben des Friedens, 
der überirdifchen Freude, des göttlichen Kindſchaftsgefühls umd des 
füßejten Himmelsheimwehs ein? Its nicht der Domgelrönte Dulder 
dort, der foldhes Alles wirket? — Endlich gewährt und die Scene 
auf den Marterhügel eine Veranſchaulichung der unermeßlichen Macht 
und Bunderwirkfamfeit der Verdienſte unjres großen Hohenprieſters. 
Denn wie Das „Heute“ in des Herm Berfündigung alle jenjeiti- 
gen Fege⸗ und Läuterungsfeuer für feine Gläubigen ald in feinem 
Blute für immer erlofchen durftellt, jo gewährt ımd das „Du wirk 
heute mit mir im Baradieje fein“, möge unter dem „Paradiefe“ 
wie wir unjrestheil glauben, der Himmel jelbit, oder, wie Andre 
dafür Halten, nur ein Himmelsvorbof zu verftehen fein, einen groß 
artigen Beweis dafür, daß Ehrifti priefterliche Genugthuung zur Recht 
fertigung und Bejeligung des Sinders volllommen ausreiche. Freilich 
ift wohl zu beachten, Daß der Schächer fib in einem Zuftand wahrer 
und gründficher Bußfertigkeit befand, und, nachdem er in der Buße 
mit der Sünde brach, mit dem lebendigen Glauben an Jeſum, dem 
er fein Herz geöfmnet, alle Keime einer nachfolgenden Heiligung in fi 
aufgenommen hatte, Keime, die fih auch alfobald ſchon unter anderm 
im der mitleidigen Liebe, in der er fich den bedenklichen Zuſtand jeis 
nes Mitfchuldigen zu Herzen geben ließ, zu entfalten begannen. "Aber 
nicht um dieſer Keimlein zufinftiger Tugenden willen, die natuͤrlich 
einen Erfag für einen vollfommenen Gehorfam des Geſetzes nicht 
bieten fonnten, wurde der Schächer im göttlichen Gerichte gerecht ge: 
ſprochen; jondern er empfing den göttlichen Gnadenfpruch in der ibm 
zugerechneten Gerechtigkeit feines Bürgen, welche den angehenden 
Heiligen den Augen des Richters der LXebendigen und der Todten 
nichts weniger empfiehlt, als den bereits vollendeten. 

Denkt, Geliebte, num einige Nugenblide vorwärts, und was jeht 
ihr über der Höhe Golgatha's fich begeben? Die drei an ihren Mar- 


der Shacher. | 611 


terpfählen neigen ihr Haupt, und die große Scheidung kommt zum 
Vollzuge. Ach, der dort zu Jeſu Linken fährt auch zur Linken ab, und 
die finſtern Mächte werden ihn, der ſelbſt noch mit dem Tode in den 
Gebeinen den Herrn der Herrlichkeit läſtern konnte, als einen ihrer 
getreuften und confequenteften Schildftappen jubelnd bewilllommt ha- 
ben. Der Schächer zur Rechten dagegen ſchwingt fid) zur Seite feines 
Zriedensfürften, und mit in deffen Ehrenwagen aufgenommen, unter 
den Zujauchzungen aller heiligen Engel in die ewige Gottesitadt, das 
himmliſche Serufalem, hinüber, Er war der erſte Herold, der durch fein 
Erfcheinen im Paradiefe den verflärten Geiftern die Botſchaft über: 
brachte, daß Ehriftus die große Befreiungsſchlacht gewonnen habe, Ale 
Erftling des Schmerzenslohns des göttlichen Bürgen, fo wie der aus 
der Wunderfaat feines Blutes entfproffenen feligen Menfchenernte mag 
er noch heute den Anbetern des Lammes droben ald ein vorzugsweiſe 
lieber Reichsgenoſſe ganz fonderlih am Herzen ruhn. Uns bleibt er, 
wie ein unvergleichliches Denkmal der Allgenugfamfeit des Blutes 
Ehrifti, und ein hoher Leuchter, auf dem als Flamme die freie Gottes» 
gnade ftrahlt, fo ein überaus bedeutfames Richtzeichen, ja ein von 
Gott uns aufgepflanzter Leuchtthurm für unfre Lebensfahrt. O feid 
verfichert, Freunde, Die geiitigen Fußtapfen des Schächers nit dem 
„Gedenke an mich“ auf feiner Lippe, bezeichnen uns noch heute die 
einzige Straße, die gen Zion führt. Darım ihm nad), wer immer du 
feift; fein , Gedenke mein“ zu dem Ddeinigen gemacht, und dann unter 
dem Kreuze des biutenden Sünderfreundes, fo beherzt im Glauben, 
wie arm am Geifte in des Schächers Sinn gefprochen: 
Allein die Gnade macht mir Muth, 
Die Gnad' in Ehrikti Jeſu Bint. 
Brauft Sünde wie ein Strom daher, 
So it die Gnad’ ein braufend Meer. 
Nichts bin ih, doch was darf's auch deß? 
Die Gnade ſucht ein leer Gefäß. 
Nicht Gnad’ und Werf, nein Sünd’ und Gnad' 
Gott wunderſam verpaaret bat. 
Wohl weiß ih, daß der Gnade Schritt 
Die Sünde bannt und mmtertritt; 
Doch was mid angenehm und rein 
Bor Gott macht, bleibt Sein Blut allein. Amen. — 


—9>0 —— 


612 Das Allerheilige. 


LI 
Das Vermächtniß der Liebe. 


Ein holdes Bild iſt's, das aus den prophetifchen Worten Michas 
4,4 uns anfchaut: „Ein Seglicher wird unter feinem Bein: 
fio@ und Feigenbaum wohnen ohne Scheu.” Wir dürfen 
nicht glauben, den Sinn diefer Worte ſchon erfchöpft zu haben, wenn 
wir fie nur im Allgemeinen auf den Frieden deuten, der in den Zagen 
des neuen Bundes die gläubigen Herzen beglüden werde. Der Pre 
phet winkt zugleich mit feinem Bilde auf eine jener mefflanifchen Zu 
funft angehörige Häuslichkeit und Verbrüderung hinüber, die 
nicht blos den Heiden, fondern, während der Herrfchaft Des Gefekes, 
auch ſelbſt Dem Volke Iſrael ihrem innerften Weſen nach ein unbefamn- 
tes Land war. Freilid, war das Band der Familie bereits geknüpft; 
aber ed war mehr Das der gefeglichen Ordnung, als Das der heiligen 
Liebe. Es war faft nur der Gefichtspunft der Ueber⸗ und Unterordnung 
oder der gegenfeitigen Dienftleiftungen, aus welchem man fid) einander 
anfah; ein höherer Gefichtspunft wurde nur erft leife geahnet. Hans: 
fürft war der Bater der Zamilie; Die Mutter, des Haufes dienende 
Magd; die Kinder kannten faum ein anderes Verhältniß zu den El⸗ 
tern, al8 das des chrerbietigen Gehorſams; und die Verwandten fanden 
ihre Beziehungen zu einander in ihrem Stammbaume nur und etwu 
im Erbredt. Das Gefühl eines Vereinigt- und Zufammengebunden: 
feins in Gott zu gemeinfamer Wallfahrt nach dem SJerufalen da dro— 
ben, zu mechjeljeitiger Förderung in göttlichen Leben und Wandel, 
und zu thatfüchlicher Darftellung himmlifcher Befreundungsverhäftmifie 
im dunfeln Erdenthal Fam in den Alten noch nicht zum Durchbrud; 
und e8 darf und dies um jo weniger wundent, Da fle fi) des Herrn 
als eines traulich mit ihnen in Hütte und Kammer, und nicht bios 
im Tempel, wohnenden Hausfreundes noch nicht bewußt, und des Get: 
fte8 der Kindichaft, der da rufet „Abba, Lieber Vater!“ noch nit 
theülhaftig worden waren. Nähern wir und dagegen den gläubigen 
Hausgenoffenfchaften und Freundfehaftsbündniffen des neuen Zeftu 
mentes, fo fühlen wir uns glei von einer ganz andern Luft ange: 
weht. Wir wandeln zwifchen Diefen Schöpfungen gefelliger Bereinigung 


Das Vermaͤchtniß der Liebe. 613 


wie zwifchen Gewächſen eines andern Himmelsftrihe. Ein andrer 
Schmelz liegt auf den Blättern; ein andrer Duft haucht uns aus den 
Blüthen an. Ya, es macht fi uns ſogleich bemerkbar, Chriftus habe 
eine neue Gemeinfchaft geftiftet: Die Gemeinſchaft der Hei- 
ligen; und ein neues Band gefnüpft: das „Band der Voll: 
fommenbeit“, welches ift Die Liebe zu Ihm, aus Ihm, und durch 
Ihn. 

Begehrt ihr von dieſer lieblichen Sache ein Weiteres zu vernehmen, 
ſo folget mir heute nach Golgatha. 


Joh. 19, 25— 27. 

Es ftanden aber bei dem Kreuz Jeſu feine Mutter, und feiner Mutter Schweiter 
Maria, Cleophas Weib, und Maria Magdalena. Da nun Iefus feine Mutter fahe, 
und den Jünger dabei ftehn, den er lieb hatte, fpricht er zum feiner Mutter: Meib, 
ſiehe, dad ift dein Sohn. Darnach fpriht er zu dem Jünger: Siehe, das iſt deine 
Mutter. Und von ber Stunde an nahm fie der Jünger zu fid. 

Welch' ftilles, freundliches Bild, das heute aus den Schauern Gol- 
gatha's vor uns auftaucht! Iſt's doch, als wären wir 'plößlich auf 
einen ganz andern Schauplatz verfeßt, als auf dem wir bisher ge 
ftanden. Nach dem Sturm, Erdbeben und Feuer tritt das „ftille 
fanfte Saufen“ ein. Nichts Herzzerreißendes mehr in Diefer Scene. 
Alles fo freundlich, fo Tieblih und holdſelig, und das Ganze wie 
ein Stüd blauen, heiteren Himmels nach dem Ungeftüm! Wie wohl 
thut dem Herzen ein folcher Ruhepunkt auf der Betrachtungsfahrt 
durch) das wetterſchwüle Reich der Paffionsgefchichte! Wir geben dem 
geſchichtlichen Gemälde, vor dem wir ftehn, die Auffehrift: „Das 
Vermächtniß der Liebe.” Wir hätten daffelbe auch „Der Liebe 
Triumph“ überfchreiben können. Kommt, und betrachten wir mit- 
einander zu unfrer Freude zuerft Die Liebe, der Ehrifti drittes 
Wort vom Kreuze fhon begegnet; fodann die Xiebe, Die 
fih in dDiefem Worte fundgibt und bethätigt; md endlich 
Die Riebe, die durch das Wort auf Erden gepflanzet wird, 

O, daß von der Kiebesfülle, die wir heute fich wogend ergießen 
fehn, ein Bächlein aud in unfre Herzen überftrömte! Gott walte 
Dies in Gnaden! 

1. 

Mir fammeln und wieder um das Kreuz. Wo fönnten wir lieber 

weilen, als in feinem Schatten, Es geht ja alle Zage der Flug un⸗ 


‚614 Des Akerheilighe. 


jerer Gedanken wie bimgriger Bienlein dabin zurüd. “Denn weil wir 
alle Zuge leider! wieder ſündigen, bedürfen wir auch täglich für 
das vermundete Gewiſſen neuer Heilung. Wir Arme, wenn wir zu 
jenem Hügel nicht flieben könnten! O Golgatha, du biſt men Ara⸗ 
rat, mo ich täglich aus der Angitrlutb lande! Mein Zoar bift du, 
dad mich vor den Flammen Sodoms ficher Hell! Meine Rebeis: 
Höhe, von der ich in's gelobte Land bimüberjchaue, und mein Zaber, 
wo ic) frohlode: „Hier iſts gut fein! Hier wollen wir Hütten 
bauen!“ 

Ein lieblich Schauſpiel ſtellt ſich uns heute unter dem Kreuze dar. 
Der Schönite der Menichenfinder ftirbt Doch nicht unbeweint. Zwiſchen 
der Wuth und dem Ingrimm itebt au die Liebe bei feinem Ster⸗ 
bebette, umd fieht thränend und zärtlich ibn umfafiend zu ihm emper. 
Gewabrt ihr das Hüuflein dort, das ſchmerzensreiche? O, ein hold⸗ 
jeliger Kreis, der da inmitten Der Sutunsrotten uns begemet: ein 
verſtecktes Roienbeet unter wilden, wirrem Dorngeftrüppe; eim lichter 
Lilienkranz um das Zodeslager des Gerechten! In folder Ginfaf- 
jung aber ſtehet dus Kreuz in der Belt auch beute noch: freilich 
immer noch von der wuthſchänmenden Hölle umtobt, aber zugleich 
umgeben von dem Schönften, was auf Erden zu finden if. Dem 
jucht man beilige Thränen, Liebe aus Gott geflefien, Geduld, die 
nicht ermattet, und Dankbarkeit, die Alles bingibt; we wachſen diefe 
holden Himmelsblumen, als unter dem Krau? Bir feımen fie 
ſchon, die Getreuen Dort, Die eine Ichendige Randzeichnung bilden zu 
dem Worte Des Hohenliedes: „Liebe it ſtark wie der Tod, und fe 
wie Die Hölle. Ibre Gluth iſt feurig und eine Flamme des Gem, 
daß auch viele Waſſer fie nicht mögen auslöichen, noch die Ströme 
fie eriäufen.“ Was kümmert ſies, ibr Leben in Gefahr zu ſehn? 
Ibr Leben ward der Mann am Krene! Was fragen fie nach dem 
Spott und Hobn der Welt? Bon einer Belt, die ihren König mit 
Dornen frönte, begebren auch fie nichts Anderes, noch Beileres! 
Hütte man fie ſammt ihm an dus Kreuz geichlagen, fie mürden Die 
Erde wie ein leckes, morſches Schiffswrack ımter ji weggeitoßen, 
und ihren Anker triumpbirend in die Wolken binaufgeichiendert ba- 
ben. Bus fonnte die Erde noch für fie für Reise baben, machden 
Seine Segenstritte auf dieſem Dornen- und Tirtelnader nicht mehr 
rauſchten? Sebt cu die rapfern Herzen etwas nüber an. Wer find 
Re? Merlkwürdig, bis auf Einen lauter Srauen. Die Starten 


Das Vermaͤchtniß ber Liebe. 615 


find geflohen; die Schwachen hielten Stand. Die Helden wurden 
verzagt; die Zarten, die nichts zu geloben ſich vermaßen, überwanden 
die Welt. Das machte: fie breiteten ihre Herzen aus vor Gott, ſpre⸗ 
chend: „Halte du uns wanfende Rohre aufrecht”; und lehnten fich, 
indem fie e8 fprachen, feftiglich auf Gottes Arm: da wurde Seine 
Kraft in ihrer Schwachheit mächtig. Wie oft ereignete fich Achnliches, 
wie dort! Iſt des Mannes die Glanzthat der zufammengerafften 
Kraft, fo ift die That der durchhaltenden Geduld des ſchwachen Wei⸗ 
bes. Gehört dem erfteren das Heldenthum, das den Knoten durchhaut, 
fo gehört letzterer das größere der fill fich opfernden Treue bis in 
den Tod. | 

Unter den lieben Frauen beim Kreuze nimmt eine vor allen Ans 
dern unfre Theilnahme in Anſpruch. Es ift die Gebenedeiete, die 
den Blutenden am Holze einft unter ihrem Herzen trug: die ſchmer⸗ 
zensreiche Mutter Marin. Es ift wahr, hart war der Stand der 
Mutter Eva am Grabe ihres Lieblings Abel; ein tieferer Schmerz 
noch durchdrang das Herz des Patriarchen Jakob, als man ihm das 
biutige Gewand feines geliebten Joſephs zeigte. Aber was war je 
ned Weh gegen dasjenige des Mutterherzens, das Dort beim Kreuze 
biutet? O, denkt nur, wo Maria ſich ftehen flieht, um was fie zu 
Hagen hat, und um wen ihre Thränen fließen! Denkt, weld’ ein 
Sohn! Welch' ein Sterbebette! Welch' ein Tod! DO, wer wird fi 
fähig dünken, die Empfindungen zu fehildern, die hier Mariens Herz 
dDurchftürmen? Doch Eins werde feitgehalten, das Eine, daß die 
grambeladene Jungfrau feine Berzweifelnde war. Auch dur 
ihre Thränennacht fchimmerten gleih hellen Sternen noch fo mandye 
Borte ihres Sohnes hindurch: von der Nothwendigfeit der LXeiden, 
die fein harrten, und von der „Herrlichkeit darnach.“ Und ob es auch 
ſchwere Arbeit koftete, felbft jet noch daran fich feft zu Hammern, und 
ob auch ein ungeftümes Heer ängfligender Zweifel Mariens Bnuft 
durchtobte: eine troſtlos Zagende war fie fo ficher nicht, als Die 
apoftolifhe Bezeugung feine Lüge ift, daß Gott die „Seinen nicht 
über Vermögen verfuchet werden läffet." Nein, „wo das Gold tm 
Ziegel ift, da ift auch jederzeit der Schmelzer nahe,“ und wo ein 
Kind des Höchften Ieidet, da Tiegt auch immer zwifchen der Laft und 
der belafteten Schulter lindernd und erleichternd die Mutterhand Je⸗ 
hova's. Erfahren ſchon wir es fo, Geliebte, wie wird es eine Maria 
erſt erfahren haben! Ihr feht ja auch, daB fie, wenngleich auf den 


616 Das Aterheilighe. 


Jünger fi lehnend, unter dem Kreuze Doch noch aufrecht ſteht, md 
nur ein milder Thränentkau von ihren Wangen gleitet, aber fein 
Angftgeftöbne über ihre Lippen gebt. Als des Pinchas Weib die 
Bundeslade in der Feinde Gewalt erblicte, fanf fie vor Beitürzmg 
todt zu Boden. Maria fieht dort Aergeres, als jene einft; Ddennod 
bleibt fie leben. Zreilih muß fie Ehriftum noch einmal unter gro 
Bem Weh gebären. Der irdifhe Sohn ſtirbt ihre dahin, ſammt 
den irdifchen Verhältniffen, in denen fie bisher zu ihm geftanden, und 
‚den irdifchen Borftellungen von Ihm und Seinem Königreidhe, fo 
weit auch fie denfelben bei fih Raum gegeben hatte. Dagegen hat 
fie Chrütum jegt durch den Glauben gleichfam aus feiner Afche als 
einen ganz Andern wieder zu nehmen: ald einen neuen Chriſtum, 
als einen bis dahin noch nicht Gekannten, als einen Herm, König 
und Friedensfürften von ungleich höherer Art und Ordnung, als alle 
menfchlihen. Und ohne Kampf md Schmerz gelangte fie zu dieſen 
Ziele nicht. 

Zu Maria’8 Seite, und diejer als Stäbe dienend, begegnet unferm 
Auge der Apoftel Johannes. Diefer „Adler Gottes“ verfucht auch 
im Sturm und Dunkel Golgatha's die Schwingen feines durchblicken⸗ 
den Geiſtes; aber durch dieſes Wettergewoͤll weiß er den Gteg doch 
nicht zu finden. Cr fieht fih von Raͤthſeln unringt, vor Denen 
feine Deutungsfunit an ihrer Marfe tteht. Doch wo fein Begriff mr 
in ein Bült umd Leer bineinzufchauen glaubt, wittert feine Ahnung 
nichtödeitoweniger unermeßliche, verborgene Himmelsichäße. — Er führt 
fih bier wieder, wie er jo gern zu tbun pflegte, als „den Züns 
ger“ ein, den „Zeius lieb hatte.“ Mit dieſem Ausdrud? deutet er 
uns an, was fein Stolz war, feine Krone, und fein höchiter Ruhm. 
Zugleich benennt er uns Damit den Guell, Daraus er all feinen Troſt, 
feine Hoffnung und feine ganze Stärke jhöpfte Diefer Quell wu 
Die Liebe, nicht mit der er den Herrn, fondern mit der ihn der Hen 
umfaßte. Und freilich wüßte auch ich etwas Köftlicheres und Begeh 
renswertheres nicht, als Das Ichensfriiche und wohlbegründete Bewußt⸗ 
fein: „Jeſus iſt mir gewogen, Jeſus liebt mich!“ Welch” fanftes 
Aubefilfen Dies in wilder Sturmesnacht! Welch mächtiger Stab und 
Steden für die Wandrung durch die Wüſte! Welch' ſüßes Labjal in 
den Gruben, darinnen fein Waſſer it! Und welch' ein immer firömen 
der Brunn der Ermutbigung im Leben und Sterben! Wer mit Io 
hannes fi) unterzeichnen darf: „Der Jünger, die Jängerin, den aber 


Das Bermächtwih bee Liebe. 617 


die Jeſus lieb hat,“ der hat in dieſer Zitulatur die ſichere Gewähr 
für Alles, defien er bedarf, und was fein Herz ſich winfchen mag. 
Müßte er im Uebrigen auch fih nennen: „Den Mann, über den alle 
Wetter gehn,“ oder: „den Elenden, den die Welt mit Füßen tritt;“ 
o, wenn er nur berecbtigt ift zu zeichnen: „Der Jünger, den 
Sefus lieb bat,“ was will er mehr? Diefes Bewußtfein vergoldet 
und verfügt ihm Alles! 


Wührend die Lieben drunten ftill trauernd zufunmenftehn, hängt 
der große Dulder ftumm und verblutend an feinem Ho. Er ift im 
Heiligthume, und pflegt, das Volk der Sünder auf dem Herzen tra- 
gend, göttlichen Prieſteramtes. „Ach,“ mochte die gebeugte Mutter 
denfen, „wenn Er nur einmal noch feine holdfeligen Lippen zu mir 
Öffnen, und nur ein Wörtlein des Abfchieds noch mir gönnen wolltel“ 
— Aber wird Er in der erhabenen Stellung, die Er eben einnimmt, 
auf das noch achten können, was drunten am Fuße Seines Kreuzes 
vorgeht? Wird Ihm noch Zeit und Ruhe bleiben, an etwas Anderes 
zu denken, ald wie Er fid) waffne und wehre gegen die Feuerpfeile 
des Böjewichts, die Ihn umfchwirren, und wie Er das große welt 
umfaffende Werk vollende, mit welchem Er eben in das letzte Ents 
wicklungsſtadium eingetreten it? Kaum möchte man's für möglich 
halten, Siehe, was begibt fih da? O, wann ereignete ſich Hold» 
jeligered und Rührenderes als dies? Wahrlih, bis an das Ende 
der Tage wird man von Diefer Sohneszärtlichfeit noch jagen! Mitten 
aus feinen Todesfoltern heraus richtet der göttliche Dulder von feiner 
Kreugeshöhe her mit einem Male den Blid auf das zufanmenftehende 
Häuflein der Getreuen drunten, und wer in feinen Augen zu lejen 
weiß, Tieft darin eine Theilnahme und eine tröftende, aufrichtende und 
ermuthigende Liebe, wie fie die Welt noch nicht gefehen hat. Nein, 
Freunde, was immer ed auch für Ihn Großes zu bedenken und zu bes 
ſchicken gebe, feine Kindlein verliert er nicht einen Augenblid aus dem 
Gefichtsfreife jeiner fürforgenden Beachtung. Was Er au) in feinem 
Regimente Weites und Unermeßliches zu überfchauen und zu bewachen 
babe; dennod wird in Ewigkeit fein Augenblid erfcheinen, da nicht 
unter al feinem Walten un Großen, zugleich, ja vorzugsweife das 
Auge feiner Liebe auf den Einzelnen ruhen wird, die ihm der Vater 
gab. Sie find fein erftes Augenmerk, ob fie aud) der Zahl oder dem 
Außeren Anfehn nad) zu Dem, was er ſonſt zu xegieren, oder zu vers 


‚618 Das Uberheiige. 


"forgen bat, wie vereinzelte Zröpflein zu Dem weiten, wogenden Ocean, 
wie verlorene Blumen zu dem unermeblichen dunfeln Urwald, in dem 
fie ttebn, fich verbielten: Er nmdet die Zropilem wohl beraus, um 
fie mit dem Lichte feiner Liebe zu Purdhitrablen: Gr entdeckt Die m 
Balde zeritreuten, einiamen Blumen, um fie zu pilegen, zu betbanen, 
und feine Bruft Damit zu ichmiden. — 

Der Herr richtet den Blick zuerit auf jene Butter, Die liebe, die 
ichwer geprüfte. Durch Das zum Schächer geivrechene Wort vom 
Paradieſe hatte er freilih and ibre Dlide und Gedanten fiben über 
Tod ımd Grab bimwegaehoben. Doch blieb Pie Arme eimitweilen, 
für wie furzge Zeit auch immer, in der fortan für fie emtfeglich ver⸗ 
ödeten Belt allein zurück: und fiebe, aud für diefe Ermäguna be⸗ 
mwahrte fib der Schmerzensmann am Kreuze ſelbſt inmitten feiner 
Belterlöfungsiergen noch Raum in feinem Herzen. Auf's freundliche 
fiebt er die Thränenreidhe an, dimmet den Mund, und jpricht, wicht in 
weicher Zerflofienbeit, fondern mit großartiger Rube, Faflung umd 
Karbeit des Gemüthes, binminfend auf den Yınger, auf Den Die 
Mutter fi gelebnet: „Weib, ſiebe, das ift dein Sohn; md 
Dann zu Johannes, auf Maria deutend: „Siebe, das if deine 
Mutter!" — Wenige Borte; aber wer erihöpft die Fülle zartfix- 
nigiter Ziebe und Alles bedenfender Zärtlichkeit, die darin ausgegoſſen 
it? Wie tröſtlich nußte dem gebeugten Mutterberzen ſchon die ganze 
fait beitere Art und Weile jein, in Der der Sterbende bier fein Te 
ftament vollzog. Ter Klang feiner Stimme, md der friedensreiche 
Blick, der fein Wort begleitete, ſagten ihr ja fhen: „Maria, dein 
Cohn iſt nicht verloren! Er tritt nach des Lebens Mübfal nur in 
Das ſelige Vaterhaus zurück, um dort aud dir die Etätte zu bereis 
ten!® — Und nun der Borte Inbalt! Wie wunderzart verkleidet 
Er in fie fein letztes Lebewobl an feine tbeure Mutter! Wie fein 
veramitultete er Durch Den Dem Johannes gegebenen Wink, daß die ſchon 
fchwer gemug Geprüfte wicht auch noch Zeuge fei des letzten und här⸗ 
teften feiner Kämpfe; und mit welder Fürforglichfeit gcht er zugleich 
auf alle, auch die unſcheinbarſten Yedürfniffe der Verwaiſten für das 
Stück armen Erdenlebens ein, Das fie noch vor fi batte! Fürwabr, 
wenn je dem göttlichen Gebote: „Du jollit Vater und Mutter ehren“ 
eine tiefe und umfaffende Genüge geicheben it, dann bier auf Gel 
gatha! 

Man hat befremdet wohl gefragt, was den Heiland bewogen habe, 


Das Vermaͤthtuiß bet Liebe, 619 


bet der Anrede an Maria ftatt des zärtlihen Mutternamens des frem- 
der klingenden Wortes „Weib“ ſich zu bedienen; und wenn auf diefe 
Frage geantwortet wurde, er habe dies gethan, theils, um durch den 
fügen Mutternamen die Wunden ihres blutenden Herzens nicht noch 
ttefer aufzureißen, theils, um in fich felbft nicht einen Sturm menſch⸗ 
licher Empfindungen herauf zu befchwören; theils aber auch, um die 
Mutter nicht den Roheiten des umberftehenden Haufens bloß zu ftellen, 
fo hat dies Alles ficher feine- Wahrheit. Der Hauptgrund aber, aus 
welchem er ftatt des Wutterlautes den allgemeineren Gattungsnamen 
„Weib“ oder „Frau“ gebrauchte, liegt hier, wie in der befannten Scene 
auf der Hochzeit zu Kama, ungleich tiefer. Er wollte allerdings der 
Maria zu verftehm geben, daß hinfort das irdifche Sohnesverhältniß, 
in welchem er feither zu ihr geftanden, einem höheren weichen müffe. 
„Dun, meine Mutter,“ wollte er jagen, „wirft fortan meiner Zöchter 
eine fein, und ich dein Herr! Du glaubft hinfort an mich, und id 
werde dich feguen! Du erfafleit meines Gewandes Sam, und id 
vertrete Dich! Du beteft mich an, und ich bin dein Hoherpriefter umd 
dein König! Mutter, Bruder, Schweiter find fortan mir Alle, Die 
huldigend zu meiner Fahne fchwören. Die Beziehungen nach dem 
Fleifche und der Weile dDiefer Welt haben ein Ende, und andere, 
geiftigere, himmliſche treten an deren Stelle!” — Seht, dies wars, 
was der Herr der Maria zu bedenken geben wollte; und daher das 
nur auf den erften Anblick befremdliche „Weib“ ftatt Des trauteren 
und zärtlicheren „ Mutter.” Ja, e8 ziemte fi) jebt um fo weniger 
mehr für ihn, fie „ Mutter” zu nennen, da diefer Name im Hebrätfchen 
zugleich Den Nebenbegriff einer „Herrin“ in ſich fchließt, er aber eben 
fich anſchickte, als der Herr aller Herren den Thron der ewigen Majeftät 
zu befteigen, Doch wenn er auch die liebe Maria aus dem Kreife ihrer 
rein menfchlihen Mutteranfchauungen in einen höheren Anſchauungs⸗ 
freis hinaufzubeben fich bemüht, fo vergißt er darum doc) weder, daß 
er ihr Sohn, noch daß fie feine theure, fehwer geprüfte Mutter fei; 
und bedenkt zugleich, daß der Menſch in feiner Schwachheit des Men- 
fchen bedürfe, und neben Gottes Herzen auch mindeftend ein Herz 
auf Erden befiken müffe, in das er vertraulich das feinige ausfchüt- 
ten, und auf deſſen Liebe und Treue er unter allen Umftänden feſtiglich 
zählen dürfe. Aus diefen Gründen will er in findlicher Zürfonge, fo 
weit es immer thunlich, der Maria aud) menfchlich die Lücke wieder 
anafüllen, die fein Heimgang in ihrem Leben zuruͤckeließ, und will 


620 Das Aterheiligie. 


ihr auch in irdifcher Weiſe ſtatt Seiner wieder einen Sohn zur Seite 
geben, dem fie ihr ganzes Vertrauen fchenken, und auf deſſen Schul 
tern fie fi) in allen ihren NRöthen, Sorgen und Kümmernifjen lehnen 
fönne. Und diefen neuen Sohn vermacht er ihr in feinem- Schoof 
jünger, dem treuen, feelenvollen Johannes. Iſt es nicht, als ob er 
fagen wollte: „Wohl weiß ih, meine Mutter, wie einfamen, öden 
Weges auf Erden eine Wittwe gehen muß, wen die Krone ihres 
Hauptes dahinſank. Aber fiehe! Hier ift der Jünger, der am meiner 
Bruft lag, und an dieſer Stätte recht eigentlich Dazu bereitet wurde, 
dein Pfleger zu werden und deine Stütze. Er ift zu Allenı mir bereit, 
und der ich nicht Gold und Silber babe, vermache dir al meine Ar 
fprüdhe an dieſes Jüngers Liebe, Dankbarfeit und Zreue. Er fei dein 
Sohn!“ Wie freundlich dies, wie zart und wie leutfelig! So at er 
geliebet, „bis an das Ende;“ fo berüdfichtigte er zärtlich alle Noth⸗ 
durft feiner Lieben. Und wie er weiland gethan, fo thut er heute noch. 
Er ift „der mitleidige Hobepriefter" bis diefe Stunde. Auf's men 
ſchenfreundlichſte gebt er auf alle Bedürfniffe derer ein, die ihm ver 
trauen, fo daß ein Jeder in feinem Stand, daß ihr Wittwen, Waiſen, 
Armen, Gebrechlichen, oder welcher Klaſſe der Mübfeligen und Bele- 
Denen fonft ibr beigehört, in der beſonderſten Weile feiner Fürforge 
euch getröiten dürft. 

Nah dem „Siehe, Weib, das ift dein Sohn!” jpricht er zu 
Sobannes: „Siebe, das it deine Mutter!“ O, welch' en 
Beweis der Liebe und Des Vertrauens, womit der Heiland jenen 
Jünger bier begnadigr! Cine Lat legt er ibm auf; aber er weiß, 
Sobannes werde darin die höchſte Ehre und Seligfeit erblicken, die 
ihm auf Erden bätte zu Zbeil werden können. Und der Heiland im 
fi) in jeinem Jünger nit. Jobannes verfteht die Weiſung feines 
Meifters, fiebet Maria an, und jeine ganze Seele fpricht zu ik: 
„Meine Mutter!“ 

3. 

„Bon der Stunde an,“ meldet die Geſchichte, „nabm der 
Jünger die Maria zu ſich.“ Johannes befaß alfo, und uw 
zweifelhaft in Jeruſalem, ein eigned Haus. Maria befaß ein ſolches 
nicht. Joſeph war Damals bereits entfchlafen. Man dürfte wohl aus 
unfrer Geſchichte fehließen, daß der Heiland Maria's einziger Sohn 
gemweien fe. Der Nusdrud „der Jünger nahm ſie zu ſich“ 


bejagt übrigens nach dem Grundtest ungleich mehr, als Daß er fi 


Das Vermaͤchtniß ber Liebe. 621 


nur in feine Behaufung und feine Pflege aufgenommen habe. In 
fein Herz nahm er fie auf, und hat fie hinfort auf feinen Händen 
getragen. Es läßt fi ja denken, wie ein Johannes die Maria hins 
fort geliebt, und mit welcher Zartheit und Zreue er fie durch's Leben 
geleitet haben werde. Gereichte es ihm doch zur höchften Freude, in 
ihr einen Gegenfland zu befigen, an dem er in etwa wenigftens das 
bethätigen konnte, was er an Dank und Zärtlichkeit für den empfand, 
der ihm für alle Ewigkeit die Seele gerettet hatte. So wuchs der 
Maria. die ganze Eoftbare Liebesernte zu, die in der Gemüthswelt des 
Füngers unter dem Thau des heiligen Geiftes ihrem Sohne entgegen» 
blühte. Und weil des Johannes Liebe ja im Grunde nichts Andres 
wear, als ein heiliger Funke aus Jeſu eigner Bruft, fo wurde Maria 
durch Johannes nach wie vor mit der Liebe ihres göttlichen Sohnes 
felber fortgeliebt. 

„Weib, ſiehe, das ift Dein Sohn! Siehe, Johannes, 
Das ift Deine Mutter!” DO achtet wohl auf diefe Wortel Gie 
enthalten nichts Geringeres, als die Stiftungsurfunde einer neuen 
Familien -Gemeinfchaft auf Erden. In diefer Gemeinfchaft ift Chriftus 
das Haupt, und alle feine Gläubigen bilden vereint die eine große 
eng verbundene Hausgenofienichaft. Aus einem Samen gezeugt und 
mit einem Geifte getränft, find fie Alle zu einem Erbe berufen, 
und es wird fie, die gegenwärtig in der Welt Zerftreuten einft eine 
Stadt mit ftrahlenden Mauern umfangen. Sie erfenmen einander 
bald an der gemeinfamen Gefinnung, Richtung, Mundart und Hoff- 
nungsfreude, und lieben fi) mit einer Liebe: der Liebe, die aus 
dem Herzen ihres Hauptes in das ihrige überfloß. So lange file 
hienieden weilen, fteht ihre Hütte unter dem Kreuz; und ihr täglich 
Brod ift Gottes Wort, ihr Odem das Gebet, und der Friede Gottes 
die Luft, in der fie frei und felig fih bewegen. Der innerfte und 
weſentlichſte Familienzug diefer geiftlih Berfchwifterten ift aber der, 
daß der Egoismus in ihnen gefreuzigt, und Chriftus der Mittelpunkt 
al? ihres Dichtens und Trachtens geworden ift. 

Wer den Johannes um die fehöne Aufgabe, der Mutter Jeſu eine 

Stüße zu fein, beneiden möchte, der wifle, daß ihm zu gleicher Ehre 
der Weg geöffnet ward. Er gedenfe zurüd an den vorhin erwähnten 
Ausipruch des Herm: „Wer ift meine Mutter? und wer find meine 
Brüder? Siehe da, die am mich glauben, die find meine Mutter, 
meine Brüder, meine Schweſtern!“ Gelüftet dich denn wirklich nach 


622 Das Aberpeiligße, 


dem Vorzug des Yohannes, fo fieheft du, Daß er auch Die zu Shell 
werden Tann. Sei aus Liebe zu dem Herm ein treuer Beiftand feiner 
Kinder: die Hungernden ſpeiſe, die Dürftenden tränfe, und nament- 
lich beſuche fromme Wittwen in ihrer Verlaffenheit, und du übft deu 
„Mariendienft,“ der allein ihm wohlgefällt. Ja, werde der Lab 
men unter feinen Gläubigen Zuß, der Blinden Auge, der Waiſen Rath 
und Berforger; und aud) du vertrittft, wie dort fein Junger, Gene 
Stelle auf Erden. Allerdings fab ſich Johames „nen durch die nene 
Pflicht an's Leben geknüpft,“ aber du fiehft, daß, wenn du mer willk, 
das Leben auch für dic, in gleicher WBeife neuen Reiz gewimmen kann, 
Liege dem himmliſchen Friedensfürften nur darum an, Daß er auch dir 
für feine ftille geheiligte Hausgenoffenfchaft Die Augen öffnen wolle; 
und wie er dam zu leßterer, feiner geiftigen Gemeine, um deren Liebe 
für Dich werbend, fprechen wird: „Siebe, Weib, das ift Dein 
Sohn;“ fo wird er bald unter Hindeutung auf irgend eine feinem 
Herzen theure Schaar Mühfeliger und Beladener an dich die Worte 
richten: „Siehe, das ift deine Mutter!“ 

Sa, Freunde, wenn es überhaupt auf Erden beffer werden, md 
der Belt ein goldenes Zeitalter kommen foll, fo kann dies nur vers 
mittelft des Chriſtenthums gefchehen. Denn fagt jelbft, mas der Welt 
noch fehlte, um ein Himmelreich zu fein, wenn jene zarte, tiefe, ſelbſt⸗ 
verleugnende Liebe, wie wir fie Jeſum heute bethätigen fahen und 
empfehlen hörten, die Königin in aller Menfchen Herzen wäre? Run 
ift es aber mit dem ganzen Chriftenthum ja nur Darauf abgefehen, 
daß Ehrijtus in jedem einzelnen Sterblichen Gertalt gewinne. Denkt 
euch aber: jeder Einzelne ein Iebensfrifches Spiegelbild des Schön 
ften der Menfchenkinder, wie Er, Gott lebend, und die Brüder fie 
bend, wie Er! O wahrlich, das höchfte und herrlichite Ideal menſch⸗ 
licher Gemeinjchaft wäre jo verwirklicht! Ueberzeugt euch denn, daß 
ihr nicht blos, damit ihr jenfeits jelig werdet, fondern auch ſchon, 
damit Die Erde wieder zum Paradiefe fich verfläre, zu Jeſu geladen 
und gelocet werdet; denn, — an Johannes nehmt ihr’ wahr, — 
wer in lebendigem Glauben an Jeſu Herz fi) wirft, trinft bald auch 
aus Seinem Herzen Seine Liebe. 


Wir jcheiden von unfrer boldfeligen Gefchichte; doch muß ich vorher 
noch eines Vorfalls gedenken, der fid) vor mehreren Jahrzehnten im 


Dab Bermödtuih der Eiche. 623 


Paris ereignete. Hier hatte fi) eime Gefellichaft gebildet, zu der ſich 
wöchentlich Die berühmteften Ungläubigen der damaligen Zeit einzufinden 
pflegten, um, wie fie ſich ausdrücten, die „Abgefchmadktheiten der Bibel 
aufzudeden,“ und fie zum Gegenftand ihres Gefpöttes zu machen. 
Eines Abends aber, als diefe Menfchen wieder recht bei ihrem Werte 
waren, und zu ihrem teuflifchen Zwecke einige Abfchnitte der Evans 
gelien worgelefen hatten, hub plöglich der bekannte Philofoph Diderot, 
der bisher felbit nicht der letzte und wortfargfte unter den Läfterern ges 
weſen war, mit einem Ernſte, den man an ihm nie gewohnt geweſen, 
an: „Es verhalte ſich nun, meine Herren, mit dieſem Buche, wie es 
wolle, das geftche id) frei zur Steuer der Wahrheit, dag mir Niemand, 
weder in Frankreich, noch irgend fonft wo in der Welt, befannt ift, 
der mit mehr Kunft und Talent zu fchreiben und zu reden vwermöchte, 
als die Fifcher und Zöllner, die dieſe Gefchichten hier gefchrieben haben, 
Ic wage zu behaupten, daß auch feiner von uns nur in annähernder 
Weiſe eine Erzählung zu fchreiben im Stande ift, die fo einfach fei, 
und zugleich fo erhaben, fo frifch und rührend, und von fo gewaltis 
ger Wirkung auf das Gemüth, und von fo ungeſchwächt Durchhaltendem 
Einfluß auch nah Jahrhunderten noch, wie jeder einzelne und auch 
der unjcheinbarfte Bericht über das Leiden und Sterben Jeſu Ehriftt 
vor uns daſteht!“ — Er ſprach's, und mit einem Male war flatt 
des Lachens, Das furz zuvor noch) den Saal durddröhnte, ein alls 
gemeines, tiefes Berftummen eingetreten. Man fühlte die Wahrheit 
jener Rede, und fühlte wohl noch etwas mehr, ald das. Schweigend 
ging man auseinander, und lange währte ed nicht, da hatte Die 
ganze Geſellſchaft der Lacher fich aufgelöft. — Sagt aber, ob auch ihr 
nicht heute wieder Alle bei der Meinen Scene, die wir betrachteten, 
Aehnliches empfunden habt, wie damals jener ungläubige Franzoſe? 
Ya, nichts in der Welt trägt fo den Stempel urfrifcher, gefchichtlicher 
Wahrheit an der Stim, als das Evangelium; und was es immer 
Schönes auf Erden geben mag, wer Augen hat, zu fehn, wird ein⸗ 
geftehen müflen: das Schönfte, Hehrfte, Heiligfte fei und bleibe die 
evangeliſche Geſchichte. 

Schwebe ums denn das heute in derſelben angeſchaute holde Bud 
feiner Liebe ftiftenden Liebe am Kreuze umnvernüdt vor Augen, umd 
helfe e8 auch in unfrer Mitte die überirdiichen Verwandtſchaftsbande 
fnüpfen, die Zeit und Tod überdauern werden. Allaugenblicklich erinnre 
uns dieſes Bild an die erfte und herrlichſte Aufgabe unfres Lebens: 


624 Das Alcrheilighe. 


den Herrn Jeſum lieb zu haben in den Seinen, bis auch an uns 
eine Wahrheit geworden das Wort des Sängers: 


Sie wallen mit vereinten Herzen, 

Der Welt von innen unbelannt. 

Sie tennen feine Trennungsichmerzen. 

Ein’s reicht dem Andern feine Hand. 

Sie wollen ſich mit Freuden dienen, 

Mit Herz und Auge, Hand und Auf, 

Bis zu dem völligen Gennf 

Des großen Worteß: „Ich in ihnen! — Amen. — 


—H— 
Ln. 
Eli, Eli, lama Aſabthani! 


„Sei du mir nur nicht ſchrecklich, meine Zuver ſicht in 
Der Noth!“ So ruft Jeremias im Buche feiner WBeiffagungen 
Kap. 17, 17, nachdem er eben den Herm fagen hörte: „Ich prüfe 
Das Herz, und ergründe die Nieren, und gebe einem 
Jeglichen nach feinem Thun, nah den Früdten feiner 
Werke” Der Prophet gedenft an feine eigenen Sinden, und die 
Empfindungen, die diefe Betrachtung in ihm hervorruft, ergießen ſich 
in dem Beterfchrei: „Sei du mir nur nicht ſchrecklich!“ Dice 
wenigen Worte umjchliegen einen reichen Inhalt. Der Prophet erklärt 
darin, Daß er zu jedem Opfer, das von ihm gefordert werden möchte, 
bereit jei; Daß er gerne tragen werde, was Gott ihm aufzuerlegen 
für gut befinde; ja Daß er, wenn es fo fein müffe, von der Welt ver: 
fannt, verftoßen, mit Füßen getreten fein, und in allen Wüſten dDarben, 
in allen Kerkern fchmachten wolle; nur das ihm Gott „nicht ſchrecklich 
ſei.“ Und allerdings bezeichnet er mit den lebteren Worten das 
Einzige, wovor die Seele allen Eruftes zu erzittem Grund hat, Denn 
was immer Dunfles auf Erden uns begegnen mag, ift Gott umjer 
Freund, fo fichtet fich Durch Diefes Bewußtfein Alles; und Er felbit 
nimmt dem Schredlichiten durch die Beimifchung feiner himmliſchen 
Zröftungen und überrafchenden Hülfsleifiungen und Erleichterungen 


Eli, Eli, lama afabthani! 625 


feine Schauer. Und Tießen auch die göttlichen Erquickungen vergeblich 
auf fih warten, ſo bleibt doch die gewiffe Hoffnung auf die be 
porftehende jenjeitige Auflöfung aller Mißtöne des Erdenlebens ung 
zugefellt, um auch über das fehwärzefte Trübfalsgewälf, das hienieden 
uns umlagern fann, unfre Seele wie auf Engelflügeln hinwegzuheben. 
Fehlt aber diefe Hoffnung, gebricht's an jenem Bemußtfein, und fteht 
der Allerhöchfte fremd, ja, als Feind uns gegenüber, was ift dam 
das freudenreichfte Dafein, als ein Trank mit Galle gemifcht, als ein 
Feſtmahl Belfazers, in das, alle Luft vergiftend, das verhängnißvolle 
„Tekel« von der Wand hereinbligt? Denn bald ift der Traum 
des Erdenlebens ausgeträumt, und man erwacht vor dem Richterthrone 
Deflen, der bei Mofe fpriht: „Das Zeuer ift angegangen durch 
meinen Zorn, und wird brennen bis in die unterfte Hölle!" — „OÖ, 
ſei du mir nur niht f[hredlih, meine Zuverficht in 
der Noth!" — Ja, aud wir rufen’ aus voller Seele dem Pro- 
pheten nach. Aber haben wir Grund, auch der Gewährung diefer 
Bitte uns zu getröften? Wir hätten feinen, lieben Zreunde, wäre 
das nicht gefchehn, deſſen wir heute Zeugen fein werden. Aber kommt, 
und fehet zuerjt, wie fchredlich es fei, „in die Hände des lebendigen 
Gottes zu fallen;“ und fchauet dann mit frohlodendem Geifte, wie 
und an wem diefe Schreden fi gebrochen haben. — 


Matth. 27, 45 — 47. Marc. 15, 33 — 35. Fuc. 23, 44. 45. 

Und ed war um bie fechöte Stunde, und von ber fehöten Stunde ward eine 
Finſterniß über dad ganze Land bid zu der neunten Stunde, und die Sonne verlor 
ihren Schein. Und um die neunte Stunde ſchrie Jeſus laut und fprah: Eli, Eli, 
lama afabthani! das ift verboffmetihet: Mein Gott, mein Gott, warum halt du 
mich verlaffen? Und Etliche, die dabeiftanden, da fie das hörten, ſprachen fie: 
Siehe, er rufet dem Clint! 

Das vierte der fleben Krenzesworte, Das geheimnißvollfte und er- 
fohütterndfte von allen, ertönt vor unferm Ohr. Will es uns bei 
demfelben Doch fait gefchehn, wie zu Serufalem einft unter der be 
kannten Stimme, die vom Himmel fiel, dem um Jeſum her verſam⸗ 
melten Volke. „Etliche,“ erzählt der Evangelift „fprachen: es Donnerte; 
Andere: es redete ein Engel mit ihm!” Niemand aber wußte recht, 
was er aus dem wunderbaren Laute machen folle, obwol Alle ergriffen, 
beftürzt, und von unheimlichen Schauern durchriefelt daſtanden. Aehn- 
(ich ftehn wir heute unter dem Wiederhall des Rufes, der vom Kreuze 

40 


626 Das Alerhelliche. 


herab tönt; und ich geftehe, daß mir felbft die Seele erzittert, in 
dem ich mich mit euch den unergruͤndlichen Zeidenstiefen nähern foll, 
aus denen das „Eli, Eli, lama aſabthani!“ hervordringt. O 
wie viel lieber Lüge ich ſchweigend vor dieſem Auftritte auf meinem 
Angefichte, als daß ich darüber zu euch reden möchte! Wie es Lu: 
ther'n einſt erging, als er in Dielen räthfelhafteten und ergreifendften 
At der ganzen Paffionsgeichichte nachdenfend jich verienfte, wißt ihr. 
Drei Tage und drei Nächte blieb er ohne Speife und Trank, und 
faß ſchlummerlos, aber unbeweglich wie eine Leiche, in einer Stes 
fung auf feinem Stuble dahin. As er endlich aus den Ziefen fer 
ner Betrachtung wie aus einem geheimnißvollen Schachte wieder auf 
tauchte, brach er, Die Hände faltend, in den Schrei der Beſtürzung 
aus: „Bott, von Gott verlaffen! Wer kann das faſſen?“ — a, 
wer kann e8? Gin undurchdringliches Dunkel, von dem wir une bier 
umgeben ſehen! Aber fiebt auch der Verſtand hier bei der Grenze 
alles menfchlich Begreiflichen fih angelangt, fo findet nichtsdeſtowe⸗ 
niger der Glaube auch zwifchen dieſen Rätbfelfchatten Weg umd 
Steg. Ein heiliges Tenpellicht leuchtet ihm voran, und Stellvers 
tretung beißt dieſes Lichtes Nanıc. Schauen wir in deren Be 
leuchtung den erjchütternden Klageruf des fterbenden Mittlers näher 
an, und richten wir den betrachtenden Blick zuerft auf die äußeren 
Umſtände, die den Ruf begleiten; dann auf des Rufes Inhalt 
und Bedentung; amd endlich auf die Frucht Des Friedens, 
die und Daraus erwachſen tft. 

War es je fir uns an der Zeit, das Gebet des Pialmiften ıms 
anzueignen: „Laß leuchten dein Antlitz über deinen Knecht, und 
meinen Gang gewiß fein in deinem Worte,“ dann, Freunde, heute! 

l. 

Gegen zwölf Uhr Mittags iſtss, da wir im Geifte auf der Schä— 
delftätte wieder zujammentreffen. Faſt ganzer drei Stunden ſchon 
ſchwebt der Heiland blutend am feinem Holz. In feiner Umgebung 
hat fid) mittlerweile nichts verändert, außer daß wir in den Häuflein 
der Getrenen, — mir wiften, aus welchen Grunde, — den Jünger 
Sohannes und die Mutter Maria jet vermiffen. In Der den 
Richtplag umlagernden Volksmenge iſt eine augenblickliche Stille ein: 
getreten. Ob auch auf ſie das erhabene Verhalten des göttlichen 
Dulders unter feinen Martern feines ergreifenden und befchämenden 
Eindruds nicht verfehlte? Man muß es glauben, Mit ſchweigendem 


efi, Ef, lama aſabſchani! 6 


Ernfte blicken fle au feinem Holze empor. Man vernimmt das Stöhnen 
der beiden Schächer in ihrem Todesfampfe, und hört die Blutstropfen 
der Sterbenden deutlich auf die Erde niederfallen; und ebenfo ver: 
lautet von Zeit zu Zeit das ftille Weinen und halb erſtickte Schluchzen 
des treuen Srauenhäufleins, zu dem auch wir im Geifte uns gefellen, 
mit bangem Herzen fragend, ob denn der Vater droben über feinem 
Sohne ewig ſchweigen, und nicht endlich in einem weltdurchleuchtenden 
Zeichen beurkunden wolle, daß der dem Anfcheine nad) nicht allein 
von der Erde, fondern auch vom Himmel Verſtoßene fein Uebelthäter, 
fondern wirflih der „Heilige Iſraels,“ und Sein, des Vaters, 
auserwählter Liebling ſei? — Doc fiehe, e8 erfcheint ein Zeichen! 
Aber was für eins! Mein Gott! wer hätte Derartiges erwarten follen ? 
Unfer Befremden fteigert fih zum Grauen; unfre Beftürzung zum 
Entſetzen. Die Sonne, eben in den Scheitelpunft eingetreten, zieht, 
als wäre Die Erde nicht mehr werth, ihr Licht zu trinken, ihre Strahlen 
in fi zurück, und beginnt zufehends bei völlig unbewölktem Hinmel 
fih zu verdunfeln, Erſt hebt's zu dämmern an, wie wenn der Tag 
fi neigen wollte. Dann fteigert die Dämmerung ſich zum abendlichen 
Dunfel, Endlich legt fih, einem ſchwarzen Leichentuche gleich, die fin⸗ 
fterfte Nacht nicht über das züdifche Land allein, fondern über den 
ganzen beleuchteten Theil der Erde. Die Kreatur fteht entſetzt. Heu⸗ 
lend drangen die Heerden des Feldes in dichte Haufen fich zufanmen, 
Das Geflügel der Luft flattert ängitfich feinen Schlupfwinkfeln zu ; und 
die Volksmaſſen, die die Schädelftätte umftanden, jagen, die Hände 
ringend und an ihre Bruft fehlagend, unter lautem Angſtgeſchrei gen 
Jeruſalem zurüd, Zittern und Wehklagen verbreiten fih, als drohe 
ein Weltuntergang, durch Paläſte und Hütten. — Den Vätern der 
alten Kirche, wie einem Drigenes und Eufebins, waren, zum 
Theil ans weit entfegneren Ländern, auch Zeugniffe Der Heiden, wie 
3. B. dasjenige des Phlegon, eines Freigelaffenen des Kaifers 
Hadrian, befammt, Die von einer gleichzeitig mit der Kreuzigung 
Chriſti eingetretenen Sonnenfinfterniß meldeten, wie eine jo vol 
ftändige , ſchreckhafte und wunderfame nie zuvor in der Welt geſehen 
worden fei. Ya, eine alte Meberlieferung berichtet, wie ihr wißt, daß 
Dionyfius Areopagita die dem Zode Jefu vorangegangene 
Berdunffung der Sonne im fernen Aegyptenlande erlebt, und dabei 
ausgerufen habe: „Entweder leidet in dieſem Augenblicke Die Gott 
heit ſelbſt; oder fie hat Mitleid mit Einem, der die idee” 
40 


628 Das Allerheiligie. 


Auch wir, Geliebte, ftehn erftarrt vor diefem Cchauerphänomen, u 
welchen auch der Blindeite eine Handichrift des allmächtigen Gottes 
nicht wird verfennen können. Aber was beſagt fie, dieſe riefige Hier 
glyphe un den Säulen der Welt? Dan bat darin eine finubildliche 
Kundgebung des Zornes Gottes wider Die Mörder Jeſu erbliden 
wollen. Aber ſolche Deutung iteht mit dem Akte nicht in Einklang, 
der eben auf der Höbe Golgatha's fih vollzieht, umd in welden 
Gott durch die Tabingabe feines eingeborenen Sohnes nicht ſowohl 
feinen richtenden Ernſt und jeine ftrafende Gercchtigfeit, als vielmeht 
fein Erbarmen gegen die Mörder betbätigt. Man hat aus der Fin 
fterniß auch den Gedunfen berauslefen wollen, es miüffe der Unter⸗ 
gang Chriſti auch den der Natur nach fich ziehen. Aber auch diefe 
Erklärung ericheint wenig begründet, indem ja Ehriftus durch feinen 
blutigen Verföhnungsted, erft recht der Natur Halt, Träger und 
Erneuerer geworden it. Man hat gemeint, Das nächtliche Dunkel 
habe bildlich andeuten jollen, daß mit Chriſto das Licht der Welt 
erlöfche. Aber in Chriſti vermitteindem Opfertode iſt ja erft der Belt 
das Licht Des Zroites und des wahren Lebens aufgegangen. 
Man but ferner von einen „Mitgefühl“ felbit der vernunftlofen 
Schöpfung mit den Wehen ihres Herrn und Gebieters fprechen wollen. 
Aber für folche dichteriſche Anſchauung bleibt vollends bier fein Raum. 
Es verdunfelte ja auch die Sonne nicht ſich ſelbſt, fondern der fie 
in jenen Trauerſchleier büllte, war Gott der Herr. — Die Bedeutung 
der plöglich bereingebrocbenen Nacht liegt ungleich tiefer, als Die eben 
erwähnten Entzifferungen es auch nur abneten. Schen der Klageruf 
des Dulders läßt es nicht einen Augenbli bezweifeln, daß die Fin- 
fternig in unmittelbariter Beziebung zu feiner beiligen Perfon, und 
der Lage Steht, in Der er eben fich befindet, Allerdings follte das 
Wunder nadı Gottes Abſicht auch nebenher der Welt das Ungeheure 
der eben in die Geſchichte eintretenden Begebenbeit bezeichnen, Daß 
der Sohn der Ewigkeit, der Urquell alles Lebens, jelbit ein Raub 
des Todes ward. Es ging aber der Hauptzwed des erfchlitternden 
Phänomens dahin, in einem aroßartigen Bilde Die geheimnißvolle 
Stellung und den inneren Zuftand, darin Der Blutende am Kreuge 
eben fich befinde, abzufchatten. Wie binter einen Zempelvorbang tritt 
der Herr, Den Augen der Menfchen ſich entzichend, hinter den ſchwarzen 
Schleier der grauenvollen Nacht zurück. Drei volle Stunden hängt er, 
Das Dorngefrönte Haupt gedanfenvoll auf die Bruft herabgeſenkt, von 


Eli, Eli, lama afabthani ! 629 


jener Finfterniß umfangen an feinem Hol. Er ift im Allerheifigften ; 
Er ſteht am Altar des Herrn; Gr verrichtet Priefterwerf. Der wahr: 
haftige Aaron ift Er, und zugleich das Lamm; das Opferfeuer aber, 
Das ihn umlodert, brauche ich euch nicht erft zu nennen. Was während 
diefer Stunden zwifchen Ihm und feinem himmliſchen Vater verhandelt 
worden ift, Tiegt einftweilen mit fieben Siegeln verjchloffen in den 
Tiefen der Ewigfeit verborgen. Wir wiffen nur fo viel, dag Er 
hinter jener Verhüllung den heißeiten Kampf gefämpft, den glänzenditen 
Sieg errungen hat, und feinen jtellvertretenden Gehorfam erjt mit 
der Krone der Vollendung fehmüdte Wir wiffen, daß dus Grab 
unfrer Sünden dort gegraben, die Handfchrift, die wider uns war, 
„aus dem Mittel gethan,“ der Fluch, der auf ung Tajtete, getilgt, und 
die Scheidemand befeitigt wurde, welche uns und unjern Gott von 
einander trennte. Nennt den Anblik des großen Blutbeflofenen in 
feinem Dunfel herzzerreißend; wir fennen ein entzüdenderes Bild im 
Himmel und auf Erden nicht, als eben jenes. Uns ift der Mann 
am Holze der ſchönſte Stern am Horizont der Welt. Wir fehauen 
ihn an, und fühlen uns von jedem Harm genefen. Als Moſes 
aus den „Dunkel“ zurüdetrat, „Da Gott innen war,” ſtrahlte 
fein Angefiht in einem Glanze, den das beftürzte Ifrael nicht er 
tragen konnte. Der Glanz, den wir aus dem Dunfel Golgatha's, 
fofern wir gläubig in daſſelbe hineinzutreten mußten, auf unfern 
Stirnen mit uns bringen, ijt fiebliher und milder: denn er tft der 
Glanz eines Friedens, von dem die arme Welt nicht weiß, und 
einer innern Siegesfreude Glanz, um welche ſelbſt die Engel uns be- 
neiden möchten. 

„Aber deute uns das ſchauerliche Dunkel!“ hör ich fagen. „Ent: 
ziffre die graufenvolle Räthfelfchrift! Cröffne, was für Zuftinde fie 
bezeichnet!" — Hört! Es bedeutet das Phänomen den Zurüctritf 
einer andern Sonne, als die irdifche. Es bezeichnet Die Umdunkflung 
einer innern Welt. Es fchattet den Niedergang eines Troſtes- und 
Freudentages ab. Es weifet in eine Seelennacht hinein, in der 
der legte heitre Stern erlöfchen will. Denft euch, wenn ihr es ver 
mögt, einen Mann, der fündenfrei, heilig, ja göttlicher Natur, den 
Allmächtigen fein Licht, Gottes Nahbeiheit fein Paradies, Gottes 
Liebe feine Seligfeit nennt. Denkt ihn euch aber alles deſſen nun 
beraubt, von feiner Erfahrung der Gnadengegenwart feines himm⸗ 
fifchen Vaters mehr erlabt, ja mit feinem: „Wenn id nur Dich habe* 


630 Das Allerheiligfte. 


zwifchen lauter Schauers und Schredgefichte der Hölle hineingebannet, 
und von nichts, als von Bildern der Sünde und des Todes umgeben. 
Denkt euch einen Solchen, und fügt, ob deſſen Zuftand nicht in einem 
nächtlichen Dunfel ein überaus entfprechended Gleichniß fände? — 
„Aber,“ höre ich euch entgegnen, „in ſolcher Lage wird Doch der 
Sohn des lebendigen Gottes ſich nicht befinden?‘ Wenn Er aber 
wirklich in folcher Zage ſich befinde? — Nicht wahr, dann würde au 
für das, was er in feinem Innern erführe, ſelbſt die Verfinfterung der 
Sonne noch als ein zu wenig fagendes Symbol erfcheinen! Was 
übrigens in feinem Innern vorgegangen ſei, darüber will Gr ſelbſt 
euch Auffchluß geben. Tretet näher herzu, und vernehmt fein vier: 
tes Wort vom Kreugel 
2. 

Die dritte Stunde der grauenvollen Weltumnadhtung neigt fich zum 
Ende. Schon beginnt die Sonne ihres Dunkeln Schleiers fich wieder 
zu entkleiden. Da bricht der Dulder fein langes, banges Schweigen, 
und herzergreifend tönt von des wie aus einem tiefen Schachte Auf 
tauchenden Lippen einem Nothglodenfignal, aber zugleich auf 
wieder einem Siegspofaunenklang vergleihbar, der unergründ 
fihe Ruf daher: „Eli, Eli, Tama afabthani!" Bon Schaum 
der Ehrfurcht Durchdrungen geben uns die Evangeliften Ddiefen Ruf 
in derfelben Sprache, in der er aus dem Munde des Dulders kam. 
Es iſt, als hätten fie beforgt, daß eine Ueberfeßung deſſelben iws 
Griechifche irgend etwas von feinem Inhalte verwifchen könnte. — 
Wie in Diefem Augenblide wir, jo, Geliebte, haben ſchon feit acht 
zehn Jahrhunderten alle Gläubigen fhugend und ftaunend vor dieſen 
Wort geitanden; aber wie fie ſannen, grübelten und forfchten, fie 
haben das Wort in feiner Ziefe nicht ergründet. Bekanntlich bilden 
die Worte: „Mein Gott, mein Gott, warum haft Du mid 
verlaſſen?“ den Anfang des 22. Pſalms, in welchem David, ge 
trieben und geleitet vom heiligen Geifte, unter Anfnüpfung ar eigwe, 
gegenwärtige Xeiden, das Loos eines die fündige Welt durchpilgernden 
Gerechten ſchildert. Das Gewand feiner Schildrung weitet fich aber 
un Fortgange dergeftalt, DaB des Sängers perfönliche Verhältniſſe 
fi gleichſam darin verlieren, und ein Kind erfennen muß, daß daf- 
jelbe großartigere und bedeutendere Erlehniffe, als die Davidifchen, 
fuche, um denfelben als entfprechende Ausdrudsform ſich anzufchmie- 
gen. Ja, es wählt das hingeworfene Bild des ſchuldlos Leidenden 


Eli, Eli, Iama afabihani! 631 


allmälig zu einer Erhabenheit heran, in der es feit Anbeginn der 
Welt nur in dem Lehensgange eines Einzigen fein vollftändiges 
Begenbild gefunden hat. Es tauchen in dem Gemälde einzelne Züge 
auf, von denen in der Gefchichte Davids kaum hin und wieder nur 
leife andeutende Schatten uns begegnen, und die jomit ihre volle 
buchſtäbliche Erfüllung und anderwärts fuchen heißen. “Denn 
nicht allein wird der Dulder des Pſalms als ein Fegeopfer aller Welt 
uns vorgeführt; nicht allein fprechen zu ihm, die ihn ſehen: „Er 
Hage es dem Herrn, der helfe ihm aus und errette ihn, bat er Luft 
zu ihm;“ nicht allein muß er bange feufgen: „Ich bin ausgefchüttet 
wie Waſſer, alle meine Gebeine find zertrennet, meine Zunge klebet 
an meinem Gaumen, und du, Herr, legeft mich in des Todes Staub;“ 
Er muß aud) jehen, was David im eigentlichen Sinne nie erlebte, 
daß man ihm „feine Hände und Füße durchgräbt,“ und daß Die 
Feinde „fih in feine Kleider theilen, und das Loos werfen um fein 
Gewand.” Ueberdies nimmt feine Paffton einen Ausgang, wie ihn 
diejenige feines Andern je genommen hat. Denn lauter Siegesglorie 
webt ſich zulegt um dieſes trefflih Bewährten Haupt; ja, Er über: 
kommt fogar das Zeugniß, daß feine Leiden nichts Geringeres, als 
Das Heil der Welt, und die Wiederbringung, Erleuchtung und 
Beſeligung der Heiden zur Folge haben würden. Wer wäre fo blind, 
um verfennen zu können, daß der fchwer Geprüfte, aber in ſolchem 
Triumphe aus feinem Kampf bervorgehende Gerechte, den der Geift 
der Weiſſagung uns im 22, Pfalm vor Augen malt, fein Anderer 
fei, al8 der in Jeſu von Nazareth erfchienene Meffias. Dies ftände 
ſchon außer Zweifel, wenn auch nicht Das neue Zeitament, wie es 
wirklich thut, jenem Pſalme ausdrüdlich ſolche Deutung gäbe. Selbft 
einer der Chorführer des neuften Unglaubens hat den 22. Pſalm, 
weifjagend wie Bileam, „das Programm der Kreuzigung Ehrifti” ge 
nannt; und ein Andrer wurde wider Willen zu der Neußerung fort: 
geriffen: „Man möchte fait glauben, ein Ehrift habe Dielen Pſalm 
gedichtet.” 

Daß dem Her jener Pfalm in feiner Zodesnoth vor der Seele 
geſchwebt, wollen wir nicht unbedingt in Abrede ſtellen. Rief Er 
aber in der That fein „Eli, Eli“ mit bewußter Beziehung auf den be- 
fagten Pfalm daher, jo ſprach er diefe Worte nicht, Damit, fondern 
nur, weil jenes prophetifche Lied fich eben jegt in Ihm erfüllte. 
Es war jemer Klageruf, wie ex aus feinem Munde ging, der reine 


632 Das Allerheiligſte. 


Ausdruck volllommenfter perfönlicher Wirklichkeit und Wahrheit. „Aber 
war denn Chriftus wirklich an feinem Kreuz von Gott verlaffen?“ — 
Nicht einen Augenblid, geliebte Brüder! Wie hätte Der von Gott 
verlaffen werden können, der mit Ihm wefentlih eins, und wem 
je, Dann gerade in dem Moment feiner unbedingt gehorfamen Selbſt⸗ 
bhinopferung am Kreuz der Gegenftand des höchften väterlichen Wohl⸗ 
gefallens war? In den Martertiefen aber, in die er eben binabge 
funfen, und über welche das „Eli, Eli, lama aſabthani“ wie 
ein beleuchtender Blitz dahin zudt, überfluthete Ihn eine ſolche Noth, 
umgrauten Ihn fo fchredliche Todesfchauer, und brandeten foldye An⸗ 
fechtungen der Hölle um Ihn empor, daß Ihn ein Gefühl anmars 
delte, wie das Gefühl eined aus der Gemeinjchaft Gottes Verbann⸗ 
ten und günzlid) den finftern Mächten Preisgegebenen. Nicht allen 
breiteten fich alle Schreden vor Ihm aus, welche der furdtbare Mut 
terfchoß der Sünde in die Welt hineingeboren; auf eine ung freilid 
unbegreiflihe Weife ging Er aud) mit feiner heiligen Seele in die 
Gemeinſchaft unfres Schuldbewußtfeins ein, und leerte vorempfin- 
dend den ganzen Schauerfeld, des „Sündenſoldes“, d. i. Des im 
Paradies gedrohten, in lauter Fluch getunkten, Todes. Und es „ſtand 
Niemand bei Ihm.” Kein Gruß der Liebe ſchwebte vom Himmel zu 
Ihm herab. Keine Engelerfcheinung erlabte Ihn in der unheimliche 
Umgebung, in der Er fehmachtete. Seinem Innewerden hatte fih 
der Bater in der That entzogen. Im Bereiche feines Empfindens 
ftand Ihm derſelbe ald ein Fremder gegenüber, Führten Die Anfech— 
tungen Gethjemane's den Herrn bis an die Grenze des Gehorſams, 
jo verfegten Ihn die Anfechtungen des Kreuzes bis an diejenige des 
Glaubens Nicht mehr ein Schritt, nein, nur eine Linie noch war 
zwifchen Ihm und der Verzweiflung Schon griff nah Pſalm 
69, 16 der entfegliche Gedanfe wie mit Geierfrallen in feine Seele 
ein, es fönnte Diefe Tiefe Ihn „verfchlingen”, und „Das Loch 
der Grube über Ihm zufammengehn.“ Da rang fich das 
„Eli, Eli, lama afabthani” aus feinem Bufen los. Sehet nım 
aber wohl zu, daß ihr in der Deutung dieſes Ausrufes nicht fehl 
greift. Er ift nicht etwa Anklage Gottes, daß Diefer Ihn vers 
laſſen habe; fondern vielmehr fräftige Gegenwehr wider teuflis 
Ihe Anreizungen zu folder Anklage. Durch das wiederholte „Mein 
Gott!” beurfundet Er ja, daß er mit dem nadten Glauben, Gott fe 


dennoch fein Gott, durch alles gegentheilige Empfinden ſich fiegreich 


Ei, Bi, lama aſabthani! 633 


durchgerungen habe. Ja, ſchmiegt Er fich nicht mit dem „Eli, Eli“ 
in findficher Innigfeit an feinen himmlischen Vater an; und fagt Er 
nicht Damit, ob immer auch das „Mein Gott“ ftatt eines „Mein 
Vater“ auf ein Ueberwiegen der Ehrfurcht vor der ewigen Majeftät 
in feinem Innern fchließen läßt: „Zwiſchen Dir und mir kann von 
einer Scheidung nimmermehr die Rede fein!” — „Aber“, höre ich euch 
einwenden, „er fragt ja doch, warum ihn Gott verlaffen babe?’ — . 
Freilich wohl; aber erwäget Folgendes, Das „Warum“ fragt zu: 
vörderft nicht nad dem Grunde feiner Paſſion überhaupt. Dieſes 
Grundes blieb Er fih auch am Kreuze allaugenblidlih Har bewußt. 
Es bezicht fih Diefes „Warum“ vielmehr ausfchließlih auf das 
perfönliche Verhalten des hinmlifchen Vaters gegen Ihn, nament: 
lich während der Dreiftündigen Finfterniß; und die Frage ift Kindes- 
frage, gleichbedeutend mit der: „Warum trittit du von mir fo fern, 
und verbirgeft dein Antlig vor mir?“ Dann aber ſpiegelt's uns als 
ein lautes Denken des ringenden Mittlerd den ganzen zum "Siege 
bindurdhbrechenden Kampf feines Innern wieder. In dem Momente, 
in welchem der gräßliche Gedanke Ihn zu überfallen drohte, es fünne 
diefe Hölle, die Ihn umloderte, fih um Ihn ber zufammenfchließen, 
und da, foweit es möglidy war, Das namenlofe Unglüd eines ewi- 
gen Berftoßenfeind von Gott in fein Bewußtfein trat, flüchtete Er fi) 
vor Ddiefem grauenvollen Gedanfenphantom, vor diefen Feuerpfeilen 
des Böfewichts, den Schild des Glaubens ihnen entgegenhaltend, wie 
ein gejagtes zitterndes Reh in die Arme Gottes. md fo ergibt fi 
denn als eigentlicher Sinn feiner Klagelaute dieſes: „Mein Gott! 
warum verläffeft Du mich? Wie, daß du deine Hülfe mir entzieheit? 
Habe ich Doch wider deine Gebote nicht mißhandelt! Bin ich doch 
dein Kind, dein eingeborener Sohn, an dem Du Wohlgefallen haft! 
Und bift und bleibft Du doch mein Gott! Wie follteft Du von mir 
laſſen können? Du kannſt es nit! Du wirft mir aushelfen aus 
Diefer Noth! Du wirft dein Antlig mir wieder leuchten laſſen!“ — 
Seht, Klage, (nicht Anklage), Ruf um Hülfe, und fiegende Kin- 
Deszuverficht: Dies find Die Drei Elemente, die in dem „Eli, Elt, 
lama afabthant‘ ſich verfchmelzen. 

Doc es fei genug geftammelt von einer Sache, die, unzugänglich 
dem Begriff, felbft der gläubigen Ahnung nur ein geringes Etwas 
ihrer erhabenen Bedeutung verräth. So viel aber ergibt ſich hier für 
Jeden, Daß ohne Die Lehre von der Stellvertretung der Klageruf 


634 Das Alerheiligke. 


Ehrifti am Kreuz ein fhlechthin unauflösbares Näthfel bleibt. Ya 
Berbindung mit diefer Xehre aber wird der Ruf zu einem Feierglol⸗ 
enflange, mit dem unfre ewige Erlöfung eingeläutet wird. Verleihe 
Gott in Gnaden, daß er in Diefer Eigenichaft einen mächtigen, nie 
mehr verklingenden Wiederhall auc in unſerm Innern finden möge! 


Ja, Freunde, jo weit es — 8* möglich war, — (und im Blid auf 
die geheimnißvolle Bergliederung, in welche Chriftus als „andrer Adam“ 
mit unferm Gefchlecyte eingegangen ift, haben wir uns die Grenzen 
dieſer Möglichkeit nicht gar zu eng zu denken,) koſtete der Herr auch 
den bitterften Tropfen des ganzen Fluchkelchs: die Verlaſſenheit 
von Gott. Das „Mein Gott, warum haft du mich verlaf- 
fen?” war allerdings der Kämpferruf, mit welchem Er das Berlaf: 
jenheitsgefühl in fih durch den Glauben niederrang und fiegreih 
überwand. Nichtödeftoweniger aber war ed kundgebendes Zeugniß, 
daß Chriftus mit dieſem graufigen Gefühle in der That einen ernſten 
Kampf zu beftehen hatte, 

ragt ihr nun nach der Frucht, Die aus diefem Kampfe ung erwach⸗ 
fen jei, fo ift für uns ſchon das von tröftlicher und erhebender Beden- 
tung, daß wir den Hermn in dem „Warum? auf's neue das Bewußt⸗ 
fein feiner vollkommenen Gerechtigkeit vor Gott fo deutlich beurkunden 
hören, Denn wie hätte Er in Ermangelung ſolchen Bewußtfeins die 
fübhne Frage an den Dreimalheiligen gewagt, „warum“ derjelbe Ihn 
verlaften habe? Die wefentlichite Beute aber, Die wir jenem jeinem 
Kampf entnehmen, iſt eine ganz andre nod. Wie verſahen ſich doc 
Die unter dem Kreuge an Dem göttlichen Dulder, die in arger Miß 
deutung jeines „Eli“ einander zuraunen konnten: „Er rufet den 
Elias!” Anfänglich war dieſe Bemerkung allerdings nichts weniger 
als Spott. Bielmehr brach einmal wieder in den Meuterern die Ab: 
nung durch, es könne der Erhabene dort in feinem Blute wirklich der 
Meffias fein. Weil fie aber aus den Weiffagungen der Propheten 
Jeſaias und Maleachi wußten, Daß Elias dem großen Zukünftigen 
als Bahnbrecher vorangehn folle, fo ftieg der Gedanke in ihnen auf, 
ob nicht der göttliche Dulder eben jenen gewaltigen Gotteshereld zu 
feiner Hülfe aus der unfichtbaren Welt herausbeſchwöre. Welche Ber: 
fennung des großen Mittlers lag aber diefem Gedanken feiner Kreu⸗ 
ziger zum Grunde! Nein, nicht an fich, fondern nur an Die Sünder, 
für Die Er eingetreten war, dachte Chriſtus bei feinem „Eli, Eli“, 


ei, Eli, Iama aſabthani 635 


und fein Abſehn ging zuerft dahin, ihnen mit diefem „Eli“ das Herz 
des lebendigen Gottes wieder zu erobern. Denn wenn Gott Ihn 
verließ, fo hatte er jeme verlaffen, die Er vertrat. Verwarf Gott 
fein, des Bürgen, Werk als ein unzulängliches, fo war die Erlöfung 
der ganzen Welt gefcheitert. Diefe Erwägung war e8 vorzugäweife, 
Die Dem Herrn den Angftruf: „Mein Gott, warum haft du mid) 
verlaſſen?“ abdrang, und es erhält demnach feine Frage auch die- 
fen Sinn: „Nein, du verläffeft mich nicht; du genehmigſt mein 
Werk; und fo halte ich Dich feit ald meinen Gott, und darum auch 
ald den Gott derjenigen, deren Sache ich führe!” Der Bater im 
Himmel aber hat e8 dieſem Sohneslaute an feinem Amen nicht fehlen 
laſſen. Sinnbildlich ſprach Er's ſchon dadurch aus, daß er alſobald 
die Finfterniß zerftreute, und der Sonne ihren vollen, heiten Zages- 
glanz zurüdgab. Ya, es gehörte jene Verlaſſenheit wefentlich mit in 
den Kelch, den der Hohepriefter für uns leeren mußte. Es kann hin- 
fort für Alle, die durch das Band eines Tebendigen Glaubens mit 
Chriſto verbunden find, von einem wirklichen Berlaffenwerden Seitens 
Gottes nicht mehr die Rede fein. Wie für uns fein Nachtgewölk 
den Himmel mehr umgraut; wie wir jederzeit in Gottes unverhülltes 
Antlig ſchauen, und. allaugenblidlih des freien Zugangs zu feinem 
Gnadenthrone uns getröften dürfen: fo wird auch Gott, was fonft 
und auch verlaffen möchte, in Wahrheit nie mehr von uns weichen. 
Verlaſſe uns Die Gunft der Welt, der Menfchen Zreundfchaft, das 
Glück der Erde, des Leibes Kraft; verlaffe uns felbft, wie es ge- 
ſchehen kann, die Empfindung der Nähe Gottes und die Friſche des 
umern Glaubenslebens: Gott felbft bleibt uns in Ehrifto allewege 
nabe und gewogen. Wie fremd Er mitunter gegen uns fich fkelle, 
in welche Zrübfalstiegel Ex uns verſenke, wie völlig Er unferu Em⸗ 
pfinden fich entziehe: in allen Lagen bleibt uns die felige Befugniß, 
nicht allein beherzt mit einem: „Warum verläffeft du mid), dein Kind 
und den Vertretenen deines Sohnes?” Ihn anzugehen; jondern aud) 
mit fühner Zuverfiht zu Ihm zu fprechen: „Du wirft, du kannuſt, 
du darfit mich nicht verlaffen, weil das Verdienit Deines eingeborenen 
Sohnes Di ewig an wich bindet!“ 

An dieſem Augenblide, Geliebte, wird auf unferu Gottesader die 
entjeelte Hülle einer Pügerin binaus getragen, welche wohl zu den 
allerkoͤſtlichſten Edelfteinen gehörte, die einmal aus dieſer großen Stadt 
Die Krong Gottes ſchmuͤcken werden. Wer außer ihren Kindern und 


636 Das Aerheifigke. 


einem Heinen Häuflein gleichgefinnter Fremde, die Der Herr ihr zu 
geriefen, kannte fie? Wer börte außer jenen auch nur einmal ihren 
Namen? In der Verborgenheit eines dunkeln Tachfämmerleind lag 
fie zwei Jahre hindurch am fchmerer, jchmerzensvoller Krankheit wie 
auf Dornen gebettet; aber man glaubte fie auf Rofen liegen zu je 
ben; jo voller Friede und beiterer Ergebung war fi. Das machte: 
Ehriftus war ihr Leben. Je mebr ihr Fleiſch dabinſchwand, um ie 
mehr fah man ihren Geiſt in Gott erftarfen. Je fichtlicher ihr äu— 
Berlicher Menfch verfiel, deito berrlicher entfaltete und verflärte fich ihr 
innerer. Ging ibr mitunter audy die Leidensfluth bis an die Seele, fe 
haben wir fie Doc) nicht einmal feufzen gehört, gefchweige zagen geſehen. 
Wollte ihr Glaube fih einmal verdunfeln, jo eilte ibr Blick alſobald 
nad) Golgatha, und unter dem Wiederhall des „Eli, Eli, lama aſab⸗ 
thani” waren die Wolfen auf ihrer tim ſchnell wieder zerftreut. 
„Er kann mich nicht verlaffen*, jprach fie lächelnd, „nachdem Er den 
für mic) verließ, der meine Schuld bezahlte!“ Und als einmal in 
den Tagen ihrer legten Todesfimpfe das Mitleid mir die Worte ab: 
drang: „Ad, daß es Doch dem Herrn gefiele, in etwa diefen Schmer: 
zenskelch zu mildern!“ entgegnete fie unter einer abwehrenden Handbe⸗ 
wegung mit einer feierlich ernften Betonung: „O ftille! feinen Tropfen 
weniger! in jeder it von Seiner Weisheit und Liebe forgfam zus 
gemeſſen!“ Auf's fchönfte geſchmückt mit dem himmliſchen Kranze des 
feiteiten Glaubens, der lauterften Demutb, der durchbaltenditen Erge 
bung und Geduld und der jelbitverleugnungsvolliten Liebe, ſchied fie, 
eine triumpbirende Siegerin über Tod und Grab, aus Diefer Belt. 
Sept fingt auch fie Das große Hallelujab mit der Schaar jener Per: 
flärten, die „aus vieler Trübſal gekommen find, und baben ihre Kleider 
gemafcben im Blute Des Lammes.“ Aber Gott bat abgewiſcht Die 
Thränen von ibren Augen, und die Palme eines unvergünglicen 
Zriumpbs ihr in Die Hand gegeben. Sie binterlieg als ihren letzten 
Willen die ernjte Mahnung, dap man an ihrem Grabe von nichte, 
al8 von der Gnade Christi und der Macht feines Blutes fügen 
folle. Und etmas Anderes wollen auch wir nicht rühmen über ibrem 
Hügel, als die Barmberzigfeit in Chriſto, und wollen nur binzufügen 
den betenden Wunſch: „LUnfer Ende fei wie Diefer Gerechten Ende!“ 

Ich erzüblte euch Dielen Zug, tbeils, um mit einem neuen Beweiſe 
euch zu erfreuen, daß Gott auch unter uns fein Volk noch babe, und 
feine Werbethätigleit in unfrer Witte noch kein Ende nahm; theils, 


Mi dürfe! 637 


um an einem Erempel euch zu zeigen, wie das Geheimniß des Kreuzes 
überhaupt, und wie namentlid) dasjenige der Gottverlaffenheit des 
Mittlers ausgebeutet werden müſſe. Sei es aud uns befchieden, in 
folder Weife die Früchte des Kreuzes Chriſti uns anzueignen, und 
werde je länger je mehr in unferm Innern Wahrheit und Leben das 
Wort des Sängers: 

„Eli! — Du riefft's; und bis zur Stunde 

Toönt's wunderwirtend mir durch's Herz. 

Verrieth e8 Deine tieffte Wunde, 

Mic, heift’8 von meinem berbiten Schmerz. 

D Wunder! freie, offne Gaflen 

Brach's fühnend mir in's Paradies. 

Gott fann mid niemald mehr verlaffen, 

Seitdem er Dich ftatt mich verließ! — Amen. — 


— —ů — 


LIII. 
Mich dürſtet! 


„Wer will mir zu trinken holen des Waſſers aus dem Brunnen 
zu Bethlehem unter dem Thor?” So ſprach zu feinen Reiſigen der 
König David, als er den Philiftern gegenüber, die Bethlehem inne 
hatten, in einer Bergfefte lag, und daſelbſt nad einem frifchen Zrunfe 
ihn gelüftete, Kaum war fein Wort erichollen, da brachen auch ſchon 
mit gezudten Schwerdtern drei Helden in's Feindeslager, fchöpften 
aus dem Brunnen zu Bethlehem, und brachten, nachdem fie abermals 
ſich Durchgefchlagen, ihren Herm und Gebieter das gewünfchte Labjal. 
Diefer aber weigerte ſich, es zu trinken, ja, goß es, einem Zrankopfer 
aleih, vor dem Herrn aus, und ſprach: „Das laffe der Herr ferne 
von mir fein, daß ich's trinfe! Iſt es nicht das Blut der Männer, 
die dahin gegangen find, und ihr Leben gewagt haben?” David wollte 
nicht gelabt jein, fo Tange die Seinen fchmachteten; und am wenigften 
begehrte er die Erquickung auf jener Koften. Er hoffte von dem Herrn 
eine nahe Hülfe für Alle, und erft dann gedachte er fammt feinem 


Heere ſich zu erfrifchen. 


6” Das Ierheifighe. 


Wir kennen einen Andern, der aus ähnlichen Beneggränden, wie 
David, ein Labfal, nur ein ungleich größeres, als das ans dem 
Brunnen Bethlehems, als Zranfopfer vor dem Herm ausgoß, ımd 
lieber verdurften, oder nur mit Galle fich tränfen laſſen wollte, als 
ohne ung, feine Brüder nad) dem Fleiſch, gefüttigt fein, oder gar 
im Weberfluß leben; ja, der auf die Lebenswafler der bimmlifchen 
Sreudenquellen, die ihm zur Verfügung fanden, Verzicht Teiftete, um 
nicht für feine Perfon allein beglückt zu fein, fondern, was David 
freilich nicht vermochte, durch fein Darben uns die Mitgenoſſenſchaft 
an feinen Seligfeiten zu erwerben, und dann erft, in Gemeinſchaft 
mit uns, ſich zu erquiden. Ihr Eennt diefen Anden und Größeren 
auch, von welchem der König Sfrael nur ein fhwacher, vorbildender 
Scyatte war. Wir werden Ihn heute fchauen, und gerade in dem 
Momente zu Ihm treffen, Da Er jenes große Werk der felbfiverleng: 
nungsvolliten Liebe ausübt. 


Matth. 27, 48. 49. Marc. 15, 36. Joh. 19, 28. 29. 
Darnach, als Jeſus wußte, daß ſchon Altes vollbracht war, daß die Schrift erfüllel 
würde, fpricht er: Mich dürfte! Da fand ein Gefäß voll Eifig. Und bald Tief einer 
unter ihnen, nahm einen Schwamm, und füllete ihn mit Eifig, und legte ihn um 
einen Dfopftengel, und hielt e8 ihm dar zum Munde, und tränfete ihn. Die Anders 
aber fprachen: Halt, Taf fehen, ob Elias fomme, und ihn herabnehme! 


Dem Anfehen nad gehört der Abfchnitt, nor welchem wir Beute 
ftehn, nicht eben zu den bedeutfameren und fruchtbareren Der Paſ—⸗ 
fionsgefchichte. ber laffen wir uns durch Den Schein nicht irre leiten, 
jondern graben wir in den Grund; und auch an Diefer Stelle werden 
uns die Lebenswafler des unerfchöpflichen Heilbrunns, der ſich anf 
Golgatha für uns anfgethban hat, reih und frifch entgegenſprudeln. 
Wohl dürfen wir zu dem Herm mit dem Dichter fagen: 

„Mir ift and jedem Weh, dem du dein Herz erfihfoffen, 
Ein himmliſch Rofenbeet won Freuden anfgeiproffen.* 

Der Ruf: „Mich dürftet!- fei der Gegenfland unſrer heutigen 
Erwägung! Auch ihm kann e8 an tiefen geheimmißvollen Hinter⸗ 
grimden nicht fehlen; wie begegnete er uns ſonſt in dem erhabenen 
Afkorde der fieben Kreuzgesworte? Zudem verlanfet er — in welchem 
Momente? Er ertönt in der großartig feierlichen Rähe des blutigen 
Berföhnungstodes! Ya, ein Zahrtaufend zuvor ſchon wurde auf Diefen 


iM virkel! 1.027 


Auf durch den Geiſt der Weiſſagung prophetifch hingedeutet. Worin 
beſteht ſie denn, die Bedeutung dieſes fünften Worts des ſterben⸗ 
den Hohenprieſters? Es wird ſich ergeben, wenn wir das Wort in 
feiner dreifachen Eigenſchaft, nämlich als Klageruf zuerſt, dann 
als Ausdruck des Verlangens zu Gott, und endlich als Bitte 
an die Sünderwelt einer näheren Erwägung unterziehen, 

Schiden wir uns hiezu an, und laffe uns der Herr auch heute 
nicht ohne einen neuen Heilsſchatz von binnen gehn! 


Es iſt um die neunte Stunde, alfo um drei Uhr Nachmittags. 
Eben erft tönte jenes erfchütternde „Eli, Eli, Tama afabthani!“ 
Daher, das allerdings Nothfchrei, aber zugleich Ruf des Sieges und 
Triumphes mar. Die Summe taucht aus ihrer nächtlichen Verbüllung 
wieder hervor, und der Himmel fieht wieder freimdlicher zur Erde 
nieder. Ihr würdet aber irren, wolltet ihr dies als ein Jeichen deuten, 
daß die feelifhe Märternacht des Herrn nunmehr vorüber fei. Sie 
Dauert, wenn jetzt auch durch Die wiedererrungene Glanbensflarheit 
wefentlich gelichtet, biß zu dem Momente feines Sterbens fort; md 
auch Dad Wort „Mich dDürftet”! dringt noch aus ihren Dunkel zu 
unferm Obr. Um dies bezweifeln zu Fönnen, müßte man mit dem 
69. Pfalme nicht vertraut fein, deſſen Klagetoͤne in Diefem letzten 
Stadium der Kreuzesnoth des Herm zu ihrer ſchließlichen Verwirk⸗ 
fihung gelangen. Freilih „wußte“ Jeſus, nach der ausdruͤcklichen 
Ausfage umfrcs Evangeliums, daß feine Pafflon fi) ihrem Ende nä- 
here. Mit klarem Auge fah er den Marterkelch bis auf die letzten 
Tropfen geleert. Aber diefe „legten Tropfen” blieben noch darin 
zurück, und wollten ebenfalls noch getrunken fein; und, glaubt es, 
fie haben an Bitterkeit den bereits gefofteten nichts nachgegeben. Ach 
feht, er fchmedt fie fehon. Die Wehen des im Paradies gedrohten 
Zodes haben ihm ergriffen. Gr trat in die Stellung ein, für melde 
der Geift der Weiffagung in dem eben genannten Pſalme Ihm Die 
Klage in den Mund legt: „Ich habe mich müde geichrieen; mein 
Hals tft heiſch; mein Geſicht vergeht mir, daß ich fo lange harren 
muß auf meinen Gott! Mache dich zu meiner Seele, und erlöfe fie. 
Die Schmady bricht mir mein Herz, und fränket mich. Ich warte, 
ob e8 Jemand jammere, aber da tft Niemand. Ich harre anf Tröfter, 
aber ich finde feine!” So lauten die Seufzer, in denen wir ihn 
ders durch den Mund Davids ih ergießen hören; und am fle fchließen 


640 | Das Alterheiligfe. 


ſich dann die merkwürdigen prophetifchen Worte: „Sie geben mir 
Balle zu effen und Effig zu trinken in meinem großen 
Durft!” Auch diefer Zug, der in der That noch feinen Ruhepunkt 
auf feinem Martergang bezeichnet, mußte noch verwirklicht in Das Pal: 
fionsgemälde fi verweben; und zum Zeugniß, daß dies eben gefche 
hen fei, oder, wie das Evangelium fih ausdrüdt: „auf daß die Schrift 
erfüllet werde,” ruft der Herr von feinem Hole: „Mich dürfte!“ 
Ja, Klage-, Noth- und Angftfchrei ift diefer Ruf zu nächſt. 
Dies ſetzt der erwähnte Pfalm, der einen Sturm der Anfechtung uns 
vor Augen malt, außer Zweifel. 

Aber welcher Art war die Noth, die fih in jenem Rufe kundgab? 
Zunächft war fle allerdings eine förperlihde. Wie wund umd wie 
ermattet langte der Heiland jchon auf der Höhe der Schädelftätte an, 
und faft ſechs volle Stunden bereits hängt er an feinem Holz. 
Die Blutgefäße feines heiligen Leibes find beinah erfhöpft. Ein 
furdhtbarer Zieberbrand durchwüthet fein Gebein. Seine Säfte ver 
dorrten; feine Zunge Hebt am Gaumen. Die Lippen glühen ihm, 
und ein Tropfen Waſſers erfcheint ihm als ein großes Labfal. Soll 
e8 Doch eine ftechendere Qual nicht geben, als die eines nicht zu 
ftillenden heißen Durftes, Neifende, die in den brennenden Step 
pen des Orients diefe Pein empfunden haben, machen uns Schilde 
rungen von ihr, die und mit Entfeßen erfüllen. Sie verfichern uns, 
daß, wenn fie in jener Lage alles Gold der Erde befefien hätten, fie 
dDaffelbe fehon für ein paar Tropfen aus dem trübften unfrer Bäche 
mit Freuden hingegeben haben würden. Gewahrten fie einmal ferne 
einen ſchimmernden Fleck, den fie für einen Zeih, für eine Lagune 
hielten, fo pflegten fie wie Raſende Darauf zuzuftürzen. Fand fichs 
aber, daß das vermeintlihe Waſſer nur eine brennende Sandfläde 
war, auf der die Eomnenftrahlen fpielten, fo verfeßte fie dieſe Ent⸗ 
täufhung in eine Verzweiflung, der fie nur durch ein lautes Heulen 
entfprechenden Ausdruck zu geben wußten. Und denkt, auch dieſe 
Marter blieb dem Heilande der Welt nicht fremd. Bis zu folder 
Ziefe der Armuth und Bedürftigfeit wollte Er, der fo unausſprechlich 
„reich“ war, fih entäußern! Und alles dies für uns, Damit wir 
durch feine Armuth reich würden! Wer ift im Stande, Diefe Liebe 
zu ermeſſen und würdiglich zu preifen ? 

Doch auf Grauenvolleres noch, als leibliche Qual, deutet Der Kreu: 
zesruf: „Mich dürſtet!“ Ya, gemahnt er euch nicht an das ſchauer⸗ 


Mic därftet! 641 


liche Bild aus der unfichtbaren Welt, das der Herr felbft einmal in 
einem feiner Gleichniffe uns vor Augen malte? Taucht vor eurer 
Erinnerung der „reihe Mann” nicht auf, der fih auf Erden in 
Purpur und föftliche Leinewand Meidete, aber, nachdem auch ihn der 
unerbittlihe Tod Dahingerafft, in der „Pein und Flamme“ verzwei- 
felnd die Hände rang, und, von einem namenlofen inneren Durft 
gequält, den Vater Abraham anfchrie, er möge Lazarım fenden, daß 
er nur das Yeußerfte feines Fingers in's Waſſer tauche, und ihm die 
brennende Zunge neße; der aber auf feine Bitte, wie flehentlich die- 
felbe aus der Behaufung der ewigen Nacht heraus an die Pforten 
des Himmels ſchlug, ohne Schonung und Erbarmen abfhläglid 
befchieden wurde? — „Nein“, hör’ ich entgegnen, „an diefen Mann 
gedenken wir hier nicht! Wie follte an ihn der heilige, fündenreine 
Dulder uns erinnern fönnen? Einen Frevel würden wir zu begehen 
glauben, wollten wir das Dürften dieſes Geredhten mit demjenigen 
jenes Höllenfindes zufammenftellen? Wir würden meinen, durch ſolche 
Vergleichung in ärgerer Weiſe, als e8 die Juden thaten, Ihn unter 
die Uebelthäter zu zählen! — So fpredht ihr; aber wiflet, Freunde, 
Daß fo fi) nur vernehmen laffen fann, wer dem nicht glaubt, was 
die Schrift von der ftellvertretenden Flucherduldung Jeſu 
meldet. Wem dagegen über die Worte: „Die Strafe liegt auf 
ihm, auf daß wir Frieden hätten” das Licht des heiligen Geiftes auf- 
gegangen ift, den würde es in hohem Grade befremden, wenn der 
Mittler nicht auch das Loos jenes Mannes der Parabel thatfächlid) 
erfüllt, d.h. wenn Er nicht, fo weit es möglich) war, auch alle Qua⸗ 
len der Verdammten ausgefoftet hätte. Und er Eoftete fie aus! Der 
bittre Spott, der auf's neue von unten her, und allerdings auch in 
dem: „Laſſet jehn, ob Elias fonıme und ihm helfe!’ ſich vernehmen 
ließ, war nur ein jchwaches, menfchliches Abbild der araufenvolleren 
Anfälle, die Er hinter dem Vorhange der Äußeren Gefchichte zu er: 
leiden hatte. Hier im Berborgenen umgaben Ihn „die Rotten Belials.“ 
Hier hoffen die finfteren Mächte ihre ausgefuchteften ‘Pfeile gegen 
Ihn ab. Hier fichtete der Satan Ihn felber jeßt wie den Weizen; ımd 
aus dieſer unheimlichen Umgebung, aus diefer Drangfalswürte, aus 
dDiefer Grube, „darin fein Waſſer war”, und in der Er nur nod 
glaubend, nicht aber mehr empfindend mußte, daß Gott fein 
Gott fei, drang, gleichartig mit dem „Sende Lazarum!“ jenes 
Berftoßenen, der Ruf hervor: „Mid dürſtet!“ Uns Sündern den 
Ä 41 


642 Das Allerheiligſte 


Durft einer unendlichen Zroftlofigkeit zu erfparen, unterzog er fid 
felber ftellvertretend folder Qual. O, welch' ein Xabebrum, Deu 
Er durch fein Dürften uns eröffnet hat! Rufen wir Sünder jeßt: 
„Sei du mir nur nicht ſchrecklich, meine Juverficht in der Roth!“ fe 
tragen um des ‚Dürftenden Mittler willen raufchende Zriedensftröme 
unferm Gebete das göttliche „Amen!“ zu. 


2. 

„Mich Dürftet!! Wornach dürjtet Ihn? Ich denfe, daß fid 
dies jebt von felbft ergebe. Es war nicht irdifches Wafler nur, 
nad) dem er Techzte; fondern Größeres, Höheres, Wefentlicheres. Ihn 
verlangte allerdings nad) der Beendigung feiner Erlöferarbeit umd 
der Vollendung feines großen Mittlerwerks. War diefes Ziel erreicht, 
fo war Er ja wieder in fein Element, d. h. in die volle befefigende 
Gemeinſchaft feines himmliſchen Waters zurücverfegt, und ſchaute 
wieder, während Er jegt nur glauben mußte. Er hatte dann nicht 
mehr erft mühfem zu dem Bewußtſein fi Durchzuringen, daß 
Bott Ihm’ hold und väterlih gewogen ſei; fondem Er fchmedte 
Solches wieder, denn er rubete wie weiland in des Vaters Schooß; 
und ſtatt der fchauerlichen Bilder der Sünde des Fluches und des 
Zodes ftrahlte Ihm auf's neue von allen Seiten der Glanz einer 
fledenlofen Reinheit und Heiligkeit entgegen. Friede und Freude 
fehrten dann zu Ihm zurüd. Das Natterngezifh der Abgrunds- 
mächte war um Ihn ber verftumnt. Nur die Hallelujas der Engel 
und vollendeten Gerechten umtönten ihn; jeder Mißklang löfte fich auf 
in felige Harmonie, und die Atmoſphäre, in der er athmete, war wie 
der Liebe, und nichts als Liebe. Ja, Ihn dürftete nach der vollen 
Wiederenthüllung des Angefichtes feines Vaters, und wie nach des 
Vaters erneuter, unzweideutiger Erklärung: „Du bift mein Tieber 
Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe!” fo nach der väterlichen Be: 
fiegelung feines Erlöjerwerfes al8 eines untadelig vollbrachten!“ Daß 
vor Allem hiernach Ihn gedürftet, fegen wir nicht willfürlich vor: 
aus, jondern entnehmen’ aus dem hbierhergehörigen 69ften Pſalm, 
der Ihm unter andern in feiner Kreuzesmarter auch die Worte auf 
die Lippe legt: „Gott, hilf mir, denn das Waſſer gehet mir bis an 
die Seele. Ich bete, Gott, zu Dir, erhöre mich mit Deiner treuen 
Hülfe. Errette mich aus dem Kotl, auf daß ich nicht verfinfe. Er: 
höre mich, o Herr, denn deine Güte ift fo tröftlih. Wende dich zu 
mir nad) deiner großen Barnıherzigkeit; verbirg dein Antli nicht vor 


Mich duͤrſtet! 643 


deinem Knechte, denn mir iſt Angſt. Erhöre mich eilend. Nahe dich 
zu meiner Seele, und erlöfe fiel” — Seht, Freunde, fo iſt fein 
„Mich dürſtet!“ auch Ausdrud des Verlangens vor, zu und nad) 
feinem bimmlifchen Vater. — 

Denkt aber nicht, Er habe bei feinem „Mich dürſtet!“ nur ſich, 
und was zu feinem eignen Frieden diente, im Auge gehabt. Hing er 
doch nicht für Die eigne Perfon am Kreuze. Es verlangte Ihn nad 
dem Rüdtritt in die Gemeinfchaft Gottes, weil feine Aufnahme in 
dieſelbe auch denen, die Er priefterlich auf dem Herzen trug, Die 
ihrige verbürgte. Erfüllte Er doch als andrer Adam in dem, was 
Er erduldete, ihr Geſchick, und bereitete er ihnen doch in Dem, 
worauf Er fich felbft einen Rechtsanfpruch erftritt, ihr fünftiges Erb⸗ 
theil. Er konnte, nachdem Er als ihr Sachwalter in ihre Stelle 
eingetreten war, nicht gerechtfertigt, erhöht und gefrönet werden, ohne 
Daß auch fie dabei betheifigt waren. Wie fehnte Er fi) aber nad) 
dem nun nicht mehr fernen Momente, da Er vor den Bater treten, 
und zu ihm jagen fonnte: „Hier bin ih, und die du mir gegeben 
haft. Sch habe fie erlöfet, mit meinem Blute fie erfauft, und unta- 
delig fie vor Dein Angeficht geftellt. Hinfort find fie Dein und mein, 
und würdig, zu deinen Vorhöfen einzutreten!“ — Seht, auch diefem 
Berlangen feines Mittlerherzens, ja dDiefem zuallermeift, gab Er in 
dem Rufe: „Mich dürſtet“! finnbildfichen Ausdrud. O, in welchen 
reichen Blüthenfchmuc der Liebe N er das Holz des Fluchs gefleidet!, 


Dod wir verfennen nicht, dat das „Mich dürſtet!“ nicht blos 
Sehnſucht nach Gott, ſeinem himmliſchen Vater, ſondern zugleich Bitte 
an die Menſchheit ausſprach, welche letztere Er auf Golgatha leider! 
in ſeinen Kreuzigern vertreten ſah. Ja, auch von ihr erbat Er 
fi) einen Liebesdienſt. Ein Trunk kühlenden Waſſers für feine lech⸗ 
zende Zunge war es, was Er von ihr begehrte. Ueberſeht dieſen 
Umſtand nicht. Auch in dieſem ſcheinbar geringfügigen Zuge liegt 
etwas Großes verborgen. Wer, und wenn er der Cdelſten feines 
Gefchlechtes einer geweſen wäre, hätte in Jeſu Lage den höhnenden 
Feinden noch fold ein Wort gegönnt, und fie um eine Erweifung der 
Freundlichkeit und Liebe angefprochen? Stolze Verachtung gebührte 
diefen Menfchen. Aber zum Zeugniß, wie Er fo gar andern Sinnes 
fei, denn feine Brüder nach dem Fleifch, und wie in feinem Herzen 
fo gar nichts wohne von alle dem, was gekränktes Chrgefühl, Groll 

41° 


644 | Das Merheiligfte. 


oder Gereiztheit heiße, erfucht Er die Widerfacher noch um eine Hand⸗ 
reichung mitleidiger Freundlichkeit, und fpricht zu ihnen bittend: „Mid 
dürſtet!“ Was wollte er damit jagen, ald: „Seht, ich breche nicht 
mit euch! ch bleibe euch treu gefinnt, und halte die Bande feft, 
die mich mit euch verknüpfen!“ Wer noch nicht weiß, was es heiße: 
„den Feinden feurige Kohlen ſammeln auf das Haupt,“ der ſchaue 
ed bier. Wie tritt hier wieder die Heiligkeit unſres Herm in Die 
Erfcheinung! Wie enthüllt fi bier auf's neue vor unferm Blick der 
lautre Goldgrund feiner göttlichen Natur! Ja, „Licht“ war das Kleid, 
das er anhatte, bis in feine innerjten, verborgenften Falten hinein, 
lauter Licht! Er mußte aber auch jo beichaffen fein, der unfer Bürge 
und Mittler werden wollte. in Stäublein auf der weißen Leine: 
wand feiner Gerechtigkeit hätte hingereicht, Ihm die Tüchtigkeit zur 
Bollführung feines großen Werks zu benehmen. | 

Man follte. denfen, der wunderzarte Zug unbefangener Annäherung 
und vertrauensvoller Herablaffung, wie er in dem „Mich dDürftet!“ 
zu Tage trat, habe die Kreuziger drunten mit einer Befchämung er: 
füllen müffen, die ihnen faum mehr geftattet haben würde, die Augen 
aufzufchlagen. Und freilich fcheint es, als habe derfelbe auch feines 
verfühnenden und zu milderen Gefinnungen ftimmenden Eindruds auf 
fle nicht ganz verfehlt. Wir fehen fie Anftalt machen, Ihm feine 
Bitte zu gewähren. Es läuft Einer hin und holt einen Yſopſtengel, 
‚und nachdem fie einen Schwamm in Eifig getaucht, und diefen an 
das Rohr befeitigt haben, reichen fie denfelben zu feinem Munde 
hinauf, und tränfen Ihm mit dem Schwanme. Freilich wird Ihm 
auch dieſer kümmerliche Trank noch mit der Galle eines erneuerten 
Spottes vermifcht. — „Halt! laß feben, ob Elias komme, und ihn 
herabnehme!“ rufen Die Waffenknechte. Doch irre ich nicht, fo if 
in Ddiefem Spott mehr Ernſt ald Scherz, und man beabfichtigt im 
Grunde mit demfelben nur die befferen und weicheren Gefühle des 
Mitleidd, ja jogar eine gewiffe Zuneigung zu dem blutenden Manne 
zu verhüllen, die man in dieſem Augenblide in fid) aufwallen fühlt. 
— Bollen wir unfere Gegner und wiedergewinnen, fo kann dies 
ſchneller und ficherer nicht geichehen, als Dadurch, daß wir ung ei: 
nen Liebeödienjt von ihnen erbitten, und uns jo ihnen zu Danf 
verpflichten. Augenblicklich wird dies fie milder ftimmen. Freilich 
ift hiezu ein Maß von Demuth und Liebe erforderlich, das nicht Je- 
dermanns Ding ift. Der Heiland befaß aber dieje Liebe und Diele 


Mich dürftet! 645 


Demuth in unbegrenzter Fülle. Um num fich felbft in die Lage zu 
verfegen, der Welt einen Dank zu fhulden, gibt Er diefer mit fei- 
nem „Mich dürſtet!“ Gelegenheit, Ihm auf feinem Lebensgange 
noch Das legte irdifche Labfal darzureihen. Welch’ ein rührender, 
berzgewinnender Zug dies! O, daß er, fo weit e8 noch nicht gefchah, 
auch unfre Herzen Ihm gewinnen möge! Denn daß Er uns ge 
winne, Das iſt's vor Allem, wonach fein Dürften gebt. Die Ueber: 
treter entjündigt, die Fluchbeladenen entbürdet, die Gebundenen erle- 
Digt und die Gefangenen frei zu fehn, das ift der Hauptgegenftand 
feines Schmachtens und Begehrens. Damit aber diefes große Ziel 
der Menfchenerlöfung erreicht werde, dürftet Ihn fort und fort nach 
unfrer Liebe, nach unfrer Hingebung an Ihn, nach unferm Kindes- 
vertrauen auf feinen Sefusnamen. Wir wiffen fomit, wie und mit 
welchem Tranke wir den Herm der Herrlichkeit noch heute erquicken 
fünnen. Das erfte Labfal, dem Er unfrerfeits verlangend entgegen: 
fieht, find unfre Buß- und Neuethränen. DO, tragen wir fie Ihm zu! 
Dder foll e8 nimmer dahin fommen, daß wir einander weinend in 
die Arme fallen, ſprechend: „Kommt, wir wollen wieder zum Herrn! 
Er hat uns zerriffen, Er wird uns auch heilen; Er hat uns gefchlagen, 
Er wird und auch verbinden?“ Soll es nimmer, weder dem Blute 
gelingen, das vom Kreuze ftrömt, das harte Erdreich unferer Herzen 
zu erweichen, noch der Xiebe, die fih in den Zod für und gege⸗ 
ben, unfre falten Seelen zur Gegenliebe zu entflammen? — O, der 
Fülle durchfchlagender Weckſtimmen und mächtiger Anziehungskräfte, 
die vom Kreuze ber auf uns eindringen! Werden wir und denn. 
derfelben ewig erwehren wollen, als trachteten wir dem Ruhme nad), 
unfre Herzenshärtigkeit als eine fchlechthin unüberwindliche dargethan 
zu haben? Verhüte e8 Gott, und begnade Er uns mit Zöllnerbeugung 
und mit Schächersfehnfucht! Es find Augen unter uns, die bald im 
Tode brechen werden, und von Denen doch niemals noch die Magda: 
Ienenthräne thaute, Ihr Augen der grauen Häupter unter und, zer 
fließet, che die Verzweiflung euch auf immer erftarren macht! Augen 
bliden hier mich an, die von Kindheit auf gefehen haben, was viele 
Könige und Propheten zu fehn begehrten, und haben e8 nicht geſehn; 
und doch haben fie das Eine, was Noth ift, auch von ferne noch 
nicht erkannt. O ihr fo reich gefegneten Augen, weinet endlich eins 
mal über eure Blindheit und euern fehnöden, ſchauerlichen Undank! 
Augen ſchaun zu mir herauf, die nicht erft der Fackeln bedürfen, um 


646 Das Alerheilice 


ihre Miſſethaten zu entdecken, und nichtsdeitoweniger verfiagten Brunnen 
gleihen, Die fein Waſſer geben. Ibr Augen der Ebebreiber, der 
Mammonstnechte, der Kinder des Lũgenwaters unter und, c, che 
das Weinen zu ſpät euch ankommt, meiner Tbränen wie Diejenigen, 
die ein Petrus weinte, und mü denen ein David des Rachts jein 
Bette jchmenmue! Solche Thrinen find das Zranfopfer, nach melden 
den Herm der Herrlichkeit noch beute düritet. Gebe uns Gert, daß 
wir damit zuerit ımd vor allem Andern jeinem Throne nahen mö- 
gen. Sobald dies geſchieht, wechieln die Verrichtungen, kehren die 
Verhaͤlmiſſe ib um. Er wird der Zrinfende, der Erquiden: 
de; und die Zrinfenden md Genießenden werden wir. Und 
jelig, wer die Wahrbeit jeines Worts an jih erfährt: „Wer des 
Waſſers trinken wird, Das Ich ibm gebe, den wird ewiglich nicht dür⸗ 
fin; ſondern das Waſſer, das ch ihm geben werde, wird in ihm 
ein Brunnen des Waſſers werden, dus in dus ewige Leben quillet.“ 
Ber möchte nicht im Blick auf ſolche Tränkung mit dem jamaritamifchen 
Beibe ſprechen: „Herr, gib mir dafjelbige Waſſer, auf dab mich 
nicht mehr dürften möge!“ 

„Mich dürſtet!“ Verklinge denn auch die ſes Krenzeswort wicht 
mehr vor unſerm innern Ohre; und überbören wir auch da daſſelbe 
nicht, wo es aus dem Muunde derjenigen uns antönt, im Did auf 
welche der Herr einit zu denen zu feiner Rechten jagen wird: „Ich 
bin durftig geweien, und ibr babt Mich getränkt!“ O, der Gnade, 
daß uns armen Zindern Wege gebabnet find, in denen wir Den 
wieder erquiden können, der aller Zreuden und Erquidungen Spender 
und unerſchöpflicher Urquell it! Machen wir Gebraub von dieſer 
hohen und jeligen Bergünftigung, und gönnen wir in unſerm Herzen 
Raum und Wiederhall dem Sängerworte: 

„Gib mit Allem, was du bait, 

Dich dem Friedensfürkten: 

Selbſt entbürdet jeder Laſt, 

Stillſt du jo Sein Dürfen 

Was au Labjal du Ihm bier 

Eilteft zu bereiten, 

Gr vergilt's mit Strömen dir 
Em’ger Seligteiten!- — Amen. — 


—n 


Es iſt vollbracht 647 


LIV. 
Es iſt vollbracht! 


Drei große Ruhe- und Abſchlußpunkte begegnen uns in der gött⸗ 
lichen Reichsgeſchichte: der erſte im Beginn, der andre in der Mitte, 
der dritte am Ziel derſelben. Der erſte tritt mit der Vollendung 
des Schöpfungswertes ein. „Gott fah an, Alles, was er ge⸗ 
macht hatte, und fiehe Da, es war fehr gut." Und „Gott ruhete 
von feinen Werfen.” „Die Morgenfterne frohlodten mit einander, 
und e8 jauchzten alle Kinder Gottes.” Das Weben und Walten Got: 
tes in der Zeit nahm feinen Anfang, und die Erde war zum ewigen 
Schauplatz Seiner Macht- und Liebesbethätigungen auserfehen. 

Die Sünde trat in die Schöpfung ein; in ihrem Gefolge der 
Fluch, der Zod und taufendfältiges Verderben. Eine unendliche Ber: 
wüftung bedrohte das herrliche Gotteswerk. Da wurde der Schöpfer 
aus Bewegung feiner unergründlichen Barmherzigkeit zum Erlöfer., 
Aus den Tiefen der Ewigkeit tauchte ein Heilsplan auf, der die Boll- 
kommenheiten Gottes umfaffender noch und heller wiederftrahlte, und 
die Engel am Throne in noch höherem Ehore jauchzen machte, als e8 
einft die fech8 Tagewerke des Anfangs thaten. Unmittelbar nach dem 
Fall im Paradieſe wurde die Verwirklichung des erhabenen Rathes eins 
geleitet; aber erft nach Verlauf von vier Jahrtaufenden wurd fie zum 
Ziel geführt. Ein großes: „Es ift vollbracht!” vom Berge Golga- 
tha ber die Welt begrüßend, fündete die eingetretene Vollendung an. 
Gott ruhete abermals von feinem Werke, und durch die Himmel 
raufihte das neue Lied: „Das Lamm, das erwürget ift, ift würdig, 
zu nehmen Anbetung, Preis md Ehre!“ 

Eine neue Nera hub von dieſem Momente an. Es iſt die der 
fortichreitenden Entfaltung der Segenswirfungen des vollbradhten Ver: 
föhnungswerfs. Dieje dritte Periode, von deren Lichte wir befchienen 
find, findet ihren Abfchluß in der Erneurung und Verklärung der 
erlöften Welt zu ihrer urfprünglichen paradiefifchen Herrlichkeit. Auf 
dDiefes große Ziel deutet der Geift der Weiffagung Offenb. 21, 5. 6. 
„Und der auf dem Stuhle füß, ſprach: Siehe, Ih made Alles 
neu. Und er ſprach: Es ift gefchehn! Ich bin das Aund das O, 


648 Das Ulerpeiligke. 


der Anfang und das Ende. Ich will dem Durſtigen geben von dem 
Brunnen des lebendigen Waſſers umſonſt!“ Sobald Diefes Dritte 
„Ruben Gottes von jeinen Werfen” wird eingetreten jein, ruber ulle 
Welt, und die Scheidewände zwiichen Hinnuel und Erde find für 
immer gefallen. 

Der Guell: und Ausgangspunkt aller noch zukünftigen Herrlichkeit 
ift aber und bleibt das in der Mitte der Zeit vollbrachte geheinmiß⸗ 
volle Wert; und zu dieſem führt uns unfre beufige Betrachtung. 


Ish. 19, 30* 
Da nun Iefus den Eſſig genommen hatte, ſprach er: Es iſt vollbracht! 


Da habt ihr’s, das größte und inhaltichwerfte Wort, das feit An⸗ 
beginn der Welt auf Erden vernommen ward. Siegesſchrei it’s; wer 
hört es ihm nicht an? Es ift ein Ruf des Triumphs, der dem Reiche 
der Zinfterniß feinen vollendeten Sturz, dem Himmelreich jeine ewige 
Begründung anſagt. D Wunder! in dem Momente, da für den 
Helden aus Juda Alles verloren fcheint, verfündet uns fein: „Es 
ift vollbracht!” es fei alles gewonnen und zum Ziele geführt. 
ALS Klang einer himmliſchen Hallpofaune tönt es daher, Das fechste 
Kreuzeswort, und fignalifirt der fluchbeladenen Menſchheit den An- 
bruch eines Frei- und Sabbathjabres, Das wohl immer umfaffender 
feinen Glanz entfalten, aber niemals mehr ein Ende nebmen wird. Xu, 
horcht euch nur um, und euch wird geicheben, als börtet ihr unter dem 
„Es ift vollbracht!” Ketten zerfpringen und Kerfermauern zufammen: 
brechen. Himmelhohe Schranfen jtürzen vor dieſem Laut, und Pforten, 
ſeit Jahrtanſenden verfchloffen, bewegen ſich wieder in ihren Angeln. 
Was aber war in den Momente vollbracht, Da jener große Ruf er: 
ſcholl? Der Evangeliſt leitet feinen Bericht mit den Worten ein: 
„Da nun Seins mußte, Daß Alles vollbracht war.” Denkt: „Alles!“ 
Was wollen wir mebr? Aber worin beftand’8? Es drängt uns, Die 
Schleier zu beben, und im Einzelnen anzufchauen, was damals zu 
Stund und Weſen kam. Auf ein Dreifaches führt fih's zurück. 
Vollbracht war Die Arbeit des Bürgen, die Erlöfung der 
Sünder, und die Wiedereroberung der Welt. 

Werden wir uns deſſen näher bewußt, und fenfe der ganze Friede 
fih in unfer Herz, den das „Es ift vollbracht!“ der Welt verkündet! 


€ iſt vollbracht! 649 


1. 

„Es ift vollbracht!“ Mit lauter Stimme ruft er’s daher. 
Sa, iſt's doch, als hätte er jenen legten Labetrunk nur begehrt, um 
diefen Siegesfchrei fo recht mit voller Kraft, und herolds-, ja po- 
jaunenartig ertönen zu laffen. Iſt's euch, als vernähmt ihr zumächft 
darin etwas, wie Yeierabendglodenklang, der dem göttlichen Dulder 
felber gelte, fo verhört ihr euch nicht. Der Herr fteht an dem 
Ziele feines Werks. Er hat die unerhörte Aufgabe, der er in jenem 
vorweltlichen Friedensrathe mit Seinem „Deinen Willen, mein 
Gott, thue ih gern“ ſich unterzog, gelöft. Der Tod, dem er 
fid) zu weihen im Begriffe fteht, bildete die Spike, aber auch den 
Schlußſtein feiner Verföhnerarbeit, Nehmt nur das göttliche Pro⸗ 
gramm feines mittlerifchen Erdenlebens zur Hand, wie e8, in Bor: 
bild und Weiffagung verfaßt, im Archive des alten Teſtaments ver- 
borgen liegt, und überzeugt euch, wie daffelbe jet Punkt für Punkt 
feine Erledigung gefunden bat. Bis zu den Eleinften und unfchein- 
barſten Zügen hinzu ift das geheimnigvolle Meffiasbild, wie es in 

wachſender Helle und Bollftändigkeit in den Schriften Mofls und 
der Propheten an und vorüberwandelt, in der Perfon Jefu nunmehr 
zu feiner Verwirklichung gediehen. Fragt ihr nach Micha's bethlehemit- 
tifchem Wunderfnaben, deffen „Ausgang von Anfang und Gwigfeit 
her geweſen ſei;“ oder nah dem Menſch geborenen Sohne mit der 
„Herrichaft auf feiner Schulter,“ den uns Jeſaias vorführt; oder 
nach dem Könige Sacharja's, dem fanftmüthigen und gerechten, der 
auf dem Füllen einer Efelin feinen Einzug hält: in Jeſu Chrifto 
trat er leibhaftig euch entgegen. Sucht ihr den „Weibesfamen, “ 
der mit verwundeter Ferſe der Schlange den Kopf zertreten, oder den 
„Knecht Jehova's,“ der alle Gerechtigkeit für uns erfüllen, oder den 
„andern Aaron,“ der in Wahrheit eine Verſöhnung zwifchen Gott und 
der Sünderwelt vermitteln follte: blickt zum Kreuz empor, und hier 
ſchaut ihr Ddiefes Alles vereint in Einem. Seht ihr euch um nad 
dem Gegenbild der ehernen Schlange in der Wüfte, oder nach dem 
des Paſſalammes und feines rettenden Blutes in Egypten, oder nad) 
dem des erhabenen Dulders, der in den Schauergemälden des 22ften 
und 69ften Pfalmes auftritt, und daſelbſt ftellvertretend bis zu dem 
Klagerufe: „Mein Gott, warum haft du mich verlaffen?“ in das 
Schredensloos eines Miffethäters eingeht: Dort hängt's in feinem 
Blute vor euern Augen, und ruft: „Es ift voll bracht!“ Werft 


bei dieſem Rure einen Blick in die Bücher der alten Propbeten zurıd, 
und was ftellt ib euch dur? Gin unabiebbures Feld, über und über 
mit entleeren Schalen, Hüllen und Gebiuien bedeckt. Die alten 
Toren baben ibren Inbalt verleren. Der götliche Falier, den e 
Burgen, durchotach ñe, um in das Reich der Wirklichk eit eimzuireten. 
Ihr Inbalt zog in Jetu Fleiſch md Blut an; md io beſchräult ad 
ibre ganze Bedeumng für uns binfert nur auf das Eine und, dej 
fie Zeugniß geben, der gottlich verbeißene Meinias wi im Der Thu 
gefemmen, und cin anderer nicht mehr zu erwarten. Alles, wetuh 
das große Werf der Menienerlöiung bedingt mur, bunte in dem 
Memente, Di fein: „Es if vollbracht!“ daber Hama, ſeine Gr 
ledigung gefunden bis auf Eins, Das aber bei jenem Rufe in de 
Idee ſchon vorausgenommen und mi eingerechnet wurde, weil cd u= 
ausbleiblich bereritand, ja unmintelbur durauf, das Gum zum Ab 
ſchluß bringend, wirklich erfolgte. 

Dietes Eine wur das Ungebeuerite von Allem. Tasjenige mu 
es, mad am llmreidenngien Zengniß gibt, daß Jeins wide für die 
ciane Perien, iendern itellvertretend für uns am Aireme biz. Es 
wur tein Tod. Tie Geſetze der Ranır durchfreusse es, u cu gri⸗ 
ner, durch und durch geiunder, und im Beden der Grigkeu wur: 
zelnder Baum, unter den Streichen des „legten Armes“ dabiniaul 
und rich verbluten mußte. Es widerũurin der Reichserdumg Geues, 
daß cm Mann, der mit Adam nidi die verbetene Frucht geleüe 
batte. dennod dem Urtbeil wre: Secdes Tages Mu von dieſen 
Baume inet, wirt di des Tedes tern!‘ Es lief ſcnurũrtade ten 
anzandehıren (Krusdrafieı des Seiisisuze cErgtaca, Tu cinca 
Gerechtenr cin Tridut abgeferdert zurde. Der dert ausdrücklich aa 
„Seid der Sünde‘ dezeihnet mut. Es Siderirtag der marınf: 
tihen Werseigung des Werbäbrten: „Idie Qua, 10 zur Duicben,‘ 
daß Giner. der ur uhr en Zırtican des acid Gebets une: 
mar bester Ü$ urüftieh, nidit lebte, ſendera Tard. Ju wicder⸗ 
deuen Raten dertete Er td az, das das auserieme Schg der 
Sterdlidteu Secine Rerſen. Koch a md fr nk betracer, 
fine Kinn ur Wr das Niiuziele Ind Er es aus, NR 
Wim, auch zit der Vater u Himd, dus Yon vom ihm 
uchere, „ii are es derrn von Va fünt.“ Admuk! Ns Ted 
zure fer Zhrea ei Wmitige u Ya Grant’oie erihunet 
te Iriaumgen ſetae Zuujee Durbbanien, uud ale Zugumgen des 


— 


Es ift vollbracht! 651 


goͤttlichen Regiments entkräftet und aufgehoben haben, wäre es uns 
nicht geſtattet, mit den Begriff deſſelben über die Grenzen eines ge- 
wöhnlichen Sterbens, wie wir Alle e8 erfahren, hinauszugehen. Diefe 
Erwägungen ſchon nöthigen uns vor allem Aufichluß, mit dem die 
Schrift uns entgegentritt, das Sterben Jefu als ein Sterben außer- 
ordentlicher, ja einziger Gattung aufzufaffen. Und freilich iſt's ein 
Faktum, das in der Gefchichte alleine dafteht, und dem fein andres 
zu vergleichen if. Er, der nach göttlichem Rechte für feine Perfon 
mit dem Zode nichts zu fehaffen hatte, nahm denfelben dennoch als 
den legten bittern Tropfen des Fluchkelchs in freiefter Hingebung an 
unjrer Stelle hin. Schenft diefer Sache Glauben oder laffet e8; 
die Schrift bezeugt fie mit vielen und ftarfen Worten ganz ausdrüd- 
ih. Sie fagt unter Anderm, „aus Gottes Gnade,” (alſo nicht in 
Folge einer Naturnothwendigfeit,) „babe Chriſtus den Tod geſchmeckt;“ 
fie fagt: „was Er geftorben fei, das fei Er der Sünde geſtorben.“ 
Und wenn fie fpridt: „Iſt Einer ftatt Aller geftorben, fo find fie 
Alle geftorben,” fo bezeichnet fie damit das Stellvertretende feines 
Zodes fo unzweideutig, Daß ich nicht wüßte, wie es unzweideutiger 
bezeugt werden könnte. Zahlte Er aber fterbend für und der Sünde 
Sold, fo konnte fein Zod natürlich nicht fein eine Himmelfahrt Elia, 
noch ein heiteres Segelftreichen, wie das des alten Simeon, noch der 
jubelnde Triumphzug eines Stephanus, noch der Friedensheimgung eines 
Sohannes, nody ein Entichlafen, wie ed gegenwärtig Zaufenden von 
Gläubigen gewährt wird: unter offnem Himmel, und mit Jubeln der 
Erlöfung auf der Lippe. Nein, dann erforderte e8 eine ewige Ordnung, 
dag Er, foweit ed möglich war, den Streichen des noch nicht ent- 
waffneten Schredensföniges erlag, und den Fluchtod ſchmeckte, der 
wicht am Herzen Gottes, fondern in der Gottverlafjenheit, und, wie 
unter den Schrebildern der Sünde und des Gerichts, fo unter den 
Feuerpfeilen der finftern Mächte geitorben wird. Und unter folchen 
Scauern neigt Er ja auch fein Haupt. Beachtet das andauernde 
Schweigen über Ihm in der Höhe, die bedenkflihe Zurüdhaltung al 
ler bimmlifchen Mächte, die dreiftündige Finſterniß um ihn ber, die 
Berhöhnungen und Läfterungen, die Ihn umgellen! Zürwahr! in Die: 
fem Allem gewahrt ihr fein erquidlih Bild des Zuftandes, in wel- 
hem Er in das dunkle Zodesthal hinabiteigt. Nein, Er ftirbt nicht 
auf dem fanften Pfühle einer vorausgenommenen Geligfeit, wie jeßt 
auf Seine Koften unzühlige der ärmſten Sünder fterben. Nichts⸗ 


652 Das Merheiſigte 


deñoweniger ſtirbt Er in der Krone des Zrinmpbs. Gerade in 
dem Momente, da das Henn ibm brad, trat tem „Es ik voll: 
bracht!“ erit in Die gume Fülle ieiner Pedentung em Rem mu 
Er mir ieiner Erlöierarbeit beim Ziele der ſchließlichen Bellendun 
angelangt. In den Himmel Hang binein, das „Es it voll⸗ 
bracht!“ und weite das nie mebr verilimmende „Hallelnja dem 
Lamme.” Die Hölle durchſcholls wie Donner Gettes, und rerfündet: 
ihr Das Ende ihrer Herribaft. Auf Erden aber idhlägt bis ur Stunde 
ein jeligerer Laut nicht an dus Chr der Sünder, als Meies „Es ik 
vollkradt!” As der Poiumenitch des großen Halljabrs tiufs 
daber, und it Me Preoflamation ımirer ewigen Errettung. 
9. 

Ja, Brüder, uns it gebolien. Ken Grund zur Sorge mehr, 
außer für den, der fen Sünder jen mag, und, in Deu Phari⸗ 
jüermubn, ſich felbit genug zu fein, verrunnt, dem Schmerzensmam 
am Kreuze den Rüden kehrt. Zind wir aber andem Simes, md 
haben, der Wabrbeit die Ehre gebend, uns ielbit gerichtet vor dem 
Herm, dann kommt! Iept feine Umwege mebr! Kein vergebliches 
Bemüben, uns jelbit zu beifen! Kein fruchtleies Zufluchtuchmen zu 
den mafjerleeren Brunnen diefer Welt, mas immer fie für ſtelze 
Namen tragen! Auf Golgatba tönt uns die Friedensglocke. O⸗ 
werden wir uns in itiller feliger eier bewußt, was dert and md 
geworden it! Bir ſprechen: „Tief find wir verichuldet!* — „Nict 
mebr!* — ruft eine Stimme. Wer ruft ſo? — ®ir bekennen: „De 
Todes find wir ſchuldig!“ — „Nicht nıchr!* beigrs. — Von mama 
tönt uns Dieier Ruf? — Wir räumen ein: „Der Fluch it unter 
Theil!“ — „Nicht mebr!* — O, dieſer Laut, aus meilen Munde 
gebt er? — Brüder, lauſcht nur genau; alle dieſe Klänge klingen mit 
dem „Es iſt vollbracht!“ daber, deſſen Wiederball nie mehr ver: 
ſtummen wird. Was vollbrachte Er aber dert, der göttliche Friedens⸗ 
fürſt, als dag Er unire Schuld bezablte, ven Dem Fluche fich zer: 
ichmettern ließ, der uns gebührte, und unierm Tode ſich als Beute 
preisgab? Hat Er aber unjre Rechnung vor Gort berichtigt, mic 
könnte Der Allgerechte in der Höbe eine bezahlte Schuld zum zeiten 
Male fordern? Kennt ihr nicht des Ancitels Verfiberung, daß „nichts 
Berdummliches mebr jei an denen, die in Chriſto Iein find?’ Geben 
wir uns Ihm nur mit ganzem Herzen bin, und weder Die Menge, 
noch die Schwere unſrer Sünden darf uns mehr erichreden. Zein 


—N 





@s if vollbracht! 653 


gebrochenes Auge, fein erblaßtes Haupt, feine Durchgrabenen Hände 
und Füße legen’8 uns fogar als eine Verpflichtung auf, daß wir 
zu Seine Namens Berherrlihung nicht allein dem Verkläger aus der 
Hölle und dem Richter in der eigenen Bruft, fondern felbit Mofi, 
dem Sachwalter der ewigen Gerechtigkeit, mit der apoftolifchen Lofung 
enigegentreten: „Wer will verdammen? Hie ift Chriſtus, 
der geftorben iſt!“ Welche unſchätzbare Frucht alſo, die und das 
Kreuzesholz getragen hat! — Doch wir geben uns auf’8 nene ernftem 
Befinnen hin. „Ward die Strafe uns auch erlaffen”, folgern wir, 
„ſo bleiben wir nad) wie vor doch fündig vor dem heiligen Gott!” 
— „Ihr waret es!“ — ruft eine Stimme Wer ſpricht fo füße 
Worte? — Wir fahren fort: „Wurden wir auch Gegenftände qroß- 
müthigen göttlichen Berzeihens, fo find wir doch des Kindesrechts 
bei Ihm verluſtig!“ — „Ihr waret e8!” — O hört! woher Diefe 
föftliche Botfchaft? — Wir wiederholen: „Um Ehrifti willen dürfen 
wir bei Gott auf Schonung rechnen; aber perfönlich unrein, wie 
wir noch immer find, fönnen wir doch nicht anders, als mißfällig 
fein in Gottes Augen?” — „Ihr waret es!“ — Wer verkündet 
dies? — D Brüder, feid ihr denn im Stande, ed zu überhören, daß 
auch dieſes tröftliche ‚Ihr waret es!“ duch das eine Wort: „Es 
ift vollbracht! euh antönt? Was Er fterbend vollbracdhte, war 
nicht blos das Werk der Genugthuung, durch welches er uns den 
Fluch vom Haupte nahm; fondern zugleich fein ftellvertretendes Ge⸗ 
horchen, welches hinfort als „die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt,” 
feinen Gläubigen zugerechnet wird, Mit dem „Hinweg von mir, Ver⸗ 
fluchter!“ iſt zugleich das: „Gewogen und zu leicht befunden!” von 
unfrer Band getilgt; und wir lefen jebt ftatt deſſen die große In⸗ 
ſchrift: „Ihr feid abgewafchen, ihr feid geheiliget, ihr feid gerecht 
geworden durch den Namen des Herm Jeſu!“ Und daß wir ſolches 
find, wird uns thatfächlich dadurch befiegelt, daß Gott fih nun in 
Liebe zu uns nieder neigt, feinen Geift uns einhaucht, an Gängel⸗ 
banden der Gnade und Leutfeligfeit und führt, und, fobald wir unfern 
‚Lauf vollendet, die Pforten feines himmlifchen Vaterhauſes vor ung 
aufthut. Diefe Thatfache aber, DaB Verdammliche vor Gott wie Hei⸗ 
lige gehalten werden, ohne daß dadurd der Heiligfeit, Gerechtigkeit 
und Wahrheit Gottes irgend ein Abbruch gefchieht, bezeichnet euch 
dasjenige, was der Dulder an feinem Kreuz zu Stand und Wefen 
brachte. Schon der 22. Pfalm bezeugt's, daß dies die Frucht feines 


654 Das Allerheiligſte. 


Todes fein witrde, indem er in feinem Schlußverfe fagt: „Sie werden 
fommen und feine Gerechtigkeit predigen dem Bolf, das geboren wird, 
daß Er es gethan (oder wohlgemacht) hat.” Wie berechtigt und 
tiefgegründet erfeheint fomit der Siegesruf: „Es ift vollbradt!“ 
mit dem der Herr nach gethaner Arbeit fein Haupt zur Ruhe neigt. 

Nach diefen Erörterungen werdet ihr nım auch das räthfelhafte Wort 
Hebräer 10, 14 euch zu deuten wiffen: „Mit einem Opfer hat 
Er für immer vollendet (oder zum Ziel geführt) Alle, Die da 
geheiliget werden.” Ja, durd die eine That feiner Hinopfrung 
legte Er für Alle, die an Ihn glauben, dergeftalt den Grund ihrer 
Rechtfertigung, Heiligung und Erlöfung, Daß fie fi der erfteren 
unbedenklich fchon jeßt als einer vollendeten Thatfache erfreuen dürfen; 
daß fie die andre zwar erft als Keim, aber al8 einen ſolchen in 
fih tragen, der mit innerer Nothwendigfeit einer vollftändigen zu 
fünftigen Entfaltung ſich entgegendrängt; und daß ihnen Die Dritte 
ebenfo gewiß und ficher in Ausficht fteht, als Chriftus, ihr Vertreter, 
das herrliche Erbe des Himmeld in ihrem Namen bereits in Befig 
genommen bat. Der Fähigkeit, der Anlage und den innerften 
Grundzügen nad ift fomit in jedem Gläubigen wirflich der ideale 
Menſch, der Menſch der zukünftigen verflärten Welt, bereits gefchaf 
fen und Gott dargeftellt. Ja, ein Schöpferaft, ein geiftlicher nur, 
vollzog fih am Kreuze. Wenn das Neue, das Dort gefchaffen wurde, 
einft zu feiner vollendeten Entwicklung gediehen fein, und aller feiner 
irdischen Hüllen und Schleier fi) wird entfleidet haben, Dann wird 
erft die volle Wahrheit des Zriumphrufs: „Es iſt vollbracht!“ 
uns aufgehn, und die ganze Größe feiner Bedeutung fich uns entfies 
geln. 

3. 

Denn ihr müßt wiſſen: nicht auf den einzelnen Sundern blog, de: 
nen Er zur Rückkehr in ihren paradiefifchen Urſtand die blutbenetzte 
Brüde baute, fondern auf der Welt als Ganzem ruhte Das Auge 
des Gefrenzigten, ald Er das erhabene „Es ift vollbracht!” de 
herrief. Hatte Er in dieſem Momente allen Suchen und Sehnen 
der Welt die überfchwänglichfte Befriedigung befchafft, und ihrem 
höchſten Ahnen und Begehren, wie e8 feit Zahrtaufenden in geheims 
nißvollen Bräuchen und Gottesdienften, oder in Sagen, Liedern und 
Bildungen einer weltverflärenden Kunſt fi) ausgefprochen hatte, zur 
herrlichften Verwirklichung geholfen; fo nannte Er jeht Die ganze Erde 


Es iſt vollbracht! 655 


mit vollem Rechte fein. Er hatte den Bann, der auf ihr lag, gelöft, 
der Fluch verhängenden Gerechtigkeit fie abgerungen, ımd die vermiü- 
ftete, Die der Sünde halber durch göttlichen Richterfpruch den finftern 
Mächten verfallen war, den letztern entriffen, und ſich felber fie er- 
obert, um fie zum Schauplaß feines Königreidh8 zu weihen. Hinfort 
gibt's nichts Unbegründeteres mehr, als die Beforgniß, daß die Erde 
je wieder in bleibender Weife zu einem Krongut des „Fürften diefer 
Welt”, oder zu einem Wüſt und Xeer der Barbarei und Sünde wer: 
den könne. Chriſti Blut beanfprucht ihre Verwandlung zu einem Wohn: 
fig der Gerechtigkeit, ihre Wiederverjüngung zu einem Paradiefe, ihre 
erneuerte Verfchmelzung mit dem Himmel; und der ewige Water, der 
feierlich feinem Sohne zugefchworen: „Heiſche von mir, fo will Ich 
Dir die Heiden zum Erbe geben und der Welt Ende zum Eigenthum,“ 
wird die Forderung des Blutes feines Eingeborenen nicht überhören. 
Was auh an Wirren und Schreden über unfre Erde noch ergehen 
mag: ihre Zukunft ift gefichert. Am Kreuz wurde. der Grund ihrer 
unausbleiblichen Verklärung und Verherrlichung gelegt, und dem heit. 
Geiſte ward der Auftrag, nicht zu ruhen, bis auf Koften Immanuels 
das große Werf jener Neufchöpfung vollendet fei. Das Modell, das 
er zu verwirklichen bat, ift längſt ihm eingehändigt. Gelüftet euch 
nad einem Einblid in das himmliſche Programm, das ihn zur Richt: 
fehnur feines Wirkens und Waltens dienen foll, fo kann euch diefer 
Wunſch gewähret werden. Der Prophet Jeſaias u. a. rollt e8 im 
Namen Gottes im 65. Kapitel feiner Weiffagungen vor euch auf, 
und es lautet dafelbft vom 17. Berfe an aljo: „Denn fiehe, ich 
will einen neuen Himmel und eine neue Erde ſchaffen, Daß man der 
vorigen nicht mehr gedenfen wird, noch zu Herzen nehmen. Sondern 
fie werden fich ewiglich freuen und fröhlich fein über dem, Das ich 
fchaffe. Denn fiehe, ich will Jeruſalem fchaffen zur Wonne, und ihr 
Volk zur Freude, Und ich will fröhlich fein über Jerufalem und 
mich freuen über mein Volf, und foll nicht mehr darinnen gehöret 
werden die Stimme des Weinens, noch die Etimme des Klagens. 
Es follen nicht mehr da fein Kinder, Die ihre Tage nicht erreichen, 
noch Alte, die ihre Jahre nicht erfüllen. Sie werden Häufer bauen 
und bewohnen; fle werden Weinberge pflanzen und derfelbigen Früchte 
effen. Sie follen nicht bauen, das ein Andrer bewohne, und nicht 
pflanzen, das ein Andrer effe. Denn die Tage meines Volks werden 
fein, wie die Tage eines Baumes (immer grün und bfühend; und 


656 Das Mlierheiligfe. 


das Werk ihrer Hände wird alt werden bei meinen Auserwäblten. 
Sie follen nicht umfonft arbeiten, noch ungeitige Geburt gebären, 
denn fie find der Same der Gejegneten des Herm, und ihre Rad 
fommen mit ihnen. Und ſoll gefchehen, ehe fie rufen, will ich ant- 
worten; wenn fie noch reden, will ich hoͤren. Wolf und Lamm jollen 
weiden zugleich; der Löwe wird Stroh effen wie ein Rind, und bie 
Schlange Staub. Sie werden nicht ſchaden noch verderben auf mei- 
nem ganzen heiligen Berge, fpricht der Herr!’ — 

Brüder, wenn dieſes herrliche Bild wird LXeben und Weſen gewor—⸗ 
den fein, dann werden wir erjt recht inne werden, in welchem groß⸗ 
artigen und umfaffenden Sinne der jterbende Mittler fein: „Es if 
vollbracht!” daherrief. Jene ganze Fülle der Erlöfung und Verklaͤ⸗ 
rung hatte er in dem Momente, da der große Ruf ericholl, erftritten; 
und die neue Welt war in allen Vorbedingungen ihrer Verwirklichung 
ſchon fertig. 





Heben wir fie denn, die Schäße des Troftes und der Hoffnung, die 
in dem „Es ift vollbracht!“ für uns verborgen liegen! Schaaren 
wir, an unjre Bruft fchlagend, uns enger um das Kreuz, umd fchöpfen 
aus dem Tode des Mittlers zugleich mit dem feligen Bewußtfein unſter 
Entfündigung: Luft, Muth und Kraft, fortan nur Ihm zu leben, der 
mit jo theuerm Löſegeld uns erfaufte. Begehren wir aber ſchon jebt 
zu Schauen, was Gr aus und armen Ndamskindern durch fein Opfer 
gemacht hat, fo werfen wir nur einen Blick in die triumphirende 
Gemeinde droben! Sehet, dieſe vollendeten Gerechten dort waren 
Leute einft, wie wir. Inter ihnen ift der Schächer, der Zöllner, 
Magdalene, Zahäus, und weldye armen Sünder und Sünderinnen 
ſonſt. Wer kennt fie wieder, die Verklärten, in ihren leuchtenden Ge: 
wändern und unverwelflichen Lebensfronen an Gottes Thron? Wollt 
ihr aber wiffen, wie fie zu diefer Herrlichkeit gelangten, jo lauſcht 
der Offenbarung. „Sie haben“, bezeugt diefelbe, „ihre Kleider 
gewaſchen und helle gemadht in Blute des Lammes.’ Seht, 
Freunde, Dies ift Das ganze Geheimnig. In jenen Seligen bat das 
„Es ift vollbracht!” gleichlam Geftalt gewonnen. Sie enthüllen 
uns erft Die ganze Größe dieſes Worte. Sie bilden deffen lebendige 
und veranjchaufichende Deutung. Ihnen nah! &8 geleitet uns fein 
andres Banner zur Gottesftadt, als das des Kreuzes. Schließen wir 
uns dem Wanderzuge an, der diefer Oriflamme folgt; und das voll 


Bater, in Deine Hände! 657: 


tönende Echo, das dem „Es ift vollbradt!” aus der Ziefe unfrer 
Herzen entgegenfchalle, Taute- heute, morgen, und fonderlich in unfrer 
legten Stunde: „Wer will verdammen? Hie ift Chriftus!” — 

„Es iſt vollbracht!“ — Ihr meine Sünden 

Berdammet nun mein Herz nicht mehr! 

Bom Himmel ber hör’ ich verfünden: 

Das Blut des Sohn's erlangt Gehör; 

Am Kreuz hat's Frieden und gemacht. — 

O füßed Wort: „Es ift vollbragt!« — Amen. — 


— — 
LV. 
Vater, in Deine Hände! 


An das Sterbebette des Sohnes Gotted ruft uns der feierliche 
Glockenklang des heutigen Tages. Gottlob! es ift das Sterbebett 
zugleich unfrer Sünde, unfres Fluchs und unfres Todes, „Es fei 
ferne von mir, mich zu rühmen,“ fpricht der Apoftel Sal. 6, 4, „denn 
allein des Kreuzes unfres Herm Jeſu Chriſti!“ Wir, die wir glau- 
ben, ftimmen in diefe Worte ein, und fprechen mit dem Dichter: 

Dein Kreuzeöholz, Herr Jeſu Chrift, 

Mein's Herzens Welt und Wohnplag iſt! 
Kein fhön’res Zeichen weiß ich mir, 

Als dieſes blutige Panier. 

Fragt man mich, wo mein Reichthum ſei, 
Zum Kreuze weil’ ich froh und frei. 

Mein Hort, mein’ Kron’, mein ganzer Stolz, 
Mein Alles hängt an Deinem Holz! 


Als der Erzvater Jakob feine Söhne, die zwölfe, um fein Sterbe- 
bette verfammelt hatte, hörten fie ihn mit freudigem Angefichte jauch- 
zen: „Herr, ich warte auf dein Heil!” Es war Das Heil, deſſen 
blutige Saat wir heute auf Golgatha ftreuen fehen. Der alte Pa⸗ 
triarch grüßte daffelbe erſt aus weiter Ferne, und doch machte es 
ihn ſchon zum Helden wider Satan, Tod und Hölle Als Jakob 
fterbend feine beiden Enkel, die Söhne Joſephs, fegnete, legte er 
ihnen die gefreuzten Hände auf das Haupt, und fprah: „Wer Je: 

42 





658 Dal Aerheitigfte. 


manden fegnen will in Ifrael, der fage: Gott feße Dich wie Ephraim 
und wie Manaffe!” So lebte ſchon die alte Kirche boffend und feb: 
nend unter dem Kreuze, und dies je länger, je mehr, und mit um 
fo larerem Bewußtfein, in je deutlicheren Zügen in Beiffagung und 
Vorbild das Kreuz ihr vor die Blide trat. Der ganze Tempel mit 
feinen Altären und biutbefprengten Gottesdienften nährte und beiebte 
nur Die Ueberzeugung, daß „ohne Blutvergießen feine Vergebung ge: 
ſchehe.“ Ja, das Kreuz ift der Pfeiler, auf dem das ganze Ehriften- 
thum und alle Chriftenhoffnung ruht. Es ift der Baum des Lebens 
inmitten des neuteftamentlichen Edengartens. Zwei Bermächtniffe der 
Liebe wurden uns unmittelbar von der Hand des Herm hinterlaffen: 
die Sacramente, Was zeichnete Er als Emblem in diefe beiden Dent: 
male hinein? Nichts Anderes, als das Bild feines Kreuzes. Da: 
durd) predigt Er's immer auf’s neue nahdrudsvoll und Jedermann 
verftändfich: vom Kreuze fließe aller Segen. O, ergieße diefer Segen 
fih denn auch in unfre Herzen, und ftröme er namentlich in reich: 
fter Fülle denen zu, die heute im Genuſſe des heil. Abendmahles fo 
recht umter das Kreuz zu treten gefonnen find! 


Matth. 27, 50. Marc. 15, 37. Kur. 23, 46. Ich. 19, 30b- 


Und Iefus fhrie abermal Taut und ſprach: Bater, ich befehle meinen Geift in 
Deine Hände! — Und ald er das gefagt, neigete er das Haupt, übergab den Geifl 
und verſchied. 

„Umhüuͤll', o finitre Nacht, die Todeshoͤhe, 

Daß Himmel nicht, noch Erd' und Hoͤll' ihn ſehe! 
Sie trügen nicht den Anblick ſonder Gleichen: 
Gott unter Leichen!“ 


Mit ſolcher Empfindung tritt ein gläubiger Sänger in dem Momente 
an das Kreuz heran, in welchem auch wir demſelben heute nahen. 
Das Unerhörte, Unglaubliche will geſchehen: Der Sohn der Ewigkeit, 
das Leben ſelber, ſtirbt! Auf dieſer Thatſache ruht die ganze Kirche 
als auf ihrem Grund⸗ und Angelſtein, und ohne fie gäbe es feine wirf: 
lich vollbradıte Berföhnung; und weil folhe nicht, darum auch feine 
zuverläffige Hoffiung für die Welt der Sünder, Die biblifche Theo— 
logie will „nichts wiffen, als Jeſum Chriftum, und zwar den Ge 
freuzigten.” Die Theologie des Himmels verräth ihren Kern und 
Stem in ihrem ewigen Liede: „Das Lamm, das erwürget it, if 
würdig!" Das Wahrzeichen des Chriſtenthums it das Kreuz, und 


Bater, in Deine Hände! 659 


roth Die Farbe des Banners Zions. Vom Blute, dus das Kreuz 
gefärbt, zeugen die faframentlichen Stiftungen, die der Herr, wie 
gejagt, auch als Ausdruck defien, worin feine ganze Sache wurzele, 
der Kirche hinterließ; und das größefte und bedeutungsvollfte aller 
Seite, das zeit, das unzählige Gedächtnißtage weltgefchichtlicher Er- 
eigniffe bereits überlebt hat, und alle überleben wird, ift der Char: 
freitag. 

Kommt, und fehen wir den Sohn des lebendigen Gottes fterben! 
Sein Sterberuf, der fieben Kreuzesworte letztes, wird uns als Fadel 
dienen, in deren Lichte wir fowohl das Wie, ald das Warum 
feines Sterbens erfennen werden. Treten wir den Weg unfrer Be: 
trachtung an unter dem Wiederhall des Versleins: 

Jeſu, mein Erbarmer! 
Ach, was war ich Armer, 
Und was thatft du mir! 
D, du blutige Riebe, 
Alfe meine Triebe 
Streden fih nad Dir. 
Liebe, ftärler ald der Tod, 
\ Liebe, ewig unermeflen, 
Du bleibſt unvergeſſen! 


1, 

Ufo nah Golgatha zurüd! Herz, jammle dich zu andachtspoller 
Stille! — Bir betreten ein Heiligthum. Gibt es überhaupt auf 
Erden Ergreifenderes und Feierlicheres nichts, als eine Sterbe- 
ftunde, in welcher Zeit und Ewigkeit einander begegnen, und in de- 
ren lautlofem Schweigen gleichfam die Glodenfchläge der andern Welt 
vernehmbar werden; wie muß erft in einem Sterbemomente uns ge- 
fchehn, wie der, zu dem wir heute kommen, und in welchem, ihr 
wißt, wer, fein Haupt neigt und verfcheidet! Die Augen emporge- 
rihtet! O, welch’ ein Sterbelager, das man dem Sohn der Liebe 
dort bereitet hat! Diefem Berfcheidenden trodnet Niemand den Schweiß 
von feiner Stine; Niemand erquidt ihn mit dem Worte des Xebens; 
Niemand fpricht den lebten Segen über ihn. Wer ging einfamer, 
verlaffener und von tieferer Nacht umfchattet aus der Welt, als er? 
Dennoch verjeht euch nicht an Ihm! Nicht eine Schlacht iſt's, in 
der Er und begegnet, ſondern ein Opferaft. Er erliegt nicht dem 
Tode, gleich wie wir, fondern Er weiht ſich ihm, nachdem er ihn zuvor 
mit der Macht über fein Leben felbft belehnt bat. 

42* 


660 Des Merheiligte 


Bas if der Tod? Seit Jabriauſenden, wie ibr wißt, ift das 
finiiere, von allem Fleiſch gefürchtete Weſen, das jener Rame bezeich 
net, in der Belt, ımd treibt in ihr ſein fchmerlices Zerftänungswert. 
Keine Periönlichkeit id er; aber ein Geihid, ein Berhängniß. Tie 
junge Schöpfung, wie fie aus der Hand Des Allmichtigen berrorging, 
durchichritt Dieles Uingetbim noch nit. Dort mur noch Alles Leben 
und Hurmenie, von emem Mißton, wie der Tod ut, mech nicht 
durchgellt. Tas Düitere Phantom ſab wert nur gemalt im Die 
Bet herein, und zwar ans Der göttlihen Drobung, Die am den 
Genuß der verbotenen Frucht geknũpft ward. In Folge des Sünden⸗ 
falls betrar’s den Schauplatz der Wirklichkeit, um fertın Alles, was 
Siem but, als Schredensfönig feinem graufigen Scepter zu unter: 
werfen. Unſre eriten Eltern jabens an ibrem Liebling Abel zueri 
feine Majeſtät und Macht entfalten. O, welch' ein Schreckensbild, 
Defien fie Zeugen werden mußten! Ta lag er am Staube, der blü⸗ 
bende Jüngling. Der Stern ſeines Auges wur erloſchen, der freund: 
fihe Mund verſtummt, und die Glieder lilienblaß, und eritarıt zu 
faltem Marmor. Wie laut fie ibn beim Namen riefen, er jchlug die 
Dlide nicht mebr auf. Wie thränenreich fie ibn beichwuren, daß a 
fie nur einmal noch ſeine Stimme bören laften wolle: er ichwieg, und 
die Zübrenftröme ihrer Zärtlichkeit, in denen fie ibn badeten, brachten 
feine ftodenden Pulſe nicht mebr in Bewegung. Und ebe fie ſichs 
verfaben, mas ereignete fih Da? Mit bleiemem Gewicht und tau- 
fend Schauern lagerte ih die Verweſung über den Erblichenen 
ber, und die armen Eltern mußten trog aller ihrer Liebe mit Grauien 
das Antlig von ibm wenden, und fi beeilen, ihren Augapfel als 
eine Speije der Würmer unter die Scholle zu verſcharren. Da mußten 
fie denn, wenn auch nur theilweiſe erit, was der Name Tod bedeute. 
Bon jenem Momente an fübrte nım der Ted jein Schredensregiment 
auf Erden fort, träufelte in jeden Freudenbecher feine Galle, umwob 
jedes Verhältniß der Liebe mit dem Trauerflor der gewiſſen Ausficht, 
daß auch ihm beute oder morgen die Stunde der Auflöfung und Jer—⸗ 
trennung ichlagen werde, und überbreitete die ganze Natur, auch du, 
mo fie am lieblichiten blübte, mit einem ichwarzen Leichentuche. Und 
wie er Jahrtaufende hindurch getban, jo thut er beute noch. Wer 
aber das Ungeheure erft gunz erfannte, binter feiner Außenjeite auch 
feiner verborgenen Schauer fih bewußt ward, und erfuhr, Daß die 
Zrennung Leibes und der Seele, die er vollzieht, jo wie die Verfen: 


Bater, in Deine Hände! 661 


fung des erftern in das Reich der Verweſung nur erft das mildefte 
feiner Gefchäfte fei, indem er als Gerichtöbote Gottes zugleich den 
Auftrag habe, die Sünder der Hölle zu überliefern: Der wird vol- 
lends mit Sirach ſprechen: „DO Tod! Wie bitter bift du!“ — Aber 
freilich wird er auch um fo lauter aufjauchzen, wenn er vernimmt, 
daß Einer da fei, der von fich bezeugen dürfe: „Sch habe Die 
Schlüffel der Hölle und des Todes!" „Und ein Solder 
eriftirte?" — Ja, Freunde; ihr ſchaut Ihm heute in's blutige An- 
gefiht! — 

Nur Sündern liegt die Zahlung des „Sündenfoldes“ ob. 
Der „Heilige Iſraels“ und der Tod hatten mit einander nichts 
gemein. Was erleben wir dDemohnerachtet heute auf der Schädelftätte? 
— Ja, was? — Etwa einen lleberfall, einen Sieg und Triumph 
des Todes? Das fei ferne! Nedensarten, wie Die: „Der Tod 
nahete Jeſu,“ oder: „Der Zod befchlih ihn," oder: „Jeſus fiel 
dem Tode anheim“, gehen den Irrgang, wenn fie bei Seinem Kreuz 
verfauten wollen. Schauet auf! Nachdem Er fo eben das große 
Siegeswort: „Es ift vollbracht!” dahergerufen, bewegt er auf’s 
neue feine Lippen, und will reden, Was wird erfolgen! Ein weh- 
müthiges: „So lebt nun wohl?" in Plagendes: „Ich muß nun 
von binnen?“ Ein fehmerzlich Tifpelndes: „Meine Sinne ſchwinden 
mir; ich erliege, und gehe den Weg alles Fleiſches?“ O, nicht doch! 
Hört Ihn! Mit großer, lauter Stimme, und der Gewalt und Bes 
tonung eines Mannes, der nicht aus Schwäche ftirbt, noch fterbend 
einer „traurigen Nothwendigkeit” den abgedrungenen Tribut zahlt, 
fondern der ein Herr ift über den Zod, aber in freier Selbftbeitim- 
mung fi) dem Tode weiht, ruft Er, — und das Getöfe brecyender 
Felſen, ftürzender Hügel und zerfpringender Grabeszwinger begleitet 
feinen Ruf — : „Vater, in Deine Hände befehle ih meinen 
Geiſt!“ und nach diefem Worte fenft Er, felbftthätig, wie ein Ar- 
beiter nad) vollbruchtem Werk, das bfutige Haupt zur Ruhe auf feine 
Bruſt herab, und „übergibt feinen Geiſt“, wie Johannes ſich aus- 
drüdt. — „Wie, fo wäre Er jeßt wirflih todt?" — Er iſt's; jedoch 
aus eigenem Entſchluß. Frei ward Er des Todes Beute. „Uber 
das muß ja Großes bedeuten, und Größeres noch zur Folge has 
ben?” — Wohl, Freunde, hat es das! — Bevor wir aber davon 
handeln, laßt uns noch einige Augenblide in das Scheidewort des 
erhabenen Dulders und vertiefen. 


662 Des Aberheiligie. 

„Bater”, beginnt Er. So bu Gr alſo mn femem Rewuntiein, 
wenn auch nur in dem des Glaubens er, den Bater wieder. Dus 
erite Bert, dus wir auf Erden überbaupt aus ſeinem Munde wer: 
nabmen, war der Vatername: umd dieier Name ift auch fein legtes 
Um ieinen bimmliſchen Vater bewegte ih all’ ſein Tichten und Deufen, 
Zrachten und Begehren. Des Baters Willen zu vollbringen war feine 
Speile und tein Tranf; die Liebe Des Buters eine WBonne un 
Seligkeit: und die Biedervereinigung mit Ibm die Epige all ſeines 
Hoffens und Verlangens. Mit dem Herolds- und -Ueberwinderraie: 
„Es iſt vollbracht!“ wandte er fich noch einmal au die Belt 
Es wur ſein Lebewohl an ſie, ein Lebewobl, wie es dem Pefieger 
des Todes, Dem FZüriten des Lebens, dem Könige und Gebieter über 
Alles, anſtand. Von du an zeg er fib gay m das Verbältmiß zu 
jeinem Gotte zurück, und febrte nur Ibm noch jein Antlig zu. — 
„Vater“! — Ja, Ruf wiedergemomener ſtarker Sohneszuverjficht 
war Diejer Laut; nicht aber ſchon Ruf eines völligen Jurrubegefem- 
menjeins an der Bruit Des Vaters. Immer baben wir aud noch das 
„Bater, in Teine Hinde” als den Kampfesichrei eines ih 
durchichlagenden Streiters aufzufafſen. Tie Hölle, die Ihn umtohte, 
gab ihre Sache noch nicht verloren, ſondern fubr in aller Weiſe fert, 
Ihn anzufechten und mit wüſten Schredensbildern Ibn zu ängſtigen: 
und die Zodesfataftrenbe ſelbſt foitete Ihm, der das Leben wır, 
feine geringe Ueberwindung. Wir haben uns Demnach den Sterbens: 
ruf Jeſu allerdings als Den eines ſchwer Bedrängten vorzuftellen, der 
jeine Seele in ein ſicheres Anl zu beraen ringt, und fie aus grauſi— 
gem Gedrange in Die Hunde Des Allmächtigen flüchtet. Freilich 
geichiebt Diele Zufluchmahme mit dein Arieden einer vollendeten Sie 
gesgewißheit. Auch nicht von ferne fonmt Ibm der Sedunfe, daß 
der Zod etwas mehr fein fönne, ala eine Verſetzung des perfönlichen 
Geiſtes in eine andre Lebensipbäre. Leber die arme Menichenfraue: 
„Sein oder nicht fein?” it Gr himmelhoch erbaben. GT weiß, daß Gr 
nur entichlummere, un alſobald am «Herzen Gottes wieder zu erwachen: 
und in dieſem Bewußtſein, in welchem Er die Arme des Vaters zu 
feinem Empfange ſchon liebend ausgebreitet fiebt, ruft Gr: „In 
Deine Hände, Vater, befceble ib meinen Geiſt!“ Great 
nimmt dieſe Worte bekanntlich dem 31. Pialm; nur daß Er denielben 
dur das vorausgeiandte „Vater“ die Seiner Stellung und 
Würde angemeſſene Zorn gibt, und die im Pſalme unmittelbar fol- 


—n 


Bater, in Deine Hände! 663 


genden Worte: „Denn du, Herr, haft mich erlöfet”, als Ihm, der 
ja eben felbft ald der Erlöſer der Welt am Kreuze hing, wicht 
geziemend, wegläßt. Wie bedeutfam aber ift es wieder, daß Er 
mit einem Schriftſpruche die Welt verließ! Ganz war Er mit 
Gottes Wort getränkt, und gibt uns ſterbend noch einen Wink, mit 
was aud wir unfern inwendigen Menfchen zu nähren haben, 

Sein legter Ruf ift erfchollen. Da neigt Er nach wohlvollbrachtem 
Werk fein Haupt, und — das Unerhörtefte ift gefhehn! Der Sohn 
des lebendigen Gottes erblaßte im Tode! Wir ftehn bewegt, erftaunt, 
in Anbetung verfunfen; und was bleibt und übrig, als in den Her⸗ 
zenserguß feiner Gemeine einzuftimmen : 

„Tauſend Danf, du unfer treues Herze! 

Leib und Geift bet’t drüber an, 

Daß du unter Martern, Angft und Schmerze 

Haft genug für und gethan! 

Auf dein Kreuz laß mih nun glänbig fehen, 

Und dein Marterbild ftetd vor mir ſtehen; 

Sp geht mir bis in mein Grab 

Nichts an Seligleiten ab!“ 

Wo war der Herr nad feinem Verſcheiden? Wo anders, als 
wohin fein Dürften und Schnen gegangen war: in den Händen feines 
Vaters! Der Himmel feierte feinen Triumph; die Alkorde der En- 
gelharfen umraufchten Ihn; Die vollendeten Gerechten am Thron 
jauchzten ihre buldigenden Willlommsgrüße Ihm entgegen, und das 
neue Lied nahm feinen Anfang: „Du bift würdig zu nehmen das 
Buch, und aufzuthun feine fieben Siegel; denn du bift erwürget, und 
haft ung Gott erfauft mit deinem Blut aus allerlei Gejchlecht, und 
Zungen und Bolt und Heiden; und haft uns unferm Gott zu Kö- 
nigen und Prieſtern gemacht, und wir werden Könige fein auf Erden!” 
Nun aber iſt's unläugbar, daß geheimnißvolle Schriftiprüdhe darauf 
deuten, es habe der Friedensfürſt, auch nachdem Er die irdiiche Hülle 
abgelegt, feine Miffion noch feinesweges ſchließlich erfüllt gehabt. So 
fagt u. a. Petrus in feiner erſten Epiftel, „Chriftus fei im Geift 
(d.h. in feiner des Leibes entfleideten Berfönlichkeit) Hingegangen, 
und habe geprediget den Geiftern im Gefängniß, Die 
einftmals nit glaubten, da Gottes Langmuth harrte 
zu den Zeiten Noä, als die Arche zugerüftet ward.” Und 
vorzugsweife auf Diefe Stelle geitügt, bezeugt das apoftolifhe Glau⸗ 
bensbefenntniß eine unmittelbar nach dem Zode Chrifli eingetretene 


664 Das Allerheiligke. 


‚Niederfahrt zur Hölle” Die Deutung dieſes Ausfpruchs aber 
erfordert große Vorſicht. Dasjenige, worauf Petrus binzielt, ge: 
hört feinesweges mehr zur Erniedrigung des Herrn, gefchweige 
zu feinem Berföhnerwerfe. Die genugthuende Vermittlung des 
‚Bürgen war in dem Momente feines Sterbens ſchließlich voll: 
bracht. Zrat Chriſtus nun in die Behaufungen jener abgefchiedenen 
‚Geifter der Patriarchenwelt ein, fo gefchah dies, um denfelben, wie 
das Wort im Grundtert e8 auch ausdrücklich ausſpricht, feinen 
Sieg zu verfünden Ob es zugleich gefchehen ſei, ihnen auf's 
neue Buße zu predigen, und den Glauben vorzuhalten, und Die 
gläubig Gewordenen dann als lebendige Trophäen in den Himmel ein- 
zuführen? — Man ift veranlaßt, e8 zu denken, wenn man Das andre 
Wort des Apoftel (Cap. 4, 6) hinzunimmt: „Dazu ift auch Tod— 
ten das Evangelium verfündigt, Daß fie zwar gerichtet 
werden nah dem Menfhen am Zleifh, aber im Geifte 
Gott Leben.” Jedenfalls aber haben wir uns zu befcheiden, mit 
der Auslegung dieſer Stellen noch nicht beim Abfchluffe angelangt zu 
fein; und fo bleibt vorläufig über dem Verweilen Ehrifti in der Zwi⸗ 
fhenzeit von dem Momente feines Todes bis zu demjenigen feiner 
MWiedervereinigung mit dem Leibe, und über dem eigentlichen und 
vollen Sinn der Worte: „Niedergefahren (oder: abgeftiegem) zur 
Hölle,” noch ein Schleier des 2 eyeimutltes ruben. 


Schleierlos dagegen jteht F Warum des Sterbens Chriſti 
vor uns! Eine oberflächliche Betrachtung ſchon reicht hin, um dieſes 
Warum mindeſtens der Ahnung nahe zu bringen. Höchſt auffallend 
muß es zuerſt erſcheinen, daß ein Mann ſtirbt, der von ſich bezeugen 
durfte: „Ich bin die Auferſtehung und das Leben,“ der am Grabe 
eines Lazarus, an der Bahre eines Jünglingo von Nain, und bei dem 
Todtenbette des Töchterleins Jairi thatſächlich beurkundete, daß Er 
des Todes Meiſter ſei, und der nie eine Sünde beging, durch welche 
er in Gemäßheit der im Paradieſe verkündeten Drohung das Leben 
verwirkt hätte. Mehr noch überraſcht es, daß ein Individuum in Ihm 
des Todes Beute wird, welches, weil nach ſeiner eignen Bezeugung 
„Niemand das Leben von ihm nahm,“ nur zu wollen brauchte, um 
ſolcher Kataſtrophe zu entgehn; und daß dieſer Mann unter Umftin- 
den und Verhältniſſen verſcheidet, die eher einen von Gott und der 
Welt verworfenen Uebelthäter und Rebellen, als einen Gerechten, 


Bater, in Deine Hände! 665 


ja einen Wohlthäter der Welt, in Ihm vermuthen laffen follten, Daß 
Er aus freiem Entſchluſſe ftarb, ergibt fi) Jedem auf den er- 
ſten Blick von felbft. Aber zu welchem Ende ftirbt Er diefen frei 
gewählten Tod? Pielleicht, um uns ein Beifpiel heidenmüthigen Ab- 
ſcheidens von der Welt zu geben? — O, nicht do! Wie entiprä- 
he ſolchem Zwede doch fein Wort: „Ich muß mich noch mit einer 
Taufe taufen laffen; und wie ift mir fo bange, bis fie vollzogen 
werde“!? — Go denn etwa, um uns zu zeigen, daß Sterben eine 
leichte Sache fei? — Ein Stephanus hat uns Dies allerdings 
durd) feinen Heimgang gezeigt; aber au der Mann, den wir aus 
dem Zodesthal heraus lagen, ja wimmern hören: „Mein Gott, 
warum haft Du mich verlaſſen“? — Stirbt Er denn für das Wohl 
feiner Nation? — Man pflegt wohl auch mit diefen Worten die Be- 
deutung feines Sterbens zu bezeichnen; aber ohne felbft recht zu wifs 
fen, was man damit fagen will; denn Chriſtus ftirbt ja weder in einer 
Schlacht gegen Iſraels Feinde, noch bei einer Retterthat in brennender 
Stadt oder verheerender Waffersfluth. — So ftirbt Er wohl, um feine 
Lehre zu befiegeln? — Manche meinen’s. Aber welche feiner 
Lehren hätte er am Kreuz befiegelt? Etwa diejenige, daß Gott mit 
den Gerechten fei; oder die, daß „der Engel des Herrn um den fich 
lagere, der Ihn fürchte; oder die, Daß „die Gottfeligfeit die Ver- 
heißung auch ſchon Diefes Lebens” habe? Ich wüßte nicht, welchen 
neuen Halt diefe Wahrheiten in dem DBerlaufe feines Berfcheidens 
gefunden hätten. Eher jollte man meinen, darin Beläge für das 
Gegentheil finden zu können. Ueberdies hatte ja aud Niemand jene 
Wahrheiten angezweifelt, Daß fie einer erneuerten, thatfächlichen Be 
ftätigung bedurft hätten. Wenn Chriftus etwas mit feinem Zode 
befiegelte, fo war es das eidliche „Ja“, womit Er die Frage des 
Hohenpriefters: „Bit du der Sohn des lebendigen Gottes’ beant- 
wortet hatte. Ilm dieſes „Ja's“ willen fchlugen fie Ihn ans Kreuz. 
Daß Er aber, treu feinem innerften Bewußtjein, bei demjelben feft 
verharre, dies bezeugt er mit feinem blutigen Zode. 

Freilich macht gerade der Umftand, dag Gr ald ein Solcher ftirbt, 
das Myfterium feines Todes erſt vollfommen; aber die Siegel dieſes 
Geheimniſſes find gelöft und feine Tiefen aufgedeckt. Männer, von 
oben ber erleuchtet, ftehn bereit, jeden gewünfchten Auffchluß uns zu 
gewähren. Aus den Zagen des alten wie des neuen Bundes treten 
fie beim Kreuze zu uns heran, umd ihre Sprüche ergießen ſich wie 


666 Des Auerbeiligue 


Tempelleuchterllammen in das Dunkel der Schädelflätte. Giner der 
goͤttlichen Herolde eröfmet ten Eber mit der Deyeugmg Ghriänd 
babe „bezablen müjlen, mas er nicht geraubet habe!“ Gin Aundrer 
mit: „Um unirer Mitetbaten willen ward Gr venmmla' Die 
Strafe liegt auf Ibm, auf Daß wir Frieden hätten!“ Gin Driuer 
„Ziebe, das it Gortes Lamm, das der Belt Simde trägt!“ Güs 
Vierter: „Gott bat den, der von feiner Sunde wußte, für und zu 
Zünde gemacht; und wiederm: „Ghrütus erlöjete uns vem Fludk 
des Gelege, da Gr ward ein Fluch für uns: und wielerum: „Gbri: 
fus bat euch veriöhnet mit dem Leibe ſeines Fleiſches durch Den Ted“ 
und abermls: „Mu einem Trier bu Er in Emigfeit vellendet. 
die Da gebeiliger werden.” Und mir den Zeugninſen dieſer Botichafter 
Grites vereinigen jüch Diejenigen Des Herrn ſelbit. So ſein Beau: 
„ed Menſchen Sohn it gekommen, daß er ſein Lehen gebe zum Lie 
geld für Viele; und dus audre: „Es ici rum, daß tus Beizeufenn 
in die Erde falle und eriterbe, ion bleibt es allen; we es aber 
eritirbt, bringt es viele Zrucdıt;” und uamentlid Das Wort der Rad 
mablsitiftung von jeinem Leib und teinem Blute, gebtochen um ver: 
geiien zur Vergebung Der Zimten. „3a“, böre id entgegnen, „mi 
vernehmen dieſe Werte webl; aber fint nicht aud fie, die ums dat 
Geheimnis deuten tellen, wieder ſelbũ Hierogiopben, weile int Gut: 
sierung dürfen?” — Zie md, und allerdings bedarf zum zu 
ihrem Beritindnine einer vorberacgangenen Beibe, die aber nicht 
in Tenweln durch Zalbung und Sandaufdegen empfangen würd, iex 
dern im Kämmericin unter Schmerzen und unter Thränen. Ernüchtert 
aud euern Täuſchungen; tretet aus dem Jauberkreis der Lüge, in 
welchen ibt gebannet ſeid, an das Licht der Vabrbeit beraus: mt 
naddem ihr den Erigen erfannter in ſcinem Weien, di Heilig ut 
der Herr Zehuerb“! im ganzen Umfang ſeines Sinnes veriiehen Lern: 
tet, und einen Eindruck ron Der Majetär ſeines Geiches empfangen 
habt, ergründer Me Nanır der Sünde, ermeñet, ın welchem MWape 
dieſelde ein Gräuel tt vor Gou. mwägt dann cas icider auf der BVage. 
mi Der cut Kon einũ wügen wird, und werdet mit curer Goucn 
iremdung eu zuxierdt curer Wertebuuingd- und Erinnasbedüritiateit 
berußt: und binnen Kurzem werdet ihr die eden vermemmimca Werte 
mic Fackein ver eu enidiennen, WD die Baunae Xätbiciericheinuna 
am Kreuze durbiitng, mie den Tag, ver aure Geiüerblufe era 
ſchea. Idt aidum dann in dom Mann der Simmern den genug⸗ 


— 


Bater, in Deine Hände! 667 


thuenden Mittler zwifchen Gott und euch, und umfaßt frohlodend in 
feinem Sterben das Opfer, das alle eure Schulden aufwog, und 
euch in Ewigfeit vor Gott rechtfertigte, 

„Bater, in deine Hände befehle ih meinen Geift!“ 
O, was Alles Tegte Er in feines Vaters Hände, als er Diefe Worte 
dDaherrief! „Da Er vollendet war”, fpricht der Apoftel Hebr. 5, 9, 
„iſt Er geworden Allen, die Ihm gehorfam find, eine Urfache der 
ewigen Seligkeit.“ Er mußte alfo auch ſelbſt vollendet werden. 
Als Gerehter mußte Ers durch Erfüllung des ganzen Gefehes ; 
als Heiliger durch fiegreiche Ueberwindung jeglicher Verfuchung ; 
als Bürge durch Zahlung aller unfrer Schulden, und als Mittler 
und Berföhner durch erfchöpfende Leerung des uns zugemefjenen 
ganzen Fluchkelchs. Nach allen dieſen Seiten hin aber war Er in 
dem Momente vollendet, da Er verfchied; und fo legte Er in Die 
Hände des Vaters mit feiner geiftigen Perjönlichkeit das Fundament 
einer neuen Welt, ja, die erlöfete Sündergemeine felbit, als ein in 
feinem Blut gereinigtes und nit feiner Gerechtigkeit geſchmücktes, den 
Augen Gotted durchaus genehmes und wohlgefälliges Speifeopfer. 
Sind wir dem Sohn der Liebe nun „gehorfam”, fo wiffen wir, wo 
für alle erdenfbaren Fälle aud) uns die fichernde Freiftatt bereitet 
ift. In welch’ Gedränge wir immer gerathen mögen: um Das Ver: 
bleiben braudht ung feine Sorge mehr zu drüden. „Schrediich 
iſtss“, Iefen wir Hebräer 10, 31, „in Die Hände des lebendigen 
Gottes zu fallen!” Wir fagen: „Nicht fchredlih mehr; fondern 
fauter Seligkeit!“ Verfolgt uns die Welt, ficht uns der Satan an, 
fchrecft uns der Tod, vder was fonft und fchreden mag: wir rufen 
beberzt, auf das bahnbrechende VBerdienft Immanuels uns jhügend: 
„Bater in Deine Hände!” und find gewiß, Daß Diefes hohe 
und erhabene Aſyl allaugenblicklich offen ftebe, uns bergend zu em: 
pfangen. O, der unvergleichlichen Vorrechte, deren wir in Ehrifto 
gewürdigt worden! Machen wir Gebrauch von ihnen! DBededen 
wir die Züße defien, der fie uns erftritt, mit unfern Huldigungs- 
füffen! Führen wir unjern Wandel friedſam in dei regenbogenfar- 
benen Sonnenlichte der fteben Kreuzeöworte, und itimmen auch wir 
die Saiten unfrer Herzensharfen zu dem glaubenswarmen Sunge des 
innigften und tiefiten unfrer Kirchendichter: 


„Was ſchadet mir des Todes Gift? 
Dein Blut, das ift mein Leben: 


Uxt werz ei Kırı:c Usgeiie 
Bes Scuiten treibei zn zu ER, 
Zı ki Ihurı meta Infer! 


Barı ati ı6 Wi dveies cz 

JIx beine Reieb Ätenter, 

So tel dies Blin mein Spar fer, 
36 mil berein m:& Nein: 

66 jes iein meines Haxptes Kıem, 
In weißer is will ver ten Ihrer 
Des böhten Baters geben: 

Ur? rır, em cr miG aumıtıen, 

Als teine weligeihmüdie Drazt, 

3x deinet Seite Ichen! — Immer — 


LVI. 
Die Zodesfeier. 


„Ale eure Sorge wertet auf Ibn, denn er ſorget Tür euch!“ 
So leien wir 1 Petri Kar. 5, 8.7. Gin großes, bertliches Wert: 
und welch ein bobes, ſeliges Vorrecht, Das es ımä wuerfennt! „Alle 
uniere Sorge!“ Mic aud diejenige um unite ewigen Angelegen: 
beiten! Oder fennt ihr eine Zorge dieſer Gattung nice? Tanſen⸗ 
den iſt ñe freilich eine fremde Zude. Wohl ſorgen ñe, und viel: 
feiht Tag und Nacht: aber um mas, ala um ihr zeitliches Beiteben 
und ihr ir diſches Bebagen. Und doch find auch fte zur Unñerblich⸗ 
feit geboren, und jagen, gleich uns, im Fluge der Ewigkeit zn, und 
baben's auch einmal mit einem heiligen Gert, als dem Richter ihres 
Lebens, zu tbun, und find, wie mir, Zünder, Die tes Rubms ver 
Gert ermangeln. Aber bierüber find ihnen die Augen gebulten. O, 
ſchauerliche Blindheit! Laßt mir den Troit, daß mwenigitens ibr von 
derjelben genejen jeid, und zu dem lebendigen Bewußtjein eurer wahren 


IN 


Die Xobesfeier. 669 


Berufung erwachtet. Gott ſchenkte uns die kurze Spanne zeitlichen 
Dafeins vor Allem als Rüft- und Bereitungsfrift für das jenfeitige 
Leben, zu welchem gefchaffen und verordnet zu fein unfern eigentlichen 
Adel ausmacht, und unfern wefentlichiten Vorzug vor der vernunftlofen 
Kreatur bezeichnet. Wiffet ihr aber, daß ihr das ewige Leben er: 
erben werdet? Könnt ihr eurer legten Stunde getroft und wohlge- 
muth entgegenfehn? Habt ihr Frieden, wenn ihr der Augen gedenfet, 
die „Herz und Nieren prüfen” Vermögt ihr’s, wit freier, offner 
Stim an den Spiegel des ewigen Gefeßes heranzutreten? — Ihr 
blättert in dem Buche eurer vergangenen Tage; ihr fragt euer Ge 
wiffen, und — verftummt. O, fühlt ihr’s, daß ihr ſchuldbeladen feid, 
verzgagen müßt, wenn Gott den Maßftab feiner Forderungen an euch 
legt, und nur das 2008 einer ewigen Verwerfung zu gemwärtigen habt, 
falls einft nach Recht und Gerechtigfeit gerichtet wird? Heil euch, 
wenn ihr's mit Angſt und Schreden fühlt! Ihr feid dann in den 
Weg der Rettung eingetreten. Denn der erfte Schritt auf Diefen 
Weg geichieht im Uebergange von der Lüge zum Licht der Wahrheit, 
und vom Wahn der Selbftgerechtigkeit zum Selbftgeriht. — 
Aber was beginnen, wenn ihr euch eures wahren Zuftandes bewußt 
geworden? — Euch felber helfen? — In welcher Weife doch? — 
Eure Schuld bezahlen? — Mit dem ewigen Tode nur wird fie 
bezahlt! — Wieder gut machen, was ihr fehltet? — Gejchehenes macht 
ihr nimmer ungefchehn! — In gottesdienftliche Zormen euer Leben 
Fleiden? — Gott hat an übertünchten Gräbern fein Gefallen! — 
Euch heiligen fortan? Die Seele aller gottgefälligen Heiligung ift 
die Liebe; aber wie werdet ihr Den lieben Fönnen, den ihr fürchten 
müßt? — An Gottes Erbatmung appelliren? Die göttliche Gerech⸗ 
tigkeit bindet der Barmherzigkeit die Hände! — Hier alfo füngt erft 
recht die Sorge an. Aber wiffet, DaB uns das Privilegium erworben 
ift, auch fie auf Gott zu werfen. „In der That?” fragt ihr freudig 
überrafcht. Ja, Freunde! — Folgt mir im Geifte, und vernehmt, 
wie uns heute der ewige Sabbath eingeläutet wird. 


— — 


Matth. 27, 51 —56. Marc. 15, 38 — 41. Suc. 23, 47 - 49. 


Und ſlehe do, der Vorhang im Tempel zerriß mitten entzwei in zwei Stüde, von 
oben an bis unten aus. Und die Erde erbebte, und die Felſen zerriffen, und bie 
Gräber thaten fih auf, und ftanden auf viele Reiber der Heiligen, die da frhliefen, 
und gingen aus den Gräbern nad feiner Auferſtehung, und famen in die heilige 





670 Des Mirrheifigße. 


StaN, und eribienen Vielen — Ter Hauptmann aber, der baberbamt, gegen ibn 
über, und die bei ibm waren und bewabreten Iefum, ba Be fahen Dad Gräbeten, 
und was da geihab, und daß er mit folbem Geſchrei verkbieb, erichraien He fehr. 
and der Hanprmann preifete Geti und ipra: Wabrlich dieſer Merſch ik ein Ttemme 
Menib und Grtted Sebn gemeien' Und alles Felt, das dabei wer 

He ſahen, mus Da geſchab, ſchlagen au ihre Brut, unb menden wieder EM — 
Es Handen aber alle feine Rerwandten von ferne, und viele Weiber, bie ba. 
waren nadgerolget uns Galiläa, nnd harten ibm gerient, unter weldden war Paris 
Magdalena, und Maria, tie Muner des Meinen Jakobi uud Joſes, une Saleme, 
bie Mutter der Kinder Zebedäi, und viele andre, bie mit ibm hinanf gen Iernieica 
gegangen waren, Die ſplcbhes Alles ſchaneten 


Bir treñen beute auf der Schüdelitätte im dem großen Momente 
wieder zuiammen, in melden der Mann der Schmerzen eben wit dem 
ſiegsgewiſſen Landungsrufe: „Vater, in deine Hände hefeble ih 
meinen Geiſt!“ iein Haupt zur Rube neigte und verſchied. Kaum 
aber, daß Dies unerbörte Ereigniß eingetreten it, wechſelt Die Schauer 
icme des Murterbügels. Tie Zurüdbaltung des Hüummels erreichte 
ibr Ende. Tas: „Es it vollbracht!“ des iterbenden Mütlers 
erbält Die alinzendite Beitätigumg; und an die Stelle des feindſeligen 
Geninmels, das Ihn bisher umtohte, tritt eine erbebende, Den großen 
Zodten verberrlichende Feier eines unvergleichlichen Zriunpbes. Wie 
dieſe Feier von TC ben ber eingeläutet, md anf Erden be: 
aangen wird, dies lei der doppelte Gegenitand unter beutigen 
Betrachtimg. 

Mögen unire einen Herzen in dieſe Feier mit eingehn, und der 
Grundton der legter in ihnen nie mehr verflinzen ! 

: 1. 

(Singeläuter wird die Feier. Wunder ſinds, in welde die 
aörtliiben Glockenpulſe fich verfleiden. Folgt mir zuerſt m den Tem: 
vel Jeruſalems. Ga it Drei Uhr Nachmittags, alle Die Srunde, un 
der Die Gemeinde Iſtaels eben zum Abendovrer in den beifigen Nor: 
böfen verlammelt it. Die Prieſter beainnen ihr gewobntes Werk. 
Mus begibt ſich Da? In dem Momente, du Draußen auf Dem Gal: 
varienhügel von Kreuze Gbrüti ber das „Buter, in Deine Hän— 
de!’ ertönt, reipt im Tempel, — wer beidreibr die Beſtürzung der 
Söhne Aarons? — ohne das eines Menſchen Hand ihn berübrt, der 
Dichraewobene, ſchwere Vorbang vor dem Alerbeiltgiten, ven oben an, 
bis unten aus, in wei Stücke mitten ennwei, und Der „Gnaden- 
ſtubl“ mit Der Lade Des Zeugniſſes und den gelduen Cherubsgeſtalten, 


— 


” 


Die Kobesfeier. 671 


diefes Heiligthum, dem nur einmal im Jahre, und auch dann nicht 
ohne Blut, dem Hohenpriefter allein fich zu nähern geflattet war, fleht 
urplöglich bloß und enthüllt vor Jedermanns Blicken. Der allmäd)- 
tige Gott war's, auf deffen Wink diefes Ereigniß eintrat. Ind was 
war daſſelbe? Zuvörderſt eine erneuerte Kundgebung, Daß die Tempel⸗ 
bilder allerdings göttlich verordnete und prophetifch bedeutfame Hüllen 
zukünftiger Heilsthatfachen geweien, nunmehr aber, nachdem die letztere 
wirflich eingetreten, wie die Blüthe in der Zrucht, fo in dieſen 
aufgehoben fein. Sodann eine fumbolifch veranfchaulichende Dar: 
jtellung der unermeßlichen Segenswirkung, die jener blutige Tod im 
Gefolge habe, dem eben auf der Höhe Golgatha's der Herr der Herrs 
lichkeit fich mweihe. Das Allerheiligfte im Tempel war Schatte und 
Typus des bimmlifchen Thronfaals, von welchem wir durch göttliches 
Urtheil hinweggewiefen und ausgefchloffen waren. Was als Vor⸗ 
hang von demfelben und trennte, war unfer fündliches Fleiſch. 
„Herr,“ hieß es bisher, „wer wird wohnen in deiner heiligen Hütte” 
und die Antwort lautete: „Wer untadelig einhergeht!” Wer aber 
durfte fich rühmen, ohne Tadel dazuftehn vor Gott? Da war „nicht, 
der gerecht war, auch nicht Einer!’ — „Wer, hieß es, „ist unter 
uns, der bei einem verzehrenden Feuer wohnen möge?” und der Bes 
ſcheid darauf war wieder: „Wer in Gerechtigkeit wandelt!” Wem 
aber blieb hier ein Andres übrig, als den Angſtſchrei des erfchrodenen 
Propheten zu dem feinigen zu machen: „Wehe mir, ich vergehe; denn 
id bin unreiner Lippen!“ Die Gerechtigkeit war verfcherzt, die Sin: 
de herrſchte. — Urplöglich verfündet nun jenes Zeichen im Tempel, 
daß jene unfre Stellung zu der Wohnung des Allerhöchiten eine 
große und durchgreifende Beränderung erfahren habe. Und freilich 
erfuhr fie eine ſolche. Was zum Heiligthume Gottes den Zugang 
uns verfpertte, ward hinweggethan. Was fi zwiichen Ihm und 
uns als Scheidewand erhub, ftürzte dahin. Keine Gefahr mehr droht 
dem Eintretenden in die erhabene Behaufung, über deren Portal die 
Inſchrift flammt: „Der Herr ift ferne von den Gottlofen!” Kein 
Wagniß mehr its, in die Hände Deffen fich zu werfen, vor welchen 
auch „die Engel nicht rein” find. Umklammre das Kreuz, und dann 
fprich beherzt zu Mofe: „Zerreiße deinen Fluchbrief wider mich; denn 
ich ſchulde Dir nichts mehr!” Glaube, und dann begegne dem höl⸗ 
fifchen Verfläger mit dem Zuruf: „Der Herr fehelte dich, du Satan; 
ja, e8 ſchelte Dich der Herr, der Jeruſalem erwählet hat!” Ziehe an 


672 Des erheilige. 


den Herm Jeſum Chriſtum, und dann nur friih mir tindes werſicht 
hinein in das große, lichte Haus du Droben, das Mir Tag uud Nach 
binfert geöfmer ſteht! Waſche Deine Kleider im Mut des Yauımes, 
und dann Dich aetreit mit deinem „Abu an des großen Buters 
Herz geworfen, und Alles, was dir anliegt ımd Did drückt, Ibm in 
den Schooß geihürtet! O, faſſe Den ieligen Gedanken, Den nab 
Gottes Abit, und Dur jeine unvermütelte Veranftaltung, Der Riß 
des TZempelvorbangs dir vor Augen malt! Ter Blutbräntigum bub 
dir in deinem Zode die Pforten aller Hunmel aus Schloß md Au 
gen! — Möchteit du aber noch fragen, ob wir wirklich auch bereis 
tigt feien, jenem Riß im Heiligthume eine jo erquidlide Deutung zu 
geben, io winſe, daß wirs vollfemmen find. Lied Hebr. 10, 19 23: 
„Ze wir denn nun buben, meine Brüder, die Freudigfeit zum Gi 
gang in dus Heiligthum durch das Blut Jeſu, welchen er uns geftiftet 
bat zum neuen und lebendigen Wege, durch den Borbung, Tus if 
durch fein Fleiſch; und haben einen Hobenpriefter über das Hans 
Gottes: Ze lafler uns binzugebn, mit wabrbaftigem Herzen, in 
volligem Glauben, durch der Herzen Beiprengung los vom boͤſen Ge: 
wien, und gewaſchen am Leibe mir reinem Waſſer: und laflet uns 
halten an dem Bekenntniß der Hofmung obne Wanken; denn er ik 
treu, der fie verbeißen bat.” Halt Du vernommen? Der Zugang 
zum Heiligtbum it uns eröfmer; der Weg ins Varerbaus wurd uns 
gebabnt. — Durch wen? — Durch Jeſum Chriſtum. — In welcher 
Weile? — Vermittelit eines Vorhangsriſſes. Dieſer Borbang mur 
des großen Hobenprieiters „Fleiſch.“ Der Verbang ri, als Er ſeine 
menichlibe Natur, nachdem er zurechnungsweiſe unire Simden auf ib 
genommen, im Opiertod des Kreuzes für uns Dabingub. In dieſer 
ttellvertretenden Vermittlungs= und Genugtbuungstbat uber erledigte 
und erfüllte Er, was unire Rechtiertigung ver Gott, und in Deren 
Folge, unite Zulanung zu Gortes Thron bedingte. So geſchah alıe 
im Momente ſeines Beriheidens weſentlich, was vorbildlich m 
demſelben Augenblick im Tempel ſich ereignete. — 

Wir räumen dad Haus zu Jeruſalem wieder, das jetzt ohnebin 
jeine Bedeutung verloren bat, und kehren nad Golgatha zurück, mo 
und aus einem zweiten Wunder ein neuer Klang der FZeierglede 
entgegentönt. „Die Erde erbebt, die Felſen reißen.” Bas 
bedeuter dies? Großes, Hocherfreulibes! Ter Tod des Mittlers 
bar über Die Zukunft der alten Welt entſchieden. Sie iſt mit ihrem 


Die Todebfeier. 673 


Weſen und ihren feitherigen Ordnungen dem Untergang geweiht, und 
unter die Anwartichaft einer großen und umfaffenden Verwandlung 
geftellt. Hört den Apoftel Hebr. 12, 26. 27: „Nun aber verheißet 
Gott, und fpricht (bei Haggai nämlich): Noch einmal will id) bewegen, 
nicht allein die Erde, jondern auch den Himmel. Aber folches: Noch 
einmal, zeiget an, daß das Bewegliche fol verändert werden, als das 
gemacht ift, auf daß da bleibe Das Unbewegliche.“ — Die gegen- 
wärtige Schöpfung ift nicht die uriprünglihe mehr. Die Sünde 
drang in fie ein, und überbreitete fie wie mit dem Xeichentuche der 
Sterblichkeit, fo mit dem Zrauerflor eines unendlichen Verderbens. 
Unzählige Verhäftniffe in der Natur wie in der menfchlichen Gefell- 
ſchaft widerfprechen dem göttlichen Schöpferplan, und haben die von 
Gott gewollte Harmonie der Welt geftört. In Folge des Sündenfulls 
find dieſe Mißklänge eingetreten. Nachdem aber jener verhängnißvolle 
Zall in dem Genugthuungswerfe des Erlöſers wieder aufgehoben 
ward, muß natürlich auch feinen Zolgen das Grab gegraben fein. 
Das Blut des Lanımes fordert die Wiederheritellung der Zuftände 
des Anfangs. Und glaubt es: das Erzittern der Erde in ihren 
Grundfeiten, das Schwanfen der Berge und Hügel, und das Zer⸗ 
fpringen der Felſen, das den Zod des ‚Herrn begleitet, ift nichts Ans 
deres, als ein in finnbildfiche Naturphänomene verkleidetes „Amen“ 
des allmächtigen Gottes auf jene Forderung des Blutes feines Sohnes. _ 
Das „Schema,” (d. i. die gegenwärtige Geftalt) „diefer Welt wird 
vergehn,“ fagt der Apoftel 1 Gorinther 7, 31; und dem lieblichen 
Gefichte des Sehers Johannes (Off. Joh. 21, 1—3) muß feine voll- 
fommene Berwirflihung werden: „Ich fah einen neuen Himmel und 
eine neue Erde; denn der erfte Himmel und die erfte Erde verging ; 
und das Meer it nicht mehr. Und id, Johannes, fahe die heilige 
Stadt, das neue Serufalem, von Gott aus dem Himmel berabfahren, 
zubereitet als eine gefchmüdte Braut ihrem Manne. Und börete eine 
große Stimme von dem Stuhl, die fprah: „Siehe da, eine Hütte 
Gottes bei den Menfchen; und er wird bei ihnen wohnen, und fie 
werden fein Volk fein, und er felbit, Gott mit ihnen, wird ihr Gott 
fein.” 

Das Dritte Wunder dürfte unfer Herz am mächtigften bewegen, 
Nicht Zelfen nur fpringen in der Umgebung Golgatha’8 krachend aus⸗ 
einander; auch uralte Grabgewölbe längft entfchlafener Heiligen thun 
fi auf, und die Leichname, die fie bergen, beginnen, von Blitzen 

43 


674 Dad Merheiligſe 


eines neuen Lebens durchzuckt, fich zu regen und zu rübren, um wak 
der Auferftebuma des großen Todten gleichfalld aus ihren Kammern 
bervorzugehn, und „Dielen“ in der beil. Stadt „au erſcheinen“ 
Welch' eine Begebenheit! Freilich ericheint fie in geheinmiſwolles 
Dunkel gehüllt, und regt mancherlei Zragen in und au. Bar die 
Erweckung jener Todten jofort eine vollftändige; oder hat fie ſich erü 
allmählig vollendet? Und wenn etwa jenes der Zall mar, w 
verweilten die Neubelebten bis zum Oſtertage? Blieben fie jo lanı 
in ihren Grüften? Dies möchte faum denkbar fein. Wenn fie dem 
erſt ipäter aus ihrem Staube fich erbuben, in welcher Leiblichlei 
flanden fie auf? Im jener „geiftlichen“, von der 1 Gorintber 15 
die Rede it? Wenn in dDiefer, wie fann dann Chriſtus noch „der 
Eritling der Erftandenen ımter denen, die da ſchlafen“ beißen? 
Ihr ſeht, an Schwierigfeiten fehls bier nicht. Doch will mich ke: 
dünken, daß gerade der letztere Umſtand, daß nämlich Chriftus der 
„Erftling der Auferſtehung“ genannt wird, zu Der Annahme 
nöthige, es jeien bei feinen Zode eben nur, zur vorläufigen An- 
Deutung Defien, was fpäter gefchehen werde, die Gräber gefpremat 
worden, und gleichſam ein erſtes Morgenrotb des nahenden Lebens 
propbetiich über die ſchlummernden Gebeine bingebligt, mährend Die 
Wiedervereinigung der abgeichiedenen Geijter mit den Leibern erjt nah 
dreien Zagen an dem großen Oftermorgen eingetreten jei. Uebrigens 
ift die Thatſache jelbit über jeden Zweifel erhaben, und fände auch 
ſchon ohne die Zeugen aus den Bewohnern Jeruſalems fer, auf 
welche die Evangeliiten für die geichichtlihe Wuhrbeit derſelben ſich 
berufen. Was aber Gott durch dieſes Wunder bezeugen wollte, liegt 
far zu Tage. Die Machwirkungen des Ttellvertretenden Sterbens 
Jeſu reichen bis in Die Zodtenwelt binab. Durch ſeine prieſterliche 
Selbitbinopferung ward Gr aud der Fürſt des Lebens. Selbi 
in dem ichauernollen Bereiche der Verweſung flürte Er den Sem: 
fcherftubl deſſen um, der nad dem Ausdrude der Schrift „des 
Zodes Gewalt batte“, und erjtritt fi die Machtuolllommenbeit, 
nicht allein Die Seelen ieiner Erfauften in die Wohnungen des 
ewigen Friedens einzuführen, sondern auch ihre Leiber den Banden 
des Fluches zu entreigen, und zu feiner Zeit fein Volk, allſeitig zu 
der paradiefiichen Urgeſtalt erneuert, in Förperlibem wie in gei: 
ftigem Verklärungsglanze dem Vater vorzuführen. Diele Wabrheit 
beabjichtigte der allmäcdhtige Gott zuerit durch Das mit Dem Tode 


Die Aodebfeier. 675 


Chriſti verfmipfte Wunder jener vorgängigen Gräberfprengung, und 
dann Durch Die wirkliche Todtenauferweckung am dritten Tage uns 
zu beflegeln. — Wer fie gewefen fein mögen, dieſe erften Trophäen 
des glorreichen Ueberwinders des Schreckenskönigs? Ob unter ihnen 
Abraham ſich befand, dem ja verheißen war, daß er in ganz be 
fondrer Weiſe „den Tag des Herrn ſehen“ follte? Ob Mofes, von 
dem der Apoftel Judas erzählt, daß der Satan um feinen Leichnam 
noch mit den himmliſchen Mächten gehadert Habe? — Die Gefchichte 
läßt und hier ohne Antwort, wie fie denn auch darüber fchweigt, wie 
die Erftandenen, als fie den „Vielen“ ur der heiligen Stadt erfihies 
nen, geftaltet gewefen, und wann, wo und in welcher Weiſe fie nadı- 
mals in Den Himmel entrüctt worden feiern. Die Miffton jener aus 
dem Staube der Gräber Hervorgerufenen befchränkte fih auf das 
Eine, den Tod des Herrn als ein mit fÜöpferifcher Macht ſowohl 
in die Vergangenheit, al8 in Die Gegenwart und Zukunft, und nicht 
minder in die Ziefe, als in die Höhe hinein wirfendes Ereigniß 
Darzuftellen, und in thatfächlicher Weife Zeugniß zu geben, wie über- 
Ihwänglich reichen und feiten Grund wir haben, unter Chrifti Kreuz 
mit dem Apoftel zu frohloden: „Tod, wo ift dein Stachel? 
Hölle, wo ift dein Sieg? — Gott ſei Dank, der uns den 
Sieg gegeben bat durd unſern Herrn Jeſum Chriſtum!“ 


So iſt fie denn in majefätiher Weiſe durch göttliche Zeichen und 
Wunder eingeläutet, Die Feier des verföhnenden Todes unfres Herm; 
und aljobald nimmt fie unter dem Kreuze auch felbit ihren Anfang. 
Zwar gemwahren wir fein feftliches Gepränge, noch fchlägt Geräufch 
von Cymbeln und Harfen an unfer Ohr. Aber im tiefiten nern 
der Gemüthswelt Täuten die Gloden, wehen die Kränze; und Harfen- 
Fang und Lied ift jede Empfindung, die in den Herzen der Feiernden 
zum Kreuz emporwallt.. Wer find die ftillen Feftgenofien? Der zuerft 
unfre Aufmerkffamfeit auf fi} Ienft, ift der römifche Hauptmann, 
der Befehlähaber der Kreuzeswache. Stumm und wie in Gedanfen 
vertieft fteht er da, und fchaut zum Holze des erhabenen Dulders 
auf. Er hat dem ganzen Verlaufe der Kreuzigung mit zugefehn. Er 
war Zeuge des bewundrungswürdigen Verhaltens des geheimnißvollen 
Mannes. Gr vernahbm von defien blutbeflofienen Lippen die fieben 
Worte. Und wie er in dem Momente, Da der Gerechte ftarb, felbft 
unter feinen Füßen die Erde zittern fühlte, jo fah er aud mit eignen 

43" 


676 Das Alcrheifigke. 

Augen, wie ringsumber die Hügel ſchwankten und die Zellen zerinlu: 
terten. Da drängt fich denn mit einem Male Alles, was bis dahin 
jein Innerftes bewegte, in einen gewaltig erſchütternden Eindrud 
zufammen; und er macht jeinem Herzen Luft in dem lauten, unzmei: 
deutigen, und den wahren Gott, den Gott Iſtaels, preiienden Aus: 
ruf: „Fürwahr, dDiefer ift ein frommer Menſch, ja, er in 
Gottes Cohn geweſen!“ — Bas er unter dem „Solme Get: 
tes“ verftebt, Danach müßt ihr ibn nicht näher fragen wollen. Gin 
Togmatiter it er nicht; nicht einmal ein im Katechismus unter: 
wiefener Jude; jondern nur ein armer, blinder Heide. Aber nab 
Allen, was er an dem Manne aus Nazareth wahrgenenmen, fand 
es ihm außer Zweifel, derjelbe müſſe mehr ſein, als em Menib; 
und der innerfte Kem der Wolke von Abnungen, die feine Seele 
durchzog, war in der That nichts Geringereö, ald der bibliſche 
Gottesjohn. Es gehörte aber auch nicht einmal ein allaufein 
geichliffener Ceelenfpiegel dazu, um den Wiederſchein der göttlichen 
Hoheit Jefu in fih aufzunehmen. Auch ſchon ein raubes, aber 
ehrliches, wenngleich heidnifches Kriegerherz war für fie Spiegels 
genug. O, feht doch, nicht blos der Hauptmann, jondern fogar auch 
mehrere aus feiner Schaar find von gleihen Empfindungen, wie er, 
übermannt, und flimmen beftürzt und von Schauern heiliger Ehrfurcht 
dDurchriefelt in fein Bekenntniß ein, oder murmeln doch Achnliches. 
Welch' ein lieblicher und bedeutiamer Auftritt! Gin Häuflein bfinder 
Heiden, unter ihnen wohl auch diejenigen, welche Die Werkzeuge kei 
Jeſu Kreuzigung gewelen waren, geben Ihm in einem Augenblide, 
da er jammt feiner Sache verloren ſchien, einer Welt voll Widerſacher 
zum Zroß, die Ehre des unummundenen ZJugeftändniffes, Daß Er ſei 
der Sohn des lebendigen Gottes, und überrafchen uns, einem tröſtlich 
aufleuchtenden Sternbilde bei dunkler Nacht vergleihbur, in ihrem 
unverholenen Huldigungsafte mit einem wahrbaft berzerhebenden pre: 
phetifchen Zufunftsgemälde. O, Zreunde! ibr jaht und vernabmt 
nicht blos daffelbe, was jene Heiden; fondern unendlich Größeres 
und Bedeutungsvolleres! Ihr jeid Zeugen, daß der Zod am Kreuze 
nicht nur Zelten fprengte und Hügel Ichwanfen machte, fondern die 
ganze alte Weltordnung aus ihren Zugen md Angeln hub, und fie 
in die Bahn einer ganz neuen Entwicklung bineinwarf. Ihr fabt 
von jenem Zode aus nicht blos über etliche Leiber entichlafener Hei- 
ligen einen Blig der Auferftehung zuden, fondern über Das game 


Die Kodedfeier. 677 


Leichenfeld der Erde den Feuerftrom eines höheren und göttlichen Le⸗ 
bens fich ergießen. Ihr wißt nicht nur von einem mit dem Ster- 
bensmoment des großen Dulders zufammenfallenden Zerreißen des 
Zempelvorhangs ; fondern daneben von dem Zerfpringen einer vier- 
taufendjährigen Weiffagungshülle, um den, welchen fie als Idee und 
Bild in fi) gefchloffen hielt, bis zu den feinften Zügen verförpert in 
die Welt der Wirklichkeit zu entlaffen. Nicht allein börtet ihr den 
Dorngefrönten einen einzelnen Schächer mit dem föniglichen Wort 
beglüden: „Sch fage Dir, heute wirft du mit mir im PBaradiefe fein ;“ 
fondern gewahret, wie bis zur Stunde Niemand unter dem Himmel 
weder in reiner Liebe zu Gott entbrennt, noch in den Nächten und 
Stürmen des Lebens zu gründlichen Frieden gelangt, bis er das 
Auge des Glaubens zu jenem „Haupte voll Blut und Wunden” em- 
porhub, welches feit achtzehn Jahrhunderten, der Hölle zum Verdruß, 
allen erleuchteten Sündern zum Trofte, unverdunfelt über der Menſch⸗ 
heit fehwebt; und daß der Acer, heiße derfelbe Familie, oder Staat, 
oder Kirche, auf den das Kreuz nicht feine wunderthätigen Schatten 
wirft, nur Schierling und Dorngeftrüpp des Unheils treibt, nimmer 
aber Gerudy eines „Feldes“ athmet, das „der Herr gefegnet hat.” 
Jenes Alles ift in euern Gefichtsfreis eingetreten, und ihr nehmt's 
noch alle Zage wahr; und ihr fönntet zaudern, unter entichlofjener 
Losfagung von einer ungläubigen Welt das Belenntniß jener heid- 
niſchen Kriegesmänner zu dem eurigen zu machen, und, wie fle dem 
„Sohne Gottes“ huldigend, in ihre fille Kreuzesfeier mit ein- 
zugehn? 

Die römischen Söldner find übrigens die einzigen Feiernden auf 
der Schädelftätte nicht. Wohl tiefer noch und inniger feiert die liebe 
Gruppe der weinenden Frauen dort, die dem Meifter aus Galilän 
dienend nachgefolget waren. Nein, auch im Zode können fle von Ihm 
nicht laſſen. Wie Epheuranfen halten fie mit ihrer Liebe und ihrer 
Hoffnung auch noch den gefällten Baum umfchlungen. Beachtet's 
wohl, das heilige Feuer, das in der Tiefe ihrer Herzen brennt. Es 
ift das Feuer reinfter Begeiftrung für wahre, fittlihe Größe 
Diefe Begeiftrung kann hoffnungslos nicht weinen, und vielmeniger 
noch auf einer bloßen Täufchung beruhn. Es muß das Reich des 
fittlich Hehren, Edlen und Schönen Wirklichkeit, Beftand und 
Wefen haben; und König in diefem Reiche it Chriftus, und 
bleibt es ewig. Verzagt, ihr lieben Frauen, an diefem Reiche nicht, 


678 Da Müerheilighe. 


und od die ganze Belt es nur für einem ichömen Zramm erklärte. 
Es bat allein Realität, und wird unter allen limiländen deu Sie, 
behalten. Darum, ibr Brüder alle, icjliegen auch wir und Demjelben 
an! Rufen au wir zum frag binauf: „Mit Dir, du belle Re: 
aenitten, wollen wir eö balten!“ Schwören auch wir mu Dim 
md Hand: „In Deinen Babnen wollu wir uns bewegen, durch 
melche Enapäfle und Dunfelbeiten fie uns führen mögen! Reiche ums 
Deine Rechte, du, Der du allem Riederen und Giteln fremd bii, und 
lehre auch uns in deinen Außtapfen böber binauf unier Wejen urei- 
ben!” — a, dies leiten die Laute, Die umter Dem Kreuze amch mmiter 
Bruſt entquillen! — Doch wiſſet, daß in folder ſittlichen Be: 
geiſtrung für den Herm und fein Reich die Feier jeines Todes ad 
nicht abſchließt. Tie Zrauen hatten in Jeſu ein Mehreres ge 
fucht, als ein Menſchheitsideal und einen Leititern auf dem Tugend 
vfade. Vor Allem meinten fie eined Bürgen zu bedürfen, der ihre 
Entiündigung bei Gott vermittelte, damit af Daun in Kraft des 
Berföhnungs = Bemußtjeins und unter des wiederbefreundeten Geues 
Beiſtand ein neuer Lebensanfang gemacht werden könnte. Dielen heij 
Erſebuten aber glaubten fie in ihrem großen Meiiter wirtlich aefun- 
den zu baben. — „Ind dieien Glauben gaben ie bei jeinem Zeit 
auf?“ — Allerdings war Derjelbe durch den blutigen Lebensausgang 
ihreö Freundes tief eridhüttert worden; aber Die Zeihen, Die ſie 
eben geiehn, ichmwellten, einem Binde von Meran gleich, aufs neue 
ihre Hoffnungsſegel, ja Düuchten ihnen nichts Anderes zu ein, ala 
ein Zuruf des ewigen Vaters an fe: „Halter aus! Wartet ab! Gi 
in dennoch Der, alä den ihr ibn umraßter!" — lin? wie ſchwach das 
Döchtlein ihrer Zuverficht auch immer glimmen moechte; fie feierten, 
meilihb abnend mehr, ala Mar bewußt, ihre Verſöhnung dud 
Des SHohenprieiters Blur. O, geben wir in ibre Gemeinſchaft ein! 
Die rechte, muhre, volle Feier Des Kreuzestodes Chriſti it nur die, 
melde, ale von ibrem Grundlaut, von den Liede durchklungen wird: 
„Tus Lamm, Das erwürget üt, üt würdia, zu nehmen Lob, Preis 
und Ehre!“ 

Zu ſolcher Zeier femme es denn auch unter und! — Wir bören 
in unierm Gwangelium ven „Ellichen“, Die gleichfalls Zeugen der 
Gotteswunder beim Kreuze geweien, und in großer Yeflürzung „au 
ihre Brut ichlagend“, nach Ieruialem „umgefebri“ ſcien. Der Zu: 
Hand Diejer Leute bezeichnen euch die Vorjtufe einer mabrbaften 


Der Lanzenſtich. 079 


Charfreitagsfeier. D, Daß Keiner heute dieſe Berfanumlung verlaffen 
möchte, der nicht wenigſtens durd) Gottes Gnade in dieſe Vorſtufe ver- 
feßt worden wäre. Werdet euch bewußt, welche Riefenfchuld, abgefehn 
noch von euern andern Sünden, ihr Dadurch fchon auf euch Ludet, 
daß ihr einem fo gewaltig beglaubigten Herm und Könige, wie Der 
am Kreuze ift, fo lange die gebührende Huldigung und Unterwerfung 
verfagen fonntet. D, Daß euch nur Dies einmal zu Herzen ginge, 
und hiemit eure Beugung vor Gott begänne! Fürwahr, nicht lange 
würde es währen, jo flimmtet auch ihr freudeftrahlenden Angefichtes 
mit ein in den Gefang der geheiligten Gemeine: 

„Laßt und Ihm ein Hallelnjah fingen: 

Maͤchtiglich find wir errett't! 

Laßt und Ihm und felbft zum Opfer bringen, 

Das Ihm fei geheiliget! 

Blutige Arme, für die Sünder vffen, 

Nehmt und auf, fo wie wir's gläubig hoffen, 

Weil fein Mund fo freundlich ſpricht: 

„„Kommt nur, ich verftoß’ euch niht!«« — Amen. — 


— 0 0 O 00 — 


LVII. 
Der Lanzenſtich. 


„Dieſer iſt's, der da kommt mit Waſſer und Blut!“ 
So, in großartiger Anſchauung, der Apoſtel Johannes in ſeinem erſten 
Briefe Cap. 5, 6. Er fieht die Welt der Sünder vor ſich liegen: 
über ihr die drohende Wetterwolfe des Fluchs; unter ihren Füßen 
die Hölle, für die fie reif ift. Er riefe ein Wehe über fih aus, daß 
er geboren ward, fühe er nicht durch Das riefige Nachtgemälde eine 
majeftätifche Erfeheinung jchreiten, vor der, wie vor der aufgehenden 
Sonne das Heer der Schatten, fo Alles, was Noth, Sorge und 
Kummer heißt, zerftiebend davonjagt. Was von Anbegun her die 
Melt bewußt oder unbewußt in ihren beiten Stimmungen und Stunts 
den gefucht, erfchmachtet und gehofft, das fieht er in dem einen 
Manne, auf dem fein entzüdtes Auge ruht, überfchwänglich jegt er⸗ 





60 Des Aterheifigke. 


füllt; und bindeutend auf Ihn, der hinfert der Mittelpunkt all teines 
Denfens und Grwartens, ja tein Eins und Alles if, ruft er me 
ein Bächter von der Höbe feiner Warte feierlich umd freudig bemeu 
binaus ins Weite: „Tiefer it's!“ — „Dort,* will er ſagen. 
„Iehreitet er ber, der allem Unheil ein Ende macht, und der, mie die 
ganze Bergungenbeit auf Flügeln der Sehnſucht Ibm entgegenüreher, 
io die Zukunft Des Menichengeichlechtes, ja, Die der gungen 

tragen, beitimmen und geitulten wird!“ — Verſieht fidh aber Je 
bannes an dem Manne feiner Freude niht? O nen! Der Han: 
fihe fommt ja, wie fein Anderer fommen fann: nicht mit Boridrüt 
nur, mit Weiſung und Belehrung; jondern einzig in feiner Art: mi 
„Buffer und mit Blut.“ Dies ift Sein eigenftes Wabrzeichen 
Wie wir daſſelbe und zu deuten baben, werden wir heute näber ver: 
nehmen. 


Joh. 19, 31- 37. 

Die Juden aber, dieweil ed der Rüfttag war, daß nicht die Keichname am Kran 
blieben den Sabbath über (denn derſelbige Sabbathtag war groß), baten fie Pilanım, 
daß ihre Beine gebrochen und fie abgenommen würden. Da lamen bie Kriegäinchte 
und brachen dem eritern die Deine, und dem andern, der wit ibm geftenzigt mur. 
Als fie aber zu Jeſu famen, da fie fahen, daß er ſchon geftorben war, brachen fie ibm 
die Beine nit, jondern der Kriegsknechte einer öffnete jeine Seite mit einem Speer, 
und aldbald ging Blut und Wafler heraus. Und der daB gefeben bat, der but cs 
bezenget, und fein Zeugniß if wahr, und Derfelbige weiß, daß er Die Wahrdei tayrt, 
ani das au ibr glaube. Denn ſolches it geibeben, daß die Schrift erfüllet märte. 
Ibr ſollt ibm fein Bein zerbrechen. Und aberma!s ſpricht eine andere Schrift: Sie 
werden jeben, in melden sie geitochen haben. 


Die eben vernommenen Vorgänge berichtet uns allein Iobannes, 
der finnige und riefblidende Jünger, der ficherer, als jeder Andere, 
auch Die in tieftter Verborgenbeit blühende Geiſtesblume entdeckt, und 
auf Das Leſen göttlicher Zeichenichriften ſich veriteht, wie Wenige. 
Mit gehaftreihen Hieroginpben ficht er auch die legten Auftritte auf 
der Schädelſtätte durchwebt. Beachten wir Die bedeutſamen Finger: 
zeine, Die er und zu deren Verftändniß gibt, und nebmen wir mit 
dankbarer Freude Die neuen finnbildfichen Aufſchlüſſe bin, Die ſowobl 
über die Perſon, wie über die Heilswirffamfeit des Gefreuzigten 
in dem, was wir heute auf Golgatba ſich creignen jeben, uns gebeten 
werden, 


Der Lanzenftid. 681 


Erleuchte uns aber der Herr mit feinem Geifte, und erfülle Er an 
und das Wort feiner Verheißung: „Ich will Dir geben die heimlichen 
Schäge, und die verborgenen Kleinodien, auf daß Du erfenneft, daß 
Ich, der Gott Iſraels, Dich bei deinem Namen gerufen habe!“ 


In dem Momente, in Weiden n wir ir heute zum Marterhügel kommen, 
finden wir Dafelbft die Scene fehr verändert. An den Drei Kreu- 
zen herrſcht tiefes Schweigen. Der Tod, das ftunme Ungethüm, hat 
über diefelben feine ſchwarzen Flügel ausgebreitet. Die Maſſen der 
Gaffer, die den Richtplatz umlagert hielten, haben, zum Theil tief 
erfchüttert, und gefchlagenen Gewiflens, fich zerftreuet. Auch das 
Häuflein der getreuen Frauen fcheint, von allem Weh und Harm bis 
zum Erliegen müde, ſich in die Stadt zurüd gezogen zu haben. So 
treffen wir denn nur noch die römifche Wache, und außerdem den 
Jünger, „den Jeſus Tieb hatte”, welcher, nachdem er die Mutter 
Maria in feiner friedlichen Hütte geborgen hatte, dem Drange feines 
Herzens nicht widerftehen fonnte, den Ort, wo fein Eins und Alles 
am Holze hing, wieder aufzufuchen. Wen hätten wir uns aber Tieber 
zum Zeugen der legten Begebenheiten Golgatha's beftellt fehen mögen, 
al8 diefen finnigen und geheiligten Jünger? Er erzählt uns nun in 
aller Einfalt, was er dort gefchaut; aber fein ganzes unendlich tief 
bewegtes Herz liegt mit allen feinen Empfindungen und Gedanken in 
feinem kurzen und fchmuclofen Berichte vor uns offen. 

Die Priefter und Schriftgelehrten, gewohnt „Müden zu eigen, “ 
während fie „Kameele verfchludten”, gedenken nicht an die himmel⸗ 
fehreiende Blutfchuld, die fie auf ſich Inden, fondern nur an den in 
Afrael berrfchenden Gebrauch, Hingerichteten, deren Leiber man dem 
Volke zur Warnung an einen Pfahl gehängt und fo öffentlich zur 
Schau geftellt hatte, vor Anbruch der Nacht noch von ihren Prangern 
wieder abzunehmen, und zu verfcharren. Diefe Gewohnheit beruhete 
jedoch auf einem ausdrüdlichen göttlichen Gebote. Wir lefen 2. Mof. 
21, 22. 23: „Wenn Jemand eine Sünde gethan hat, Die des Todes 
würdig ift, und wird getödtet, und man ihn an ein Holz hänget, fo 
foll fein Leichnam nicht tiber Nacht an dem Holze bleiben, fondern 
foltft ihn deſſelbigen Tages begraben: denn ein Gehenkter iſt verflucht 
bei Gott, auf daß du das Land nicht verunreinigeft, Das dir der 
Herr, dein Gott gibt zum Erbe." Cine eigenthümlidhe, ja feltfame 
Verordnung dies, in der wir uns wohl kaum zurecht zu finden wüßten, 


682 Des Ukerheiligke. 


hätte uns der Geiit des Herm nicht felbit den Schlüffel zu derielben 
Dargereiht. Ter Umjiaud, daß Gott die „Gehenlten“ als vorzuge- 
weife mit jeinem Fluch belajtete bezeichnet, nöthigte die Siuuigeren in 
Iſrael zu der Annahme, es müſſe bier irgend etwas Borbildlides 
zu juchen fein, indem ja ein nicht gebenfter Gottlojer in Babı: 
beit nicht minder verflucht jein könne, als ein ſolcher, deſſen ent⸗ 
jeelte Hülle in der genannten Weiſe öffentlich zur Schau geftellt wur: 
de. Sodann eröfmete der göttliche Befehl: „Begrabe deu Leid: 
nam,“ und die Duran gefnüpfte Berbeigung: „So wirft du mit 
demfelben den Zlud begraben, der auf dem Lande ruht,“ 
die troftvolle Ausfiht, daß eine Hinwegnahme und Tilgung des Ge 
ſetzesfluchs wirklich im Neiche der Möglichkeit liege. Weil es fid 
aber von felbit veritand, daß diefelbe durch Die Verſcharrung binge- 
richteter Miffethäter nicht erzielt werden-könne, jo mußte Angefichts 
jener Satzung endlich zugleich die Ahnung ſich erzeugen, daß es im 
Rathichluffe Gottes liegen werde, in Zufunft durch den Zod und das 
Begräbnig irgend einer herporragenden geheimnißvollen Perſon die 
Aufhebung des Fluches thatſächlich zu bewerkſtelligen. Wenn um 
gläubige Sfraeliten auf ſolche Gedanken geriethen, jo dachten fie ganz 
der Abficht Gottes gemäß, der allerdings mit feiner die Gehentten 
betreffenden Verordnung nichts Anderes, als eine prophetiſche Ber: 
finnbildlihung der zukünftigen Erlöfung durch Chriſtum bezweckte. 
Letzteres erhellt unzweideutig aus Gal. 3, 13. 14, wo der Apoftel 
ſpricht: „Chriftus hat uns [osgefauft vom Fluche des Geſetzes, da 
er ward ein Fluch für uns, (denn es ftcht geſchrieben: Verflucht ift 
Jedermann, der am Hole hängt;) auf Daß (ſtatt des Fluches) der 
Segen Abrahä unter die Heiden fäme, in Ehrifto Jeſu.“ Hier wird 
Chriſtus alfo unläugbar als das Gegenbild der Gehenften in Zirael 
dargeftellt. Er war an feinem Kreuze ftellvertretend der Träger unjeres 
äluches, und ſtarb als ſolcher den öffentlichen Miſſethätertod. Nach 
dem er aber jeinen Geiſt ald willig Dargebrachtes Opfer in die Hände 
jeines Vaters befohlen hatte, wurde zugleich wit jeinem Leichnam der 
Fluch, der auf der Erde und ihren Bewohnern lag, thatſächlich 
begraben, indem hinfort Alle, die an Ihn glauben, des Fluches 
ledig, und Erben eines unvergänglichen himmliſchen Segens find. 
Wie tief bedeutſam erſcheint demnach, was wir heute zunächſt auf 
Golgatha ſich begeben ſehen. Freilich wiſſen die handelnden Perſonen 
dort nicht, was ſie thuen; aber das hindert nicht, daß ſie bei all 


Der Lanzenſtich. 683 


ihrem Thun wie an unfichtbaren Fäden von der Hand der göttlichen 
Borfehung bewegt und geleitet werden. Sie erinnern fi nur, ohne 
weitere Nachgedanken, an den Buchftaben der mofatfchen Vorfchrift, 
und glauben, um fo mehr mit der Kreuzabnahme und der Verſenkung 
ihrer Gerichteten eilen zu müſſen, da fich nicht allein ſchon der Tag 
zu Ende neigt, jondern ed obendrein der NRüfttag vor dem „großen“, 
d. b. dem in das OÖfterfeft fallenden, und darum befonders heiligen 
„Sabbath” ift. Sie verfügen fi denn zu Pilatus, und bitten ihn 
um die Genehmigung, den drei Todten, wie es üblich war, die Beine 
zerbrechen und fie dann abnehmen umd verſcharren zu dürfen; und be- 
ginnen fo an dem großen und gedanfenreichen Bilde zu weben, wel- 
ches ſpäter durch Nikodemus und Zofeph von Arimathia vollendet 
ward, Wir fehauen ihrem Vornehmen ftille zu, und fchöpfen daraus 
Sriede und Seligkeit. 

Der Landpfleger beanftandet die Gewährung der nachgefuchten Ge 
nehmiqung nicht, und entjendet zugleich eine neue Wache nach dem 
Richtplaß, welche die Beinbrechung vollziehen, und von dem wirklich 
eingetretenen Zode der Gefreuzigten fich überzeugen follen. Als ein 
den Gehenkten erwiefenes Werk der Barmherzigkeit betrachtete man’, 
daß man denfelben vor ihrer Beerdigung zur Beichleunigung des etwa 
noch nicht eingetretenen Zodes noch mit eifernen Keulen Die Gebeine 
zerfchlug und dann ihnen den legten, den fogenannten „Önaden- 
Schlag” auf die Bruft verfeßte. An den beiden Schädhern wird 
mit diefem Verfahren der Anfang gemacht. Wie aber die Reihe auch 
an den Herrn Jeſum kommen foll, nimmt man an Ihm fchon alle 
Anzeichen des wirflichen Geftorbenfeins fo deutlich wahr, daß man 
fi) die Mühe der Beinzerbredjung um fo mehr erfparen zu fönnen 
glaubt, da einer der Waffenknechte Ihm einen Lanzenſtich in feine 
Seite beibringt, der, wenn der göttliche Dulder etwa noch gelebt hätte, 
allein fchon bingereicht haben würde, Ihn zu tödten. An und für fi) 
erfcheint auch diefer Vorgang durchaus geringfügig; aber Johannes, der 
ihn uns fo nachdrudsvoll berichtet, hat ihn mit anderen Augen ange- 
Ihaut. Er erkennt auch in dem doppelten Umſtande, daß dem Hei- 
land die Glieder nicht zerfchlagen wurden, und der Lanzenſtich die 
Seite Ihm öffnete, eine Fügung Gottes, durch welche abermals nur 
zwei uralte Weiſſagungen zu ihrer Erfüllung gekommen feien. „Solches 
ift geſchehen,“ hören wir zuerft ihn fagen, „daß die Schrift erfüllet 
würde: Man foll ihm Fein Bein zerbreden!“ Go heißt's 


6 Dei Wrteigler. 


2 Mei. 12, 16 m Pf us Corlzum, wekben is ber Era: 
geitũ bier ansdrũclid tie Beteammı eines Berbildes te u 
Beriebuuns der Belt dabinaeaebenen Gettesimumes beilesr Ss 
Schatte dieies Zuhimitigen mus Tai Purılımm mimufshen Ge 
ichlechts, um? ver Allem, zur Peeibumnı ber Heiſigleit des Berze 
bildeten, ebne Feble tem Tas ibm aber fen Fein zerkrechen 
werden turite, Dies icllse ıheils zur Andentina dienen, NS Ebrützs 
ch unzeıbeilt dem allmächtigen Geu zum Zübnepter darkringes 
werte, und Diejenigen, Die des Dur Ibhn enwüften Heils fbeilhaitiz 
zu werden begebrien, Ibm gun; Mich ammemm Bitten: tbeils be 
zweite Der Herr durch jene Berertmng Nie Auftelluny eines neuen 
Mertmıls, welches, wenn der mubre Meittas erichienen fein rürde 
dazu beitragen iellte, Ibn Jedermann in unzweitentigiier Zeile feunı- 
ih zu machen. Und „ñebe,“ nut wıd num Iebaunes gleichjam in 
unierem Gyangelium zu, „bier it das wor veriebene Zeichen! Ti 
Thatſache, daß das heilige Geriß ſeines Leihes unertrimmert bleibt 
drũckt tem großen Todten als tem wabren veriäbnenten Cferlamme 
Das beglaubigende Ziegel auf. Er tü der Gerechte des 31. Piulms, 
dem Gott alle jeine Gcheine bewahrt, daß ibrer nicht eine 
jerbrohen wird!" — 

Ebenjo fiebt der Evangelit in dem Lanzeniticdh eine erfüllte 
Beiflagung. „Abermal,“ führt er fort, „inrict eine andere Schritt: 
Eie werden ſeben, in welchen ſie geitodben baben' 
Tas Wort des Herm bei dem Propheten Sachatja Karitel 12, 10 
ichwebt ibm vor der Seele. „Aber über das Haus David,“ beißt 
es daſelbit, „und über die Bürger zu Jeruſalem will ich ausgießen 
den Geitt der Gnade und des Gebers; und fie werden ieben, in 
welchen fie geitechen (oder men fie durchbobrt) baben.* Diele 
Stelle war den Juden ein unauflöslihes Rätbiel, weßbalb fie denn 
auch in Der griechiichen Ueberſetzung der fiebenzig Dollmeticher dem 
betreftenden Worte des Grundtertes obne alle und jete Berechtigung 
flatt der Bedeutung des „Durchbobrens,“ Piejenige des „Her: 
abwürdigens“ oder „Verachtens,“ untergeicheben baben. Zeit: 
dem aber bat ichon vielen Tauſenden ven ihnen die Stunde der 
Aufklärung über den einzig wahren Zinn jenes Propbetenwortes ge 
ſchlagen; und Hunderttaufenden, ja der ganzen Belt, wird fie neh 
Ichlagen, ſei es als Gnadenjtunde, oder als Stunde Des Ge: 
richts und des Unheils. Entweder geichiehts, daß fie, die Chrifto 


— 


Der Lanzenſtich. 685 


bisher die gebührende Huldigung verfagten, ehe fie ſich's verfehen, 
vom heiligen Geift ergriffen und erleuchtet werden, und nun in der 
Wehmuth des Bewußtfeins, den Herrn der Herrlichkeit einft durch 
ihre Sünden mit gefreuziget zu haben, thränenfeuchten Blicks und 
um Vergebung bittenden Herzens zu Ihm auffchauen; oder daß fie 
erleben werden, was Johannes in feiner Offenbarung vorher ver: 
fündet: „Siehe, Er kommt mit den Wolfen, und ed werden Ihn 
fehen alle Augen, und die Ihn zerftohen haben, und werden 
wehflagen über Ihn alle Gefchlechter der Erde. Ja, Amen!“ 

Seht, Freunde, fo entdedt der tiefgründende Evangelift in Allem, 
was auf Golgatha ſich begab, auch in dem Unfcheinbarften, eine finn- 
volle göttliche Bilderfchrift, welche nur auf die Kenntlihmachung und 
Verherrlichung Chriſti als des wahren verheißenen Meifias und 
Welterlöfers abzwedte. Wem fann es aber auch entgehen, daß in 
allen jenen Zügen die Hand des lebendigen Gottes waltet, und die 
Fäden der reigniffe fo ſich verfählingen läßt, daß in ihnen ein 
Prophetenſpruch nad) dem anderen zu feiner Erfüllung fommt? Wie 
hoch der Evangelift das glaubensftärfende Element in jenen VBorgän- 
gen anfchlägt, gibt er fehr nachdrucksvoll mit den Worten zu erkennen: 
„Und der das gefehen bat, der hat es bezeuget, und fein Zeugniß ift 
wahr; und derfelbige weiß, daß er Die Wahrheit fagt, auf daß auch 
ihr glaubet.“ Uebrigens ift e8 nicht allein die Kreuzabnahme, der 
Lanzenftich, und die Bewahrung des heiligen Organismus des Leibes 
Chrifti vor der Verftümmlung, was Johannes bei den eben vernom- 
menen Worten im Auge hat, fondern es ift zugleich, ja vorzugsweife, 
der Waſſer- und Bluterguß aus Jeſu offener Seitenwunde, 
worin er nichts Geringeres, ald ein tiefes göttliches Symbol der 
Heilswirkfamfeit des bimmlifchen Zriedensfürften wahrnimmt. 

2 


„Der Kriegsknechte einer,” meldet die Gefchichte, „öffnete 
feine Seite mit einem Speer, und alfobald ging Blut 
und Waſſer heraus.” Man hat gemeint, Sohannes lege darum 
ein fo großes Gewicht auf diefen Umftand, weil er geglaubt habe, 
daß derfelbe gewiſſen Irrgeiftern feiner Zeit, die Chriſto nur einen 
Scheinleib, und nicht eine wirfliche Körperlichkeit zufchreiben woll- 
ten, zur Widerlegung dienen könne. Möglich iſt's, daß ihn bei feiner 
Berichterftattung über die Sache allerdings auch eine foldye Neben- 
rüdficht auf jene Schwärmer geleitet habe. In weit höherem Maße 


636 Deb Yierfeilgfe 


aber erreat fein Intereite zunächſt dae Wunderbare m dem Rer: 
gang. An Zeriterkenen vilegt immer das Blut an ſtecken; aus der 
Wunde dieies Todten dagegen floß es noch bel und reichlich, m? 
obendrein unvermengt mit Dem WBuiler, welches neben dem Rute 
aus dem Durditechenen Pericordium seines Herzens ſich ergeß, md 
vom Arenze niederrmn. Es wur, ald ob der große Hrhbeprieiter ned 
in einem Tode jagen wollte: „Sebet, frei vergieße ih mein Dim, 
und in ganzer Zülle cpfere ich es für eure Sünden!“ Bas aber Ne 
Seele Des Jobannes am tiefiten beweat, it Das göttlich Spmbe⸗ 
liſche, welches er binter der Wunderbegebenbeit wittert. In jenem 
Waſſer und Blut fiebt er die meientlichiten Heilsgüter abgebildet, Die 
die Belt Chriſto zu verdanfen bat. Wir wiflen fen, daß er in feiner 
eriten Epiſtel als Die eigenite Signatur des Welterlölers das bezeich 
net, Daß derſelbe komme „mit Waſſer md Blunt: umd wmaleid 
mit Dem „beiligen Geifte;“ und wer fann es verfenmen, daß ibm kei 
dieien feinen Werten das Wunderereigniß auf Golgatba ver Augen 
geichweht kaben müſſe? 

as bedeuten ibm aber jene Drei Clemente, und mas zunächit das 
Waller? Etwa die Taufe? In einer entfernteren Veziehung 
ungweifelbaft auch fie. Zmächit aber verfinnbildficht ihm Das Waller 
im Einflange mit der Bilderſprache der ganzen beiligen Schrift Me 
jittlih reinigende Kraft des Wortes Ebritti, ja Telbt 
Ihen der Atmoſphäre feines Reichs. Ueberall, wohin dus 
Evangelium drinat, änderts, abgeieben neh von Wiedergeburt und 
Refehrung im engeren und ſpezifiſchen Zinne dieier Worte, Die me 
raliihe Gertalt der Völker. Gefitung und Bilduna verdringen Me 
Barburei. Zucht und Ordnung treten an die Stelle eines zügelleien 
Sündendienſtes. Thieriſche Fleiichlichfeit findet an Der aufgebenden 
Ahnung einer höheren Idealität Des Menſchenlebens mindeſtens ihre 
Schranke: das Gewiſſen der Menſchenkinder ſchärft und verfeinert ſich, 
und die Scham errichtet als Hüterin der Sitte unter ihnen ihren 
Thron. Wie die Gerechtigkeit in Geſetzgebung und geſellſchaäft⸗ 
lichen Inſtitutionen, je macht auch die Liebe ihre Anferderımgen 
geltend. Die Verpflichtung zu mechieljeitiger Handreihung und Huülfe 
leitung tritt in's Bemußtjein. Die Armen= und Kranfenpflege errichtet 
ihre Hoſpitäler, und öfmet den Verlaffenen ihre Zufluchtflätten. a, 
was wire, Das nicht ſich einigte, veredelte und vwerflärte, ſobald nur 
ein feiier Hauch des Chriſtenthums es berübrt! Haltet die chtiſt⸗ 


hi 
Der Lanzenſich. 687 


lichen Völkerſchaften, ſelbſt die verkommenſten unter ihnen, mit allen 
heidniſchen, und ſelbſt auch mit den muhamedaniſchen zuſammen, und 
jagt, ob fie in Vergleich mit dieſen nicht in einem aUgemeinern Sinn 
des Wortes fhon „neugeborene” heißen dürfen? In diefen 
Wirkungen aber bethätigt fi die Waſſerkraft Ehrifti und feines 
Evangeliums. Gewiß waren e8 vorzugsweife Diefe Wirfungen, die 
der allmächtige Gott im Auge hatte, als er durch den Propheten 
Hefefiel Kap. 36, 25 verheißend ſprach: „Ich will rein Wafler über 
euch fprengen, daß ihr rein werdet von aller eurer Unreinigkeit; und 
von allen euren Gößen will ich euch reinigen!” An diefelben Wir- 
fungen denkt unzweifelhaft der Apoftel, wenn er Hebr. 10, 22 von 
einem „gewafchen Sein am Leibe mit reinem Waffer‘ redet; und 
ebenfo meinte fie der Täufer Johannes, als er fprah: „Ich taufe 
euch mit Waſſer;“ zugleich aber eine andre Taufe, nämlich die „mit 
Feuer und Geift“, in Ausficht ftellte, welche derjenige allein voll: 
ziehen Eönne, der nach ihm kommen werde. 

Genug, Schon vermittelft feines Wortes und der Pflanzung feiner 
Kirche geht von Chriſto eine fittliche Reinigung, Veredlung und Ver⸗ 
klärung des menfchlihen Gefchlechtes aus; und auf Diefe feine 
Wirkſamkeit deutet fumbolifh Das Waffer, das aus Zen offner 
Geite firömt. 

Doch mit dem Waſſer allein wäre uns nicht geholfen gewefen. 
Zief find wir vor Gott verfchuldet; und hörten wir auch von nun 
an auf, neue Schulden auf die alten zu häufen, fo wären dadurch 
doch) die alten weder ungefchehen gemacht, noch abgetragen. Ueberdies 
bleiben wir bei aller durch das Wort allein Bewirften Säuberung 
und Beredelung unfres Lebens, bemeffen nad) dem Ideale der yött- 
lihen Forderungen, nad) wie vor arme Sünder, und als joldhe 
dem Fluch verfallen. So that und denn vor der fittlichen Bef- 
jerung, und viel dringender noch, als fie, Entbürdung von dem Ur: 
theil der VBerdammniß noth, das auf uns Taftete, und Zurückverſetzuug 
in den Stand der Gnade. Daß aber auch diefem Bedürfniß, dem 
ichreiendften von allen, die gewünfchte Abhülfe befchafft worden ift, 
dies prediget und das Blut, das wir der Seitenwunde des großen 
Zodten entftrömen fehen. Es bezeichnet uns den Zahlpreis, mit wel: 
chem vor Gott ein für allemal unfere Schuld entrichtet ward; fowie 
die genugthuende Opfergabe, vermittelft deren die Verföhnung der 
göttlichen Gerechtigkeit mit der Sünderliebe Gottes erzielt, und unſere 


sss -_ SEE Wr Per WM; 


Wiederannabme ebne Beeinträchtigumg der erfieren ermöglide werten 
it. Tas Dur fließt geihieden von tem Waſſer: die Recht⸗ 
fertigung if mit der veriönlihen Beſſernug mit zu vermmiden, 
geihmweige zu verwebieln. Was uns Der fiebe Gottes wieder am: 
pieblt, in einzig Ghriiti Verdientt, ımd nimmer das Znicdrerf 
unserer eigenen Tugend. Freilich bedarf es umiererieitö der Glaubens: 
und Lebenseinigung mit Chriſto; aber n Ebrifti Gerechtigkeit 
und in ibr allein, ergebt über uns die Freiſprechung von der verdienten 
Strafe, fe wie wir allein um ihretwillen in die Rechte der göttlichen 
Kindichaft wieder eingelegt werden. Der Seligkeit fübig macht uns Die 
DBelebrung; der Scligfeit würdig allen Dad Blut des Lammes. 

Tod wir wiffen: Waſſer und Blur itellen die Heilsthätigkeit Chriñi 
feinesweges ſchon erihöpfend dar. „Drei“, jügt Johannes, „zeugen 
von Ihm und für Ibn auf Erden: Tas Baier, (die jüttigende 
Macht des Worts,) das Blur, (die jühnende, rechtfertigende umd 
ſomit Zrieden vilanzende Wirkung jeines ftellvertretenden Berdien: 
ftes,) und der „beilige Geiſt“, Der nicht bios befiert, jondemn 
erneuert, dem Baum der Sünde nicht nur die Aeſte fappt, jondern 
ihn entwurzelt, und das Reis eines weſentlich neuen Seins und Le 
bens an defien Stelle pflanzt. Terjenige aber, der geſchmückt mit 
den dreifachen Siegen ſolcher Machterweifungen die Belt durdhichreitet, 
kann ja nicht anders, als von Chen gefommen, und muß der von 
Sort verordnete Meſſias und Erlöfer fein. Johannes erachtet es 
faum für möglich, daß Jemand dies verfennen könne; und faſt fhir: 
miſch Dringt er mir der Aufforderung an unjer Herz, Daß wir doch 
mit ihm zu feiner Zabne ſchwören möchten, indem er überaus bewegt 
und nahdrudsvoll uns zuruft: „Und der Das geichen bat, 
Der bat es bezeuget, und fein Jeugniß ift wahr; und 
Derjelbige weiß, daß er die Wahrbeit jagt, auf das 
auch ihr glaubet!“ 

Glauben denn auch wir, theure Freunde, auf daß wir auch den 
Herrn der Herrlichkeit als ‚denjenigen erfahren, der da fommt mit 
„Waſſer, Blut und Geiſt, d. i. reinigend, verföhnend und wieder: 
gebärend! Geben wir uns rückhaltlos und ungetheilt Ihm bin, nad- 
dem (Sr jich bis in den Zod für uns dahin gegeben hat; und machen 
auch wir Die Worte des alten firhlichen Sängers zu den unfrigen: 


„Das Waffer, welches auf den Stoß des Speerd aus Deiner Seite floß, 
Das fei mein Bad und al’ Dein Blut erquide mir Herz, Sinn und Muth. 


Das Begräbnih, 66g9 


O Jeſu Chrift, erhöre mich! nimm und verbirg mich ganz in Dich, 
Schließ mi in Deine Wunden ein, daß ich vor'm Feind kann ficher fein!“ 
Amen. 


LVIII. 
Das Begrabniß. 


Zu den tiefiten Worten, die aus dem Munde des Herrn gegangen 
find, gehört dasjenige, das wir Joh. 12, 24 leſen: „Wahrlich, 
wahrlich, ich fage euch, e8 fei denn, daß das Weizenforn in die Erde 
falle, und erfterbe, fonft bleibt es allein; wo es aber erjtirbt, fo bringt 
e8 viele Frucht.” Unter dem Weizenkorn verfteht Chriſtus fich ſelbſt. 
Wie jenes, wenn es nicht in Die Erde gelegt wird, ein vereins- 
zeltes Körnlein bleibt, und ausgefäet nur fi) vervielfältigt, 
fo wäre auch Chriftus, wenn er den Weg des Todes nicht gegangen 
wäre, der einzige Gerechte, Gott Wohlgefällige, ımd zum Himmel 
Berufene geblieben, und hätte, wenigftens unter den Sterblichen, 
weder Genoffen feines Friedens, noch Miterben der zukünftigen Herr: 
lichkeit gehabt. Nachdem Er aber jenen Weg gegangen, treibt Er 
gleichſam ganze Erndten heifiger und von Gott geliebter Menfchen, 
wie Er felbit iſt. Entſündigt Durch fein Blut, geſchmückt mit feinem 
Gehorfam, erneuert durch feinen Geift, theilen fie mit Ihm das 
MWohlgefallen des ewigen Vaters. Er aber macht fie je länger je 
mehr, wie der Sonnenftrabl verborgen in die Pflanze dringt, feiner 
göttlichen Natur theilhaftig, und freut fih der Vielen, Die aus 
Ihm, dem Einen, erwachfen find, als der lebendigen Spiegelbilder 
feiner eigenen Schöne, 

Wir werden heute jenes Wort vom Weizenforn in einer fo buch- 
ftäblichen Weife zur Verwirklichung kommen fehen, daß wir nicht 
werden zweifeln können, es fei die Abficht Gottes gewefen, die Wahr: 
heit, die daſſelbe ausfpricht, uns einmal in einem recht großartigen 
thbatfählichen Symbole anfchaulich vor den Bli zu rüden. Das 
himmlische Saatkorn, Chriftus, wird wirklich in den Schvoß der Erde 
gefenft; und welch’ fchönes, grünes, feinem eigenen verwandteg, 
Leben, das wir vor unfern Nugen aus feinem Zude erfprießen fehen! 


44 


6. 
Metth. 71, 57 — 56. Mar 13. 2— Si. Su. 3, D— SH. 
Jah. 19, 33 — 12. 


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de Hehenprieet aut Phariiaet iammtlich zu Buiato uud irraden: Herr, wir babe 
gedadi, das dicſer Verũhret inte, ba er ans iebie: It will xach dreien Says 
auferkeben. Darum beñeb., das mar bad Gret rerwebe SE cr ben tritten Tae 
auf dad wihı feixe Ienger femeien un> Beben ibm, war ter sum Reif: Er 
aufertanden voz ten Tetfen: und werde ter iczie Beirug diger, dem der ent 
Vilatus inrab :u ibmen: Da bat ibr bie Hüter: gebe bin, uud rermabter eb, wie 
ihr wie. Sie gingen bin, az wermabrien das Grab mis Hütern, und nerfiegeiter 
ben Stein 

Wie wobl thur dem Herzen nach all’ den erihütteraden Zcenen, 
deren wir bisher Zeugen waren, die feierlide Stille, die uns beute 
auf (GGolgatha begegnet! Vor-Sabbath war's,“ hebt mie 
Evangelium an; und auch uns geichiebt nicht anders, als hörten wir 
von jabbatbliben Blodentönen uns ſanft umflungen. Ein ſtiller Friede 
weht uns aus der Geichichte au. Weber ihrem Dunkel dämmert ſchon 
ein vorgängiges leiſes Morgenrotb der nabenden Berflirung. Bertic- 
jen wir uns in ihre einzelnen Züge. Drei Momiente nebmen vor: 
zugsweiſe unjere Aufmerkſamkeit in Anſpruch: die Kreugabnabme 
des Herrn, Die Grablegung, und die Verwahrung Des 
@rabes. 


Das Begräbniß. 691 


Es ift der legte Paffionsbetrachtungsgang, geliebte Freunde, den 
wir miteinander geben. Der „Friede Gottes, welcher höher ift ale 
aller Menſchen Vernunft“, fei die föftliche Frucht, Die wir von dent 
jelben mit zurüde bringen! 

1. 

Die Schädelftätte hat fid) geleert. Nur Die römiſche Wache blieb 
noch zurüd. Ob auch Johannes? wird nicht gemeldet. Ziefes Schwei: 
gen herrfcht rings um. Die beiden Schädher hat man eben von ihren 
Kreuzen gelöft, und ift damit befchäftigt, ihnen die Beine zu brechen 
und das.Grab zu graben. Der große Zodte fchwebt noch, einfam, 
das Dorngefrönte Haupt auf Die Bruft herabgefenft, zwiichen Himmel 
und Erde. Sept aber ift Er der Träger, der Mittelpunkt und der ° 
König einer neuen Welt. Wer follte dies glauben, der Ihm dort, eine 
Beute des Todes, am Fluchholz bangen flieht? Doch nur Geduld! 
Seine Gefchichte ift noch nicht zu Ende. Wie Vieles deutet prophetifch 
ſchon darauf bin, daß fie es noch nicht it! Vernahmt ihr nicht das 
donnernde Hoftanna, das im Momente feines Sterbens felbft die ver: 
nunftlofe Ereatur, ja gar der Zod aus feinen Zwingern heraus Ihm 
fingen mußten? Schlug an euer Ohr nicht, einfallend in das Eredo 
der Schöpfung, das große Bekenntniß des römifchen Hauptmanns? 
Fiel euch der Umftand nicht auf, Daß wider Vorfchrift und Gebraud) 
der Leib des Herm Jeſu nicht veritümmelt werden durfte? Und ge 
wahrt ihr nicht in dem Zodtenangeficht des einen der beiden Schächer 
noch den Wiederjchein überirdijchen Friedens, welchen der große Mit: 
gefreuzigte, an deſſen Seite er hing, mit einem einzigen Worte ihm 
in die Sünderfeele ſprach? Und der gewaltige Bedräner aller Stürme 
der Außen und Innenwelt könnte felbft in bleibender Weife dem 
Sturme des Todes erlegen fein? Dies it unmöglich. Wie zerriffen 
und blutig Er dort an feinem Kreuze hängt, Er ift noch nicht auf 
der Höhe feiner Laufbahn angelangt. Vielmehr wartet auf Ihn noch 
das ſchon lange für Ihn gefertigte Siegeslied: „Der Stein, den Die 
Bauleute verworfen haben, it zum Edftein geworden, Vom Herrn 
iſt's gefchehen, und ift ein Wunder vor unfern Augen!“ 

Was wird aber zunächit mit dem verblichenen Ehrenfönige geſche— 
ben? — Bekümmert euch darum nicht, Geliebte. Der himmliſche 
Bater hat ſchon für Alles gejorgt. Die Zodtengrüber find Ihm 
bereits beftellt, fo wie auch die Ruhekammer Ihm ſchon bereitet 
iſt. Wer Ihn zur Gruft beftatten werde? Den Geſetze nach läge 
es den Henfern ob, Ihn, und zwar auf dem Richtplatz, wo Er flarh, 

44* 


692 Des Uberheiligße. 


zu vericharren. Gert baue e& aber anders rerieben. Nachden er gre% 
Hcberrieiter jeim verichnendes I rienwert vollbracht but, dat Ibm feine 
Schmach mehr berühren, Rein, dies liefe wider die Cırimma Des ari: 
gen Rechtes ın. Hut Er ebne Zabel ieine Sache zum Ziel gem̃brt, ie 
gekübrt Ibm fortan nur Ehre neh und Herrlichkeit. So urtheilt ud 
der allmächtige Gent. Es ſoll einem Sobne ein Begräbniß werden, 
in deren Umitänden auch Der Blindeite Die multende Gun? der ewigen 
Liebe nicht Toll verfennen können. Zwei angeſebene Männer, ange: 
fehen nicht bei den Menſchen nur, ſendern auch rer Gott, merden 
mit der Beñattung der entieelten Hülle Iumnanueld beauftragt, und 
ein Hiunflein bewährter Jüngerinnen, Die einen Treit darin ſinden 
werden, Den beiligen Leib noch in ihren Dankestbränen baden zu 
dürfen, werden jenen beiden fi zugeſellen. Doch greifen wir der 
Geſchichte nicht vor! — Bir verlafien den Hügel Golgatha auf einige 
Augenblide, und nehmen mniern Standpunkt in der Stadt Jeruſalen. 
Ber wandelt dort jo baftigen Schrittes Die Straße binauf, Die zum 
Palafte des römiichen Precurators führt? Mit wichtigen Aufträ⸗ 
gen icheint der Mann betraut. In feinen Mienen ſteht's geichrie: 
ben, und feine Eile verrätb es. Wer it dieier Geſchäftige? Ierm 
falem fennt ibn, umd züblt ibn zu jemen bervorragenditen ımd 
geachtetitien Bürgen. Joſepheiſts, nad feinem auf dem Gebirae 
Ephraim gelegenen Geburtsorte der Arimatbäet zubenamnt: ein 
Mann mit dem allgemeiniten Vertrauen feiner Stummesgenoffen beebrt, 
und zugleich Mitglied Des höchſten jüdischen Gerichtshofs, Des Ho: 
henrathes. In legterer Eigenichaft batte er der ganzen Gerichts: 
verbandlung gegen Jeſum perſönlich mit angewohnt, und im Verlauf 
derjelben eine lebendige Ueberzeugung nicht allein von der voll: 
fommenen Unſchuld des Verflagten, iondem auch noch von ct 
was Mehrerem gewonnen. Gr batte in den Rath Teiner Amtöge- 
noflen „nicht gewilligt;“ aber freilich auch nicht Den Muth gebabt, 
einen lauten und entjchiedenen Proteſt damider zu erheben. Tas 
über den Gerechten gefüllte Biuturtbeil batte ibn in feinem In— 
nern empört; aber eine Flägliche Menſchenfurcht es zu nichts Wei: 
terem, als zu einem ſtummen Kopfichütteln bet ihm kommen laſſen. 
Ehriftus wurde zum NRichtplag abgeführt, und Joſeph geiſtlicher 
Weile infofem mit Ibm, ald er von jeinem Gewiſſen auf Das 
fchürfite gerichtet und verdammt wurde. Die blutige Execution auf dem 
Marterberge ging vor fih. Ob Joſeph ihr von ferne felbit mit zu- 
gefehen, oder ihren Hergang nur durch Berichte Anderer erfahren 


Das Begräbniß. 693 


hatte, wifjen wir nicht. Genug, ehe er ſich's verfah, ſchlug, höchft 
überrafchend für ihn, der, von großartigen Ahnungen bewegt, immer 
noch einen andern Ausgang der Sache erwartet hatte, die Donner: 
funde an fein Ohr, Daß der Nazarener an feinen Kreuze fo eben 
jeinen Geift aufgegeben habe. Was diefer Kunde an erfchüttern- 
der Macht noch fehlte, das verlieh ihr vollends das fchauerliche 
Phänomen des Erdbebens, welches in demfelben Augenblide eintrat, 
und auch dem Sofeph in Beftürzung erregender Weife fih fpürbar 
machte. Bon diefem Momente an fehen wir zu Serufalem einen 
Mann, einfam, das Haupt auf feine Hand geftüßt, in feiner Kammer 
figen, und hören ihn, — menigftens ift mird, als Dränge der 
Art etwas zu meinem Ohr, — in abgebrochenen Lauten fprechen: 
„Alſo todt it er! — Die ihn mit taufend Liebesbanden an Die 
Erde hätten fefleln follen, haben ihn ermürget! — Wehe, über 
die Mörder! Den fchönften Stern, der je am Himmel der Welt 
geleuchtet, Löfchten fle in feinem eigenen Blute aus! — Doch Joſeph! 
wer bift du felbft? Sie wußten nit, was fie thaten, und du er- 
fannteft ihn! Warum tratit du nicht zeugend für ihn auf? Warum 
fchrieft du nicht: Den Fürſten des Lebens wollt ihr kreuzigen; auf! 
freuziget auch mich zu feiner Seite: denn ich bin fein Jünger, und 
ohne ihm ift die Welt mir öde, das Leben werthlos! — Aber 
die Gunft der Menfchen war dein Götze, und galt Dir mehr, denn 
Gottes Gunft! Um den nichtigften der Preife haft du den Herrn 
der Herrlichkeit verleugnet! Nun erblaßte er, und fein Ohr hört das 
Bekenntniß deiner Reue nicht mehr, noch vermag fein Mund mehr 
ein Wort der Vergebung zu Dir zu fprechen! — Aber ftarb er auch 
wirflih? und wenn er verblich, wird der Tod ihn halten kön⸗ 
nen? Als Iſaak ſchon auf dem Holzftoß lag, ſprach Abraham zuver: 
fichtlich boffend noch fein „dennoh”! Sein „dennoch“! rief 
Iſraels Glaube noch, als ſchon der Stamm des Haufes Davids, 
aus den der Meſſias kommen follte, bis auf die Wurzel erftorben 
und verrottet war! D, rufe denn, mein Herz, dein „Dennoch“! auch 
du! Wenn der Anker der Hoffnung in Ihm nicht ficher ruhte, fo 
findet er nirgends im Himmel und auf Erden den Grund, in dem er 
bafte. Der Mann aus Nazareth war der Verheißene; oder die Ver: 
heißung der Propheten ift verloren, und erfüllt fih nimmer! Und 
doch haft du, Unglüdfeliger, ihm deine Kniee nicht gebeugt; ja, haft 
ihn, ohne entfchloffenen Einfpruch einzulegen, erwürgen laſſen!“ — — 
Dies, oder dem Aehnliches, murmelt der einfame Mann in ftürmifchem 


DH Das Userheilige. 

Ronologe ver fih bin, indem er thräͤnenſchweren Herzens iem Me: 
gericht in fein Gewand rerbüll. Dann aber fährt er, fi ermmszt. 
vlöglich mit dem Rute auf: „Tu, Dem ich im Leben Die Ehre Idafii: 
blieb, laß dir denn neh im Zode meine Huldigung aefallen!‘ Und 
wie er es geiprochen, bat er auch Kammer und Behawiuma fen rer: 
laſſen, und in Das Gewoge der Straße fih bineingeftürt. 

Ber it dieſer ſo mächtig uufgeregte Maun? Kein Anderer, as 
der, den wir vorbin dem römiichen Präterium zueilen ſaben Je— 
jeph von Arimatbia its. Was er im Schilde führe, Turaxt 
mögt ihr ihn nur ielber fragen, und eine Luit wird ed ibm ſein, ee 
euch rund heraus zu jagen. Und wenn ganı Jeruſalem ibn Turm 
als einen Thoren verlacdhen, oder gar als einen Keßer ibn Hein 
wollte, jo würde er fih nur freuen, Daß ibm dadurch Gelegenbei 
geworden fei, in einer gewiſſen Weiſe wenigitens einen Theil der 
Schuld abtragen zu können, die ibn mit ihrer Gentneridsmere zu er: 
drüden droht. Ich vermag mid in jeine Stimmung binein zu deufrn. 
(55 beieelt ihn jener Trog des Glaubens und der reumũtbigen Liebe, 
in welchem man zur Ausgleihung einer Berleugnung, deren man Ad 
gegen Jeſum ſchuldig machte, Die Schmach um ſeines Namens willen 
bei den Haaren berbei ziebn, ja, mit dem Dornenkranze wm bie 
Ctim, für Ihn fih brandmarken, ſelbſt fich freuzigen faflen möchte. 
Gradeswegs zum Luandpfleger will ımier Joſeph, und fi Pie Gr: 
laubniß von ihm erbitten, den großen Todten von leinerı Holze berab: 
nehmen, und ibn in feiner eignen Zumilienaruft ebrenvoll beitatten 
zu dürfen. Gr fange im röntichen Palaſte an, und mie er nad 
geichebener Anmeldung vor feinem Gebieter ericeint, beginnt er feit 
und unummunden: „Ich fomne, Dich um Gins zu bitten, nämlich, 
Daß du den Leichnam Jeſu mir überlafleit, auf Daß ich ihm, wie ihm 
gebührt, ein ehrlich (Grab bereite!” Pilatus tt nicht wenig überrascht, 
ſolch Geſuch aus dem Munde eines jũdiſchen Rathsherrn zu verneb— 
men; ſpricht jedoch, augenſcheinlich, um dadurch die wahren Empfin— 
dungen, die in dieſem Momente in ſeinem Innern ſich regen, zu 
verdecken, zunächſt nur ſeine Verwunderung darüber aus, daß der 
Nazarener ſchon todt fein ſolle. Zugleich befieblt er, in gleicher Ab: 
ſicht, daß man den Befehlshaber der Wache zu ihm beſcheide; und 
nachdem derſelbe eingetreten iſt, erkundigt er ſich auf's ſorgfältigſte, 
mie es um die Drei Gehenkten draußen ſtehe. Aber trotz der rubigen 
Amtsmiene, die er ſich zu geben fucht, entgeht ed und nicht, da 
ex fih, wenn auch in geringerem Grade der Tiefe und Kebendig- 


* 





Das Begraͤbniß. 695 


feit, in einer gewiffen ſympathiſirenden Geiftesgemeinfchaft mit dem 
von Jeſu fo mächtig ergriffenen Rathsherrn befindet. Auch er kann 
ih das Bild des Hingemordeten nicht vergegenwärtigen, ohne fi 
von Empfindungen einer entfchiedenen Ehrfurcht dDurchdrungen zu füh- 
len. Ich meine fogar, fehon in dem Befremden, womit er die 
Nachricht vernimmt, daß Jeſus ſchon todt fei, etwas von den groß: 
- arfigen Ahnungen ſich Tpiegeln zu fehen, deren fich feine Seele beim 
Gedanken an die Perfon des Gefreuzigten nicht zu erwehren vermag. 
Zudem findet er fich felbft über das Verhalten, das er gegen den 
Schuldloſen beobachtet hat, von feinem Gewiffen gerichtet, und daß 
dem beifpieHlos Mißfannten noch im Tode eine ehrende Genugthuung 
wiederfahren foll, wie fie ihm Joſeph zugedacht bat, entfpricht fo fehr 
jeinem eigenen Wunjche und Bedürfniß, daß er, als ob ihm felbit 
das Herz dadurch erleichtert würde, mit Freuden feine Genehmigung 
dazu ertheilt. Joſeph bezeugt dem Procurator den herzlichiten Dan, 
und eilt, beglüct, als wäre ihm der größte Schaß der Welt zu Theil 
geworden, von dannen, um zuerft die feinfte Leinwand, die er finden 
mag, und zugleich die foftbarften Salben und Spegereien anzufaufen. 
Für wen? das mag jebt die ganze Welt von ihm erfahren. „Für 
meinen König!” wird er überall laut bezeugen, wo er darnach 
gefragt wird. Und will etwa der Hoherath warnend den Finger er- 
beben, oder gar mit Amtsentfeßung, und noch Schlimmerem, drohen, fo 
möge er's nur thun. Joſeph wird dann lauter noch bezeugen: „Für 
meinen König, für meinen Herm, für meinen Friedensfürften.” — 
„Er wagte es“, meldet die Gefchichte; aber ihm deucht es fein 
Wagniß mehr. Mit Freuden hätte er Alles für den großen Todten 
bingegeben, hätte er dadurch nachträglich erfeßen können, was er dem 
Lebenden vorenthalten hatte. — 
Wir laffen ihn, und kehren im Geifte zum Richtpfaß zunid, O 
feht, wer hat dort mittlerweile fich eingeftellt? Erkennt ihr ihn wie 
der, den Mann, der ſtumm und unbeweglich wie eine Bildfäule unter 
dem Kreuze fteht, und mit andadıtsvollen, thränenfeuchtem Auge zu 
dem erblaßten Dulder hinauffchaut? In ihm findet Yofeph fein gets 
jtiges Gegenbild: denn diefer Mann hat daſſel be zu bereuen, was 
er, und brennt, wie er, vor Verlangen, das, was er verfehlte, wieder 
auszugleichen. Wer it dieſer befchaufiche Fremdling? Er ift uns fo 
wenig ein Unbekannter, wie den Joſeph. Nikodemus iſt's, Joſephs 
Amtögenoffe; jener Pharijäer, der einft lern- und heilöbegierig, jedoch 
„bei der Nacht“, weil auch in ihm Die Furcht vor den Juden der 


696 Das Alerheiligke. 


Liebe zur Wahrheit wenigftens noch das Gleichgewicht hielt, zu Jeſu 
kam. Jetzt hat audy er die ſchmähliche Feſſel abgeworfen. Fürwahr, 
Wunderdinge find es, Die wir in der Umgebung des Kreuzes 
heute erleben. Wollten wir zu Jemandem, der ed noch wicht wüßte, 
fagen: „Gib Acht! Ein paar furchtiame Männer, den höchften Ge: 
fellichaftskreifen angehörig, die, als Jeſus noch in der entfalteten 
Majeftät überirdifcher Bethätigungen einherjchritt, aus Scheu vor dem 
Urtheil der „örfentliden Meinung” nicht wagten, mit ihren günjtige- 
ren Anfichten von Ihm ans Licht zu treten, werden jet, nachdem 
der Ausgang feines Lebens Ihn zu einem beflagenswerthen Schwär: 
mer geftempelt zu haben fcheint, vor allem Bolte Ihm als ihrem 
Könige die Ehre geben, und mit aufgehobener Hand zu dem zerfeßten 
Paniere feines zertrümmerten Reiches fchwören; würde er im Stunde 
fein, dies zu glauben? Er möchte eher wohl alles Andere für wahr 
halten wollen, als dies; und dennoch gefchicht es jo! Gerade jekt, 
da bis auf einen einzigen fänmtliche Jünger, feine vertrauteften 
nicht ausgenommen, ihn verlaffen baben; jet gerade, da Jeſus nicht 
mehr Sturm und Meer bedräut, fondern felbft überwunden in feinem 
Blute ſchwimmt; gerade jegt, da an Ihm nur Niederlage noch und 
Untergang zu ſchauen ift, und nichts gewifler feheint, als daß Gott 
ſelbſt Ihn zu Schanden babe machen wollen: in diefem Augenblide des 
ſcheinbar entfchiedenften Schiffpruchs feiner Sache werfen die Beiden 
ihre Schleier und Larven ab, und treten aus ibren Schlupfwinfeln frei 
und offen mit dem unumwundenen Bekenntniß hervor, daß fie ed mit 
den gehenkten Dann am Kreuzesitamme halten; und verdammen dur 
dieſe That ftilljchweigend feine Hinrichtung als einen Juſtizmord, und 
Hagen infonderheit den ganzen Hohenrath des hüunmeljchreienden Ber. 
brechens an, mit dem unſchuldigen Blut des „Heiligen in Iſrael“ ihre 
Hände befleckt zu haben. — „Aber find denn dieſe Leute”, fragt ihr 
halb jtugend, halb Läfterlicy zweifelnd, „urplöglich zu Hellfebern gewor— 
den?” — Wir antworten: Ja, Freude, jie find es; aber durch den 
Geift des lebendigen Gottes, der ihnen die Augen geöffnet hat. Der 
Keim der Glaubendzuverfidht, die jet mit einem Male fo herrlich und 
ausgeboren an ihnen zu Tage fritt, lag fange ſchon, nur gebunden 
und wie unter der Scholle, in ihren Herzen. Aus dem Wettergewölf 
heraus, Das über Golgatha lagerte, hat die Gnade denfelben jegt be: 
frugtet, und darum fehen wir ihm nun in jo freier und mächtiger 
Entfaltung in die Erfcheinung treten. 

Nachdem Nilodemus eine Weile im Auſchauen des Kreuges mit 


Das Begräbnif. | 697 


unausfprechlicher Bewegung ded Gemüths feinen Betrachtungen nach- 
gehangen hat, betritt auch Joſeph die Schädelftätte; und wie herzinnig 
begrüßt er feinen Sinnes- und Geiftesgenoffen! Nachdem die Beiden 
dann einige traute Worte mit einander gewechjelt, und die Kriegs: 
knechte von der Seitens des Landpflegers ihnen ertheilten Erlaubniß 
in Kenntniß gejeßt haben, beginnen fie ihr trauriges, und doch fo 
feliges Werk. Sie holen Leitern herbei, und lehnen fie an das Holz 
des entfeelten Friedensfürften; und jo fteigen fie ehrerbietig zu dem 
großen Zodten hinan; und ift ihnen nicht anders, als wären es ge- 
weihte Zempelftufen, die fie überfchritten. Liebliche Scene Dies! Scene 
voll tiefer Bedeutung! Angefichts ihrer fingt, die in fie verwobene 
Bilderfchrift zart entziffernd, ein chriftlicher Dichter, und wir fingen’s 
mit ihm: 

„Wie Bienen um die Blumen ſchweben, und fanmeln füßen Nahrungdfaft: 

So ſchwebt mein Geiſt um’d Kreuz, mein Leben! Aus deinem Blute faugt er Kraft! 
Mas koͤnnt' ihm wach und ſtark erhalten, als beine offnen Wundenſpalten?“ 

Die beiden Freunde haben eben die durchbohrten Füße ihres er- 
blichenen Meifters erreicht, da — o, Er it es werth! — neigen fie 
andächtig Das Haupt, und bededen diefelben mit Küffen und Thränen, 
den Zeichen ihrer abbittenden Reue. Dann fteigen fie höher. „O 
Haupt voll Blut und Wunden, fei gegrüßt!“ — Nicht Zärtlichkeit tft 
es nur, fondern ein Mehreres noch, womit fie Ihm in das biutbeflof- 
jene Antliß ſchauen. Es entgeht ihnen nicht, wie auch noch auf dieſer 
blaffen Stirn eine hohe Majeftät thront, und über den gefchloffenen 
Augenlidern etwas wie Morgenroth der Auferftehung binfchwebt. „ Du 
zerrifiner Mann ſtehſt noch nicht am Ziele deiner Laufbahn! * Sie 
denken's mit tief ergriffenem Gemüthe, und beginnen dann zart und 
Ihonend aus Händen und Füßen die Nägel Ihm zu ziehen. Der 
theure Leichnam neigt fih auf ihre Schultern herab, und nachdem 
fie ihn in Xeinewand gehüllt, tragen fie ihn fünft von der Kreuzeshöh 
zur Erde nieder. — D, ihnen nach! theure Brüder! Mit dem Jeſus 
auf dem Lehrſtuhl zu Nazareth, mit den Prediger auf dem 
Berge der „Seligkeiten”, ja felbit mit dem Herrlichen in Tabors 
Glorie reihen wir noch nicht aus. Der am Krenz muß unfre 
Liebe werden. Darum zu Ihm hinan auf den geiftlichen Leiterfproffen 
des Sündenjchmerzed, des Gnadendurſtes und des Glaubens! Dom 
Holz des Fluches Ihn gelöit, und jo Ihn als unſern einigen Troft 
im Leben und im Sterben in unjer Herz gebettet! Daß’ es die 
wirkllich ſeligmachende Jejusliebe fei, Die in uns glimme, und 


698 | Das Aterheitigfte. 


nicht blos ein Afterbild von ihr, das können wir am ficherften daran 
erfennen, daß diefe LXiebe zuerit an dem bfutigen Todten fich ent- 
zündete, und dann erft den Lebendigen umſchlang. Wer Dagegen 
von dem Todten fih abgewendet hat, und wähnt, der leben— 
dige Ehriftus, wie Er wohlthuend, lehrend und Vorbild gebend im 
Lande umberging, fei ihm genug, der verrechnet fih, und wird einft 
am Tage Seiner Zufunft, troß des „Rabbi, Rabbi!“ womit er Ihn 
begrüßte, Die erfchütternde Antwort aus feinem Munde hören: „Ich 
weiß nicht, wo du ber bift! Ich zoo dich nie erkannt!” 


Zurüd zu unfern beiden Sreunden! Dort ziehen fle ſchon ſchwei⸗ 
gend mit ihrer theuren Bürde den Berg hinab. Ein unfcheinbares 
Leichenbegängniß; aber wie wird es herrlich durch die Zärtlichkeit 
und den Befennermuth der beiden Zräger des Verblichenen! Kein 
Zrauergeläute zwar begleitet den ftillen Zug; aber fpäter iſts um 
fo reichlicher nachgefolgt. In wie vielen Zaufenden von Thürmen 
fhlagen gegenwärtig über Jeſu Kreuz und Gruft die Feiergloden 
an, fo oft alljährlich der heilige Gedenktag feines Todes und fei- 
ner Beftattung vwiederfehrt! Kein Grabgefang tönt vor ihnen ber, 
und feine Ehrenfadeln fieht man brennen. Aber was gibt es für 
köftlichere Fackeln, als die unauslöfchlichen der Liebe und Verehrung, 
die aus dem Himmel ftammen? Und horcht nur! an einer folennen 
 Sterbelitanei fehlt's auch nicht. Es fingt fie dem Hingetragenen ein 
gottgeweihter Sänger aus einer faft taufendjührigen VBergangenbeit 
heraus: der Prophet Jefaias; und zwar in den Worten der Weiſſa⸗ 
gung Kap. 53, 9: „Man beftimmte ihm (dem Mefftias) zwar fein 
Grab bei den Gottlofen; aber er fand feinen Hügel bei den Reichen; 
darum, daß er Niemandem Unrecht gethan hat, noch Betrug in feinem 
Munde erfunden it.“ 

Wir find zur Stelle Ein friedliches, zum Theil von Felſen um: 
ſchloſſenes Gelände nimmt uns auf. Joſephs Garten iſt's. Die 
Sonne wirft eben ihre legten Strahlen in ihn hinein; der herein— 
grauende Abend feine erften fühlen Schatten. In diefer jtillen Um— 
hegung foll der Heilige feine legte irdifche Lageritätte finden. Ein 
eigenes Grab befaß Er nicht, der überhaupt „nicht hatte, wo Er 
fein Haupt hinlegte,“ und bedurfte alfo, Daß Ihm für fein kurzes 
Uebernachten eins gaftlich geliehen wurde, Wie glüdlich aber ſchätzt 
fih unfer Joſeph, der Ehre gewürdigt zu fein, dieſe legte Ruhe⸗ 
fatt Ihm bereiten zu Dürfen; und wie wohl thut ihm die Ansficht, 


Das. Begräbniß. 699 


einft, wenn auch Ihm das legte Stündlein flug, mit Dem wenig: 
ftens die enafte Todesgemeinfchaft noch eingehen zu fünnen, den er 
im Leben ad! fo fchnöde verleugnet hatte! Wie die Beiden nun mit 
der geliebten Laſt bei der Felsgruft angekommen find, gewahren fie, 
daß e8 ihnen auch an einem XLeichengefolge nicht gemangelt babe. 
Die treuen Frauen: Maria Magdalena, und Maria Joſes, und der 
tapferen Freundinnen noch manche andere, find ihnen in einiger Ent- 
fernung ftille nachgegangen; denn auch fie wollten gerne fehen, wo 
ihre ganze Hoffnung und ihre ganze Liebe bleibe. Joſeph und Niko: 
demus heißen fle herzlichft willfommen, und nehmen ihre Dienfte bei 
dem Werke der Beltattung gerne an. So wird dem der heilige 
Leichnam erſt fanft auf den Boden niedergelegt, und während die 
Frauen, faft mehr mit ihren Thränen, als mit dem herbeigetragenen 
MWafler, die blutigen Fleden von Haupt und Bruft Ihm wafchen, 
füllen die Männer das zarte biendend weiße Linnen, in Das er ge 
wicelt werden fol, mit Myrrhen, Aloe und anderen der foftbarften 
Spezereien, deren fie eine reiche Fülle, Nifodemus fogar „bei hundert 
Pfunden,“ herbei gefchafft hatten. Nachdem fle dann mit den üblichen 
Leinwandbinden den Leib ummidelt haben, ſchauen fie dem theuern 
Entichlafenen noch einmal fchweigend in das hehre blaffe Königsan- 
geficht, und tiberbreiten daſſelbe dann (vielleicht verrichtete Magdalena 
diefen Tegten Zrauerdienft,) mit dem Zodtentüchlein. Das ganze 
Geſchäft der Beftattung war indeß hiemit noch nicht beendet; aber 
die Nähe des Sabbaths gebot, die eigentliche Balfamirung bis zum 
Schluß des Feites zu vertagen, und für jeßt es Tediglich bei dieſem 
vorläufigen Liebeswerfe bewenden zu laffen. War unter den beftat- 
tenden Frauen aud) Marin Lazari, fo mußte Dieje fich erin- 
nern, daß es überhaupt eines weiteren Bemühens mit dem Leichname 
des Meifters nicht bedurfte, indem Er feiner eigenen ausdruͤcklichen 
Berfiherung nah die „Salbung zum Zage feines Begräbniffes “ 
ichon in Bethanien durch ihre, der Maria, Hand, empfangen hatte. 
Die Freunde nehmen nun den lieben Todten wieder auf, und tra- 
gen ihn fanft und feierlich auf ihren Händen in die neue faubere 
Felſenkluft, wo fie ihn facht und mit andächtigen Schweigen, als ob 
er nur en Schlafender wäre, in eine weite, hochgewölbte Nifche 
zur Ruhe beiten. Noch einmal ſchauen fie Ihn mit tief ergriffener 
Seele an, dann reißen fie fich gewaltfan von Ihm log, verlaflen das 
Gewölbe, wälzen einen großen Stein vor deffen Zhüre, und fehren, 
weil ſchon die Sabbathlichter won fern herüber fhimmern, unendlid, 


702 Das Aerheiligfe. 


allein „geitorben,“ fondern auch „mit Ihm begraben worden“ ſeien. 
Gleichwie wir aber „mitwepflanzt“ feien, zur „Aehnlichkeit 
feines Zodes,” jo würden wir ed auch „zur Auferftehunga“ 
werden. Was will diefe geheimnißvolle Inſchrift? Sie bezeugt nichte 
Geringered, als dies: Den Fluch der Sünde hat Chriſtus ftellver: 
tretend für uns am Kreuz erduldet. Es üt ſomit „Leine Verdammniß 
mehr an ung, jo wir in Chriſto find.” Wir tragen aber, auch als 
Wiedergeborene, die Reſte der alten fündigen Natur noch an und in 
und. Dies iſt unfer Kreuz und Kummer, und dringt und Die bange 
Zrage ab: „Ich elender Menfch; wer wird mich erlöfen von Xeibe 
dDiefes Todes?" Schon Mancher iſt auf den beunrubigenden Gedan- 
fen gerathen, er möge ebenfowohl jenfeits des Grabes noch, wie hie: 
nieden, mit der Sünde zu ſchaffen und zu ftreiten haben. Solche 
Sorge aber wird uns beim Grabe Ehrifti auf immer abgenommen. 
Einen „alten Menſchen,“ hatte Ehriftus freilich in Dem Sinne 
nit, wie wir; Er war perfönlich fchlechthin ohne Sünde. Aber 
die „Geſtalt des fündlidhen Fleiſches“ die Er annahm, ver: 
trat an Ihm dasjenige, was bei uns der „alte Adam“ it; und fo 
haben wir denn auf Das, was mit jener „Geſtalt“ vorgegangen iſt, 
wohl acht zu geben, und darin eine große, jymbolifche Bedeutung für 
und zu fuchen. Er nahm die „Knechtsgeſtalt“ mit ſich bis in 
das Grab; aber aud nicht einen Fußbreit weiter. Am dritten Tage 
jehen wir Ihn in nichts, als Verklärung und ftrahlende Herrlichkeit 
gefleidet, wieder bervorgehn; und Er but Alles, was au Elend, 
Schwachheit und Gebrechlichfeit erumerte, in dem dunkeln Todes: 
zwinger zurück gelaſſen. Verſteht ihr dieſes gedanfenvolle Sinn; 
bild? Es verfiindet uns, daß, was uns noch von ſittlichem Verderben 
anflebt, alſo: der „alte Menjch, ebenfalls weiter nicht, als bie zum 
Grabe, mit und gehe; dann aber auch an ung, in derfelben Ordnung, 
wie es an unſerm erbabenen Vorläufer vor fih ging, Das Werk Der 
Erledigung fi vollziehen werde. Sobald unſer Stündlein ge: 
ihlagen hat, iſt der Widerftreit zwifchen Fleiſch und Geift in uns 
beendet. Der Geiſt herrjcht allein; Die Klage: „Das Gute, Das ich 
will, Das thue ich nicht”, verſtummt. Wir verrichten nun Die Werke, 
die Gott gefallen, ohne Hemmung: denn unfre Heiligung it vollkom⸗ 
men. „Alle Thränen,“ alſo auch die Ichmerzlichften von allen, Die 
wir bienieden noch über die Gebrechlichfeit nnjerer Natur zu weinen 
hatten, werden „von unfern Mugen getrocknet.“ „Kein Leid noch 
Geſchrei,“ wird danıı mehr fein; mithin auch feins mehr über erneuert 


Das Begräbnis. 703 


Untreuen, und Berirrungen, fei es in That und Wort, vder in 
Negung und Gelüfte, 

Seht, wie liebliche Zroftesftröme uns felbit nody aus dem Grabe 
des großen Todten entgegenraufchen! Mit der erftarrten Hand 
noch befreit Er uns aus fehweren Sorgenbanden, und fein gebro-> 
henes Auge ftrahlt uns nod Hoffnung und Himmelsfrieden in's 
bange Herz. Da darf’s ja wohl gefchehen, daß wir mit dem Dichter 
ſprechen: 

„Seine ſel'ge Gartenruh fihert und den Garten zu, 
Mo die Blumen ewig blühen, nuverbleicht die Farben glühen!“ 

Ja, da ziemt ſich's für uns wohl, anbetend mit einzuftinmen in 
den tief bewegten Fetergefang Der Gemeine: 

„So fhlummerft Du, o meine Ruh, 

In Deines Grabes Höhle, 

Und erwedel durch den Tod meine todte Seele! 

O, Lebendfürit, ih weiß, Du wirft 

Mich wieder aujerweden ; 

Sollte denn mein gläubig's Herz vor der Gruft erihreden? 

Sie wird mir fein ein Kämmerlein, 

Da ih auf Rofen Tiege, 

Weil ih num durch deinen Tod Grab und Tod beilege!« 
3. " 

Die erfte Nacht nad dem großen blutigen Zage ift vergangen. 
Einfam durchfchlummerte fie der erblaßte Held in feinem Grabes- 
zwinger. Da gramt der Morgen herauf, und alfobald beginnt fidy’s 
um feine Zelfengruft wieder zu regen. Aber es find nicht mehr Die 
lieben Geftalten feiner Freunde, Die wir fo frühe den Garten durch— 
jhweben fehen. Diefe, gewohnt, allem Gebot fid) unterthänig zır 
erzeigen, halten fich heute des großen Sabbaths wegen in ihren Hütten 
fill zurüd. Die Feinde finds, die wir beim Grauen der erften 
Dämmerung fohon wieder auf, und fo rührig und gefchäftig finden. 
Ueber Nacht iſt Ddenfelben eine ſchwere Sorge auf's Herz aefullen. 
Ihr aufgeregtes böfes Gewiſſen ſah Geſichte. Es fehrte ihnen die 
Erinnerung an fo manche Ausfprüche des Nazareners wieder, mit 
denen Er ganz unzweideutig ein Auferftehen angekündigt hatte, durch 
das ihm Gott nach vollzogener Kreuzigung vor aller Welt verberrlichen 
werde. Die Heuchler geben fid) zwar die Miene, als läge ihnen nichts 
jo fern, wie der Glaube, daß folche ſchwärmeriſche Phantafieen des 
jetzt vollends zu Schanden gewordenen Mannes ſich je verwirklichen 


704 Das Allerheiligfte. 


fönnten. Aber ihr Herz denft anders. Auch im Zode noch macht 
der Gekreuzigte fi in ihrem Innern als König geltend. Noch 
aus feinen Grabe her fchredt fie feine Majeftät: die Majeftat 
der biutigen Leiche! Was hat ſich begeben? Denkt, fo eben 
find die Hohenpriefter und Pharifäer, unbefümmert um Sabbath und 
Baflahfeft, in feierlihem Zuge nach dem Palafte des Landpflegers 
aufgebrochen, um Ddiefen zu Sicherungsmaßregeln für das Grab des 
Gefreuzigten zu bewegen. Vorgelaſſen vor den durch fo frühen Be: 
fuch der Notabilitäten Iſraels nicht wenig Aberrafchten Procurator, 
beginnen fie: „Herr, wir haben gedacht, daß diefer Ber: 
führer” (die Nichtswürdigen! den Heiligen Iſraels wider befferes 
Willen und Gewiſſen im Grabe noch mit folhem Namen befchimpfen 
zu-fönnen!) — „da er noch lebte, fprad: Sch will nad 
dreien Tagen wieder auferitchen.” (Daß Er dies wirflic 
bezeugt habe, conftatiren ſie alfo.) „Darum befiebl, daß man das 
Grab bewahre, bis an den dritten Tag; auf Daß nicht feine 
Jünger kommen, und fteblenihn, und ſagen zum Volke: 
Er iſt auferſtanden von den Todten; und werde der 
legte Betrug ärger Denn der erſte!“ Bemerkt, wie fein die 
verſchmitzten Lügner ihre wahren Gedanken und Empfindungen zu 
verbergen wiffen! Dean follte meinen, e8 bange ihnen nur vor einem 
möglichen „Betruge.“ Aber wenn e8 nur Die Abwehr der armen 
Jünger gegolten hätte, bedurfte e8 daun folcher Zurüſtungen, wie fic 
fie in Anfpruch nehmen? Hätte dann nicht eine Handvoll beftochener 
Helfershelfer, wie fie den Phariſäern zahlreich zu Gebote jtanden, 
vollkommen bhingereicht, gegen jene Wehrlofen das Grab zu ſchirmen? 
Aber Die gewaltigen Thaten, Die fie ihren Ermwürgten einjt verrichten 
jaben, laffen fie Alles für möglich halten; und die erichredenden Er: 
eigniſſe, die feinen Tod begleitet hatten, waren cben auch nicht dazu 
geignet, ihre Sorgen zu zerftreuen, oder zu mildern. Cie wittern 
Diteriuft. Sie fürchten fih in der That vor einer Auferftehung 
des Beyrabenen. — Aber wenn folche erfolgen follte, was balf Da 
eine Wache, und was der Mörtel und Kal, womit man den Stein 
zu verfitten gedachte? So möchte man freilich fragen, und Zweifel 
ichöpfen, ob wirklich ernſtliche Bejorgniffe vor einem Wiederaufleben 
Jeſu die Feinde in Bewegung gefeßt haben könnten. Aber die Zurcht 
it eben eine Thörin, und die Sünde bfind, und tappt, wie flug 
fie fih dünfe, doch im Zinjtern. Pilatus, den unter Anhörung des 
Vortrags der Häupter Iſraels felbft eigenthümliche Gefühle durdh- 


» 
Das Begräbuiß. 705 


ſchauern mochten, willigt auch jeßt wieder gern in das neue Begehren 
ein, und fpricht, hindeutend auf einen Zrupp gerüfteter Warfenmänner, , 
die er eben vor dem Schloffe aufgeftellt erblidte: „Da habt ihr 
die Hüter! Gehet hin, und verwahret es, wie ihr wifs 
ſet!“ 

Nicht wenig froh, ſo bald zu ihrem Zwecke gelangt zu ſein, ſind 
die Abgeordneten fo eben ſammt der roͤmiſchen Wachtmannſchaft und 
einigen in der Eile aufgebotnen Steinfegern und Mauren in den 
Garten Joſephs zurttkgekehrt. Nachdem fie fid) vorab durch den 
Augenſchein überzengt haben, daß der Leichnam wirklich noch an feiner 
Stätte ruhe, wird der abgewälzte fchwere Stein in die Grabesöffnung 
wieder eingefugt, und die Arbeit des Berfiegelnd und Verkittens nimmt 
ihren Anfang. Eine merhvlirdige Scene dies! in Feldzug einzig 
in feiner Art! Als gölte es nichts Geringeres, denn ein feindliches 
Kriegsgefehwader in Joſephs Garten aus dem Felde zu fchlagen, fo 
wird gerüftet. Bon einem deutfchen Kaifer der früheren Jahrhunderte 
erzählt man, daß er im Tode noch, von feinen Rittern in voller Rüs 
ftung auf feinen offnen Kriegeswagen gehoben, ein ganzes Feindesheer 
in die Flucht gejagt babe. Fürwahr, in dem ftillen Gurten bier ift 
mehr, denn dies! Freilich gebährden fi) die Widerfacher hier noch 
als die Sieger; aber in ihrem Innern find fie gefchlagene Leute, 
Der fohlummernde Held aus Zuda nahm: ihnen den Hamifch forglofer 
Zuverficht, und erfüllte ihre Seelen mit einer Wolke ſchreckender und 
beffemmmender Ahnungen. Es bewahrheitete ſich wenigften® theilweife 
an ihnen das Dichkerwort: 

„Von Nberglauben ift Unglauben ftet8 begleitet, 
Und Aberglauben hat zum Glauben oft geleitet.“ 

Was wollen fie mit ihren weitläufigen Vorkehrungen? Sie ftreiten 
fir die Sache des Todes wider das Leben, und möchten den 
Thron des eriteren befeftigen umd ftügen, das Leben aber niederhals 
ten und verkerkern. Laffen wir fie nur gewähren! Ueber ihrem Vor⸗ 
nehmen waltet der Alles Ienfende und regierende Gott. Allerdings 
follen fie dem Tode feine Ketten noch fefter fehmieden helfen, Damit 
die Sprengung derfelben in um fo glorreicherem Lichte erfcheine. Und 
ebenfo follen fie dem Leben jeden Raum benehmen und alle Ausgänge 
vermanern, auf Daß, wenn es nun dennoch durch Schloß und Riegel 
bricht, e8 um fo unzweideutiger al8 ein Leben Gottes fid) erweife, 


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® 
206 Dad Allerheiligſte. 


Wir fcheiden von dem Grabe unſeres Herm; aber nicht in Trauer 
ud Wehmuth, fondern voll freudiger Erwartung der Dinge, die da 
»'kommen werden. Wir fehen im Geifte fchon die erften Schimmer 
der aufgehenden Diterfonne um die Felswand weben. Nur vier und 

zwanzig Stunden noch, und die Poſaune Gottes ertönt, und der 
. Garten Joſephs bietet uns ein anderes Schaufpiel. Wir finden alle 
- „ Biegel dann gebrochen, und nicht von Jeſu Gruft allein, fondern zu: 
gleich von dem Geheimmiß feiner ganzen Pafſton. ——— 
Amen aus der Höhe, das herrlichſte uud Fe. 8 unter Dein 
Hünmiel je verlautet ift, verfündet dan der WEL, daß die Perſöͤhnung 
zu Stand und Wefen fan, und der Fürft des Lchens, mit Preis und 
Ehre gefrönt, entbeut als Ueberwinder aller -Schredensmächte, die uns 
enigegenjlauden, von den Trümmern feines zerſprengten Grabes ber 
der begluͤckten Menſchheit den erfteu Ofterfriedensgruß. Stim— 
men wir ſchon unfre Harfen, und halten wir unfre Zeierfränze in 
Bereitichaft, und fchreiten fo dem großen Moment entgegen, der ul: 
lem Harm ımd Bangen des arınen Menfchenherzens ein ewiges Ende 
macht! Der ftillen Felsgruft aber fügen wir damit Lebewohl, daß 
wir mit den Feuerlettern der Dankbarkeit und Liebe auf ihren Stein 
die Worte des alten Kirchendichters fehreiben : 

„Der du, Herr Jeſu, Ruh und Raft 

In deinem Grab gehalten haft, 

Gib, dag wir in bir ruben al’, 

Und unfer Leben dir gefall'! 

Berleib, o Hort, und Stürf und Mu, 

Die dur erfanit mit deinem Blut, 


Und führ’ und in ded Himmel! Licht 
Bor deines Baterd Angeficht! 


Mir danfen dir, o Gottes Lamm, 
Getödtet an des Kreuzesſtamm. 

Laß ja uns Sindern deine Bein 

Ein Eingang in dein Leben fein!« Amen. 


—00 ES oe —— 


Druck von Velbagen und Klaſing in Biclereld. 








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